Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde Agrarpolitik
Die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema „Agrarpolitik" verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.
Guten Morgen, Frau Präsident! Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Ah, Sie sind auch da! Das finde ich großartig! — In Ihren Jubelbilanzen anläßlich Ihres 2. Jahrestages haben Sie die Agrarpolitik wohlweislich ausgespart. Sie haben gewußt, warum. In den nächsten Tagen werden die Molkereiabrechnungen vor allem den Grünlandbauern endgültig die Augen darüber öffnen, was die Wende für sie bedeutet. Die Politik der Herren Stoltenberg und Kiechle, die Politik des Bundeskanzlers bedeutet für Zehntausende von Landwirten und ihre Familien keine Wende. Sie bedeutet für diese Menschen das Ende. Sie bedeutet den Ruin.
Sagen Sie nicht, das sei sozialdemokratische Panikmache. Die Schilderungen unseres gemeinsamen bayerischen Gewährsmanns Franz Josef Strauß sind noch viel drastischer. Der wirft Ihnen sogar vor, Sie hätten den Frieden aus den Dörfern vertrieben, Sie hätten die Bauern zum Tode verurteilt. Und dieser bayerische Gewährsmann weiß ja wohl, wovon er redet und was er redet.
Schieben Sie die Verantwortung jetzt nicht auf Josef Ertl oder auf Staatssekretär Rohr, den Sie ineiner nachgerade schäbigen Weise aus dem Amt entfernt haben!
Bekennen Sie sich lieber zu Ihrer eigenen Verantwortung!
Sie, Herr Kiechle, haben sich doch zur Zeit der sozialliberalen Koalition allen Ansätzen zur Beschränkung der Überschußproduktion aufs heftigste widersetzt. Ja, Sie haben sogar die Existenz der Überschüsse bestritten. Sie waren immer gegen Reformen. Haben Sie vergessen, Herr Kollege Kiechle, daß Sie noch am 25. März 1982 hier wörtlich gesagt haben:Wir richten unseren Blick nicht engstirnig auf vielleicht gerade momentan vorhandene Lebensmittelüberschüsse und glauben nicht, dann sofort die ganze EG-Agrarpolitik reformieren zu müssen.Am 25. März 1982!Jetzt haben Sie in Brüssel eine Milchquotenregelung durchgesetzt, die unserer Landwirtschaft die größten Opfer auferlegt, obwohl wir mit dem Ausmaß der Überschüsse nach Irland, nach den Niederlanden und nach Dänemark erst an vierter Stelle stehen. Bestreiten Sie eigentlich immer noch, daß die von uns geforderte verursacherbezogene Erzeugerbeteiligung marktwirtschaftlicher und gerechter gewesen wäre?
Was hat Ihnen denn der Herr Rohr geraten? Hat nicht auch die bayerische Staatsregierung mit Herrn Strauß und Herrn Eisenmann diese von uns geforderte Lösung für besser gehalten und hält sie sie nicht heute noch für besser? Sie haben nach eigenen Aussagen die Folgen der Brüsseler Beschlüsse erst erkannt, als die Bauern lautstark zu protestieren begannen. Ist das die Weitsicht, deren sich insbesondere Herr Stoltenberg fortgesetzt rühmt? Oder gilt hier dasselbe wie im Fall Buschhaus: daß er eben nicht alle komplizierten Details übersehen hat und erst im nachhinein durch sorgfältiges Aktenstudium klüger geworden ist?
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6660 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Dr. VogelSie haben, meine Damen und Herren, in Panik binnen weniger Tage Milliardenbeträge nachbewilligt und in geradezu unsinniger Weise verteilt. In dieser Verteilung liegt der eigentliche Skandal.
Sie konzentrieren die Mittel nicht auf diejenigen, die das Geld zum Überleben brauchen. Sie geben das Geld zum erheblichen Teil den Umsatzstarken und denen, die von den Brüsseler Beschlüssen kaum oder gar nicht betroffen sind.
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, insbesondere von der Union, sterben die mittleren und kleineren Milchbetriebe, die wir zur Pflege unserer Kulturlandschaft dringend brauchen. Und dies empört die Bauern.
Sie müssen jetzt Ihre verfehlte Politik korrigieren. Sie müssen etwas tun, was Sie sehr ungern tun, nämlich den Starken das wieder nehmen, was sie gar nicht brauchen, und es den Schwächeren geben, die sonst nicht überleben können und die einen Flächenausgleich, einen an ihrer Leistung für die Gemeinschaft orientierten Ausgleich als kleine und mittlere Betriebe brauchen.
Wenn Sie den Mut für eine solche Korrektur aufbringen, meine Damen und Herren von der Koalition, haben Sie unsere Unterstützung. Gegen eine Politik, die den schon fehlgeleiteten Milliarden weitere Hunderte von Millionen nachwirft und die Bauern gleichzeitig weiter in die Verzweiflung treibt, kündige ich den härtesten Widerstand der Sozialdemokraten an.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Susset.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Vogel hat in der Presse angekündigt, die SPD beantragt eine Aktuelle Stunde, und er möchte hier Vorschläge machen — so im Münchener Presseklub —,
wie man die Schäden, wie er sich ausdrückte, bei den hunderttausend Bauern ausgleicht. Aber ich habe davon überhaupt nichts gehört.
Diese Rede wurde nicht gehalten, um der Landwirtschaft zu helfen, sondern das war eine Rede, die Unruhe stiften sollte,
die von klassenkämpferischen Agrartheoretikern aufgeschrieben
und von einem agrarpolitischen Laien vorgetragen wurde.
Meine Damen und Herren, die notwendigen Entscheidungen in Brüssel haben wir uns nicht ausgesucht, sondern wir und unser Bundeslandwirtschaftsminister haben diese Situation in Brüssel schließlich angetroffen,
und die CDU/CSU-Fraktion hat reagiert. Sie hat erklärt: Diese Vorleistungen für Europa können nicht allein von der Landwirtschaft erbracht werden, deshalb haben wir den Mehrwertsteuerausgleich von 5% beschlossen.
Nun, Sie wollen helfen. Deshalb frage ich Sie, Herr Dr. Vogel: Warum haben Sie denn den von Bundesfinanzminister Apel inszenierten und von den Sozialdemokraten mitgetragenen sozialpolitischen Kahlschlag nicht verhindert,
der die Mittel für die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft für die kleinen und mittleren Betriebe auf Null absenken wollte?
Man darf nicht nur von Hilfe für kleine Landwirte reden, man muß etwas tun. Der Bundeskanzler hat auf dem Bauerntag in Freiburg erklärt, daß er diesen sozialpolitischen Kahlschlag der SPD wieder rückgängig macht. Er hat Wort gehalten, und wir haben 400 Millionen DM für die Berufsgenossenschaften erhalten.
Sie sprechen von Flächenausgleich. Warum haben Sie den strukturpolitischen Kahlschlag nicht verhindert, als die Mittel für die Gemeinschaftsaufgaben abgesenkt wurden, womit die benachteiligten Gebiete praktisch ihren Flächenausgleich erhalten sollen? Wir, diese Bundesregierung, dieser Bundeskanzler und Bundesminister Kiechle, haben diese Mittel erhöht, damit in den benachteiligten Gebieten, wo nicht nur Agrarproduktion, sondern auch Landschaftsschutz betrieben wird, auch die Ausgleichszulage in Höhe von 240 DM pro Hektar bezahlt werden kann.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6661
Susset
Wo sind Ihre Vorschläge geblieben, daß wir die Garantiemengenregelung bei der Milch sozial gestalten?
Wir haben heute für die kleineren Betriebe 2 %, für die größeren Betriebe 12,5% Mengenabzug bei Milch durchgesetzt, also sozial gestaffelt. Das ist unser Beitrag, um die Situation der kleinen Landwirte zu verbessern. Wir werden durch die Änderung der Milchverordnung, sobald der entsprechende Spielraum vorhanden ist, die frei werdende Milchmenge auf die kleinen und mittleren Betriebe, die sie zur Existenzsicherung brauchen, übertragen. Wir werden die Ausgleichszulage erhöhen. Wir werden durch den Haushalt 1985 unseren Beitrag dazu leisten,
daß die kleinen und mittleren Betriebe, die Ihnen nur scheinbar am Herzen liegen
— sonst hätten Sie das alles nicht vorgetragen —, die Beitragsentlastung bei der Berufsgenossenschaft bekommen.
Die Bauern wissen sehr wohl, was Sie von der SPD möchten: Unruhe stiften. Aber das wird Ihnen nicht gelingen. Die CDU/CSU- und die FDP-Bundestagsfraktion werden den Bundeskanzler, den Bundesminister Ignaz Kiechle und die Bundesregierung bei der Lösung der agrarpolitischen Probleme unterstützen.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man kann von Franz Josef Strauß halten, was man will. Aber er ist ein Mann mit einem sicheren politischen Instinkt. Mit diesem sicheren politischen Instinkt hat er sehr wohl begriffen, daß es einem politischen Erdbeben gleichkommt, wenn erst einmal die sicherste Bastion der CDU/CSU, nämlich die bayerischen Bauern, politisch ins Wanken gerät. Deswegen hat er auch die Alarmglocke geschlagen.
Ich verstehe sehr wohl, wenn Sie große Sorge haben, daß Ihnen die Bauern allmählich aus dem Ruder laufen. Man spricht sogar schon von einer Oktoberrevolution in Bayern. Und sie findet diesmal auf dem Lande statt.
Der Hintergrund ist so etwas wie eine neue soziale Frage auf dem Lande. Wie jede soziale Frage ist sie gekennzeichnet von der Aussichtslosigkeit und von der Resignation, auch vom Elend auf den Dörfern. Sie müssen einmal mit Leuten aus den
Landwirtschaftsämtern sprechen. Sie sind entsetzt über das, was sich aus den Anträgen, die bei diesen Ämtern eingereicht werden, an sozialem Elend herauslesen läßt.
Herr Minister Kiechle, ich leugne nicht, daß Sie bei Ihrem Amtsantritt in einer sehr schwierigen Lage waren. Ich leugne nicht, daß die Überschüsse große Probleme gemacht haben. Ich leugne auch nicht, daß Sie dadurch in eine besonders schwierige Lage geraten sind, daß man Ihnen eine Lösung nahegelegt hat — auch der Deutsche Bauernverband, auf dessen Unterstützung Sie gezählt haben, tat das —, die genau dem nicht entsprach, was die Bauern Ihrer Heimat eigentlich von Ihnen erwartet haben.
Was Sie aber nicht sagen können, ist, daß es keine Alternativen gegeben hätte
und daß Ihnen nur dieser eine Weg möglich gewesen wäre.
Es gab Alternativen. Insbesondere in einer Situation, in der man so schwerwiegende Eingriffe gemacht hat wie jetzt, hätte man sich grundsätzlich ein ganz anderes agrarpolitisches Konzept überlegen können und auch überlegen müssen. Das ist aber nicht passiert.
Nehmen wir nur das Beispiel der Härtefälle. Die gesamte Härtefallregelung, so wie sie vorgesehen ist, ist eine Regelung, die weiterhin dafür sorgt, daß die Wachstumsbetriebe die Milch bekommen und nicht die Betriebe, die wirklich Härtefälle darstellen, nämlich neu gegründete Existenzen, Betriebsanfänger oder beispielsweise jene Betriebe, in denen die Bäuerin über schwere Jahre hinweg die Milchproduktion für ihren Sohn, der den Betrieb übernehmen soll, aufrechterhalten hat, die jetzt aber nicht mehr ausreicht für ihren Hofnachfolger.
Oder nehmen wir die benachteiligten Gebiete. In dieser Situation hätte endlich eine Kehrtwendung eingeleitet werden müssen. Die Milch hätte dorthin gebracht werden müssen, wo sie aus Existenzgründen wirklich dringend gebraucht wird.
Was in den letzten Jahren in Wirklichkeit stattgefunden hat, ist eine Enteignung auf kaltem Wege. Wir nennen das auch Enteignung.
— Darauf komme ich noch. — In den letzten zehn
Jahren sind 220 000 Betriebe enteignet worden. In
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Frau Dr. Vollmer
den letzten 20 Jahren haben 200 000 Arbeitskräfte ihren Arbeitsplatz auf dem Lande verloren.
Die Verschuldung stieg in der Landwirtschaft in den letzten 20 Jahren um 35 Milliarden DM. Allein 35% aller Vollerwerbsbetriebe leben von der Substanz. In der Nachkriegszeit sind aus dem agrarischen Sektor 500 Milliarden DM Kapital in den industriellen Sektor hinübergeflossen. Dieses kann man nur mit dem Ausdruck „Enteignung auf kaltem Wege" kennzeichnen.
Der Flächenverlust bei der Landwirtschaft betrug 1,3 Millionen ha. Auch das ist eine Form von Enteignung.
Jetzt haben wir die wirklichen Feinde der Bauern entdeckt, das sind nämlich die GRÜNEN!
Wer enteignet hier eigentlich wen? Sie werden bei den Bauern mit dieser Argumentation nicht durchkommen. Sie werden auch nicht damit durchkommen, daß Sie schon jetzt den Wahlkampf auf dem Lande entfachen. Sie haben doch große Sorge, daß die Bauern zum erstenmal wirklich eine Alternative auch mit ihrem Stimmzettel haben, nämlich die GRÜNEN zu wählen, die eine andere Politik wollen.
Da Sie aber durch das Land ziehen und über Enteignung und über die Programme der GRÜNEN sprechen, will ich Ihnen deutlich etwas über unser Verhältnis zum Eigentum sagen. Wir sind nicht der Meinung, daß das Eigentum in der Hand des Staates besser verwaltet wäre als in der Hand der Bauern. Wir wissen, daß der Staat in den letzten Jahren mit Grund und Boden sehr schlecht umgegangen ist.
Wir sind sehr wohl daran interessiert, daß es da, wo Militäranlagen, wo Atomkraftwerke geplant werden, Bauern und Grundbesitzer gibt, die sagen: Wir geben unser Land für diese Zwecke nicht her.
Wir sind aber gegen Bodenspekulanten. Wir haben ein Verständnis von Eigentum, das dem verpflichtet ist, was immer bäuerliche Tradition war, nämlich daß man den Boden hat, um ihn zu nutzen, um ihn dann aber ungekürzt an die nächste Generation weiterzugeben.
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist unbestreitbar, daß sich heute in der Landwirtschaft Unsicherheit und Unruhe breitmachen. Die agrarpolitischen Entscheidungen wie die Milchkontingentierung, der Abbau des Grenzausgleichs und dadurch bedingt die undifferenzierte generelle 5%ige Erhöhung der Mehrwertsteuer sind in dieser Form nach meiner Meinung Maßnahmen und Entscheidungen gegen den bäuerlichen Familienbetrieb.
Wir haben diese Regelung nicht erfunden. Die FDP hat sich hier trotz erheblichen Widerstands aber nicht gegen die CDU, nicht gegen die CSU und nicht gegen den Bauernverband — oder besser gesagt: gegen das Präsidium des Deutschen Bauernverbands — durchsetzen können.
Meine Damen und Herren, wir spüren im Augenblick die Auswirkungen der agrarpolitischen Entscheidungen, vor deren Folgen ich z. B. im Gegensatz zum bayerischen Ministerpräsidenten, der das jetzt ja auch alles entdeckt hat, sehr früh gewarnt habe. Ich habe aber überhaupt keinen Grund zur Schadenfreude, sondern ich mache mir große Sorgen um die Existenz unserer bäuerlichen Familienbetriebe.
Wir als Agrarpolitiker haben jetzt die Pflicht und die Aufgabe, politische Entscheidungen zu treffen und Vorschläge zu machen, um in Not geratenen Betrieben zu helfen. Hierzu möchte ich die Regierung auffordern.Hier nützt allerdings auch keine billige Polemik, wie wir sie teilweise aus den Reihen der SPD-Opposition hören, die nur von Milliardengeschenken für die deutschen Bauern spricht.Frau Vollmer, Sie haben hier über die Enteignung gesprochen. Dazu zitiere ich aus Ihrem Wahlprogramm für Nordrhein-Westfalen:Grund und Boden dürfen genausowenig wie Luft und Wasser Eigentum sein.
Eigentums- und Besitzverhältnisse müssen deshalb in reine Nutzungsrechte überführt werden, die einer demokratischen kommunalen Kontrolle unterliegen.Nun sagen Sie nicht: Es geht nur um die Grundstücksspekulanten.
Das ist der Einstieg. Das muß man ganz deutlich sagen, wenn Sie hier über Enteignung sprechen.Die FDP hat großes Verständnis für die Sorgen unserer bäuerlichen Familienbetriebe. Die Agrarpolitik muß Antwort geben auf die Frage nach der Zukunft dieser Betriebe. Für die FDP-Fraktion darf ich nochmals ganz eindeutig feststellen: Wir wollen den bäuerlichen Familienbetrieb aus ökonomischen Gründen, wir wollen ihn aus ökologischen
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BredehornGründen, und wir wollen ihn aus gesellschaftspolitischen Gründen.Ich bin fest davon überzeugt: Die agrarpolitischen Entscheidungen in dieser Legislaturperiode durch diese Koalition, durch diese Bundesregierung werden über die Zukunft dieser Betriebe entscheiden. Wir müssen uns über den Weg zur Erhaltung bäuerlicher Betriebe klar werden. Ist es richtig, über direkte Einkommenshilfen bäuerliche Betriebe zu erhalten, oder wollen wir den liberalen, den marktwirtschaftlichen Weg gehen? Dann müssen wir diesen bäuerlichen Betrieben auch den Markt erhalten.Die Koalitionsparteien und die Bundesregierung haben die schwierige Situation in der Landwirtschaft erkannt, und wir handeln. Wir haben 100 Millionen DM für die Milchrente bereitgestellt, um hier wieder etwas mehr Luft, etwas mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen. Leider hat die Opposition auch dies abgelehnt. Wenn ich mir selber auch eine andere Differenzierung der Erhöhung bei der Mehrwertsteuer um 5 % vorgestellt hätte, die SPD hat diese Maßnahme ebenfalls abgelehnt. Wir bemühen uns, im Bundeshaushalt 1985 zusätzliche Mittel bis zu 150 Millionen DM für die benachteiligten Gebiete zur Verfügung zu stellen.Die FDP hat die Forderung erhoben, ab 1. Januar 1986 zusätzliche Mittel bereitzustellen, damit kleine und mittlere Vollerwerbsbetriebe von ihrer Beitragszahlung im Sozialbereich entlastet werden. Die FDP hat — zusammen mit dem Koalitionspartner — den Vorschlag gemacht, aus der Gemeinschaftsaufgabe bis zu 100 Millionen DM für die Aufgaben von Naturschutz, Landschaftspflege, Wasserschutz und Aufforstung von landwirtschaftlich genutzten Flächen bereitzustellen.Meine Damen und Herren, die FDP hält an einer Agrarpolitik für den bäuerlichen Familienbetrieb unbeirrt fest. Wir sind davon überzeugt, daß diese Betriebsform den ökonomischen und ökologischen Belangen am besten gerecht wird. Wenn diese Betriebsform eine Zukunftschance haben soll, dann müssen wir die politischen Rahmenbedingungen entsprechend gestalten.Deshalb fordert die FDP erstens im Steuerrecht die Begünstigung landwirtschaftlicher Betriebe bei der Grundsteuer, die Einführung einer absoluten Obergrenze, ab der ein Betrieb gewerblich wird, und Zuschläge zur Gewerbesteuer für gewerbliche Tierhaltung.Zweitens fordert die FDP die Novellierung des Landpachtschutzgesetzes zum wirklichen Schutz des bäuerlichen Familienbetriebes. Kleinere, entwicklungsfähige bäuerliche Betriebe sollten — regional unterschiedlich — den Vorzug vor denjenigen Betrieben haben, deren Bodenausstattung für eine gesunde, sichere Zukunft des Hofes ausreicht.Drittens. In der Umweltgesetzgebung brauchen wir in allen Ländern eine wirksame Gülleverordnung. Baugenehmigungen für Ställe sollten nur erteilt werden, wenn für die vorgesehene Tierzahl auch ausreichende Flächen nachgewiesen werden können.Viertens. Es muß in der EG-Agrarpolitik mit der Investitionsförderung im Überschußbereich endlich Schluß gemacht werden,
insbesondere bei Schweine-, Bullen- und Kuhställen. Bei gesättigten Märkten führt eine weitere staatliche Förderung nur zu einem staatlich subventionierten Verdrängungswettbewerb zu Lasten der kleinen und mittleren bäuerlichen Betriebe.Da ich bei der EG bin, noch ein Wort: Die FDP bedauert sehr das Ausscheiden des Staatssekretärs Rohr, der überall als anerkannter Fachmann galt.
Ich sage hier offiziell für die FDP: Wir bedanken uns bei Staatssekretär Rohr für seine sachliche und fachkundige Arbeit.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie müssen, bitte, sofort aufhören, tut mir leid.
Ich komme zum Schluß.
Nein, nein, tut mir leid, Herr Bredehorn.
Dann bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wimmer .
Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bredehorn, Sie haben zum Schluß wieder ganz schön die Kurve gekratzt: am Anfang kritisieren und zum Schluß wieder die Koalitionskurve kratzen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes wieder umgefallen, wie wir das bei der FDP schon sehr oft erlebt haben.
Wenn man sich die Worte des Herrn Susset noch einmal in Erinnerung ruft, dann möchte man meinen, daß Herr Susset in den letzten Monaten mit keinem Landwirt eines Klein- und Mittelbetriebes gesprochen hat
und daß er auch nicht zur Kenntnis genommen hat, was der Bauernverband, was vor allen Dingen der Präsident des Bayerischen Bauernverbands, Sühler, und was der Klassenkämpfer Strauß — denn der ist sicherlich ebenfalls ein Klassenkämpfer, wenn schon der Herr Vogel nach den Worten von
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Wimmer
Herrn Susset ein Klassenkämpfer ist — zur Agrarpolitik gesagt haben.Sie haben die Unfallversicherung und die Altershilfe angesprochen: Wir haben uns immer dazu bekannt, daß wir die Altlast aus der Unfallversicherung übernehmen werden. Wir haben in der alten Koalition die Erstellung eines entsprechenden Gutachtens beantragt. Daß das dann beinahe ein Jahr im Ministerium liegengeblieben und nicht in den Ausschuß gekommen ist, ist das Verschulden der jetzigen Regierung, aber nicht unser Verschulden.
Wir bekennen uns ganz eindeutig zur Altlast und werden einer entsprechenden Regelung in jedem Falle zustimmen.Bei der Altershilfe haben Sie sich einer Umverteilung immer hartnäckig verweigert und unser Gesetz im Bundesrat damals zum Scheitern gebracht.
Was Sie wollen, ist ja immer nur draufsatteln, aber nicht umverteilen.
Sie haben nur den Mut, einen Kahlschlag bei Schülern, Rentnern und Behinderten durchzuführen.
Aber bei den Großagrariern hinzulangen, da fehlt er Ihnen.
Bereits vor zwei Jahren hat dieses Parlament einen Gesetzentwurf über eine gerechtere Staffelung der Bundeszuschüsse in der Altershilfe der Landwirte verlangt. Bundesminister Blüm hat auftragsgemäß einen Gesetzentwurf erstellt, Bundesminister Kiechle hält den unter Verschluß. Er will ihn nicht vorlegen — oder vielleicht darf er ihn nicht vorlegen —, weil der Bauernverband dagegen ist, weil die Großbauern unter Umständen dagegen sind.
Es soll keine Umverteilung der Bundeszuschüsse für die Altershilfe zwischen den einkommensstarken und -schwachen Betrieben geben. Das ist Ihre Grundhaltung seit Jahren, und daran halten Sie fest. Soziale Gerechtigkeit ist für Sie, Herr Bundesminister Kiechle, und für diese Regierung ein Fremdwort. Als wir damals unseren Vorschlag zur Umverteilung einbrachten, haben Sie diesen Gesetzentwurf als ein sozialistisches Teufelswerk abqualifiziert.
Es sind Ihre ideologischen Scheuklappen, die Sie daran hindern, eine vernünftige und gerechte Umverteilungspolitik innerhalb der Landwirtschaft zu machen.
Wenn ich an Bereiche wie den Bayerischen Wald oder Bayern insgesamt denke, kann ich nur sagen, Herr Minister Kiechle, daß Ihre Politik insbesondere gegen die Landwirtschaft in Bayern gerichtet ist.
Sie werden viele mittelständische Betriebe in Bayern an den Rand des Ruins drängen.
Sie hätten durch eine sozial gerechtere Staffelung der Zuschüsse Gelegenheit zu helfen. Sie brauchten dann nicht zum Finanzminister zu gehen, um neues Geld locker zu machen. — Ich wünsche Ihnen übrigens, wenn Sie heute mit Herrn Finanzminister Stoltenberg sprechen sollten, viel Erfolg. Ich gehe aber davon aus, daß der Finanzminister wenigstens aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat
und nichts mehr draufsattelt, sondern eine Umschichtung verlangt.
Das gilt auch für das Bergbauernprogramm und die Ausgleichszulage. Auch hier wollen Sie, Herr Minister Kiechle, 150 Millionen DM mehr pro Jahr haben. Woher soll das Geld kommen? Sagen Sie das hier einmal! Wieder von den Arbeitslosen, von den Rentnern? Oder wer soll hier zur Kasse gebeten werden?
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch wir sind für eine Ausgleichszulage. Auch wir wollen den benachteiligten Gebieten helfen. Sie erbringen wichtige Leistungen für Natur und Landschaft. Aber wir sind dafür, daß innerhalb der Landwirtschaft umgeschichtet wird.Ich glaube, Herr Kiechle, Sie nehmen den Mund sehr voll, wenn Sie hier versprechen, daß auch der Höchstbetrag von 200 bzw. 240 DM aufgestockt werden soll und alle benachteiligten Gebiete damit erfaßt werden können. Was kostet denn dies? Wer nennt die Zahlen? In der Ausschußsitzung hat sich der Vertreter des BML um eine Antwort herumgedrückt. Ich sage Ihnen, warum: weil Ihr Versprechen Kosten von ca. 600 Millionen DM pro Jahr verursachen würde. Dieses Geld werden Sie mit Sicherheit nicht bekommen.Ich kann Ihnen aber sagen, wie das Problem zu lösen wäre. Man könnte die Mittel im Rahmen eines direkten Flächenausgleichs besser verteilen als mittels der Vorsteuerpauschale in Höhe von 5%, mit der man quer über das Land gegangen ist. Damit könnten Sie kleinen und mittleren Bauern helfen.
Aber das wollen Sie nicht. Wo Sie handeln sollten,Herr Minister, handeln Sie nicht; wo Sie handeln,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6665
Wimmer
handeln Sie falsch. Sie passen in dieses Kabinett, aber nicht für die kleinen und mittleren bäuerlichen Betriebe.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brunner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Vogel, es ist schon eine Zumutung, wenn Sie sich heute anläßlich dieser von Ihnen angezettelten Aktuellen Stunde hier im deutschen Parlament hinstellen
und sich als der große Beschützer der deutschen Bauern aufspielen wollen, Sie, der Erfinder des Thesen-Papiers, das das gespaltene Eigentum zum Inhalt hat.
Die GRÜNEN gehen heute Arm in Arm mit Ihnen in dieser Richtung; denn die haben vor dem nordrhein-westfälischen Wahlkampf erklärt, daß sie Grund und Boden enteignen wollen,
um hier eine bessere Agrarpolitik, allerdings nach sozialistischem Muster, machen zu können. —
Das wollte ich meinen kurzen Ausführungen zur Aktuellen Stunde heute voransetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Bundesregierung und unser Landwirtschaftsminister Kiechle mußten am 31. März dieses Jahres in Brüssel handeln, sollte nicht das Gebäude der Marktordnungssysteme, das einstmals für den Schutz der bäuerlichen Landwirtschaft in der Europäischen Gemeinschaft geschaffen worden war, zusammenbrechen.
Sie können sich darauf verlassen, daß diese Regierung, daß die CDU/CSU und die Koalitionsfraktionen den am 31. März eingeschlagenen Weg konsequent weiterverfolgen werden,
selbst wenn es da und dort Schwierigkeiten im Vollzug dessen geben sollte — und gegeben hat —. Man muß uns nur zugestehen, daß wir dazu auch einen gewissen Rahmen an Zeit brauchen. Während des laufenden Milchwirtschaftsjahres wird es uns kaum möglich sein, größere Korrekturen zu machen. Wir haben die notwendigen Korrekturen, die möglich waren, in kürzester Zeit angebracht. Wir werden nach einem Jahr sicherlich einiges in die
Richtung bringen, in die es gehen muß. Wir werden während dieser Zeit darauf achten — diese Maßnahmen sind eingeleitet —, daß es bei Betrieben keine Existenzverluste geben wird.
Wir werden ferner das Bergbauernprogramm, mit dem wir nachhaltig und schnell helfen können, demnächst umsetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden des weiteren darauf zu achten haben, wie künftig die Agrarpolitik gestaltet werden kann, und zwar in der Weise, daß man dem Bereich nachwachsender Rohstoffe und seiner vielschichtigen Verwendung ein größeres Augenmerk zuwenden wird.
Wenn man verantwortliche Politik mit Nachdruck betreiben will, muß man alle Aspekte mit ins Kalkül ziehen.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Oostergetelo.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich nicht lange mit dem Vorredner aufhalten. Herr Susset, ich wundere mich, mit welchem Mut Sie sich hier hinstellen. Waren Sie wirklich in keiner einzigen Versammlung? Meinen Sie, man muß Unruhe machen, wenn sie da ist? Haben Sie eigentlich mit niemandem geredet?
Haben Sie eigentlich alles vergessen, Herr Kollege, was Sie in der Opposition gesagt, geredet, gefordert und mitbeschlossen haben? Oder soll ich zitieren, was der Staatssekretär Gallus sagt? Seinerzeit, als er die Produktion an den Boden binden wollte, gab es keine Ohren.
Es gab keine Hilfe von seiten der damaligen Opposition, übrigens auch nicht vom Bauernverband. So zitiert hier — wörtlich — „Landwirtschaft heute".
Nein, meine Damen und Herren, Sie haben dies nie ändern wollen. Sie haben immer draufgesattelt. Nun sitzen Sie da damit. Sie haben auch nicht hören wollen. Wir haben angeboten, Herr Minister, mit Ihnen zusammen zuzusehen, wie wir herauskommen. Wir wissen, daß Sie eine schwierige Sache zu übernehmen hatten. Aber es hat keine Zeit gegeben in der Bundesrepublik Deutschland, in der es eine Regierung in so kurzer Zeit geschafft hat, daß ein ganzer Berufsstand in Notlage gerät. Wie der Bayer sagt, dürften dies Hunderttausende von Existenzen sein. Das sind Familien, meine Damen und Herren, denen vom Staat die wirtschaftliche Existenz genommen wird, obwohl sie seit Generationen auf ihrem Boden leben. Herr Minister, waren
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Oostergetelo
Sie eigentlich auf dem Hof eines Betroffenen? Ich habe mit vielen geredet, und ich war auf vielen Höfen. Ich habe erwachsene, gestandene Männer gesehen, die geweint haben, weil ihnen die Existenz genommen wird, nein, nicht nur, weil sie die Arbeit verlieren, sondern weil sie ihre eigene Identität aufgeben müssen.
Dies ist doch kein Spaß, Freunde. Das ist Ernst. Hier geht es nicht mehr um Parteitaktik. Hier geht es um das Überleben von Hunderttausenden von Familien. Und Sie machen sich hier so heraus und vertreten auch noch diese auf Bankrott gerichtete Agrarpolitik.
Ich bedanke mich für Ihren Mut. Die Lieblingsidee des Ministers, die Quotierung, hat er durchgesetzt und hat sich den Grenzausgleich eingehandelt. Er hat ihn total abgebaut, radikal und vollständig. Er schuf dann die Ausgleichsabgabe, ein Mittel, das als Produktionsanreiz da ist. Man muß sich doch fragen: Welch ein Unfug, wenn man bedenkt, daß Überschußbegrenzung das Ziel der gesamten Aktion war! Gehen Sie mit mir nach Bayern, Herr Kollege, auf Bauernversammlungen, dann wollen wir einmal sehen, wo Sie bleiben!
Nein, meine Damen und Herren!
Dann hat man gesagt: Aber diese Ausgleichsabgabe ist Hilfe für Kleinbauern, den betroffenen Bauern wird hier geholfen.
Dies ist Augenwischerei. Die Hilfe für Kleinbauern bedeutet exakt 2,25 DM pro Tag, wenn Sie es umrechnen. Was haben Sie hier gemacht? Wollen Sie die Bauern wirklich für so dumm verkaufen? Meinen Sie, daß die Bauern nicht merken, daß die großen Ergebnisse bei dieser Umlage doch nur die umsatzstarken Betriebe erreicht? Diese haben die Vorteile, und das kostet Milliarden.
— Herr Eigen, Sie wollten noch viel mehr. Sie wollten die Begrenzung „bäuerlich" heraus haben. Sie wollten die Manipulation mit dem Faktor 1,5 bzw. 2,5. Dann hätten Betriebe mit 1,6 Millionen DM Umsatz 5% eingestrichen.
Reden Sie doch nicht über den Abbau von Subven-
tionen und über Sparmaßnahmen! Sie haben sich,
obwohl Sie mein werter Kollege sind, ganz besonders daran beteiligt, den Kleinen etwas zu nehmen, damit die Großen etwas dazubekommen.
Meine Damen und Herren, das Schlimme ist: Durch die Quotierung nimmt man dem kleinen Mann den Umsatz. Anschließend bietet man ihm die Hilfe durch den Umsatz. Ich frage Sie: Ist das kein Betrug? Was ist das denn sonst?
Die Quotierung ist unsozial, ungerecht, sinnlos bürokratisierend. Wir haben aber noch ein Verfassungsgericht, meine Damen und Herren. Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Härtefälle sind bei Ihnen doch nur gegeben, wenn man investiert hat, aber doch nicht, wenn man die Existenz verliert. Die Superabgabe kostet einige Bauern mehr, als sie an Milchgeld haben. Wovon sollen sie denn leben? Kleinbetriebe und Jungbauern in Grünlandstandorten bekommen ein Berufsverbot. Nichts anderes ist es. Die Quotierung nützt England und Holland.
Ich frage Sie, Herr Minister: Für wen haben Sie sich eigentlich eingesetzt? Für wen, für welches Land haben Sie eigentlich gemäß Ihrem Amtseid Schaden abgewendet und Nutzen gemehrt? Ich sage Ihnen: Ändern Sie Ihre Politik im Sinne dessen, was Jochen Vogel hier vorgetragen hat,
oder dieses Volk wird diese Regierung abgewählt wünschen!
Herr Präsident, ich fordere Sie auf, auch als Präsident des Bauernverbandes den Mut zu haben, hier nach vorn zu gehen und zu sagen, wie es aussieht.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der „Kleinbauer" Oostergetelo hat seine Unterlagen vergessen.
Ich bin in diese von der SPD beantragte Aktuelle Stunde in der sicheren Erwartung gekommen, hier Vorschläge für die Verbesserung der Agrarpolitik und klare, eindeutige Aussagen darüber, wie etwas besser gestaltet werden könnte, zu hören. Was ich bis jetzt gehört habe, ist maßlose Polemik.
Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6667Bundesminister KiechleDer eine spricht von Zehntausenden von Bauern, die zugrunde gehen. Das ist der Herr Fraktionsvorsitzende Vogel.
Der nächste spricht schon von Hunderttausenden, die zugrunde gehen. Das ist der agrarpolitische Sprecher Oostergetelo. Im übrigen ist das Ganze, auch von seiten der SPD, nichts anderes — es tut mir leid, wenn ich Ihnen das sagen muß — als ein Sich-Einreihen in die Reihen der Angstproduzenten,
in der schäbigen und — Sie können sich darauf verlassen — auch vergeblichen Hoffnung, aus Angst Kapital schlagen zu können.
Ich möchte Ihnen zu dieser Agrarpolitik folgendes sagen. Kein Mensch bestreitet Schwierigkeiten — ich habe ja das immer gesagt —: Wir müssen mit mindestens zwei schwierigen Jahren für unsere Bauern rechnen. Ich habe j a aber auch vorgefunden, daß die deutschen Landwirte in den Jahren von 1975 bis 1982 von der sechsten an die vorletzte Stelle in der Einkommensentwicklung innerhalb der europäischen Landwirtschaft abgerutscht sind.
Das Land, das die höchsten Beiträge zahlt, das höchste Lohnniveau hat, die höchste soziale Absicherung — glücklicherweise! — sein eigen nennen darf, hat in diesen sieben Jahren hinnehmen müssen, daß seine Bauern an die vorletzte Stelle gerutscht sind. Nun müssen Sie sich einmal danach erkundigen, welcher Bundeskanzler für diese Politik letztlich die Verantwortung getragen hat,
wenn Sie es schon vergessen haben sollten.Sie reden hier jetzt nur vom Umverteilen, Sie predigen den Klassenkampf.
Die Sprache, die Sie wählen, verrät — wie damals, als wir über die Überbrückungshilfe für die Bauern beraten haben und als Sie das Wort vom Milliardencoup geprägt haben —, daß es Ihnen nicht um die Bauern geht, sondern um die Unruhe, die Sie stiften können.
Eine solche Politik können wir hier nicht einmal verbal akzeptieren; ich weise sie in aller Ruhe, aber deutlich zurück.
Sie reden dauernd von Betrieben, die zugrunde gehen oder gehen werden, aber Sie sollten sich vor solchen Formulierungen hüten. In den Jahren von 1970 bis 1976 sind es pro Jahr 30 000 Bauernhöfe weniger geworden, von 1976 bis 1982 pro Jahr 20 000.
Damals war keiner bei der Opposition so — ich hätte beinahe ein unparlamentarisches Wort verwendet — unfair, zu sagen, ihr vernichtet kleine Bauern; denn es waren kleine, die aufgehört haben.
Der Strukturwandel ist etwas, was man nicht verhindern kann und was man bis zu bestimmten Kategorien auch nicht verhindern will. Allerdings haben Sie ihn durch Ihre Förderpolitik zugunsten der wachsenden Betriebe und zu Lasten derer, die man nur stabilisieren kann, eindeutig forciert.
Und jetzt kommen Sie her und haben nichts zu bieten!
Bei dem — wie ich meine, durchaus respektablen — Versuch, diese Politik, die die Bauern beim Einkommen an die vorletzte Stelle gebracht hat, zu korrigieren, haben Sie außer Polemik und Panikmache nichts zu bieten.
Zu den GRÜNEN und speziell zu Ihnen, Frau Vollmer, will ich nichts sagen. Sie müssen erst einmal an irgendeiner Stelle beweisen, was von dem, was Sie landauf, landab verkünden, wirklich auch durchsetzbar ist. Gespaltene Preise, Großvaters Produktionsmethoden und letztlich auch noch die in Infragestellung des Eigentums an Grund und Boden sind sicher nicht die Rezepte, die unseren Bauern — und schon gar nicht den kleinen — helfen würden.
Ich möchte noch eine Bemerkung zu der sogenannten Quotenregelung machen. Es gibt daran einwandfrei vieles — das bestätige ich —, was mir selbst auch nicht gefällt, aber es ist zum erstenmal — und wir reden nicht nur von Pulten wie diesem und noch mehr draußen darüber, sondern haben auch gehandelt — gelungen, in allen bisherigen Wachstumsregionen der Europäischen Gemeinschaft die Produktion von Milch zu stoppen
und den Anstieg der Jahre 1982 und 1983 wiederzurückzuführen. Damit erwächst als einzige realistische und wirklich greifende Maßnahme für un-
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Bundesminister Kiechlesere kleinen und mittleren Bauern die Chance, daß sie ihre Produktion behalten können.
— Ich kann nichts dafür, wenn Sie das nicht begreifen, aber 1 200 000 t Butter und rund 1 Million t Magermilchpulver sollten auch Ihnen signalisieren, wer hier wen totproduziert, wenn man dies noch länger weiterlaufen läßt.
Nur auf dieser Basis des Abblockens weiteren Zuwachses kann man dann im Laufe der Jahre unseren mittleren und kleinen Betrieben helfen, und das werden wir tun — auch mit etwas unkonventionelleren Methoden,
als Sie uns das gelegentlich zubilligen oder zutrauen.Deswegen hat unsere Politik eine Zukunftsperspektive
für die mittleren und für die kleinen Betriebe. Ihre Politik hatte keine Perspektive mehr; da waren diese Betriebe nur noch in der Lage, unter dem Druck der Überproduktion anderer aufzuhören.
Die Wachstumsideologie, die Sie den Bauern zugemutet hatten,
bedeutete nichts anderes, als den Großen eine Mehrproduktion durch deren Förderung noch leichter zu ermöglichen
und den anderen billige Trostworte zu geben.
Das hat zur Entsolidarisierung bei den Bauern geführt.Daß all das in Zahlen deutlich wird und daß dies bei einem Bremsmanöver, das nun wirklich schwierig genug ist, auch nach außen zum Tragen kommt, habe ich zu akzeptieren,
und das muß ich letztlich auch draußen vertreten. Aber es wäre nicht nötig, daß Politiker, die von sich selber meinen, sie dürften ernstgenommen werden, einen solchen Prozeß zum Klassenkampf mißbrauchen.
Das Wort hat der Abgeordnete Müller .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, wenn sich Sie so reden höre, gewinnt man den Eindruck — wie sagt man so schön modern —, Sie haben den Kontakt zur Basis verloren.
Im April 1982 schrieb Herr Kiechle im „Bayernkurier":Was ist das für eine erbärmliche Politik, die dazu führt, daß rund 40 % aller Vollerwerbsbetriebe nur ein Einkommen erwirtschaften können, das unter dem Sozialhilfesatz liegt.So 1982 Herr Kiechle im „Bayernkurier". Und heute? Wie sollen wir diese Politik der Regierung heute bezeichnen? Erbärmlich, verantwortungslos oder unmenschlich? Haben Sie ausgerechnet, Herr Minister, wie viele Betriebe durch Ihre Politik, durch die Politik dieser Regierung, unter das Sozialhilfeniveau gerutscht sind? Haben Sie das einmal ausgerechnet? Bemühen Sie sich doch einmal darum. Jetzt fällt Ihnen nichts Besseres ein, wie gerade eben wieder, als bei jeder Gelegenheit von Erblast zu reden.
Hören Sie doch endlich mit dieser Legende auf und denken Sie einmal nach über die Todsünden der Agrarpolitik, sie Sie begangen haben!
Punkt Nr. 1: Abbau des Grenzausgleichs mitten im Wirtschaftsjahr und noch dazu ohne Preisbruchregelung. Warum haben Sie die damals nicht eingefordert? Warum haben Sie sich die nicht bestätigen lassen, Herr Minister? Haben Sie die verschlafen? Und jetzt reden Sie und Herr Eigen von einem Vertrauensbruch der Kommission. Wer hat denn das Vertrauen der EG-Partner gebrochen? Das waren Sie doch
mit Ihrer Vorsteuerpauschale. So ist es doch gelaufen.
Es war die rechtswidrige Anhebung der Vorsteuer-pauschale. Jetzt kommt die Retourkutsche, und da wundern Sie sich: Ihre Wünsche und Forderungen werden in Brüssel abgeschmettert, ob beim Wein, bei den Kirschen, bei Preisbruch oder bei den Verpachtungsfragen in der Milchkontingentierung. So sieht die Situation heute aus. Und in einer solchen Situation entlassen Sie Ihren europaerfahrensten Beamten!
Herr Minister, Sie sind von allen guten Geistern verlassen, das ist der Eindruck.
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Müller
Todsünde Nr. 2: Die Milchkontingentierung. Sie geht voll auf ihre Kappe. Sie haben ein beispielloses Planungschaos angerichtet, nur Verwirrung gestiftet durch immer neue Verordnungen. Das Ergebnis: trostlos für die kleinen Milchbauern. Wie wollen Sie die Härtefälle regeln? Woher die dafür benötigten Milchquoten nehmen? Müssen die Quoten weiter gekürzt werden? Kann die Garantiemenge eingehalten werden? Fragen, Unklarheiten, Beschwichtigungen.
Ergebnis für die Bauern? Diese 30 000-KilogrammRegelung, die Sie draußen als großen Erfolg verkünden? Haben denn die kleinen Vollerwerbsbetriebe etwas davon? Was haben sie davon?
Eine zusätzliche Enttäuschung. Das zeigt Ihr Herz für die kleinen Betriebe, Herr Minister.
Todsünde Nr. 3: Anhebung der Vorsteuerpauschale.
Jetzt merken die kleinen Bauern in Süddeutschland, wie sie ausgetrickst worden sind, von ihrem Minister, von einem Milchbauern aus dem Allgäu, von einem Milchbauern aus Bayern. Jetzt merken sie, daß ihnen zum Leben zuwenig bleibt und zum Sterben zuviel, während die gut strukturierten Gebiete in Norddeutschland sich gesundstoßen.
Wir waren vor kurzem im Bayerischen Wald. Wissen Sie, was Bauern und Verbandsfunktionäre uns dort erzählt haben? Daß 50% aller Betriebe dort nicht überleben werden. Die kleinen Vollerwerbsgrünlandbetriebe bleiben auf der Strecke. Hunderttausend treiben Sie nicht nur in Existenznot, sondern Sie nehmen ihren Kindern auch die Zukunft-perspektive. Das ist Ihre Politik, Herr Minister.
Deshalb fordern wir: Ändern Sie das Mehrwertsteuergesetz so, wie wir es vorgeschlagen haben. Folgen Sie unserem Vorschlag eines flächenbezogenen Direktausgleichs! Nehmen Sie Ihre Verantwortung als Landwirtschaftsminister ernst und geben Sie den kleinen Milchbetrieben, den kleinen Vollerwerbsbetrieben endlich eine Chance, damit sie eine Zukunftsperspektive haben, Herr Minister!
Das Wort hat der Abgeordnete Michels.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will mich hier nicht mit der Polemik auseinandersetzen, sondern einfach Fragen stellen und im Interesse unserer Bauern vielleicht auch ein paar Antworten geben. Als wir die Regierung übernahmen, stand die deutsche Landwirtschaft mit ihrem Einkommen innerhalb der EG an zweitletzter Stelle. Als wir die Regierung übernahmen, hatten wir Überschüsse in Brüssel, die auch die alte Regierung nicht mehr bezahlen konnte. Es wurde von einer Verschleuderung von Finanzmitteln für eine verfehlte Agrarpolitik aus Ihren Reihen gesprochen.
Es gab Lagerbestände in einem Umfang von 17 Milliarden DM, die auf Kredit lagerten, und es bestanden keine Absatzmöglichkeiten. Das war die Realität. Das Volumen des Mehrwertsteueraufkommens von 1 % zur Finanzierung dieser Agrarpolitik war ausgeschöpft. Wie wollten Sie ohne zusätzliche Mittel in Zukunft die steigende Produktion finanzieren, geschweige denn sie absetzen? Das sollten Sie bei allen — aus Ihrer Sicht berechtigten Angriffen, die Sie als Opposition starten können, mit bedenken. Diese Schwierigkeiten haben Sie herbeigeführt. Unser Minister ist nun vor die schwierige Aufgabe gestellt, die Probleme zu lösen, die Sie nicht gelöst haben! Sie sind dafür verantwortlich, daß die Dinge zu einem Problem herangewachsen sind.
Nun zur sozialen Abfederung bei der Milch. Wir haben eine Staffelung von 2 % bis 12,5 %. Überlegen Sie einmal: Derjenige, der 60 000 1 Milch produziert und dem 2 % abgezogen werden, bekommt aber gleichzeitig die von Ihnen verteufelte Vorsteuerpauschale von 5 % voll dazu.
Das ergibt allein auf diesem Sektor gegenüber Ihrer Regierungszeit eine Verbesserung um drei Pfennige je Liter.
Herr Minister, die Änderung der Härtefallregelung ist sicherlich ein Problem, das uns alle beschäftigt. Wir werden hieran mit Sicherheit noch feilen müssen. Wenn man den 370 000 Milchlieferanten den Preis sichern will, muß man eben diese schwierige Aufgabe auf sich nehmen und darf hier nicht nur polemisieren, wie Sie es tun.
Wir werden darüber hinaus die flankierenden Maßnahmen verstärken. Das hat unser Vorsitzender Susset schon gesagt. Wir haben eine Aufstokkung der Mittel für die Alterskasse um 150 Millionen DM beantragt, denn auf der Basis der gegenwärtigen finanziellen Lage können wir eine Umverteilung in der Weise, daß wirklich diejenigen entlastet werden, die entlastet werden müssen, nicht vornehmen. Zur Zeit ist die Zahl der kleineren landwirtschaftlichen Betriebe, die entlastet werden müssen, sehr hoch; die geringere Anzahl der größeren Betriebe ist nicht in der Lage, die Mittel zu dieser Entlastung aufzubringen. Wir beantragen zu-
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Michels
sätzlich 150 Millionen DM, um den kleineren Betrieben die entsprechenden Kosten sparen zu helfen.
Wir werden die Mittel für die benachteiligten Gebiete, die zur Zeit eine Fläche von insgesamt 1,5 Millionen qm ausmachen, auf etwa 4 Millionen DM aufstocken. Wir haben auch hierfür bereits zusätzliche Mittel beantragt, damit in diesen Regionen wirklich geholfen werden kann.
Herr Müller, wenn Sie von Aussichtslosigkeit gerade im Hinblick auf die jungen Bauern sprechen, dann frage ich Sie: Worin liegt die denn begründet?
Die liegt doch in der Tatsache begründet, daß wir einen wirtschaftlichen Ruin übernehmen mußten, den wir erst allmählich wieder in Ordnung bringen.
Meine Damen und Herren, Sie hatten in Ihrer mittelfristigen Finanzplanung — so weit gehen bei Ihnen Wort und Tat auseinander — eine Stützung der Berufsgenossenschaft von 120 Millionen DM vorgesehen. Wir geben 400 Millionen dafür. Das ist unsere Leistung, und das sind Ihre leeren Worte.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier wurde am Anfang gesagt, die Unruhe würde herbeigeredet. Ich frage mich aber, ob das richtig ist, da man gestern in der Presse lesen konnte, daß 1 000 Bauern eine Anzeige gegen den Bundeslandwirtschaftsminister erstattet haben.
Die Tatsache, daß es in der Landwirtschaft immer kritischer geworden ist, brauchen wir nicht herbeizureden. Sie ist da, meine Damen und Herren. Nach dem Waldsterben beginnt nun das Bauernsterben.
Wer das leugnet, will hier nur etwas vertuschen.
Die Höfe werden in der Tat Zug um Zug leergefegt, und es beginnt der Ausverkauf der Landwirtschaft und auch der Landschaft. Unter dem Stichwort, man wolle die Überproduktion eingrenzen, wollte man dann auch marktgerecht produzieren. Auch dort, wo marktgerecht produziert wird, nämlich im Allgäu, wo alle Milchprodukte verkauft werden, werden die Bauern so bestraft, als wenn sie überproduzierten. Das ist die Ungerechtigkeit an dieser Sache.
Der Herr Kiechle hat gesagt, wir sollten Vorschläge machen. DIE REPUBLIKANER möchten drei Vorschläge machen.
Erstens. Ersatzlose Streichung und damit Wegfall der Härtefallregelung. Die Härtefallregelung diskriminiert den Bauern, degradiert ihn zu einem Bittsteller. Allein beim Landwirtschaftsamt in Kempten sind 1 000 Anträge für diese Regelung eingebracht worden. Das sind doch Zahlen, die für sich sprechen. Die zeigen doch, daß es ungerecht sein muß.
Zweitens. DIE REPUBLIKANER glauben, man kann diese Gesamtkonzeption nicht allein unter dem Dach der EG sehen, sondern hier braucht man auch ein regionales, ein nationales Programm. Ich wundere mich, daß sich hier gerade Franz Josef Strauß so auf die Barrikaden begibt. Wie heißt es denn im Landesentwicklungsplan Bayern? Daß gerade die Staatsregierung die regionale und damit auch staatliche Unterstützung für die Landwirtschaft auf jeden Fall in der Zukunft durchführen wird! Das betrifft insbesondere natürlich gerade die Regionen, in denen diese Härten gegeben sind, und das ist insbesondere bei uns im Allgäu der Fall. DIE REPUBLIKANER schlagen deshalb vor, daß man der Existenzsicherung den Vorrang einräumen sollte. „Hilfe statt Strafe" muß hier die Priorität haben.
Drittens meine ich, man braucht auch eine zeitliche Anpassungsmöglichkeit für die Landwirtschaft. Man kann nicht von heute auf morgen eine Kuh einfach abstellen wie einen Motor. Man muß dem landwirtschaftlichen Betrieb auch die Möglichkeit geben, sich an die Bedingungen anzupassen.
Ziel aller Maßnahmen muß sein: Erhalt der freien Landwirtschaft. Ein freies Land braucht den freien Bauern. Der Landwirt ist der einzige in unserem Land, der 365 Tage im Jahr, jeden Tag, in der Woche bis zu 90 Stunden, unter Einsatz auch technischer Mittel die ganze Familie miteinbringen muß, um seinen Betrieb überhaupt über die Runden zu bringen. Erhalten wir den Bauern als aktiven Naturschützer und Landschaftsschützer und in Bayern insbesondere als Garanten für den Fremdenverkehr!
DIE REPUBLIKANER sagen Ihnen, Herr Landwirtschaftsminister: Wenn man erst die Höfe leerfegt, wird auf diesen Ruinen kein vereintes Europa aufgebaut werden können.
Das Wort hat der Abgeordnete Eigen.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist überhaupt
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Eigenkeine Frage, daß die momentane agrarpolitische Situation außerordentlich schwierig ist. Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Vogel, hat ja ein Kenner dieser Materie, Oostergetelo, gesagt, daß wir ein schwieriges Erbe übernommen haben. Dies ist korrekt. Die wirklich bedrängende Situation unserer Bauern auf den Höfen wird durch nichts weniger verbessert als durch die billige Polemik, die von diesem Pult heute morgen vorgetragen worden ist. Ich hatte gehofft, daß, wenn die Opposition die Aktuelle Stunde einleitet, die SPD dann Verbesserungsvorschläge macht, wie man eine andere, eine bessere Agrarpolitik durchführen kann. Meine einzige Erkenntnis aus den Reden, vor allen Dingen von Herrn Vogel, ist, daß jetzt die SPD und die GRÜNEN ihre besondere Sympathie für den bayerischen Ministerpräsidenten erkannt haben.
Das ist aber keine agrarpolitische Lösung. Wir haben ein Erbe übernommen,
bei dem es wirklich schwer ist, die Agrarpolitik so zu führen, daß unsere Bauern nicht über Gebühr belastet werden. Dies haben wir mit einer neuen Politik begonnen. Ignaz Kiechle, unser Landwirtschaftsminister, hat sich große Mühe gegeben.
Daß eine solche Bremsspur erst einmal Schrammen zeitigt, ist ja selbstverständlich, wenn man eine Politik korrigieren muß, die so miserabel war wie die Agrarpolitik der SPD.
Wenn Sie vernünftige Maßnahmen eher eingeleitet hätten, wäre es heute leichter.Wenn hier von Ihnen gegen die 5 % Vorsteuerpauschale polemisiert wird, dann nehme ich wie alle Bauern draußen im Lande zur Kenntnis, daß die SPD dagegen ist und daß sie einen Ausgleich für die Bauern für die erlittenen Verluste nicht will.
Dies möchte ich hier feststellen.
Danach werden Sie draußen von unseren Bauern gefragt werden.
Wenn ich hier von Ihnen , höre, Herr Müller undHerr Oostergetelo, das mit den 5% Vorsteuerpauschale sei unsozial, muß ich sagen: Die Verluste ausder Senkung des Währungsausgleichs betragen 5%, und der Ausgleich dafür beträgt 5%.
Damit ist der Ausgleich in diesem Bereich geschaffen. Aber dadurch, daß die Kommission weitere Maßnahmen zur Preissenkung durchgeführt hat, ist es so schwer geworden.Nun komme ich zu einem Thema, das jetzt unbedingt noch behandelt werden muß, nämlich zur Preisbruchvergütung. Ich wende mich hier an die Bundesregierung, an Dr. Kohl, vor allen Dingen auch an Sie, Herr Wirtschaftsminister Dr. Bangemann. Sie haben europäische Erfahrung. Sie können den Knoten vielleicht durchschlagen. Die Kommission hat j a beschlossen — und sich damit europafeindlich verhalten —, daß es keine Preisbruchvergütung geben soll und darüber hinaus die Intervention auf 2,5 Millionen t beschränkt werden soll. Man kann das möglicherweise noch verstehen, weil der Haushalt nicht ausgeglichen war. Jetzt ist der Nachtragshaushalt beschlossen. Ich bitte Sie ganz dringend, gemeinsam mit unserem Minister Kiechle in Europa dahin vorstellig zu werden, daß die Kommission diese Maßnahme zurücknimmt, eine Preisbruchvergütung durchführt und damit den schlimmsten Schaden von der Landwirtschaft jedenfalls in diesem Bereich abwendet.Inzwischen hat die Quotenregelung gewirkt,
und mit den 5% Vorsteuerpauschale haben wir einen Ausgleich beim Preis zumindest bei der Milch inzwischen durchsetzen können.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Abgeordnete Paintner.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war eigentlich der Meinung, daß in einer Aktuellen Stunde für die Agrarpolitik, die ja unter einem äußerst ungünstigen Stern steht, das Bekennen und das Erkennen ihren Stellenwert haben müßten. Hierzu möchte ich Ihnen gleich sagen: Beim Bekennen gibt es für uns als FDP-Fraktion überhaupt keine Schwierigkeit. Wir bekennen uns nach wie vor zum bäuerlichen Familienbetrieb, zum ländlichen Raum, der funktionsfähig sein muß,
und wir sind auch der Meinung, daß wir diesen Auftrag als FDP-Fraktion bisher gut erfüllt haben.
6672 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Paintner
Das zweite ist das Erkennen. Zum Erkennen der schwierigen Lage der Agrarpolitik und zu der Vorstellung, wie es für die Landwirte weitergehen soll, spreche ich über die Opposition meine Bewunderung aus, ganz gleich, ob GRÜNE, SPD oder Republikaner. Sie stellen sich hierher und klagen über die Bundesregierung und ihren Minister Kiechle, weil er in Wirklichkeit genau das getan hat, was Sie vor Jahren gefordert haben, nämlich die Reform der EG-Agrarpolitik eingeleitet hat. Ich meine, da stehen wir alle im Wort, die Verbände, die Parteien und alle, die heute hier sind.
Jeder war der Meinung, daß reformiert werden muß. Sie, Herr Müller, waren da an vorderster Stelle, weil Sie schon immer ein gestörtes Verhältnis zur Landwirtschaft hatten,
wenn es um Dinge ging, die Landwirte betrafen, die mehr als 10 Hektar haben.
Ich frage mich, warum bei der Diskussion damals im deutschen Parlament nicht mehr aufgestanden sind. Wir wußten alle, daß 1 % der Mehrwertsteuer einfach nicht ausreicht. Nun ist diese Reform eingeleitet worden, und wir sehen, welche Schwierigkeiten wir haben. Nur die FDP-Leute,
Gallus, Bredehorn, Ertl, Holsteg und Bangemann und ich haben sich hier klar bekannt und
haben gesehen, daß es so nicht gehen kann. Ich meine, dies ist die einzige große Erblast, die dieser Minister zu übernehmen hatte.
Ich bin der Meinung, daß viele, die heute von Erblast reden, einem Irrtum unterliegen. Für uns kann es keine Erblast unseres ehemaligen Ministers Josef Ertl geben, der z. B. die Milchpreise in seiner Amtszeit verdoppelt hat, der z. B. die Einkommen der Landwirte von 12 000 DM im Jahre 1968 auf 26 000 DM im Jahre 1982 gesteigert und den Agrarexport von 3,7 Milliarden DM im Jahre 1969 auf 24 Milliarden DM im Jahre 1982 erhöht hat, der in der Ernährungswirtschaft mit ihren 380 000 Betrieben und 2,6 Millionen Beschäftigten 1982 einen Umsatz von ca. 600 Milliarden DM, also das Doppelte des Wertes von 1970, erwirtschaftet hat, der dafür gesorgt hat, daß z. B. für die Agrarsozialpolitik im Jahre 1983 3,7 Milliarden DM zur Verfügung standen, während es im Jahre 1970 nur 800 Millionen DM waren. Man könnte diese Aufzählung weiter fortsetzen. Dies kann, wie ich meine, keine Erblast sein; dies war ein gutes Erbe.
Aber dies alles ist Vergangenheit, die man sicher nicht vergessen sollte. Unsere Aufgabe heißt, die Zukunft zu gestalten.
Wir von der FDP sind der Auffassung, daß es für die europäische Agrarpolitik nur das Ziel geben kann, ausgeglichene Märkte herbeizuführen, obwohl wir wissen, daß es auch hier große Schwierigkeiten gibt, Angebot und Nachfrage halbwegs miteinander in Einklang zu bringen.
— Es tut mir sehr leid, daß meine Redezeit um ist.
Ich möchte nur noch sagen: Sie können sich auch in Zukunft auf die FDP-Fraktion,
auf diese Bundesregierung mit Minister Kiechle,
Kanzler Kohl und Vizekanzler Genscher verlassen.
Wir werden alles tun, damit die Agrarpolitik für den ländlichen Raum, für die Landwirte in Ordnung ist.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rode .
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe registriert, daß Herr Vogel Franz Josef Strauß als bayerischen Gewährsmann angeführt hat. Ich möchte Sie, Herr Vogel, auf die Aussage von gestern nachmittag hinweisen, die noch aktueller ist. Da hat der scheidende Präsident des Gesamtverbandes der deutschen land- und forstwirtschaftlichen Arbeitgeberverbände, Herr Dr. Baur, vor vielen Vertretern des Ernährungsausschusses des Bundestages gesagt, das Unheilvollste, was er in den letzten 20 Jahren erlebt habe, seien die schlimmen Fehler der SPD in deren Regierungszeit gewesen, die die Bauern gelegt hätten.
Der Mann hat recht. Herr Dr. Vogel, Sie sollten mal nachfragen, wie er zu dieser Meinung kommt, die wirklich auf 20jähriger Erfahrung basiert.Wenn ich dann höre, daß sich Herr Müller darüber beschwert,
daß die Verantwortungslosigkeit der SPD in diesen 13 Jahren in der Agrarpolitik immer als Legende bezeichnet würde, dann muß ich Sie, Herr Müller, darauf hinweisen, daß ich noch heute morgen im „AGRA-EUROPE" Nr. 34 Ihren Aufsatz „Verfehlte Agrarpolitik der Bundesregierung" nachgelesen habe. Weil unter diesem Aufsatz Ihr Name stand, habe ich gedacht, Sie meinten uns, Sie meinten die
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Rode„verfehlte Agrarpolitik" der jetzigen Bundesregierung.
Als ich dann aber genauer hingeschaut habe, HerrMüller, konnte ich lesen — ich darf das zitieren —:Bereits 1974 hat die SPD-geführte Bundesregierung eine Bestandsaufnahme und Reform der EG-Agrarpolitik gefordert.1980 — Sie überschlagen einfach sechs Jahre, in denen anscheinend keine Aktivitäten stattgefunden haben — habe die Apel-Kommission beim SPD-Parteivorstand konkrete Vorschläge zur Überwindung der Schwierigkeiten vorgelegt. Und dann dieser Satz:Die Verwirklichung unserer Reformvorschläge hätte von der Landwirtschaft Opfer verlangt.Als ich das las, wußte ich, daß nicht wir gemeint waren. Herr Müller hat vielmehr von der früheren Bundesregierung und von deren verfehlter Agrarpolitik gesprochen.Mir tut es leid, daß wir in einer solchen Aktuellen Stunde, die von der SPD angezettelt worden ist
und die nicht ernstgenommen wird — Sie sind hier ja nur mit wenigen Mitgliedern vertreten, um zuzuhören —, im Grunde an den Bauern vorbeireden, ihre Probleme nicht sehen. Für die CDU/CSU sind die Bauern und die landwirtschaftlichen Betriebe in den Mittelstand eingebunden. Wenn ich mir genau überlege, warum die SPD in den 13 Jahren ihrer Regierungszeit den landwirtschaftlichen Betrieben so wenig Aufmerksamkeit geschenkt und warum sie im Grunde Hunderttausende von kleinen Betrieben einfach vernichtet und den großen noch mehr zugeschanzt hat
— ganz im Gegensatz zu dem, was wir jetzt wollen —, muß ich sagen, daß das einfach an folgendem liegt: Sie können es nicht hinnehmen, daß es besonders im ländlichen Raum eine Vielzahl von kleineren Betrieben gibt, von Landwirten, die über Eigentum, über Saat und Ernte verfügen und im Grunde die sozialistischen Ideen der SPD nicht anerkennen und mittragen wollen und auch nicht können.
Unser Ziel sind eine funktionierende Landwirtschaft und ein lebensfähiger Agrarmarkt. Unsere Betriebe sollen nicht in die industrielle Produktion abgleiten. Ich persönlich setze sehr auf die vielen bäuerlichen Familienbetriebe, weil ich in dieser breiten Streuung selbständiger Existenzen die besonderen Vorteile unserer Wirtschaftsordnung sehe. Ich setze wirklich auf den bäuerlichen Familienbetrieb — das meine ich ernst —,
weil er die Kultur im ländlichen Raum sichert und für eine gesunde Umwelt sowie für ein schönes Leben auf dem Dorf sorgt.
Rund um die Erde liegt eine 50 cm dicke Schicht lebensspendenden Bodens. In diesem Zusammenhang sollten wir auch einmal daran denken, daß wir es den Bauern zu verdanken haben, wenn wir solch reich gedeckte Tische haben, wenn wir — wie es in den „Frankfurter Heften" eines Eugen Kogon und eines Walter Dirks steht — nicht mehr zu hungern brauchen.
Es ist noch gar nicht so lange her, daß wir auf CARE-Pakete angewiesen waren und täglich nur 1 550 Kalorien zu uns nehmen konnten. Wenn Eugen Kogon damals geschrieben hat, wir sollten nun endlich mit dem Begriff Kollektivhaftung auf eine Verständigung zwischen hungernden Städtern und produzierenden Bauern drängen, wenn er darauf aufmerksam gemacht hat, daß es in Dänemark Bauernvolkshochschulen gebe, und gefordert hat, durch Pflanzenschutz und Technik mehr zu produzieren, kann ich nur sagen: Wir sollten dem Rechnung tragen. Davon hängt es ab. Denken wir daran, daß dieser Stoff so lebenswichtig und lebensspendend ist, wenn wir ihn von den Schuhen abstreifen?
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Meine Damen und Herren, auf der Ehrentribüne hat eine Delegation beider Häuser des argentinischen Kongresses Platz genommen. Ich habe die Ehre und Freude, Sie im Deutschen Bundestag herzlich zu begrüßen.
Der Deutsche Bundestag wünscht Ihnen einen erfolgreichen und angenehmen Aufenthalt in unserem Lande.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung um den Zusatzpunkt Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Förderung der Beschäftigung — Drucksache 10/2132 — erweitert werden. Der Zusatzpunkt soll zusammen mit dem Tagesordnungspunkt 10 aufgerufen werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 5 der Tagesordnung auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung über die Gespräche mit der Staats- und Parteiführung der Volksrepublik China, dem Präsidenten der Islamischen Republik Pakistan und dem Präsidenten der Sozialistischen Republik Rumänien
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. Er-
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Vizepräsident Frau Renger
hebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist auch nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit meinen Besuchen in der Volksrepublik China und in der Islamischen Republik Pakistan habe ich nach meinen Besuchen in Japan, Indonesien und Indien im letzten Herbst die Absicht der Bundesregierung bekräftigt, Asien zu einem Schwerpunkt unserer Außenpolitik zu machen.
Dieser riesige Kontinent, in dem der größte Teil der Weltbevölkerung lebt, und der angrenzende pazifische Raum werden in den nächsten Jahrzehnten zu einem Gravitationszentrum der Weltpolitik und ganz gewiß der Weltwirtschaft werden. Ich glaube, es ist richtig, wenn wir uns in Europa und in der Bundesrepublik Deutschland auf diese Entwicklung rechtzeitig einstellen.Die Volksrepublik China hat in Asien und — als potentielle Weltmacht — weit über Asien hinaus einen herausragenden Platz. Sie ist das volkreichste Land der Erde in einer geographisch und geopolitisch höchst bedeutsamen Lage. China ist Nuklearmacht; China ist ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Diese wichtigen Tatsachen gebieten es, diesem Land unsere besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Das ist durch meinen Besuch geschehen. Ich glaube, dieser Besuch kam auch zum richtigen Zeitpunkt.Dieses große Land befindet sich gegenwärtig in einem gewaltigen Aufbruch und Umbruch. Es öffnet sich zur Welt. Die Volksrepublik China will sich von Grund auf modernisieren und sucht den Anschluß an die internationale wirtschaftliche und technische Entwicklung. Hierfür braucht die Volksrepublik China Partner.Bei meinem Besuch hat die Führung des Landes bekräftigt, daß sie nicht zuletzt mit uns zusammenarbeiten will, daß sie nicht zuletzt in uns einen geeigneten Partner sieht.Wir haben allen Grund, auf diesen Wunsch einzugehen. Politisch haben wir ein klares Interesse daran, daß das Streben dieses Riesenreichs, sich nach außen zu öffnen, nicht ins Leere läuft. Wir als Deutsche können uns eine bipolare Welt nicht wünschen.Die Öffnung zur Welt und die grundlegende Modernisierung Chinas sind ein unumkehrbarer Prozeß, der eben nicht an die gegenwärtige Führungsgeneration in der Volksrepublik China gebunden ist. Das haben alle meine Gesprächspartner nachdrücklich unterstrichen.Auf diesem Hintergrund und mit dieser Perspektive fand der Besuch statt. Ich fasse die Hauptergebnisse zusammen.Ich konnte mit den maßgeblichen Führern der Volksrepublik sprechen: mit dem Ministerpräsidenten, mit Deng Xiaoping, mit dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, mit dem Staatspräsidenten, mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Li Peng, der uns erst kürzlich besucht hat, und mit dem Außenminister.
Alle diese Gespräche haben ein hohes Maß an Gemeinsamkeit bestätigt.Für beide Länder, für die Volksrepublik China wie für die Bundesrepublik Deutschland, steht die Bewahrung des Friedens an erster Stelle. Die Führer der Volksrepublik China haben immer wieder betont, daß sie für ihr Aufbauprogramm eine friedliche Umwelt brauchen.Beide Länder setzen sich dafür ein, daß die nuklearen Arsenale der Weltmächte drastisch verringert werden und daß zu diesem Zweck so schnell wie möglich weiter verhandelt werden muß.Beide Regierungen sind der Auffassung, daß der Vorschlag des ehemaligen kanadischen Ministerpräsidenten Trudeau für eine Abrüstungskonferenz aller fünf Kernwaffenstaaten besondere Aufmerksamkeit verdient.
Beide Länder suchen zum gemeinsamen großen Nachbarn, der Sowjetunion, ein normales, ein vernünftiges, wenn möglich, ein gutes Verhältnis, ein Verhältnis frei von Bedrohungen für die eigene Sicherheit und auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung.Beide Länder treten in allen Fällen, in denen Länder in der Welt geteilt sind, für ihre Einheit ein in der Überzeugung, daß die widernatürliche Trennung eines Volkes vor der Geschichte keinen Bestand haben wird.
Die Volksrepublik China wie die Bundesrepublik Deutschland haben ein Interesse an einem starken und geeinten Europa, das seiner Verantwortung für die Welt gerecht werden kann.Beide, die Volksrepublik China und die Bundesrepublik Deutschland, treten für einen fairen Ausgleich zwischen Nord und Süd, für die Unabhängigkeit der Dritten Welt ein.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Volkswirtschaften beider Länder ergänzen sich. Die Volksrepublik China besitzt unermeßliche, noch kaum erforschte Rohstoffe und Naturvorkommen.
Die Modernisierung wird einen riesigen Markt eröffnen und der Unternehmenszusammenarbeit, auch zwischen den Firmen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik China, ein weites Feld bieten.Die Bundesrepublik ist als eines der höchstentwickelten Industrieländer zu weitgehendem Technologietransfer bereit. Wir können China ein Partner für die Modernisierung bestehender und für die Entwicklung neuer Industrien sein.Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6675Bundeskanzler Dr. KohlEs gibt keine wesentlichen Probleme, die trennend zwischen unseren beiden Ländern stehen.Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Feststellungen sind Ministerpräsident Zhao Ziyang und ich übereingekommen, daß wir politisch, wirtschaftlich und auf wissenschaftlich-kulturellem Gebiet eine stabile und auf langfristige Dauer angelegte Zusammenarbeit verfolgen wollen. Wir waren uns einig, daß eine solche Zusammenarbeit Bedeutung und Wirkung weit über unser bilaterales Verhältnis hinaus hat, daß sie dem Frieden dient.In diesem Geist wollen wir unsere politischen Beziehungen künftig intensivieren und uns über welt-und regionalpolitische Fragen, einschließlich Abrüstung, stärker konsultieren.Hervorragende Ergebnisse hatten meine zahlreichen Gespräche mit dem Ministerpräsidenten und den Vertretern der Volksrepublik auf wirtschaftlichem Gebiet. Durch entscheidende Anstöße für die Unternehmenszusammenarbeit wurden bei laufenden Verhandlungen Durchbrüche erzielt. Die mich begleitenden führenden Repräsentanten der deutschen Industrie konnten Abschlüsse in der Größenordnung mehrerer Milliarden D-Mark tätigen oder diese Abschlüsse jedenfalls vorantreiben.
— Meine Damen und Herren, es lohnt sich nicht, auf Ihre Zwischenrufe einzugehen.
Denn die politische, wirtschaftliche und ökonomische Strategie, der Sie anhängen, führt zu einer Verelendung der Bundesrepublik, die ganz gewiß nicht im Sinne der Bürger dieses Landes ist.
Zusammenfassend kann ich sagen, daß dieser Besuch mit dazu beigetragen hat, bei uns zu Hause, in der Bundesrepublik Deutschland, Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
In unseren Gesprächen sind Ministerpräsident Zhao und ich dafür eingetreten, daß die für die Ausweitung der Unternehmenszusammenarbeit unentbehrlichen Rechtsgrundlagen vervollständigt werden. Ein Investitionsförderungsabkommen konnte unterzeichnet werden.Nach entsprechender Verabredung mit dem Ministerpräsidenten ist auf meine Veranlassung hin noch während unseres Aufenthalts eine deutsche Delegation in Peking eingetroffen, um die begonnenen Verhandlungen über ein Doppelbesteuerungsabkommen zügig voranzutreiben und baldmöglichst abzuschließen.Einige Stimmen hierzulande — man hört sie ja auch hier im Hohen Haus, meine Damen und Herren — haben diesen Besuch als eine Wirtschaftsreise bezeichnet. Natürlich liegt es auf der Hand, daß einer solchen Reise ein besonders hohes Maß an wirtschaftlicher Bedeutung zukommt, wenn sie auch wirtschaftlichen Erfolg hat.
Für uns hat es aber über das rein Ökonomische hinaus eine wesentliche politische Bedeutung, wenn ein westliches Industrieland wie die Bundesrepublik Deutschland mit der Volksrepublik China wirtschaftlich zusammenarbeitet und einen Beitrag zur Modernisierung dieses gewaltigen Reiches leistet.Ähnliches, meine Damen und Herren, gilt für den beabsichtigten Beginn unserer finanziellen Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China im nächsten Jahr. Nach den Äußerungen der chinesischen Führung ergibt sich gerade auch aus dieser Perspektive eine sehr günstige Aussicht für die zukünftige Zusammenarbeit.Auf bilateralem entwicklungspolitischem Gebiet vervollständigen wir damit unsere Kooperation, die wir 1982 mit technischer Zusammenarbeit begonnen hatten. Darin findet sich auch der von China hochgeschätzte deutsche Senior- Experten- Service wieder, der in einer ganz besonderen Weise bei allen Gesprächen dort hervorgehoben wurde.Auf einem weiteren wichtigen, vielleicht dem wichtigsten Gebiet der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit haben Ministerpräsident Zhao und ich konkrete Vereinbarungen getroffen. Wir wollen den Austausch von Studenten und Wissenschaftlern schrittweise beträchtlich erhöhen und die Universitätspartnerschaften ausweiten.
Es wird, wie ich hoffe, im nächsten Jahr im chinesischen Fernsehen einen Deutschkurs geben, wie es dort seit längerem auch einen Französischkurs gibt.
Wir werden auch sonst auf beiden Seiten die Partnersprache fördern. Damit, meine Damen und Herren, verbreitern wir die Zusammenarbeit, vor allem auch auf kulturellem Gebiet, zwischen unseren Völkern.Welchen Wert die geistig-kulturelle Begegnung zwischen zwei Völkern für ein enges und widerstandsfähiges Verhältnis hat, konnte ich bei diesem Besuch ganz unmittelbar und eindrucksvoll erleben. Die Begeisterung etwa der chinesischen Zuschauer bei der Aufführung der „Zauberflöte" durch die Bayerische Staatsoper in Peking,
die Herzlichkeit, mit der mich die Studenten, vor allem die Deutsch studierenden Studenten, an den Universitäten und Hochschulen in Peking, Wuhan und Shanghai empfangen haben, haben mir die Gewißheit gegeben, daß die deutsch-chinesische Zusammenarbeit eben nicht nur eine Sache des Verstandes ist.
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6676 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Bundeskanzler Dr. KohlWenn ich die Bilanz dieses Besuches in der Volksrepublik China ziehe, so stelle ich drei Ergebnisse in den Vordergrund: erstens die Verbreiterung der Grundlagen und des Umfangs der deutschchinesischen Zusammenarbeit, zweitens die Verständigung zwischen Ministerpräsident Zhao Ziyang und mir, daß wir unsere Zusammenarbeit nicht auf Ergebnisse für den Tag, sondern auf die mittlere und lange Sicht anlegen wollen, und zum dritten unsere Übereinkunft, daß wir uns der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit auch persönlich annehmen wollen, indem wir den ständigen Kontakt vertiefen, ihm neue Impulse geben, um damit einen Beitrag zum Weltfrieden leisten zu können.Als Ergebnis meiner Reise in die Volksrepublik kann ich deshalb zusammenfassend feststellen: Dieser Besuch in der Volksrepublik China hat ein Signal gesetzt und die Beziehungen auf eine neue Ebene gehoben. Das ist auch das Urteil der chinesischen Führung über diesen Besuch.
Ministerpräsident Zhao Ziyang hat in seiner Tischrede am Ende unserer Gespräche gesagt, daß die Volksrepublik China die Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland in einem wirtschaftlichen und politischen Gesamtzusammenhang sieht, der über die Grenzen unserer beiden Länder hinauswirken wird. Er hat von einer breiten Übereinstimmung in einer Reihe wichtiger Fragen und von wichtigen Ergebnissen bei der wirtschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit gesprochen. Er hat uns und vor allem auch mich zu diesem erfolgreichen Besuch beglückwünscht. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Meine Damen und Herren, es kommt jetzt darauf an, die Möglichkeiten, die dieser Besuch eröffnet hat, zügig und kraftvoll weiterzuentwickeln. Dazu sind beide Seiten entschlossen. Das zeigt sich auch daran, daß der Ministerpräsident der Volksrepublik China zu unserer Freude meine Einladung angenommen hat und schon im nächsten Jahr die Bundesrepublik Deutschland besuchen wird.Meine Damen und Herren, der hochrangige deutsch-chinesische Besuchsaustausch wird sich nicht auf die Ebene der Regierungschefs beschränken. Wie Sie wissen, wird auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas die Bundesrepublik Deutschland besuchen. Ich begrüße auch diesen Besuch sehr.
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, mein kurzer, aber sehr intensiver Besuch in der Islamischen Republik Pakistan war der zweite Besuch eines deutschen Bundeskanzlers.Vor mir hat Bundeskanzler Kiesinger 1967 Pakistan besucht. Nachdem der Arbeitsbesuch Präsident Zia-ul-Haqs im Oktober 1980 in Bonn ebenfalls schon vier Jahre zurücklag, war es Zeit zu einer erneuten Begegnung. Dies gilt um so mehr, meine Damen und Herren, als Pakistan ein Freund und Partner in einer geopolitisch außerordentlich wichtigen Region ist.
Ich erinnere nur an seine Nähe zum Golf und an Afghanistan. Pakistan trägt, vom leidgeprüften afghanischen Volk selbst abgesehen, die Hauptlast des Afghanistankriegs. Es ist schwerstem sowjetischen Druck ausgesetzt. Ein wichtiger Zweck meines Besuches war es daher, diesem befreundeten Land zu beweisen, daß es mit seinen Sorgen nicht allein steht.
Die Freundschaft und die Sympathie, die uns dort entgegengebracht wurden, sind in diesem Besuch, in diesen wenigen Stunden, besonders deutlich geworden. Ich hatte zwei sehr intensive umfassende Gespräche mit dem Staatspräsidenten. Sie haben die Gemeinsamkeit der großen außenpolitischen Zielsetzung beider Länder bestätigt: Erhaltung des Friedens durch Bemühungen um einen friedlichen Ausgleich. Diese Gemeinsamkeit erwächst aus der gegenwärtigen exponierten Lage, in der sowohl Pakistan als auch die Bundesrepublik Deutschland leben müssen.Ich habe gegenüber dem Präsidenten meinen ganz besonderen Respekt ausgedrückt für die Standfestigkeit, mit der Pakistan trotz Druck und Drohung für die Grundsätze eintritt, die die überwältigende Mehrheit der Völkergemeinschaft für die Lösung der Afghanistanfrage aufgestellt hat.
Ich habe den Präsidenten ermutigt, die Bemühungen um eine Verhandlungslösung — nur eine solche Lösung kann wirklich zum Erfolg führen — unter Vermittlung der Vereinten Nationen fortzusetzen. Ich habe in Islamabad nachdrücklich festgestellt und darauf hingewiesen, daß Verhandlungen nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn die Sowjetunion erkennt, daß sich die Welt mit dem Überfall auf Afghanistan nicht abfinden wird.
Die Aufmerksamkeit der Welt und auch die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik Deutschland müssen auch in Zukunft weiter auf Afghanistan gerichtet bleiben.Präsident Zia und ich haben natürlich auch über die weiteren gefährlichen Krisenpunkte in dieser Region, etwa den Golfkonflikt, den Krieg zwischen Iran und Irak, gesprochen. Ich habe ihn ermutigt und auch gebeten, gemeinsam mit den türkischen Freunden bei den Vermittlungsbemühungen fortzufahren, damit diese blutige Auseinandersetzung zwischen zwei islamischen Ländern, die den Frie-Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6677Bundeskanzler Dr. Kohlden gefährdet, möglichst bald ein Ende finden kann.
In meinen Gesprächen in Islamabad habe ich unser besonderes Interesse an einer stärkeren Stabilität in Südasien betont. In diesem Zusammenhang habe ich unseren Wunsch vorgetragen, daß sich das Verhältnis zwischen Pakistan und Indien positiv entwickeln möge, und die Bemühungen beider Staaten um regionale wirtschaftliche Zusammenarbeit im südasiatischen Raum gewürdigt.Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, auf dem Feld der bilateralen Beziehungen konnte ich dem Präsidenten die Zusage geben, daß Pakistan eines der Schwerpunktländer unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit bleibt. Wir wollen Pakistan auch weiterhin helfen, die Probleme zu lindern, die sich aus der Aufnahme von fast drei Millionen Flüchtlingen aus Afghanistan ergeben. Diese großartige humanitäre Leistung eines Landes, das selbst dringend der wirtschaftlichen Hilfe bedarf, muß von uns ganz besonders gesehen und gewürdigt werden.
Schließlich haben unsere Gespräche auf dem bilateralen Gebiet einige wichtige Anstöße gegeben. Ich denke dabei vor allem an die deutsch-pakistanischen Wirtschaftsbeziehungen, die nun seit längerem eine erfreuliche Aufwärtsentwicklung aufweisen.Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Zeit vom 15. bis 17. Oktober 1984 stattete der Präsident der Sozialistischen Republik Rumänien der Bundesrepublik Deutschland auf Einladung des Herrn Bundespräsidenten einen Staatsbesuch ab. Die Bundesregierung weiß es zu würdigen, daß Präsident Ceausescu in einem wichtigen Augenblick der West-Ost-Beziehungen nach Bonn gekommen ist, und wir haben dieser Meinung während des Staatsbesuches auch deutlich Ausdruck gegeben.Die Bundesregierung ist mit dem Ergebnis dieses Besuches zufrieden. Die Gespräche mit dem Präsidenten und seinen Begleitern fanden in einer sehr aufgeschlossenen, in einer konstruktiven Atmosphäre statt. Schwerpunkte unserer Gespräche waren Fragen der Verbesserung der West-Ost-Beziehungen, Abrüstung und Rüstungskontrolle, die Frage des bilateralen Wirtschaftsaustausches und nicht zuletzt die uns ganz besonders am Herzen liegenden humanitären Angelegenheiten, die unsere Landsleute betreffen. Die Anschauungen beider Seiten sind in der Rede des Bundespräsidenten, in meiner Rede und in der Rede des Präsidenten Ceausescu deutlich geworden.Im einzelnen bleibt festzustellen: Der Besuch als solcher war ein praktisches Beispiel dafür, daß es ganz konkret möglich ist, etwas für die Verbesserung der Ost-West-Beziehungen zu tun. Allein schon in der Entscheidung, hierherzukommen, liegt eine Bedeutung dieses Besuches.
Wie ich bei meinem Besuch in Ungarn vor einigen Monaten erklärte, liegt uns, der Bundesregierung, daran,mit allen europäischen Nachbarn Beziehungen zu pflegen, Beziehungen, die bestimmt sind von gegenseitigem Vertrauen, von Berechenbarkeit und vom Austausch. Nicht Mißtrauen, sondern Bereitschaft zum offenen Gespräch über alle uns als Europäer gemeinsam bewegenden Fragen sollte unser gegenseitiges Verhältnis bestimmen.Meine Damen und Herren, wir müssen wieder dahin kommen — darin sind wir uns auch mit unserem rumänischen Besucher einig —, daß dieser Dialog eine ganz normale Sache wird. Dies gilt für uns Europäer genauso wie für das notwendige Gespräch der beiden Weltmächte untereinander.Auch die Außenminister der Staaten des Warschauer Paktes haben sich in ihrer Erklärung von Budapest grundsätzlich zum Verhandlungsweg als dem einzigen Weg zur Lösung aller anstehenden Fragen bekannt.Meine Damen und Herren, dies gilt auch für die Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Sie bildeten auch einen der wesentlichen Gesprächspunkte.Bei verbleibenden Meinungsunterschieden in dieser Frage, die in keiner Form geleugnet werden sollen, erreichten wir mit dem Präsidenten Ceausescu ein bemerkenswertes Maß von Übereinstimmung insbesondere darüber, daß im Ost-West-Verhältnis ein militärisches Gleichgewicht auf möglichst niedrigem Niveau hergestellt werden sollte und daß zu diesem Zweck die amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über Nuklearwaffen möglichst bald wieder aufgenommen werden müssen.
Beide Seiten haben in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit betont, eine ausgewogene Vereinbarung über sowjetische und amerikanische Mittelstreckenflugkörper zu erreichen, die möglichst zur vollständigen Beseitigung dieser Waffen in Europa führen kann. Meine Damen und Herren, beide Seiten treten dafür ein, daß der Weltraum in den Prozeß der Abrüstung und Rüstungskontrolle einbezogen werden muß.Ich war mir mit dem Präsidenten Ceausescu darin einig, daß alles versucht werden muß, um die Pflicht aller Staaten zum Gewaltverzicht durch neue wirksame und konkrete Schritte zu bekräftigen. Die Konferenz für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa kann dafür eine wichtige Voraussetzung schaffen.Wir haben festgestellt, daß gute Voraussetzungen für die Durchführung und Ausweitung der deutschrumänischen wirtschaftlichen Zusammenarbeit bestehen. Der Bundesminister für Wirtschaft und der rumänische Außenhandelsminister haben sich die-
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6678 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Bundeskanzler Dr. Kohlsen Fragen sehr eingehend gewidmet, und sie haben die gemeinsame Absicht bekräftigt, im gegenseitigen Interesse liegende Handelsbeziehungen kontinuierlich fortzuentwickeln. Meine Damen und Herren, die Struktur des Warenaustausches muß dabei verbessert werden, und wir wollen alle Möglichkeiten wirtschaftlicher, industrieller und technologischer Zusammenarbeit einschließlich gemeinsamer Projekte ausschöpfen. Wir gehen dabei auch und vor allem auf eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen mittelständischen Firmen in der Bundesrepublik Deutschland und Partnerfirmen in Rumänien aus.Besonderen Wert haben der Bundespräsident und die Bundesregierung auf die Erörterung humanitärer Anliegen gelegt. Dabei geht es uns sowohl um die bekannten Fragen der Aussiedlung und Familienzusammenführung wie auch um das Schicksal der in Rumänien lebenden rumänischen Staatsbürger deutscher Nationalität. Wir haben unseren Wunsch vorgetragen, die Kontakte zwischen den Bürgern beider Länder und den Reiseverkehr — einschließlich des Reiseverkehrs zwischen Verwandten — wesentlich zu erleichtern.
Ich habe Herrn Präsidenten Ceausescu deutlich gemacht, daß hier nach unserer Überzeugung die Möglichkeit eines besonderen Brückenschlags, der unsere beiden Länder für die Zukunft enger miteinander verbinden kann, liegt. Wir haben festgestellt, daß die rumänische Seite willens ist, die getroffenen Vereinbarungen und Abmachungen einzuhalten. Das hat mir Präsident Ceausescu auch nochmals persönlich zugesagt.Es gibt zur Lage und zu den Zukunftsaussichten der deutschen Minderheit in Rumänien allerdings auch Meinungsunterschiede, die sehr deutlich zutage getreten sind. Es geht dabei um kulturelle Fragen, um die allgemeinen Kontaktmöglichkeiten zwischen uns und unseren Landsleuten in Rumänien sowie um die Frage des künftigen Umfangs der Ausreisemöglichkeiten. Trotz dieser Auffassungsunterschiede glaube ich, daß das intensive Gespräch über dieses Problem nicht ohne Wirkung bleiben wird und daß wir etwas in Bewegung setzen konnten. Seien Sie bitte versichert, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung und vor allem ich selbst alles tun werden, um weiter in diesem Sinne zu wirken.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich habe die Einladung Präsident Ceausescus zu einem Besuch Rumäniens im nächsten Jahr angenommen. Ich hoffe mit Zuversicht, daß wir den nützlichen und in dieser Situation der Weltpolitik wertvollen Gedankenaustausch mit der rumänischen Staatsführung bei dieser Gelegenheit in einem insgesamt noch verbesserten internationalen Klima fortsetzen können.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion begrüßt den guten Verlauf der Reise des Bundeskanzlers nach China. Sie tut das insbesondere in Erinnerung an frühere Zeiten, in denen Bundeskanzler Kiesinger die Furcht der Union vor der sogenannten gelben Gefahr durch die beschwörende Formel „Ich sage nur: China, China, China" zum Ausdruck zu bringen pflegte.
Die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung hat 1974 die diplomatischen Beziehungen zu diesem volkreichsten Staat der Erde aufgenommen, und wir freuen uns über die Fortentwicklung guter Beziehungen auch unter der konservativen Bundesregierung.
Die SPD und die Bundesregierung stimmen offensichtlich in den Grundsätzen der China-Politik überein. Das gilt auch und insbesondere für die Feststellung des Herrn Bundeskanzlers, daß sich diese Zusammenarbeit gegen niemand anderen richtet.
Diese Feststellung ist allerdings, Herr Bundeskanzler, durch eine Erklärung des Herrn Regierungssprechers abgeschwächt worden, auch „Hoffnungen auf Rüstungsvereinbarungen" seien Gegenstand der Gespräche gewesen. Wir Sozialdemokraten würden eine Kooperation auf diesem Gebiet für falsch halten und können nur hoffen, daß Sie, Herr Bundeskanzler, insofern aus den Fehlern, die Sie schon im Nahen Osten begangen haben, gelernt haben. Es gibt bessere und sinnvollere Felder für die deutsch-chinesische Zusammenarbeit als den Bereich der Rüstungskooperation.
Unsere Haltung zur Volksrepublik China ist unter anderem geprägt von dem großen Respekt vor der erstaunlichen entwicklungspolitischen Leistung dieses Landes. Der Volksrepublik China ist es gelungen, für ihre über eine Milliarde Menschen Nahrung, Kleidung und Wohnung sicherzustellen. Die chinesische Führung unter Deng Xiaoping hat mit ihrer Landwirtschaftspolitik für die chinesischen Bauern einen — in begrenztem Maße — Wohlstand erreichen können, und sie ist dabei, ihre Reform- und Modernisierungspolitik nun energisch in den städtischen Industriesektoren und -regionen voranzutreiben. Auch wir sind der Meinung, daß sie dabei jede Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland verdient.Die technische und wirtschaftliche Kooperation muß durch kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit ergänzt werden. Hier gibt es j a ein Fundament aus früheren Epochen der Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern, auf das man auf-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6679
Dr. Ehmke
bauen kann. Der Herr Bundeskanzler hat freundlicherweise die Ebert-Stiftung schon erwähnt.
Sie leistet auf diesem Gebiet wirkliche Pionierarbeit, und sie ist zugleich ein gutes Beispiel dafür, daß man trotz ideologischer Unterschiede zusammenarbeiten kann.
Die Möglichkeiten der wirtschaftlichen Kooperation, Herr Bundeskanzler, sehen wir allerdings etwas nüchterner, als es in manchen Ihrer Äußerungen klingt. Die Ergebnisse Ihrer Reise sind ja auch keineswegs sensationell. Aber wir machen Ihnen das nicht zum Vorwurf, weil es notgedrungen in dieser Situation nur langsame Fortschritte geben kann. Natürlich ist China ein riesiger potentieller Markt, aber das war es schon zu Marco Polos Zeiten. Selbst eine entschiedene chinesische Führung wird viel Zeit brauchen, diesen Markt aufzuschließen. Auch wir sollten, statt frühzeitig Siegesmeldungen abzugeben, uns darauf einrichten, daß wir und unsere Wirtschaft beim Ausbau der Beziehungen zu China einen sehr langen Atem brauchen. Auch wir müssen insoweit härter arbeiten, z. B. auch hinsichtlich der Möglichkeiten, mittelständische Unternehmen an dieser Kooperation zu beteiligen.In diesem Zusammenhang, Herr Bundeskanzler, auch ein kritisches Wort. Wir sind dafür, der Volksrepublik China mit sehr viel größeren Summen zu helfen als nur mit 50 Millionen.
Wir halten es aber für ausgesprochen schlecht und nicht für einen Ausdruck seriöser Entwicklungspolitik, wenn diese 50 Millionen gegeben werden, ohne mit irgendeiner Vorstellung entwicklungspolitischer Pläne oder Projekte verbunden zu sein.
Das sieht am Ende so aus, als ob sich der reisende Bundeskanzler die Spendierhosen anzieht.
Herr Bundeskanzler, Sie haben auch heute in Ihrer Regierungserklärung die wirtschaftlichen Beziehungen mit China in Zusammenhang mit dem Abbau der Massenarbeitslosigkeit bei uns gestellt. Herr Bundeskanzler, das ist wirklich zu billig. Keine Chinareise kann auch nur im geringsten Umfang die Versäumnisse wettmachen,
die sich die Rechtskoalition in ihrer Passivität gegenüber der ständig wachsenden Arbeitslosigkeit nun schon seit zwei Jahren zuschulden kommen läßt.
-- Ich verstehe j a, daß Sie unruhig werden, wenn Sie die Zahlen ansehen.
Dennoch, Herr Bundeskanzler, begrüßen wir es, daß Sie sich auf der Reise durch eine große Wirtschaftsdelegation haben begleiten lassen. Von uns ist jedenfalls keine Kritik an einer „Wirtschaftsreise" gekommen. Ich kann Ihnen im Gegenteil sagen: die in den Medien geäußerte Kritik, der große Troll, der Sie dort begleitet habe, sei kostenmäßig nicht zu vertreten, halten wir für kleinkariert. Wir sind der Meinung, es ist allemal preiswerter, Geld für solche Friedensmissionen und Missionen der Zusammenarbeit auszugeben als für irgendwelche anderen Dinge.
Herr Bundeskanzler, die Ankündigung, die „asiatischen Verbindungen der Bundesrepublik" zu einem Schwerpunkt unserer Außenpolitik zu machen, klingt in unseren Ohren schon wieder einen Mund voll zu groß. Statt solcher allgemeinen Sprüche, Herr Bundeskanzler, sollten Sie sich einmal konkret mit den gravierenden Beschwerden der ASEAN-Länder auseinandersetzen, daß die Zusammenarbeit mit der EG, auch mit der Bundesrepublik, wirtschaftlich nicht vom Flecke komme. Das wäre konkrete Politik in Asien.
Herr Bundeskanzler, noch ein Wort: Wir sollten über der Entdeckung Asiens nicht vergessen, daß in unmittelbarer Nähe Europas der afrikanische Kontinent liegt, der voller Nöte ist, und daß wir im Augenblick in einer Situation sind, in dem eine ideologisch verblendete Politik des Kollegen Warnke die Probleme in Afrika nicht löst, sondern zusätzlich erschwert.
Auch Ihren Besuch in Pakistan, das seit vielen, vielen Jahren erhebliche deutsche Entwicklungshilfe erhält, begrüßen wir, Herr Bundeskanzler. Sie haben hier nichts darüber gesagt, aber wir hoffen, Sie haben auch unsere Sorgen über die innenpolitische Entwicklung in Pakistan nach der blutigen Abrechnung mit Bhutto zur Sprache gebracht, das Kriegsrecht, das Verbot politischer Gruppierungen, die Sorge, daß die angekündigten Wahlen eine Farce werden könnten. Diese innere Entwicklung wird sicher durch die äußere Entwicklung in dieser Krisenregion zusätzlich erschwert. Millionen afghanischer Flüchtlinge in Pakistan wie übrigens auch im Iran vergrößern die in diesen Gebieten ohnehin bestehenden Minderheitenprobleme. Die pakistanisch-indischen Spannungen kommen hinzu, ebenso der iranisch-irakische Krieg.
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6680 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Dr. Ehmke
Wir verurteilen bei dieser Gelegenheit erneut die militärische Invasion der Sowjetunion in Afghanistan.
Sie ist zugunsten eines Regimes erfolgt, das keinerlei Autorität im eigenen Volk hat. Aber, was schwieriger ist: Die sowjetische militärische Besetzung Afghanistan macht es immer fraglicher, wer denn eines Tages überhaupt noch in der Lage sein könnte, dieses Land im Innern wieder zu einigen. Vor allem daran sind ja auch die Bemühungen Pakistans wie der UNO gescheitert, eine Lösung des Problems zu finden.Auch die Sowjetunion muß an einer politischen Lösung interessiert sein. Sie zahlt für ihren militärischen Übergriff, der zugleich ein schwerer politischer Fehler war, einen hohen Preis an Blut, an Ansehen in der Welt vor allem auch der Dritten Welt, aber selbst an Ansehen in den großen islamischen Bevölkerungsteilen der Sowjetunion selbst.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Die Bundesrepublik soll Pakistan weiter wirtschaftlich helfen, gerade auch für die Bewältigung des Flüchtlingsproblems. Wir sollten die Vermittlungsbemühungen Pakistans ebenso unterstützen wie die Friedensbemühungen der UNO.
Herr Bundeskanzler, Sie haben uns nun zusammen mit diesem Reisebericht einen Bericht über den Besuch des rumänischen Staats- und Parteichefs in der Bundesrepublik gegeben, obwohl diesem zeitlichen Zusammenhang kein sachlicher Zusammenhang entspricht. Ich muß also das Thema wechseln.
Wir begrüßen den Besuch des rumänischen Gastes, auch wenn der Besuch leider ohne gemeinsames Abschlußkommuniqué zu Ende gegangen ist, weil es offenbar zu viele Meinungsverschiedenheiten gab. Der Besuch war ein Stück Ost-West-Dialog;
er kann aber die zahlreichen Versäumnisse und Fehler der Bundesregierung auf diesem Gebiet nicht ausgleichen. Ich verstehe ja, Herr Bundeskanzler, daß die Bundesregierung nach vorhergegangenen Fehlschlägen über diesen Besuch besonders erfreut war. Aber lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zwei kritische Bemerkungen machen:
Die freundliche Offenheit, mit der die Bundesrepublik den rumänischen Gast empfangen hat, ist sicher außenpolitisch im Interesse des Friedens und der Zusammenarbeit geboten, obwohl niemand übersehen kann, daß Rumänien in seiner inneren Ordnung das wohl repressivste System in ganz Osteuropa ist.
Wie gesagt: Trotzdem muß man mit ihm zusammenarbeiten. Es wäre aber nur konsequent, wenn die Bundesregierung und die Union dann auch aufhören würden, gegenüber anderen Staaten Osteuropas — besonders gegenüber Polen — das kommunistische Regime und die Verletzung von Menschenrechten zum Vorwurf zu erheben, z. B. wenn Polen etwas tut oder sagt, was uns außenpolitisch nicht paßt.
Herr Bundeskanzler, ich bitte, das zu überlegen: Ich halte diese Art von Opportunismus weder für außenpolitisch noch für ideologisch klug.
Zweite Bemerkung. So sehr wir es begrüßen, daß sich die Bundesregierung — wie schon Ihre Vorgängerin — erneut um die Ausreise der ausreisewilligen Rumäniendeutschen und für die Lage der Deutschen in Rumänien eingesetzt hat, so sehr scheint mir auch hier die freundliche Erörterung dieser Frage, die übrigens offenbar zu keinem neuen Ergebnis geführt hat, in einem krassen Widerspruch und zu der scharfen und für meinen Begriff teilweise unvertretbaren Art zu stehen, in der sich Kollegen aus der Union zu der Lage der Deutschen in Polen äußern. Auch hier ist es nicht gut, daß mit doppeltem Maßstab gemessen wird.
In Ihrer Bewertung der Gespräche, Herr Bundeskanzler, scheint mir ein innerer Widerspruch deutlich zu werden. Sie feiern den Besuch als Fortsetzung des Ost-West-Dialogs durch die Europäer, aber in der Substanz, Herr Bundeskanzler, haben Sie doch die rumänischen Vorschläge für europäische Initiativen und für eine europäische Teilnahme an den Abrüstungskonferenzen gerade abgelehnt. Die Public Relations stimmen also wieder einmal nicht mit der Sache überein.
Sicher hat weiter — das ist nicht neu — Übereinstimmung in den grundsätzlichen Zielen bestanden. Aber, Herr Bundeskanzler, was haben Sie eigentlich Herrn Ceausescu auf folgende seiner Feststellungen geantwortet: Die Stationierung von Mittelstreckenraketen habe die Lage in Europa äußerst ernsthaft verschlechtert. Die Stationierung müsse daher sofort gestoppt werden, und zwar müsse die amerikanische Seite den Anfang machen, da sie auch mit der Stationierung den Anfang gemacht habe. Man solle in Europa, vor allem auch auf dem Balkan, atomwaffenfreie Zonen einrichten. Beide Seiten sollten militärische Manöver einstellen. Militärische Stützpunkte auf fremdem Territorium sollten aufgehoben, fremde Truppen hinter die nationalen Grenzen zurückgezogen werden. Die Rolle der Militärblöcke solle ständig verringert werden bis zu deren völliger Auflösung.
Herr Bundeskanzler, das lehnen Sie doch alles ab. Worin bestand denn nun eigentlich konkret die Übereinstimmung mit Herrn Ceausescu? Welche konkreten Gegenvorschläge, die weiterführen könnten, haben Sie denn gemacht? Offenbar gar keine, wenn ich die Äußerungen und Ihre Regie-
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Dr. Ehmke
rungserklärung recht versteht. Ich sage Ihnen daher noch einmal: Wir halten es nicht für gut, daß die Bundesregierung gerade in diesen Fragen der europäischen Zusammenarbeit — bei aller Einbindung in die Blöcke — stets der Reagan-Administration den Vorrang läßt, um sich dann bloß anzuschließen.
Das ist nicht gut, man hätte den Besuch von Ceausescu für eigene Initiativen nutzen sollen.
Im übrigen sollten wir — selbst wenn man die Klimapflege für wichtiger hält als Fortschritte in der politischen Substanz — uns alle darin einig sein, daß es keine „rumänische Karte" zu spielen gibt. Die Union hat früher einmal versucht, an der DDR vorbei Osteuropa-Politik zu machen, und sie war zeitweilig in der Versuchung, an der Sowjetunion vorbei Deutschlandpolitik zu treiben.
Alles das führt zu gar nichts. Unser Verhältnis — Herr Kollege Rühe, wenn Sie mir jetzt bei diesem Satz zustimmen, freue ich mich — zur DDR, zu Osteuropa, insbesondere zu Polen, und zur Sowjetunion muß man in einem großen Zusammenhang sehen. Keine bilateralen Beziehungen können die lebenswichtige Pflege dieses Zusammenhangs ersetzen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher?
Gerne.
Herr Kollege Ehmke, stimmen Sie nicht mit mir darin überein, daß nach den erkalteten Beziehungen der letzten Monate ein solcher Besuch weitgehend der Klimapflege dient — ebenso wie im Gesamtkonzept z. B. die Reise des Außenministers nach Polen, die ja kurz bevorsteht — und daß die Klimapflege eine ganz wichtige Voraussetzung dafür ist, daß man später wieder zu politischen Gesprächen in der von Ihnen konkretisierten Art kommt?
Frau Kollegin, ich bin vorsichtig, hier zu antworten. Ich bin nicht ganz so sicher, wie in anderen Bereichen gerade diese Klimapflege aufgenommen wird. Trotzdem war ich dafür, daß es gemacht wurde. Wie Sie wissen, bin ich ein leidenschaftlicher Verfechter der Reise von Herrn Bundesaußenminister Genscher nach Polen.Aber es schadet unseren Beziehungen in allen drei Richtungen — zur DDR, zu Osteuropa und zur Sowjetunion —, Herr Bundeskanzler, wenn wir erst amerikanische Nuklearraketen, die von unserem Boden aus die Sowjetunion erreichen können, aufstellen und dann ein sehr loses Gerede über die Grenzen in Europa teils loslassen und teils zulassen.Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt es daher ausdrücklich, daß der Herr Bundespräsident und auch Sie, Herr Bundeskanzler, anläßlich des Besuchs von Herrn Ceausescu Klarheit geschaffen haben, nämlich mit der Erklärung, daß die Zusammengehörigkeit der Deutschen eine Realität ist, daß die Frage der Selbstbestimmung aber auf absehbare Zeit zur Lösung nicht ansteht, daß eine solche Lösung nur im europäischen Rahmen gefunden werden kann, daß die Bundesrepublik keinerlei Gebietsansprüche hat und solche auch in Zukunft nicht geltend machen wird.
Wir begrüßen es, daß dies endlich erklärt worden ist.
Aber, Herr Bundeskanzler, wieviel Schaden wäre von der Bundesrepublik und vom Ost-West-Dialog abgewendet worden, wenn Sie gleich am Anfang dem törichten Gerede um die Grenzfragen energisch entgegengetreten wären!
Für uns, Herr Bundeskanzler, ist jetzt die Probe aufs Exempel, was Sie zu der Äußerung sagen werden, die nach Ihrer Erklärung vom CDU-Abgeordneten Sauer gemacht worden ist, der ja zugleich eine Funktion bei den Vertriebenenverbänden wahrnimmt. Er hat Schlichtweg die polnische Souveränität in den Gebieten östlich von Oder und Neiße bestritten.
Das ist das Gegenteil von dem, was der Herr Bundespräsident und der Herr Bundeskanzler erklärt haben. Schaffen Sie endlich Ordnung in Ihren eigenen Reihen, lassen Sie nicht mehr das Verhältnis zu Polen vergiften!
Herr Bundesaußenminister und Herr Bundeskanzler, ich bin der Meinung, es wäre auch sehr klug gewesen — und wir hatten das angeregt und darum gebeten —, wenn gleichzeitig mit der Aufhebung der letzten WEU-Beschränkungen für unsere konventionelle Rüstung von der Bundesregierung feierlich erklärt worden wäre, daß die Bundesrepublik auf die Produktion strategischer konventioneller Bomber und Raketen ebenso verzichten wird wie auf die Produktion von A-, B- und C-Waffen. Ich freue mich, daß der Meinungsprozeß in der Bundesregierung, eine solche Erklärung abzugeben, offensichtlich Fortschritte macht. Bitte lassen Sie sich nicht noch mehr Zeit. Es ist schon Schaden genug dadurch angerichtet worden, daß Sie so lange gezögert haben.Herr Bundeskanzler — um auf einen letzten Punkt zu kommen —, Sie haben eben in Ihrer Regierungserklärung gesagt, Sie seien sich mit Herrn
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Ceausescu darin einig gewesen, daß der Weltraum in die Bemühungen um eine Rüstungskontrolle und Abrüstung einbezogen werden müsse. Herr Bundeskanzler, dann verstehe ich aber nicht, daß die Bundesregierung inzwischen in der Person des Herrn Verteidigungsministers nicht nur ihren Widerstand gegen die amerikanischen Pläne für Weltraumwaffen aufgegeben hat, sondern daß jetzt aus Ihren Reihen, wenn auch offenbar noch strittig, sogar eine deutsche Teilnahme an der Vorbereitung einer solchen Rüstung ins Auge gefaßt wird, von der wir alle wissen, daß sie die weltpolitische Stabilität in den Grundfesten in Frage stellen muß.
Herr Bundeskanzler, eine solche Unklarheit oder gar eine Idee, dies zu machen, dient weder der Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen noch der Verbesserung des Klimas in Europa. Sie trägt nicht zum Abbau der Konfrontation und des Wettrüstens der Großmächte bei. Ich bitte Sie daher im Namen meiner Fraktion sehr herzlich, noch diese Debatte zu einer Erklärung zu nutzen, daß Sie nicht gedenken, uns an der Weltraumrüstung, und sei es auch nur im Bereich der Forschung, zu beteiligen.
Das wäre ein schwerer außenpolitischer Fehler. Sie würden hinterher vor einer ähnlichen Situation stehen wie nach der Raketenstationierung, deren Folgen Sie uns j a nie glauben wollten und die Sie vielleicht jetzt Herrn Ceausescu glauben; jedenfalls haben Sie ihm öffentlich nicht widersprochen.
Ich bitte Sie, dies nicht zu einem weiteren Streitpunkt in unserer Diskussion und zu einem weiteren Anlaß der Verschlechterung des Ost-West-Klimas in Europa und außerhalb werden zu lassen.
Herr Bundeskanzler, Besuche sind gut und schön, und, wie gesagt, wir haben uns über den hohen Gast aus Rumänien gefreut. Ihre Regierung wird aber nicht an den Besuchen gemessen, die sie macht oder empfängt. Sie wird an der Substanz ihrer Außenpolitik gemessen. Und da muß ich Ihnen sagen: Es ist im Rahmen dieses Besuchs Klarheit in der Grenzfrage geschaffen worden. Anderes ist noch unklar. Es würde der deutschen Politik und auch der möglichen weiteren Gemeinsamkeit in der Außenpolitik dienen, wenn Sie auch in diesen Fragen Klarheit schaffen würden.
Bevor ich das Wort weitergebe, gestatten Sie mir, daß ich Frau Vizepräsidentin Renger, die in diesen Tagen ihren 65. Geburtstag begehen konnte, die herzlichsten Glückwünsche des Hauses ausspreche.
Wir freuen uns, daß Sie wieder gesund und munter in der alten jungen Frische unter uns sind.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Klein .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist angenehm, daß zwischen der Rede des Kollegen Ehmke und meiner Wortmeldung noch so etwas Sympathisches lag.
Herr Kollege Ehmke, das Wort „Opportunismus" nimmt sich aus Ihrem Munde wunderlich aus.
Ich bin wirklich froh, daß Sie keinen entscheidenden Einfluß auf die operative Außenpolitik mehr haben.
Aber ich freue mich, Herr Kollege Ehmke, daß Sie sich in Ihrer Slalomrede befleißigt haben, Übereinstimmung mit unserer seit über einem Jahrzehnt kontinuierlichen Chinapolitik festzustellen.
Vom 6. bis 13. Oktober 1984 hat der Bundeskanzler die Volksrepublik China, vom 13. bis 14. Oktober 1984 die Islamische Republik Pakistan besucht. Unmittelbar danach führte er Gespräche mit dem Präsidenten der Sozialistischen Republik Rumänien, der vom 15. Oktober 1984 bis gestern vormittag der Bundesrepublik Deutschland auf Einladung des Bundespräsidenten einen Staatsbesuch abgestattet hat.
Heute haben Sie, Herr Bundeskanzler, das Parlament durch eine Regierungserklärung über diese drei außenpolitischen Vorgänge von großer Bedeutung für unser Land und unser Volk umfassend unterrichtet. Namens der Fraktion der CDU/CSU darf ich sagen: Das ist guter Stil.
Ohne den Rang der beiden anderen Ereignisse zu schmälern, ist die Feststellung sicher berechtigt, daß der China-Besuch des deutschen Bundeskanzlers historische Perspektiven eröffnet hat.
Über eine Milliarde Chinesen, die auf eine vieltausendjährige Geschichte großer kultureller, zivili-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6683
Klein
satorischer, staatspolitischer und wirtschaftlicher Leistungen, aber auch auf über ein Jahrhundert der Zerrissenheit und der Demütigungen von außen und im Innern zurückblicken, befinden sich im Aufbruch. Nach dem Martyrium der Kulturrevolution, den unzähligen gescheiterten wirtschaftlichen Experimenten hat die gegenwärtige Führung einen Weg der Öffnung, insbesondere auch gegenüber den westlichen Industrienationen, eingeschlagen. Um ihn erfolgreich gehen zu können, braucht China wie alle Völker dieser Erde Frieden, und es braucht die Zusammenarbeit mit Staaten gleichgelagerter Interessen. Daß es dabei in niemandes Abhängigkeit geraten will, ist nach seinen Erfahrungen mit der Sowjetunion nur zu verständlich.Die Bundesrepublik Deutschland ist der Volksrepublik China ein willkommener Partner; das ist eine große Chance für beide. Die Reise des Bundeskanzlers war ein weltweit sichtbares Signal dafür, daß wir diese Chance nutzen wollen. Freilich ist es keine Selbstverständlichkeit, daß sich das kommunistische China und die freiheitlich-demokratische Bundesrepublik Deutschland zu solcher Zusammenarbeit gefunden haben. In der Periode der sogenannten Entspannung waren die Befürchtungen auf seiten der damaligen Bundesregierung groß, die Sowjetunion könnte einen solchen Schritt als feindselig und gegen sich gerichtet betrachten,
und die Kommentare, mit denen Moskau die ersten Annäherungsbewegungen seinerzeit begleitet hat, verstärkten diese Befürchtungen.Aber es waren führende Politiker der Union, die die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt haben.
Der aufsehenerregende Besuch, den Dr. Gerhard Schröder, damals Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses und ehemaliger Bundesaußenminister, im Juli 1972 in Peking gemacht hat, leitete die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten ein.Die beiden nächsten prominenten China-Besucher aus den Reihen der Union waren der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl im Juli 1974 und der CSUVorsitzende Franz Josef Strauß im Januar 1975.
Das ist in China nicht vergessen. Die Liste der prominenten Politiker aus den Reihen der CDU/CSU könnte ich jetzt noch erweitern um den gegenwärtigen Vorsitzenden unserer Fraktion Dr. Alfred Dregger, den gegenwärtigen Bundesverteidigungsminister Dr. Manfred Wörner, den gegenwärtigen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Dr. Werner Marx, den früheren Vizepräsidenten Dr. Richard Jaeger.Aber bei uns ist wiederum nicht vergessen, daß der chinesische Delegierte im UN-Sicherheitsrat anläßlich der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in die Vereinten Nationen im Juni 1973 erklärt hat: Eine gerechte und vernünftige Regelung der deutschen Frage sollte zu einem frühen Zeitpunkt erreicht werden unter der Bedingung, daß Interessen und Wünsche der Menschen in beiden deutschen Staaten respektiert werden.
Herr Bundeskanzler, Sie haben die zahlreichen Gemeinsamkeiten in der politischen Auffassungen zwischen Bonn und Peking aufgezählt. Sie haben von den langfristigen Wirkungen einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit gesprochen. Herr Kollege Ehmke, ich finde es dagegen ein wenig armselig, an den 50 Millionen DM deutscher Finanzhilfe für die Volksrepublik China herumzukritteln. Das haben j a nicht nur Sie in dieser Rede, sondern auch sozialdemokratische Kommentatoren in den Tagen davor getan.
Vor einem Jahrzehnt war die sozialdemokratische Kritik an den China-Reisen von Ihnen, Herr Bundeskanzler, damals, von Schröder, von Strauß, von all den anderen noch viel herber. Ich erinnere mich gut, wie das damals vom CSU-Vorsitzenden qualifiziert wurde, nämlich als eine nach Sauerkraut riechende Provinzialität.
Die CDU/CSU-Fraktion hält diese Finanzhilfe für richtig und notwendig; das insbesondere vor dem Hintergrund von Wirtschaftsbeziehungen, deren Umfang jetzt schon nach Milliarden zu bemessen ist und die sich nach dem ermutigenden Auftakt mit Sicherheit vervielfachen werden.
Herr Abgeordneter Klein, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Voigt ?
Aber bitte sehr.
Herr Kollege Klein, stimmen Sie mir zumindest in dem Punkt zu, daß die damalige Kritik nach wie vor Gültigkeit hat, daß nämlich eine Fernostpolitik kein Ersatz für eine — nicht vorhandene — Konzeption der Ostpolitik sein kann?
Herr Kollege Voigt, ich nehme mit Vergnügen zur Kenntnis, daß Sie den Kollegen Ehmke teilweise zu korrigieren versuchen.
Aber eine ostpolitische Konzeption, wie Sie sie uns seinerzeit angeboten und geboten haben, werden wir mit Sicherheit nicht aufnehmen.
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6684 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Klein
Dafür, daß sich der Bundeskanzler persönlich für die Verwirklichung deutscher Projekte und für die Lieferung deutscher Güter — ich nenne nur das Stichwort Airbus — während seines Besuchs mit großem Nachdruck eingesetzt hat, gebührt ihm der uneingeschränkte Dank nicht nur dieses Hohen Hauses, sondern aller, denen die Wiederbelebung der deutschen Wirtschaft und der Abbau der Arbeitslosigkeit in unserem Lande wirklich am Herzen liegen.
Der Kollege Ehmke bezeichnete diesen Zusammenhang als „billig". Ich weiß, Herr Ehmke, Sie waren schon immer für teure, wiewohl unwirksame Lösungen, bei der Behebung der Arbeitslosigkeit.Mit der starken Betonung der Notwendigkeit, die alten Kulturverbindungen zwischen Deutschland und China wieder aufzunehmen und auszubauen, haben Sie, Herr Bundeskanzler, vor allem auch einer langfristigen Investition für die Beziehungen zwischen unseren Staaten das Wort geredet. Jeder chinesische Praktikant bei einer deutschen Firma, jeder chinesische Absolvent an einer deutschen Hochschule und jeder junge Deutsche, der in China die Sprache studiert oder wirtschaftliche Erfahrungen sammelt, wird sein ganzes Leben ein kundiger Botschafter des ehemaligen Gastlandes in seinem Land bleiben.
Vieles spricht für die Richtigkeit der heute noch kühn anmutenden Voraussage, daß das pazifische Jahrhundert begonnen habe. Der Entschluß des Bundeskanzlers, Asien zu einem Schwerpunkt deutscher Außenpolitik zu machen, eröffnet die für uns Deutsche und Europäer überlebenswichtige Chance, mit den dynamisch aufstrebenden Völkern des Fernen Ostens nicht nur in fruchtbaren Wettbewerb zu treten, sondern zu enger Zusammenarbeit zu kommen.Meine Damen und Herren, diese Chance steht auch einer friedliebenden, auf die Entwicklung des eigenen Landes konzentrierten und kriegerischer Expansion abschwörenden Sowjetunion offen, zum unübersehbaren Nutzen aller Beteiligten. Dafür muß die Kreml-Führung ebenso von unserem unbeirrbaren Friedenswillen wie davon überzeugt werden, daß die gesamte Völkergemeinschaft brutale militärische Gewalt, wie sie von der UdSSR gegenüber dem neutralen, wehrlosen und freiheitsliebenden Afghanistan angewandt wird, auf das schärfste ablehnt.
Dies, Herr Bundeskanzler, war nach Ihren Worten und nach der Wirkung des Besuchs in Pakistan ein von der CDU/CSU-Fraktion besonders gewürdigter Beweggrund für die zweite Station Ihrer Asienreise. Wir begrüßen auch alle zwischen Ihnen und Präsident Zia-ul-Haq besprochenen Möglichkeiten zur Intensivierung der bilateralen Beziehungen. Hervorheben möchte ich, daß sowohl in Peking, Herr Ehmke, als auch in Islamabad bei den Gesprächen ein vernünftiges Verhältnis zu den jeweiligen Nachbarn stets ein wichtiger Bezugspunkt war.Diese Einstellung kennzeichnete auch die Unterredungen mit dem rumänischen Staatspräsidenten Ceausescu in Bonn. Dies, Herr Ehmke, ist der sachliche Zusammenhang zwischen der Reise des Kanzlers nach Asien und dem Besuch Ceausescus bei uns.Der Ausbau der deutsch-rumänischen Zusammenarbeit ist gegen niemanden gerichtet. Er ist auch nicht als Beitrag gemeint, die kommunistischen Staaten Osteuropas auseinanderzudividieren, gegeneinander auszuspielen und dadurch in bündnisinterne Bedrängnis zu bringen.Wenn Sie, Herr Ehmke, sich genau zur Grenzfrage informieren wollen, dann empfehle ich Ihnen doch, auch die Rede des Herrn Bundeskanzlers bei den Vertriebenen nachzulesen.
Es hatten sich ja drei Staatsgäste aus dem RGWereich für diesen Herbst angesagt. Präsident Ceausescu war offenbar der einzige, der es wagen konnte, zu diesem Zeitpunkt den Besuch zu machen. Zweifellos sind manche Erklärungen, die er abgegeben hat, und mancher Standpunkt, den er eingenommen hat, vor diesem Hintergrund zu verstehen.Trotzdem ist auch bei diesem Besuch in vielen wichtigen Fragen Übereinstimmung erzielt worden. Viele andere, nicht minder wichtige Fragen werden noch zäher, beharrlicher Verhandlungen bedürfen. Ich denke dabei insbesondere an die rund 300 000 Deutschen in Rumänien, die einen Anspruch auf unsere Hilfe haben, gleichgültig, ob sie sich nun dafür entscheiden, auszureisen oder zu bleiben.
Herr Bundeskanzler, die Fraktion der CDU/CSU hat Ihre Regierungserklärung mit Dank zur Kenntnis genommen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Reents.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für die demokratische Öffentlichkeit in unserem Land ist der Besuch des Bundeskanzlers in Pakistan wohl der wichtigere Teil dieser Reise gewesen, dem man zumindest mehr Aufmerksamkeit geben muß. Darüber ist am wenigsten bekannt, darüber ist am wenigsten, auch hier in der Erklärung des Bundeskanzlers, berichtet worden. Aber das hat wohl auch seinen Grund. Pakistan wird von einem Militärregime regiert, das durch einen Putsch im Juli 1977 an die Macht gekommen
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6685
Reentsist und dessen Liste von politischen Gefangenen, Gefolterten und Hingerichteten lang ist. Darüber haben wir soeben vom Bundeskanzler nichts gehört. Aber wer einen Bruderkuß mit dem obersten Kriegsrechtsverwalter Zia-ul-Haq austauscht,
hat dazu vermutlich auch nichts zu sagen.
Zia-ul-Haq hat in einem Interview mit der Tagesschau am 14. Oktober gesagt, daß es im März 1985 in Pakistan „faire und freie Wahlen" geben solle. Er hat dies aber gleich wieder damit dementiert, daß er anfügte, es solle in Pakistan aber „kein Mehrparteiensystem" geben. In Nicaragua, das ein ganz anders gelagerter Fall ist, schimpft die Bundesregierung, daß die Wahlen nicht frei, daß die Wahlen nicht demokratisch seien, weil ein Teil der Opposition nicht an Wahlen teilnimmt, an denen sie teilnehmen könnte.
Aber in Pakistan, dem deutschen Kapitalinteresse sei es getrommelt und geklagt, findet der Bundeskanzler die Scheinwahlen des Militärregimes — wie auch in der Türkei — eine „vernünftige demokratische Wegbereitung".
Spätestens nach diesem Interview des Bundeskanzlers, so denke ich, hat dieser Bundeskanzler tatsächlich kein Recht mehr, sich über angebliche Unfreiheit und Undemokratie von Wahlen in Nicaragua überhaupt zu äußern.
Weiter: In der „FAZ" vom 15. Oktober konnte man lesen, daß der Bundeskanzler in Pakistan auch über militärische Fragen gesprochen hat. Worum es dabei konkret ging, wurde nicht mitgeteilt, wurde auch hier in der Erklärung nicht mitgeteilt. Daß das nicht geschehen ist, muß uns veranlassen, ein paar Fragen zu stellen.Es ist j a bekannt, daß die USA Pakistan in großem Stil militärisch aufrüsten. Es ist bekannt, daß demnächst wieder ein Dreijahresprogramm der Bundesregierung über Ausrüstungshilfe vorliegen wird; das soll in den nächsten Wochen kommen. Aber schon heute interessiert uns: Bedeutet die Tatsache, daß dort über militärische Zusammenarbeit gesprochen wurde, daß Pakistan nun in die deutsche Ausrüstungshilfe mit aufgenommen werden soll?Bekannt ist auch, daß die USA ihre Rapid Deployment Force vor einiger Zeit in ein reguläres Territorialkommando umgewandelt haben, dem sogenannten Central Command, dessen Einsatzgebiet westlich bis Ägypten, südlich bis Kenia und östlich bis Pakistan reichen soll.
Auch hierzu unsere Frage: Will die Bundesregierung dabei zukünftig irgendeine militärische Rolle übernehmen? Die Frage ist nicht aus der Luft gegriffen. Es gibt gerade die erste sogenannte Besuchsfahrt eines Fregattengeschwaders der Bundesmarine durch das Mittelmeer zur Türkei, durch das Rote Meer — vorbei an der Golf-Region — nach Karatschi in Pakistan, dann weiter über Indien, Malaysia und Indonesien quer durch den Indischen Ozean und zurück. In der Presse wird dieses Geschwader bereits als deutsche Task Group bezeichnet.
Das sind schlimme Signale. Wir warnen davor, meine Damen und Herren, daß sich die deutsche Öffentlichkeit daran gewöhnt, daß deutsche Kriegsschiffe ihr Zuhause wieder auf den Weltmeeren finden.
Schließlich: Es gibt etwas, was man im Zusammenhang mit dieser Reise aufmerksam registrieren muß. In kurzen Abständen fährt Außenminister Genscher in den Iran, kommt der türkische Ministerpräsident Ozal in die Bundesrepublik und besucht Bundeskanzler Kohl Pakistan. Iran, Türkei, Pakistan, das sind genau die drei Länder, die einmal dem inzwischen aufgelösten CENTO-Pakt angehört haben. Dieser CENTO-Pakt wurde bekanntlich 1955 von den USA als südlicher Riegel im Rahmen der Eindämmungspolitik gegen die Sowjetunion initiiert. Er wurde 1979 aufgelöst. Wir haben den Eindruck — und auch dieser Eindruck ist nicht aus der Luft gegriffen, niemand kann so tun, als ob es diese Zusammenhänge nicht gäbe —,
daß die Bundesregierung diesen CENTO-Pakt offensichtlich in neuer Form wiederbeleben will. Tatsächlich braucht man doch nur auf den Globus zu gucken, um festzustellen: Diese drei Länder plus China decken den gesamten Südgürtel um die Sowjetunion und das von sowjetischen Truppen besetzte Afghanistan ab.
Damit komme ich zu China. Es ist doch auffällig, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung inzwischen das ganze Gezeter fallengelassen hat, das sie sonst über diejenigen Länder anstellt, die zum sogenannten kommunistischen Machtbereich gehören,
schon gar nicht mehr zu denken an dieses schrille „ich sage nur: China, China, China" des ehemaligen CDU-Bundeskanzlers Kiesinger, der Ende der 60er Jahre im Wahlkampf die gelbe Gefahr kommen ließ, nachdem Adenauer ein paarmal die rote Ge-
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6686 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Reentsfahr in den Wahlkampf eingeladen hatte, die aber auch nicht gekommen ist.
Jetzt aber ist von erprobter Freundschaft die Rede. Warum? Weil die Bundesregierung offensichtlich hofft, China in die Eindämmungspolitik gegen die Sowjetunion im asiatischen Raum einbinden zu können. In einer Studie der CDU-Denkfabrik Konrad-Adenauer-Stiftung über die neue deutsche Außenpolitik, erstellt unmittelbar nach der letzten Bundestagswahl, konnte man bereits lesen, daß die Eindämmungspolitik gegen die Sowjetunion wieder das oberste Ziel deutscher Außenpolitik in Asien sein soll. Und man konnte ferner lesen, auch ein Novum, daß es explizit „deutsche Sicherheitsinteressen" im asiatischen Raum gibt.
Aber für wie dumm, Herr Klein, hält uns der Bundeskanzler eigentlich,
wenn er hier eine Erklärung über ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten abgibt? Wir können doch wohl die Presse lesen. Und wir haben schon beim Reagan-Besuch im April dieses Jahres in China gehört, daß der chinesische Ministerpräsident Zhao Ziyang Reagan aufgefordert hat, die Stationierung der Atomraketen in Westeuropa zu stoppen, und des weiteren seine Hoffnung geäußert hat, daß die Sowjetunion ihre Gegenmaßnahmen einstelle. Was halten Sie eigentlich von diesem Zuammenhang? Warum wird er in der Erklärung verschwiegen? Die Bundesregierung stellt sich hin, beklatscht das Auftreten der VR China gegen den Hegemonialismus, aber ihre Politik hat damit nicht das geringste zu tun.
Warum, Herr Bundeskanzler, erwecken Sie auch den Eindruck, als ob Ihr Ziel, diese Reise innenpolitisch auszuschlachten, wirklich erreicht worden ist? Die abgestandene Huldigung an Ihre eigene deutsch-nationale Gesinnung, die chinesische Gesprächspartner vor allen Dingen in den 70er Jahren tatsächlich noch in ihrem Repertoire hatten, haben Sie jetzt bei Ihrem Besuch in China doch so überhaupt nicht gehört. Laut der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 12. Oktober hat Sie der chinesische Parteigeneralsekretär Hu Yaobang zur Geduld ermahnt.... er könne sich vorstellen, — heißt es dort —daß Deutschland über lange Zeit geteilt bleibe. Die Wiedervereinigung werde dann kommen, wenn Deutschland lange Zeit in Frieden mit seinen Nachbarn lebe.Es ist für uns überhaupt nicht wünschenswert, daß es wieder ein Großdeutschland gibt.
Frieden, kulturelle und menschliche Beziehungen kann man unserer Überzeugung nach nur entwikkeln, wenn man von solchen ehrgeizigen und zweimal verderblichen Ambitionen ganz abläßt.
Aber warum verfälscht die Bundesregierung, was sie gehört hat? Was von chinesischer Seite gesagt wurde, war doch eine Aufforderung, endlich alles zu tun, damit sich keines unserer Nachbarländer, keines, mehr bedroht fühlen muß, weder von der Bundesrepublik noch von dem ehemaligen Deutschland.
Was bleibt, ist natürlich folgendes: Die Staats- und Parteiführung der VR China ermuntert zur politischen Stärkung Westeuropas. Und Sie, Herr Bundeskanzler, suchen sich Ihren Halt selbstverständlich in solchen Ermunterungen. Sie wollen dies als politische Munition gegen diejenigen in unserem Land verwenden, die sich von einer politischen und militärischen Blockfreiheit und Neutralisierung der Bundesrepublik einen Ausweg zu einer Friedenssicherung in Mitteleuropa versprechen. Aber damit werden Sie keine Argumente ersetzen, daß Sie jetzt hinter Ihre Politik ein chinesisches Ausrufezeichen schreiben.Zum Schluß ein paar Worte zum Bundeskanzler als Handelsreisenden für die deutsche Industrie. Ihre Reisemannschaft hat tatsächlich fast die gesamte Creme der deutschen Exportgewinnler versammelt.
Motto und Zitat dazu, nochmals aus der bereits erwähnten Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung: Die deutsche Außenpolitik müsse — ich zitiere — „das Ziel haben, die prowestliche Richtung Deng Xiao-pings in der Partei zu stärken gegenüber der harten Linie der orthodoxen Marxisten, die sich gegen eine prowestliche Orientierung richtet".
Gleichfalls Zitat aus dieser Studie ganz allgemein: „Aufgabe der deutschen Außenpolitik in Asien muß es unter anderem sein, das positive Bild Deutschlands in der Welt wiederherzustellen, damit auch das Vertrauen zurückkehrt und das wirtschaftspolitische und gesellschaftspolitische Modell der freien Marktwirtschaft weiterhin als erstrebenswerter gilt als sozialistische und marxistische planwirtschaftliche Vorstellungen."
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6687
ReentsDafür sollen zukünftig auch VW Santanas durch China und aus China heraus rollen. Dafür will die KWU ihre Atomreaktoren, die einige Länder zum Glück schon gar nicht mehr haben wollen, in China verkaufen. Dafür hat im übrigen 1980 die Weltbank ein Dokument erstellt, in dem China ein „exportgeleitetes Wachstum" und eine Auslandsverschuldung von mal eben 79 Milliarden Dollar bis 1990 vorgeschlagen wird. Wo das endet — wir können nur hoffen, daß dies in China in vollem Umfang begriffen wird —, sieht man in Mexiko, Brasilien, Südkorea, Philippinen und anderswo. Wir lehnen insbesondere den Export von Atomreaktoren ab, ob nach China, nach Pakistan oder anderswohin.
Die Bundesregierung und die KWU spekulieren bei solchen Geschäften darauf, daß Länder der Dritten Welt natürlich den Wohlstandsabgrund zwischen den Industrieländern und ihnen überwinden wollen.
Aber sie liefern ihnen falsche und letztlich unnütze Technologien dafür.
Sie verschweigen ihnen, welche Fehler und Gefahren, die zum Teil erst durch den Gebrauch dieser Technologien hier bei uns analysiert wurden, sie sich damit aufladen.
— Herr Klein, ich habe in Kuba — denen hat die Sowjetunion ein AKW in Cienfuegos aufgedrängt — bei einer Delegationsreise unserer Fraktion erlebt, daß der Stand der wissenschaftlichen Diskussion über Gefahren der Atomenergie dort nicht einmal bekannt ist, wie er hier bei uns ist.
Die Sowjetunion hat ebensowenig diese kritische wissenschaftliche Debatte mitgeliefert. Genauso handelt diese Bundesregierung. Sie sorgt dafür, daß die Atomenergie ins Ausland kommt. Aber die kritische wissenschaftliche Debatte dazu wird in diese Länder nicht mitgeliefert.
Das gleiche ist es auch, wenn Sie der Volksrepublik China auslaufende Fahrzeuge und Altmotoren aufgeschwatzt haben.
Sie verschweigen hier, was in China debattiert wird, was in China diskutiert wird, die gesellschaftspolitische Diskussion. Sie verschweigen dort in China bei Ihrer Reise, was bei uns diskutiert wird,
nämlich die Diskussion über die ökologischen Folgen einer falschen Industriealisierungspolitik.
Das hat auch Karl Grobe in seinem Kommentar in der „Frankfurter Rundschau" sehr deutlich angemerkt, daß es ein großes politisches Versagen ist, daß Sie darüber in China nicht gesprochen haben, und daß deswegen vermutlich auch bald neue Sandbänke zwischen Bonn und Peking — wie er sich ausdrückte — auftun, wenn erst einmal VW und KWU Chinas Umwelt verpesten.Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, die besondere Bedeutung Chinas nur mit den drei Begriffen,
seine Größe, seine geographische Lage und sein gewaltiges Entwicklungspotential, erfassen und damit offensichtlich den Fischer-Weltalmanach als ihr wichtigstes außenpolitisches Arbeitsinstrument hier zur Kenntnis geben und wenn Sie, nach dem Konzept Ihrer Asienpolitik befragt, mit der aufregenden Antwort kommen — ich zitiere aus der FAZ —, daß es angesichts der Aufbruchstimmung auf diesem Kontinent geraten sei, nicht abseits zu stehen, dann haben Sie tatsächlich nicht mehr in der Hand und nicht mehr im Kopf als die Bilanzen deutscher Unternehmen.
Aber es ist wohl auch nicht anders zu erwarten, und es ist wohl auch angemessen für einen Bundeskanzler, dessen Weg an die Spitze seiner Fraktion und seiner Partei, wie wir in diesen Tagen erfahren haben, von Flick freigekauft wurde.
Herr Abgeordneter Reents, ich werde mir die schriftliche Aufzeichnung vorlegen lassen.
Jede Verdächtigung,
die hier in diesem Hause gegen Mitglieder vorgebracht wird und die nicht bewiesen ist, wird mit Nachdruck zurückgewiesen.
— Herr Abgeordneter Fischer, es steht auch Ihnennicht an, Ausführungen des Präsidenten hier zu kritisieren. Ich möchte Ihnen das nachdrücklich ins
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6688 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Vizepräsident StücklenGedächtnis rufen, da es einen § 38 in unserer Geschäftsordnung gibt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Haussmann.
Herr Präsident! Herr Bundeskanzler! Meine Damen und Herren! Man muß sich schon wundern, was aus dieser Debatte über die Regierungserklärung geworden ist. Herr Ehmke legt den Schwerpunkt auf eine Nachrüstungsdebatte. Die GRÜNEN glauben Schwellenländer darüber belehren zu müssen, was für ihre wirtschaftliche Entwicklung richtig oder falsch ist, Herr Reents. Ich kann nur sagen: Die chinesische Führung wird selbst in der Lage sein, zu entscheiden, welche Art der Energiepolitik und welche Art der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit deutschen Fahrzeugunternehmen in ihrem nationalen Interesse liegt.
Ich weise es als Abgeordneter des Deutschen Bundestages zurück, daß wir hier das Recht hätten, in die autonomen Entscheidungen einer chinesischen Regierung einzugreifen, Herr Reents.
Ich kann mich nur wundern: Wenn es Ihnen mit der autonomen Entwicklung anderer Länder ernst sein sollte,
wenn es Ihnen mit der Beseitigung der Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik ernst sein sollte,
dann sollten Sie den Schwerpunkt der Reise des Bundeskanzlers sehr ernst nehmen.
Ich freue mich, daß wenigstens die SPD-Fraktion — genauso wie FDP und CDU/CSU — klar erkennt, daß der Bundeskanzler und seine Delegation bei der Reise nach China die drei entscheidenden Elemente internationaler Verständigung erkannt haben: die Bedeutung der Außenpolitik, die Bedeutung der Kulturpolitik und die Bedeutung langfristiger wirtschaftlicher Beziehungen.
Herr Bundeskanzler, wir Freien Demokraten möchten Ihnen sehr herzlich für die Ergebnisse dieser Reise danken.
Was die Arbeitsplätze in der Bundesrepublik angeht, so kann man nur sagen: Die Bundesrepublik und alle Fraktionen des Deutschen Bundestages wären gut beraten, wenn sie die Bedeutung des gesamten pazifischen Raumes für die Beschäftigungspolitik der Bundesrepublik sehr ernst nehmen würden.
— Dort, Herr Schwenninger, liegen die Zukunftsmärkte. Diese Länder in Asien brauchen nicht belehrt zu werden, auf welche Weise sie sich entwikkeln sollen. Sie sind selbst in der Lage, zu entscheiden, auf welche Art sie mit uns kooperieren wollen. Darauf können Sie sich verlassen: Sowohl der Bundeskanzler auch auch Staatssekretär von Würzen als auch die begleitenden deutschen Unternehmer sind in der Lage, wirtschaftlich mit einem alten Kulturstaat zusammenzuarbeiten, der am Beginn einer großartigen industriellen Entwicklung steht. Für die Bundesrepublik Deutschland eröffnet sich damit eine große Chance. Die Bundesrepublik kann unabhängig von den Interessen der beiden großen Supermächte USA und UdSSR und aus alter kultureller Verbundenheit mit der Volksrepublik China die ganz große Chance nutzen, von Anfang an an einer sehr vorsichtigen Öffnung der chinesischen Industrie beteiligt zu sein. Wer die Chance hatte, sich in Wuhan mit Arbeitnehmern und mit Ingenieuren, auch chinesischen Ingenieuren, zu unterhalten, wie ernsthaft die Bundesrepublik dort gemeinsame Projekte betreibt, kann sich über diese Unverfrorenheit und über diese Bevormundung, die Sie hier vorbringen, nur wundern.
Denn in Wuhan ist eben klargeworden, daß die Bundesrepublik — im Gegensatz zu vielen anderen Staaten, deren Vertreter sich ebenfalls in der Volksrepublik China tummeln —, daß die deutschen Ingenieure und die Frauen und die Kinder, die dort die deutsche Schule besuchen, von den Chinesen ernstgenommen werden, weil die Deutschen dort drei Vorteile ausspielen, die weder Japan noch Rußland, noch die Vereinigten Staaten von Amerika den Chinesen bieten:
erstens klare, langfristige finanzielle Vereinbarungen ohne zusätzliche oder nachträgliche finanzielle Forderungen; zweitens das Weitergeben von Knowhow bei der Entwicklung gemeinsamer Projekte. Das wird von den Chinesen als äußerst positiv angesehen. Es wird gewürdigt, daß dort nicht die Technologie der entwickelten Industrieländer oktroyiert wird, sondern daß die deutsche Industrie und die deutschen Ingenieure beim Aufbau von gemeinsamen Projekten die Chinesen auch bei der Entwicklung ihres eigenen Know-hows unterstützen. Drittens wird anerkannt, daß sich die Deutschen nach Fertigstellung eines Projektes nicht sofort zurückziehen, sondern bereit sind, im sogenannten After-sale-service den Chinesen noch viele Jahre dabei zu helfen, daß ein Projekt auch mit den besonderen Umwelt- und kulturellen Bedingtheiten der Chinesen fertig wird.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6689
Dr. HaussmannDafür möchte ich mich bei den Ingenieuren und den Arbeitnehmern sowie ihren Frauen in der Volksrepublik China herzlich bedanken. Meine Damen und Herren, dies ist ein Musterbeispiel internationaler Zusammenarbeit, und diese Leute haben es nicht verdient, in dieser absoluten Weise mit dieser Übermoral, die hier zum Ausdruck kommt, von Bonn her gerichtet zu werden. Die Leute wissen, was sie wollen, und auch die Chinesen wissen, was sie wollen.
Meine Damen und Herren, aus der Sicht der FDP sind in der Außenwirtschaftspolitik — insbesondere auf diesen Bereich will ich mich konzentrieren — drei Dinge von entscheidender Bedeutung:Erstens. Die Elemente der Reformpolitik in der Volksrepublik China werden sich langfristig positiv auf die Weiterentwicklung der Weltwirtschaftsordnung auswirken. Die Öffnung der Märkte, die Dezentralisierung und die Delegation von Verantwortung im chinesischen Wirtschaftssystem, die Schaffung von materiellen und ideellen Anreizen sowie der Einsatz von Leistung und qualitativen Produktionsregelungen haben eine ganz entscheidende Bedeutung dafür, daß sich unterentwickelte Länder mit einem kommunistischen Staatssystem liberaler, wettbewerbsorientierter Wirtschaftselemente bedienen. Es ist heute überhaupt noch nicht abzusehen, in welchem Maße sich diese Liberalisierung der chinesischen Wirtschaft auch beispielhaft auf die Liberalisierung anderer Wirtschaftssysteme in weniger entwickelten Ländern auswirkt.
Das halte ich für eine sehr wichtige Frage.Zweitens. Meine Damen und Herren, wir begrüßen, daß die Bundesregierung in einem vorsichtigen und langfristig angelegten Vorgehen die chinesischen Bedingungen respektiert, nämlich eine Politik respektiert, die aus eigener Kraft betrieben wird, die sich nicht teuer im Ausland verschuldet und die dementsprechend langsam vorgeht. Ich halte das für eine sehr verantwortungsvolle Entwicklungspolitik der Volksrepublik China. Die deutschen Banken, die deutschen Unternehmen und die Bundesregierung sind gut beraten, wenn sie diese vorsichtige Politik so wie beim letzten Wirtschaftsbesuch unterstützen. Da haben deutsche Unternehmen frühere Aufträge storniert und wickeln sie sehr langsam ab, um den besonderen Bedingungen des chinesischen Entwicklungsplans gerecht zu werden. Das wird uns langfristig einen Wettbewerbsvorteil gegenüber allen anderen Industriestaaten verschaffen, auch gegenüber den Japanern, die in dieser Frage sehr viel weniger Verständnis haben und gegenüber der Volksrepublik China sehr viel fordernder auftreten.Drittens. Wir glauben, daß die angestrebten Verträge zu einem Doppelbesteuerungsabkommen und zu einem Investitionsförderungs- und -schutzabkommen weiter zügig verhandelt werden müssen, weil sie eben in unserem Wirtschaftssystem die notwendigen Rahmenbedingungen dafür sind, daß auch und insbesondere kleine und mittlere Unternehmen aus der Bundesrepublik Deutschland die Chance bekommen, langfristig an der Entwicklung dieses riesigen Marktes teilzunehmen. Gerade für die kleinen und mittleren Betriebe sind das Doppelbesteuerungsabkommen und — noch mehr — das Investitionsschutzabkommen von ganz entscheidender Bedeutung, und wir begrüßen es sehr, Herr Bundeskanzler, daß Sie auch heute wieder angekündigt haben, daß die Verhandlungen von der Bundesregierung so zügig geführt werden, daß wir in absehbarer Zeit mit einem Abschluß rechnen können.Ich möchte also für die Freien Demokraten zusammenf assen:Erstens. Die Reise des Bundeskanzlers hat die Kontinuität des Engagements im pazifischen Raum, der Verbindung von Wirtschaft und Außenpolitik, die Helmut Schmidt damals ebenfalls gemacht hat wie heute Helmut Kohl — wir halten beides für richtig —, gezeigt. Die FDP unterstützt das; es ist eine wichtige Kontinuität in diesem Raum. Wir begrüßen, daß Herr Ehmke heute für sich oder zumindest für Teile der SPD uns die Unterstützung für diese Verbindung zwischen Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik und damit Sicherung deutscher exportorientierter Arbeitsplätze zugesichert hat. Das ist sehr wichtig. Von seiten der GRÜNEN war dazu nichts zu erwarten.Zweitens. Wir glauben, daß die Bundesrepublik die große Chance wahrnimmt, die in einer vorbildlichen Kooperation zwischen einem hochentwickelten mittleren Industrieland — Bundesrepublik Deutschland — und einem alten Kulturland liegt, das am Beginn der industriellen Entwicklung steht. Diese Kombination zwischen deutscher Ingenieurleistung und großen Märkten und Rohstoffvorkommen der Volksrepublik China ist von langfristigem nicht nur ökonomischen, sondern auch sozialen und Arbeitsplatzinteresse beider Staaten.Drittens. Wir finden es richtig, daß der Bundeskanzler insbesondere die Frage der Kulturpolitik, des Studentenaustausches, der Erlernung der jeweiligen Sprache mit hoher Priorität versehen hat.
Wir glauben, daß ein großes Interesse beider Staaten besteht, unabhängig von den beiden Weltmächten auf dieser Ebene langfristig gut zusammenzuarbeiten.Wir bedanken uns für die Regierungserklärung. Wir sichern eine uneingeschränkte Unterstützung dieser Art von Außenwirtschafts- und Außenpolitik zu.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:Beratung der Beschlußempfehlung und desBerichts des Ausschusses für wirtschaftliche
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6690 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Vizepräsident StücklenZusammenarbeit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Fünfter Entwicklungspolitischer Bericht der Bundesregierung— Drucksachen 9/2411, 10/358 Nr. 109, 10/1274 —Berichterstatter:Abgeordnete Höffkes SchluckebierNach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre und sehe keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.Wünscht einer der Berichterstatter das Wort? — Als Berichterstatter nicht.Das Wort hat der Herr Abgeordnete Höffkes.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Fünfte Entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung, im Frühjahr 1983 veröffentlicht, hat in den Medien leider nicht die Resonanz gefunden, die er eigentlich verdient hätte. Stellt doch gerade dieser Bericht das erste ausführliche Dokument der neuen Entwicklungspolitik der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung dar. Als neue Kernpunkte der Entwicklungspolitik der Union sind von Minister Dr. Warnke die Berücksichtigung des Interessenausgleichs zwischen den Entwicklungsländern und der Bundesrepublik Deutschland sowie eine stärkere beschäftigungswirksame Ausrichtung der Entwicklungshilfe herausgestellt worden. Weitere Schwerpunkte: Förderung deutscher Wirtschaftsinteressen, Stärkung der privaten Industrie, Förderung der mittelständischen Wirtschaft und Stopp und Abbau der wachsenden Verschuldung der Entwicklungsländer. Insgesamt ist der Bericht ein Dokument für eine ehrlichere Entwicklungshilfe, da er sich zum partnerschaftlichen Interessenausgleich bekennt und die Eigeninteressen der Bundesrepublik anspricht.Dies gilt auch für die Frage, welche Entwicklungsländer von der Bundesrepublik Deutschland nicht unterstützt werden sollten. So wäre es töricht und gefährlich, Moskauer Bastionen auch noch zu unterstützen. Es ist unverständlich, wie ein Kollege der SPD davon sprechen konnte, daß bei der Vergabe von Entwicklungshilfe nach dem Prinzip „Zukkerbrot und Peitsche" verfahren werde. Befremdlich ist es, daß der Herr Kollege leugnet, daß die Entwicklungsländer bereits in den Ost-West-Konflikt hineingezogen worden sind, und daß er die Position der Bundesregierung in Frage stellt, nämlich die Position, daß diese Tatsache ein entsprechendes Verhalten unsererseits erfordert.
Die unhaltbare Kritik gipfelte in der Formulierung, die Regierung sei dabei, die Entwicklungspolitik zu einem Instrument der Sicherung wirtschaftlicher und strategischer Interessen „verkommen" zu lassen. Diese Vorwürfe, meine Damen und Herren, stellen eine grobe Verdrehung der Ziele einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik dar, und ichmeine, sie sollten zukünftig im Interesse aller unterlassen werden.Neben der selbstverständlich rein humanitären Hilfe will die Bundesregierung Vorhaben fördern, die langfristig die wirtschaftliche Selbständigkeit der Entwicklungsländer begünstigen. Dabei können nicht weiter nach dem Gießkannenprinzip Verschwendung, Leerlauf und dubiose sozialistische Experimente gefördert werden,
sondern es müssen die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland als legitim anerkannt und zu einem der Maßstäbe entwicklungspolitischen Handelns gemacht werden. Niemand kann verlangen, daß wir Kräfte fördern, die uns feindlich gesonnen sind.
Damit, meine Damen und Herren, verkommt die deutsche Entwicklungspolitik nicht, sondern sie erhält endlich klare Konturen, für die auch der deutsche Steuerzahler Verständnis aufbringt.Der Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. März 1982 zum Vierten Entwicklungspolitischen Bericht hinsichtlich der Abfassung des Fünften Berichts ist inhaltlich voll erfüllt. Folgende Themen sollten zusätzlich behandelt werden: erstens die entwicklungspolitischen Konsequenzen aus dem Brandt-Bericht und dem Nord-Süd-Gipfeltreffen in Cancun, zweitens die entwicklungspolitischen Folgerungen aus dem Bericht „Global 2000", drittens der Zusammenhang zwischen Abrüstung und Entwicklung und viertens die Darstellung der Entwicklungspolitik gegenüber den zehn Hauptempfängerländern.Der Bericht kommt der Forderung nach, die Schlußfolgerungen aus den Ergebnissen der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zur deutschen Entwicklungspolitik zu Beginn der 80er Jahre zu berücksichtigen. Auch wird die Projektwirklichkeit einschließlich integrierter Maßnahmen an Hand von Positivbeispielen dargestellt. Selbst die Forderung, Negativbeispiele aufzuzeigen, wurde mit großer Offenheit erfüllt.Von Bedeutung ist, daß zu dem Mißverhältnis zwischen den weltweiten Rüstungsaufwendungen einerseits und dem Hunger und Elend in der Dritten Welt andererseits Stellung genommen wird. Kritisiert wird, daß die Rüstungsausgaben der ölimportierenden Entwicklungsländer mehr als dreimal so hoch sind wie die Hilfe, die sie von westlichen Industrieländern empfangen.Der Fünfte Bericht greift zum erstenmal die Suche einiger Entwicklungsländer nach neuen und eigenen Fortschrittsleitbildern auf. Sie werden deswegen von den Entwicklungsländern aufgenommen, weil die Entwicklungswege der Industrieländer als Vorbild für die eigene wirtschaftliche und soziale Entwicklung für die Entwicklungsländer an Attraktivität verloren haben. Als politischer Ausdruck dieser Identitätssuche werden der Nationalismus in vielen Entwicklungsländern sowie die ver-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6691
Höffkesschiedenen Varianten des arabischen, des asiatischen und des afrikanischen Sozialismus gewertet. Allerdings sollte der Bericht genauer darauf eingehen, daß diese Spielarten des Sozialismus kaum etwas mit der Staats- und Gesellschaftsform der osteuropäischen sozialistischen Länder gemeinsam haben.Der neue Bericht geht in befriedigender Weise auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Probleme der Ölländer, der Schwellenländer und der am wenigsten entwickelten Länder ein. So wird zu Recht darauf hingewiesen, daß die einseitige Ausrichtung der Wirtschaft vieler Ölländer auf wenige Sektoren bei gleichzeitigem Zurückbleiben der sozialen Entwicklung den Keim zu sozialer und politischer Instabilität der Ölländer in sich birgt.Einen hohen Stellenwert nimmt die Bewertung des Nord-Süd-Dialogs ein. Es wird nicht wie in früheren Berichten Harmonievorstellungen gehuldigt, sondern es werden auch solche Positionen beschrieben, die für die westlichen Industriestaaten unannehmbar sind, beispielsweise die Forderung nach einem uneingeschränkten Recht der Entwicklungsländer auf Nationalisierung ausländischer Investitionen und Entschädigung allein nach nationalem Recht, aber auch nach der Koppelung der Preise von Rohstoffen und Industriegütern, der sogenannten Indexierung, sowie dem automatischen Ressourcentransfer. So etwas ist für uns nicht akzeptabel.
Bei der Stellungnahme zu den Vorschlägen der Unabhängigen Kommission für Entwicklungsfragen stimmt die Bundesregierung mit einer zentralen Aussage des Kommissionsberichts überein, daß Sicherheit und Stabilität nicht allein von militärischem Gleichgewicht abhängen, sondern auch von der Lösung der drängenden Nord-Süd-Probleme.Die Internationale Entwicklungsstrategie für die Dritte Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen wird beschrieben und auf die Beratungsgegenstände des Cancun-Gipfels eingegangen. Freimütig wird hier festgestellt, daß nicht in allen Beratungspunkten Einigkeit erzielt werden konnte. Näher hierauf einzugehen verbietet mir die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit.Hinweisen möchte ich aber auf die lesens- und beachtenswerten Ausführungen im Bericht zur Studie „Global 2000", da diese Studie die engen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen aufzeigt zwischen dem Bevölkerungswachstum, der Ernährungs- und Ressourcensicherung sowie dem Schutz der natürlichen Umwelt. Vermißt wird hier eine kritische Distanz zu den damaligen Voraussagen und den heutigen Gegebenheiten; denn hier liegt eine entscheidende Schwäche des Berichts „Global 2000", die auch im Bericht des Club of Rome anzutreffen war, da die Lern- und Veränderungsfähigkeit politischer Systeme nicht berücksichtigt sind.Erstmals wird die soziokulturelle Dimension der Entwicklungszusammenarbeit hervorgehoben. Es ist positiv zu bewerten, daß die BundesregierungKonsequenzen aus der Tatsache ziehen will, daß die Entwicklungsländer um einen eigenen Entwicklungsweg ringen, der nicht von fremden kulturellen Leitbildern bestimmt ist, sondern an eigene Traditionen und Wertvorstellungen anknüpft. So wird für die Praxis gefordert, daß Entwicklungsziele die Eigenverantwortung der Bevölkerung in den Empfängerländern voll respektieren müssen und daß bei den Durchführungs- und Evaluierungsstudien soziokulturelle Aspekte und Kriterien einen integralen Bestandteil darstellen müssen.Ehrlich ist der Bericht auch dort, wo er zugibt, daß in der Vergangenheit gravierende Fehler dadurch gemacht wurden, daß die wirtschaftliche und soziale Schlüsselrolle der Frauen im Entwicklungsprozeß nicht hinreichend berücksichtigt wurde.Zu bejahen ist die Darstellung der finanziellen und technischen Zusammenarbeit, vor allem der Hinweis auf die Förderung von Kleinstmaßnahmen und auf die zusätzlichen Finanzierungsinstrumente wie etwa Kofinanzierungen, Mischfinanzierung sowie technische Zusammenarbeit gegen Entgelt.Aufrichtig sind die Autoren des Berichts auch dort, wo sie zugeben, daß die Grenzen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit da erreicht sind, wo die Hilfe darüber hinausgeht, Selbsthilfe zu sein.Weiterhin ist es nicht vorstellbar, daß eine wesentliche Angleichung des Lebensstandards zwischen Nord und Süd in absehbarer und überschaubarer Zeit erreichbar ist.Der Bericht untersucht die Wirkungen der Entwicklungspolitik in weltweitem Maßstab und stellt fest, daß bemerkenswerte Erfolge erzielt wurden. So ist eine Verdoppelung des Pro-Kopf-Einkommens seit 1950 feststellbar, und die Lebenserwartung ist in den ärmsten Entwicklungsländern um durchschnittlich 15 Jahre gestiegen.Völlig neu aufgenommen wurde in dem Fünften Bericht das Kapitel „Flüchtlingshilfe und Entwicklungspolitik". Damit trägt der Bericht dem bedrükkenden Problem Rechnung, daß es derzeit in der Dritten Welt insgesamt ca. 15 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene gibt. Als Hilfen für die Flüchtlinge werden humanitäre Hilfen wie etwa die Lieferung von Nahrungsmitteln, Medikamenten, Decken, Zelten, Bohrgeräten für vorläufige Wasserstellen usw. genannt, aber auch Maßnahmen der Integration, der Reintegration und der Selbsthilfe. Hinsichtlich der Flüchtlingslager wird betont, daß diese nicht zu Dauereinrichtungen werden dürfen. Die Hilfen für Aufnahmeländer werden dargestellt. Richtig ist, daß es bei der gesamten Flüchtlingsproblematik darauf ankommt, nicht nur nach der Flucht zu helfen, sondern daß es wesentlich wichtiger ist, zu verhindern, daß Menschen fliehen müssen. Die Ursachen für Flucht und Vertreibung müssen beseitigt werden.
Der Deutsche Bundestag formulierte in seinem Beschluß vom 5. März 1982 zum Vierten Entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung, den
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Höffkeser am 19. Januar 1984 bestätigte, eine ganze Reihe von Grundsätzen, die häufig auch als der sogenannte Grundkonsens in der Entwicklungspolitik bezeichnet wurden, Grundsätze, die in der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland beachtet werden sollten. Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit hält es für geboten, diese Grundsätze um einige zu ergänzen, da sie im Hinblick auf die jüngeren Entwicklungen in den NordSüd-Beziehungen ebenfalls als besonders wesentlich erscheinen.Die Ihnen heute vorliegende Beschlußempfehlung hat die Zustimmung aller in diesem Ausschuß vertretenen Parteien mit Ausnahme einer Stimme der GRÜNEN gefunden. Ich bitte Sie herzlich, dieser Beschlußempfehlung Ihre Zustimmung zu geben.Danke.
Der Stenographische Bericht, die Niederschrift über die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Reents liegt mir vor. Der Abgeordnete Reents hat erklärt — ich zitiere —:
Aber es ist wohl auch nicht anders zu erwarten und es ist auch wohl angemessen für einen Bundeskanzler, dessen Weg an die Spitze seiner Fraktion und seiner Partei, wie wir in diesen Tagen erfahren haben, von Flick freigekauft wurde.
Für diesen ungeheuren Vorwurf schließe ich den Abgeordneten Reents von der Teilnahme an dieser Plenarsitzung aus. Über den Umfang der Ordnungsmaßnahmen werde ich am Schluß dieser Plenarsitzung und nach dem Ältestenrat entscheiden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schluckebier.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entwicklungspolitischen Berichte der Bundesregierung sind immer mit viel Interesse aufgenommen worden. Nicht nur bei uns im Parlament, wo sie für uns Abgeordnete ein wichtiges Instrument für unsere Informations-und Kontrollarbeit sind, auch in der Öffentlichkeit, in Schulen und Universitäten sind sie eine begehrte Lektüre. Ich will daran erinnern, daß allein der Vierte Entwicklungspolitische Bericht der Bundesregierung aus dem Jahre 1980 sechzigtausendmal im Ministerium angefordert worden ist.
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion haben den Fünften Entwicklungspolitischen Bericht mit besonderem Interesse erwartet; denn er war die erste Gelegenheit der 1982 ins Amt gekommenen Regierung, sich zu den Fragen der Nord-Süd-Politik ausführlich, grundsätzlich und in breitem Rahmen zu äußern. Hier konnte klargestellt werden, was Bundesminister Warnke gemeint hat, als er von Akzentverschiebungen gesprochen hatte. Hier haben wir erwartet, zu erfahren, was Herr Warnke bei seinem ersten Gespräch als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit verstanden wissen wollte, als er seinen eigenen Fraktionskollegen auf eine entsprechende Frage antwortete — ich zitiere —: „Das Wort ,Kontinuität` habe ich nicht in den Mund genommen."
Minister Warnke war, wie jeder weiß, allerdings schon frühzeitig deutlicher geworden, wenn es darum ging, die Wende in der deutschen Nord-SüdPolitik zu erläutern. Vor der Hanns-Seidel-Stiftung erklärte er laut Zeitungsberichten Ende 1982, die allgemeine Zielsetzung einer Stärkung der Nordatlantischen Allianz werde ihren, wie er sagte, spürbaren Niederschlag auch in entwicklungspolitischen Entscheidungen finden. Länder wie Nicaragua und Tansania haben diesen Niederschlag sehr schnell schmerzhaft zu spüren bekommen. Für Staaten wie Indonesien und Zaire hat es die Form eines warmen Regens angenommen.
Einige Wochen zuvor hatte der Bundesminister den Beschluß des Bundestages zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung vom 5. März 1982, der am 19. Januar 1984 noch einmal bestätigt worden ist, als — ich zitiere — „einen außerordentlichen Schatz an Gemeinsamkeiten" und als — ich zitiere noch einmal — „gutes Erbe" bezeichnet.
Wir haben schon sehr frühzeitig gewarnt, meine Damen und Herren, dieses gute Erbe zu verspielen. Wir haben gewarnt, unsere Beziehungen zur Dritten Welt nicht in die Zwangsjacke des Ost-WestKonfliktes zu stecken. Wir haben darauf hingewiesen, wie wichtig eine eigenständige partnerschaftliche Entwicklungszusammenarbeit als eine der drei Säulen unserer deutschen Friedenspolitik ist: neben der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten und unseren anderen Verbündeten und neben unserer Entspannungspolitik mit den osteuropäischen Ländern. Wir haben vor der Vorstellung gewarnt, wir könnten den Entwicklungsländern bestimmte Entwicklungswege vorschreiben, sozusagen mit Zuckerbrot und Peitsche.
Aus dem Fünften Entwicklungspolitischen Bericht erschließen sich die nord-süd-politischen Absichten der Bundesregierung nicht so leicht. Dies liegt bestimmt nicht zum geringen Teil daran, daß die heute amtierende Regierung, wenn auch offenbar zähneknirschend, der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung für die Jahre zwischen 1980 und 1982 eine im wesentlichen gute Nord-SüdPolitik bescheinigen mußte.
Sie mußte erstens feststellen — ich zitiere aus dem Bericht —: „Die Bilanz der Entwicklungspolitik ist insgesamt positiv".
Zweitens — ich zitiere noch einmal —: „Eindeutige Projektfehlschläge, schwerwiegende fachliche und technische Mängel kommen kaum vor".
Drittens. — Seit 1978 hat es deutliche Fortschritte bei der Projektqualität gegeben.
Viertens. Die Zusammenarbeit des sozialdemokratisch geleiteten Ministeriums für wirtschaftliche
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Schluckebier
Zusammenarbeit mit nicht-staatlichen Trägern war so erfolgreich, daß sich andere Geberländer und internationale Organisationen diese Form der Zusammenarbeit zum Vorbild genommen haben.
Fünftens. Die Maßnahmen zur Förderung der Wiedereingliederung von Bürgern aus Entwicklungsländern, die bei uns ausgebildet waren, in ihrer Heimat gelten — ich zitiere noch einmal den Bericht — „im internationalen Vergleich als modellhaft".
Sechstens. Die Anhörung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zur deutschen Entwicklungspolitik zu Beginn der 80er Jahre hat die entwicklungspolitischen Grundlinien der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung — ich zitiere — „weitgehend bestätigt".
Demgegenüber setzt sich der derzeitige Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit dem Verdacht aus, Teile der deutschen Entwicklungspolitik, besonders die finanzielle Zusammenarbeit, an kurzfristigen Exportinteressen zu orientieren. Lassen Sie sich sagen, Herr Minister, daß ein solcher Verdacht den Ruf der deutschen Entwicklungspolitik auf Dauer schädigt.
Natürlich ist es das gute Recht der Bundesregierung — auch angesichts der positiven Bilanz ihrer Vorgängerin —, ihrerseits Akzente zu setzen, wie das gerne ausgedrückt wird. Zum Teil haben wir sogenannte neue Akzente im Entwicklungspolitischen Bericht mit großer Sorge zur Kenntnis genommen. Lassen Sie mich diese Sorge an einigen Beispielen aus dem Bericht erläutern.
So wird in dem Bericht erstens der Eindruck erweckt, viele Probleme der Entwicklungsländer, vor allem ihre hohe Verschuldung und Zinsbelastung, seien vorwiegend hausgemacht und deshalb in Hausmacherart zu beheben.
Zweitens. Praktisch jede Kritik an der Reagan-Administration ist aus dem Bericht gestrichen worden. Das gilt beispielsweise dafür, daß globale Verhandlungen zwischen Nord und Süd im Rahmen der Vereinten Nationen bisher wegen des Widerstandes der USA nicht zustande gekommen sind.
Drittens. Befreiungsbewegungen sind völlig aus dem Weltbild der konservativen Bundesregierung verschwunden. Davon steht nichts mehr in dem Bericht. Wer sich allerdings der Schwierigkeiten erinnert, mit denen sich die Bundesregierung im Zusammenhang mit ihrer Antwort auf die Große Anfrage der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion zum südlichen Afrika herumgeschlagen hat, kann darüber nicht erstaunt sein.
Viertens. Wie ist zu verstehen, Herr Minister, daß im Gegensatz zu jenem Entwurf des Fünften Entwicklungspolitischen Berichts, der noch von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung stammt, in der jetzigen Endfassung zum Prinzip der Leistungsungebundenheit deutscher Entwicklungshilfe nichts mehr gesagt wird — weder so noch so?
Wir haben schon früh verstanden, Herr Minister, wo die Bundesregierung ihre neuen Akzente setzen wollte. Die Beispiele, die ich genannt habe, bestätigen nur unsere Befürchtungen, in welche Richtung die Nord-Süd-Politik gehen soll. Diese Richtung stimmt jedenfalls nicht mit dem breiten, von allen Fraktionen des Bundestages getragenen Grundkonsens überein. Der Bundestag hat jedoch einen Anspruch darauf, daß sich die Bundesregierung an j ene Grundsätze der Entwicklungszusammenarbeit hält, die er am 5. März 1982 einstimmig beschlossen und am 19. Januar 1984 ebenso einstimmig als für die jetzige Legislaturperiode gültig erklärt hat. Nicht nur die Opposition, auch die Koalitionsfraktionen sind aufgefordert, auf die Einhaltung dieser Grundsätze zu dringen. Es ist nicht nur unsere Pflicht, sondern auch Ihre, dem Parlament Respekt zu verschaffen gegenüber der von Ihnen getragenen Bundesregierung.
Diesen Respekt hat auch die Beschlußempfehlung verdient, die der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit überwältigender Mehrheit verabschiedet und dem Plenum dieses Hauses vorgelegt hat. In großer Übereinstimmung ist der Ausschuß zu der Auffassung gelangt, daß einigen Tendenzen in der deutschen Entwicklungspolitik ein Riegel vorgeschoben werden muß. Seine wichtigsten Forderungen sind der Verzicht auf die Übertragung des Ost-West-Konfliktes auf die Dritte Welt; die Weiterarbeit an einer für alle befriedigenden Lösung der Probleme im internationalen Rohstoffhandel und im Welthandel insgesamt; der absolute Vorrang entwicklungspolitischer Gesichtspunkte bei der Auswahl von Projekten der Entwicklungszusammenarbeit vor allen anderen Gesichtspunkten.
Diese Forderungen sind Ergebnisse langer Gespräche zwischen den Fraktionen und einer möglichst gerechten Abwägung aller unterschiedlichen Interessen. Wie 1982 hat sich gezeigt, daß alle Mitglieder des Ausschusses eine gemeinsame Grundlage für ihre Arbeit haben. Sie haben diese Grundlage trotz aller politischen Veränderungen in unserem Lande nicht aufgegeben.
Natürlich haben wir mit unseren Empfehlungen nicht alle Fragen beantwortet, nicht für alle Probleme Lösungen gefunden. Wir haben den Beschluß des Bundestages vom März 1982 weiterentwickelt. Ich bin sicher, daß uns die Einlösung der Ihnen jetzt zur Billigung vorgeschlagenen Forderungen einen guten Schritt weiter bringt in Richtung auf eine gutwillige Zusammenarbeit mit allen, die auch guten Willens sind, in Richtung auf eine Zukunft, die lebenswert erscheint. Ich bitte Sie deshalb um die Annahme der Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit als logische und notwendige Fortentwicklung des Bundestagsbeschlusses vom 5. März 1982.
Schönen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schwenninger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Projekte der Entwicklungszusammenarbeit sind nach entwicklungspolitischen
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SchwenningerKriterien auszuwählen und durchzuführen." Dieser bemerkenswerte Satz, der immerhin aussagt, daß Entwicklungspolitik doch bitte schön Entwicklungspolitik sein möge, ist auf Initiative der SPD in die Beschlußempfehlung zum Fünften Entwicklungspolitischen Bericht aufgenommen worden. Dahinter steckt die richtige Erkenntnis, daß die Politik, die hier unter dem Namen Entwicklungspolitik läuft, zunehmend von anderen Motiven getragen wird. Das gab es auch unter der SPD.Was wir aber heute erleben, ist die systematische Durchforstung aller entwicklungspolitischen Bereiche nach der Devise: Was nützt uns das im außenpolitischen, im sicherheitspolitischen und nicht zuletzt im wirtschaftspolitischen Sinne? Das führen wir dann weiter, und den Rest streichen wir, oder wir versuchen, ihn über die Jahre hinweg im Sinne der genannten Interessen umzuschichten.Die entwicklungspolitischen Interessen der Menschen in der Dritten Welt fallen dabei hinten herunter. Sehr deutlich habe ich das z. B. bei dem Projekt des Jequetepeque-Staudamms in Peru gesehen. Für deutsche Unternehmen wie z. B. Salzgitter fallen dicke Aufträge ab, während bis heute noch nicht geklärt ist, wo die zwangsumgesiedelten Bauern leben und wie sie entschädigt werden sollen. Auf den neu angelegten Plantagen wird dann Baumwolle für den Export angebaut.Wir sollten deshalb diese Debatte nutzen, die Praxis, die hinter den schönen Worten des Berichts steht, zu beleuchten. Erst dann können wir den Bericht korrekt bewerten. Dann stellen wir fest, daß mit dem Bericht die Öffentlichkeit und auch die Parlamentarier bewußt getäuscht worden sind.Ich erspare es mir, auf die Unterordnung der Entwicklungshilfe unter Ihre Außen- und Sicherheitspolitik einzugehen, die immer streng darauf bedacht ist, auch noch die Interessen der allerreichsten Nation der Welt zu wahren. Die Strafaktion gegenüber Nicaragua und die gleichzeitige Wiederaufnahme der öffentlichen Entwicklungshilfe an El Salvador sprechen hier für sich, ebenso der Versuch, den Deutschen Entwicklungsdienst politisch an die Kandare zu nehmen.Erheblich subtiler geht es schon beim Mißbrauch der Entwicklungshilfe zur bundesdeutschen Exportförderung zu. Ist einem diese Praxis einmal klargeworden, kommt man allerdings zu der Auffassung, daß das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit eher in „Außenhandelsministerium" umbenannt werden sollte. Es heißt in dem Bericht unter der Rubrik „Entwicklungspolitische Grundlinien" — ich zitiere —:Die Länder sollen sich nach eigenen Fortschrittsleitbildern entwickeln. Entwicklung setzt insbesondere Befreiung von unwürdiger Abhängigkeit, Beherrschung und Unterdrükkung sowie die Befriedigung der Grundbedürfnisse voraus.Es ist ganz gut, daß wir hier kurz nach der Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfragen zur Verschuldungskrise über Ihre schönen Worte reden. Solange Sie sich, wie in der Antwort auf unsereAnfragen erneut geschehen, gegen die notwendige politische Entschuldung sträuben und die Verschuldung der Entwicklungsländer als etwas grundsätzliches Normales bezeichnen, ist der Anspruch auf Befreiung von unwürdiger Abhängigkeit aus Ihrem Munde reine Heuchelei.Ihre Politik ist im Gegenteil Ausdruck dessen, daß Sie die Abhängigkeit noch verewigen wollen über die Zwangsintegration dieser Länder in den Weltmarkt. Den verschuldeten Ländern werden immer höhere Zinslasten auferlegt. Damit haben sich auch Ihre schönfärberischen Worte im Bericht über die anstehende Zinssenkung selbst widerlegt.Es heißt ferner, die Förderung ländlicher Entwicklung genieße Priorität. Das ist eine vernünftige Forderung. Und weil sich das so schön anhört, verfälschen Sie gleich die Statistiken, damit Sie nach außen hin behaupten können, Sie würden den Förderanteil für ländliche Entwicklung steigern. Aber in Wirklichkeit paßt Ihnen die Förderung ländlicher Entwicklung überhaupt nicht in Ihr Exportförderungskonzept. Denn da geht es um ärmere Betriebe und nicht um den Export von Großtechnologie. Deshalb werden die Erfahrungskriterien für Projekte ländlicher Entwicklung einfach erweitert. Projekte, die hier nach früheren Kriterien nicht erfaßt worden wären, die aber für bundesdeutsche Wirtschaftsinteressen wichtig sind, tauchen jetzt in den Statistiken auf. Wenn Sie die alten Kriterien auf die Planungen für 1985 anwenden oder mit den neu gebastelten Kriterien die vergangenen Jahre erfassen würden, müßten Sie eingestehen, daß Sie — im Gegensatz zu Ihren Behauptungen — die Förderung ländlicher Entwicklung zurückschrauben.Es ist gut, daß die Definition der ärmsten Länder, der LLDCs, nicht Ihnen, sondern internationalen Organisationen obliegt. So ist offensichtlich, daß die Formulierung — ich zitiere aus dem Bericht —Der Umfang der Zusammenarbeit mit den ärmsten Entwicklungsländern wird weiter erhöht. Der Zusammenarbeit mit den LLDCs wird dabei eine Sonderstellung eingeräumt.reinster Schwindel ist. Tatsache ist nämlich, daß die bundesdeutsche finanzielle Zusammenarbeit 1985 den absolut und relativ geringsten Förderungsbeitrag für die LLDCs in den 80er Jahren aufweist. Könnten Sie in dieser Statistik genauso herumschieben, würde Indonesien wahrscheinlich bald als LLDC-Land aufgeführt. Die dortige Elektrifizierung, Telex-Verkabelung — beides haben Sie übrigens klammheimlich am Bundestag vorbei in Angriff genommen — und ähnlicher entwicklungspolitischer Unsinn würde dann bald noch als ländliche Entwicklung deklariert.Der Bericht, der solche hehren Worte enthält, ist das Papier nicht wert, auf dem er steht, wenn beispielsweise die gesamte finanzielle Zusammenarbeit mit den Philippinen für 1985 nur noch aus Zusagen für die Telefonnetzverlegung besteht. Wenn Sie außerdem Ihren angeblichen Willen zur angemessenen Aufstockung der Mittel der IDA ernstnehmen würden, dann würden Sie die Mittel dafür im Haushalt nicht streichen, was auf Kosten der
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Schwenningerärmsten Länder und der ländlichen Entwicklung geht.Hinsichtlich der Beschäftigungswirksamkeit bekommen Sie, Herr Warnke, inzwischen sogar Kritik aus den eigenen Reihen. Kollege Schreiber, Mitglied der Sozialausschüsse und damit Interessenvertreter der Arbeitnehmerschaft, ist kürzlich mit einer Initiative an die Öffentlichkeit getreten und hat erklärt, die Beschäftigungswirksamkeit dürfe auf keinen Fall zum Prinzip bundesdeutscher Entwicklungshilfe werden.
Offensichtlich wurden die Studien zu diesem Thema, die für Ihr Haus erarbeitet wurden, in den Sozialausschüssen Ihrer Fraktion aufmerksam gelesen. Sie halten diese Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik noch immer unter Verschluß. Also, heraus damit, bitte!Das Ergebnis der Analysen ist übereinstimmend das, daß das Schielen nach und das Bestehen auf deutschen Exporten im Zusammenhang mit der Kapitalhilfe die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik eher noch anheizt als mindert. Wo bleibt die Veröffentlichung, Herr Warnke? Oder bleiben die Gutachten so lange unter Verschluß, bis sie umfrisiert sind, wie Sie es bei den Statistiken schon praktiziert haben? Ich beziehe mich auf den Artikel in der „Wirtschaftswoche" vom 21. September.Aber abgesehen davon: Wohin ist unsere Entwicklungspolitik eigentlich gekommen, wenn angesichts der Massenarmut in der Dritten Welt bei Regierungsverhandlungen über Entwicklungshilfe künftig weniger diese Armut als vielmehr die Sättigung eines der reichsten Länder der Welt im Vordergrund steht? Es bewahrheitet sich, was Sie schon vor eineinhalb Jahren gesagt haben: Von einer Mark wird 1,40 Mark zurückkommen.Vor einigen Wochen hat meine Fraktion eine Dokumentation über die Mischfinanzierung herausgegeben, eine immer beliebter werdende Form des Mißbrauchs öffentlicher Entwicklungshilfe für die Exportförderung. Sie haben sich trotz eines breiten Presseechos ziemlich Zeit gelassen. Ihre Antwort und die beschämende Aussage der Dokumentation konnten sie auch nicht entkräften. Es bleibt also insbesondere bei folgenden Fakten.Erstens. Mit Hilfe der Mischfinanzierung verschieben Sie Gelder, die eigentlich für Projekte der ländlichen Entwicklung und der Grundbedürfnisse vorgesehen waren, hin zu Großprojekten wie industriellen Hafenanlagen, Telexnetzen oder anderem entwicklungspolitischem Unfug, die deutschen Konzernen zwar Aufträge sichern, aber die betreffenden Entwicklungsländer weiterhin auf den für sie verhängnisvollen Weltmarkt einschwören.Zweitens. Diese Verschiebungen gingen weitgehend unter Ausschaltung der parlamentarischen Gremien vor sich.Drittens. Durch die Einbeziehung des rein kommerziellen Teils der Mischfinanzierung in die Entwicklungshilfe werden die LLDCs bei den Zuwendungen anteilsmäßig erheblich weniger berücksichtigt, als dies ohne Einbeziehung der Mischfinanzierung entsprechend den dem Parlament vorgelegten Quoten der Fall wäre. In internationalen Statistiken deklariert die Bundesregierung aber auch den rein kommerziellen Teil der Mischfinanzierung als Entwicklungshilfe.Wir hatten nicht, wie Sie kritisieren, von einem Jahresvergleich gesprochen.Der Beschlußvorlage des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Fünften Entwicklungspolitischen Bericht können wir also nicht zustimmen.Nicht zuletzt weist die Beschlußempfehlung zwei eklatante Leerstellen auf. Zum einen fehlt eine scharfe Kritik an der qualitativ wie quantitativ unzureichenden Frauenförderung — das wurde vorhin schon erwähnt —, und zum anderen fehlt in der Beschlußempfehlung ein deutliches Wort zum Zusammenhang von Aufrüstung und Unterentwicklung in der Dritten Welt; denn nach wie vor gilt der Satz: Deutsche Waffen, deutsches Geld morden mit in aller Welt.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Rumpf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn hier Entwicklungspolitik behandelt wird, breitet sich im Hohen Hause immer erhabene Langeweile aus. Ich glaube nicht, daß ich das sehr stark werde ändern können. Dies steht leider in umgekehrtem Verhältnis zur Akzeptanz der Entwicklungspolitik bei der deutschen Bevölkerung. 70 % der Bevölkerung halten nämlich Entwicklungspolitik für sehr wichtig und auch für sehr gut.Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Es ist bedauerlich, daß der Fünfte Entwicklungspolitische Bericht nicht gleichzeitig mit der Förderung kleinbäuerlicher Betriebe in der Dritten Welt abgehandelt werden kann, wie ursprünglich vorgesehen.
Das hätte nämlich den engen und sehr wichtigen Zusammenhang der Entwicklungspolitik, wie sie die Koalition und auch, wie ich an dem Nicken des Ausschußvorsitzenden sehe, die Opposition verstehen, mit der ländlichen Entwicklung aufgezeigt.Ich mache außerdem zwei Vorbemerkungen.Erstens. Seit Entwicklungspolitik gemacht wird, seit 1961 unter dem ersten Entwicklungsminister Scheel, wurden Fehler gemacht, aus denen man gelernt und Konsequenzen gezogen hat. Dies zeigt auch der Fünfte Entwicklungspolitische Bericht, der hier vorliegt und den wir beraten. Aus Fehlern des letzten Berichtszeitraumes wurden Konsequenzen gezogen, und es wurde versucht, die Fehlerquote zu minimieren.
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Dr. RumpfZweite Feststellung. Die Entwicklungspolitik ist ein Feld, auf dem man keine parteipolitischen Auseinandersetzungen austragen sollte. Wir haben die Entwicklungspolitik der sozialliberalen Koalition in einer gemeinsamen Entschließung konkretisiert, die am 5. März 1982 in diesem Hohen Hause verabschiedet und im Dezember 1983 noch einmal von allen Fraktionen bestätigt worden ist, auch von den GRÜNEN, die sich heute durch die Rede von Schwenninger etwas absondern wollen. Jetzt sehe ich, daß Herr Schwenninger gehen will.
— Ach so.
Diese Gemeinsamkeit hat sowohl den Partnern in den EG-Ländern als auch in der Bundesrepublik großen Nutzen gebracht. Wir Freien Demokraten würden es deshalb sehr bedauern, meine Damen und Herren, wenn diese Gemeinsamkeit, diese breite Übereinstimmung verlassen würde, weil gerade wir in beiden Regierungen versucht haben, die unterschiedlichen Auffassungen der Fraktionen im Einzelfall auf die große, auf die entscheidende gemeinsame Linie zu bringen. Die Rede von Herrn Schluckebier hat eigentlich aufgezeigt, daß auch die SPD — zumindest nach seiner Rede — noch auf dieser Linie liegt. Aber wir haben noch einige Reden vor uns. Vielleicht hören wir dann doch etwas anderes.
Meine Damen und Herren, es sind ganz wichtige Elemente in dieser Politik erreicht worden, die unter der Überschrift subsumiert werden können, daß Entwicklungspolitik gleichzeitig auch Friedenspolitik ist. Wir haben erreicht, daß die Selbstbestimmung der Partner durch unsere Hilfe gestärkt wurde. Leider konnten wir damit nicht überall auch Pluralismus der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung erreichen, vielleicht auch nicht Meinungsvielfalt, aber immerhin Entfaltungsmöglichkeit des einzelnen. Wir haben überall die Blockfreiheit der Länder begünstigt. Die Mehrzahl der Länder hat sich zu dieser Ungebundenheit und Bündnisfreiheit bekannt.
— Auch in El Salvador. Wir sind besonders gut gefahren, wo wir frühzeitig mit unserer Hilfe angesetzt haben, besonders im Sektor der Ausbildung für die handwerkliche und die verwaltende Tätigkeit, d. h. auch schon vor der Unabhängigkeit dieser Staaten. Dies sollten wir beibehalten, auch in den Staaten, die bislang noch nicht unabhängig sind. Ich denke da in erster Linie an Namibia.Wir Freien Demokraten sind davon überzeugt, daß eine Politik der Blockfreiheit der Entwicklungsländer uns als einer Nation ohne jegliche Hegemonialambition, aber mit weltweiten wirtschaftlichen und auch politischen Interessen vollständig entspricht. Unser wirtschaftlicher und politischer Handlungsspielraum wird sozusagen durch die Unabhängigkeit der Entwicklungsländer erhöht. Die FDP lehnt deshalb die Einteilung der Länder der Dritten Welt in Freunde und Gegner des Westens ab.
Was wir wollen, ist, daß unsere Hilfe bei den Betroffenen ganz unten ankommt, bei denen, die Not leiden und die für die Politik ihrer Regierungen nicht verantwortlich gemacht werden können.
Meine Damen und Herren, wir konnten durch unsere Entwicklungspolitik auch erreichen, daß eine menschenrechtsverletzende und friedensgefährdende Politik in vielen Ländern der Welt zumindest eingeschränkt wurde. Hier zeigt der Fünfte Entwicklungspolitische Bericht auch auf, daß wir selbstverständlich nicht die Idealvorstellungen überall vorfinden, aber zugunsten der Ärmsten der Armen in diesen Ländern trotzdem aktiv bleiben. Würden wir hier zu strenge Maßstäbe anlegen, müßten wir viele Beziehungen sofort abbrechen. Wir sind aber keine Traumtänzer, sondern Realpolitiker. Deshalb sehen wir, daß wir mit unserer Entwicklungspolitik vieles nicht erreicht haben. Die Entwicklungspolitik wurde vielleicht etwas nüchterner, etwas realitätsbewußter und realitätsbezogener als früher.
Wir konnten die Hungersnöte nicht verhindern und auch die weitere Verschuldung der Entwicklungsländer nicht abbremsen. Wir konnten auch die lokalen Konflikte nicht beeinflussen. Es ist uns auch noch nicht gelungen, die ökologischen Grundlagen in den Entwicklungsländern zu retten, zu stabilisieren oder wiederherzustellen. Aber dies ist unser erklärtes Programm.Damit komme ich wieder zu unserer gemeinsamen Entschließung von 1982, in der wir uns auf drei Prioritäten geeinigt haben.Erste Priorität: die besonders vorrangige Hilfe für die ländlichen Räume, die ländliche Entwicklung mit angepaßten Technologien, die Erreichung der Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln und eine abgestimmte Produktion für die einheimischen Märkte. Dazu gehört auch die Vermarktungsstruktur mit genossenschaftlichen Organisationen und einem entsprechenden Kreditgewerbe. Hier, meine Damen und Herren, wurden bemerkenswerte Fortschritte erreicht. Hier liegt auch der Schwerpunkt für die Zukunft. Klein- und Kleinstgewerbeansiedlungen, die entsprechende Ausbildung und Gesundheitsvorsorge, Anleitung zu bestimmten Fertigkeiten werden von der Bundesregierung mehr als früher gefördert.Der zweite Schwerpunkt lag bei der Erhaltung oder Wiederherstellung der natürlichen Ressourcen, bei den erneuerbaren Energien und den Rohstoffen. Nachdem 90 % der in den Entwicklungslän-
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Dr. Rumpfdern verbrauchten Energien das Holz darstellt, liegt es nahe, energiesparende Methoden einerseits und Anpflanzungen von Bäumen andererseits zu fördern. Bei den holzsparenden Öfen haben wir von vielen Beispielen und Fehlschlägen gehört, gerade erst gestern durch den Botschafter der Republik Mali. Hier wird sich die Bundesregierung in den nächsten Jahren stärker engagieren, auch wenn Herr Schwenninger das nicht wahrhaben will. — Herr Schwenninger ist zu meiner Freude wieder im Saal eingetroffen.
Bei der Wiederherstellung ökologischer Kreisläufe, d. h. bei der Rettung vorhandener Urwälder bzw. der Unterschutzstellung noch funktionsfähiger Baumkulturen, muß noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden.Wir haben erfahren, daß dies Teil eines Politikdialoges ist, der zwischen den Ländern der EG, also der Europäischen Gemeinschaft, und den Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks im Rahmen des dritten Abkommens vom Lome bereits in vollem Gange ist. Es geht dabei nicht darum, die Urwälder wiederherzustellen — das geht leider nicht mehr —, sondern darum in den Ländern, in denen dauernd Hunger herrscht, Land- und Forstwirtschaft gemeinsam zu betreiben. In der sogenannten Agroforstwirtschaft werden nämlich langfristig Holz und früchtetragende Bäume neben der jährlichen Hirseeinsaat bewirtschaftet. Dadurch wird gleichzeitig Viehzucht ermöglicht. Der notwenige Holzertrag ist gesichert, der Hunger gelindert, der ökologische Kreislauf wenigstens einigermaßen wiederhergestellt.Entscheidend ist, daß durch die konsequente ländliche Entwicklung sowohl die Hungersnöte gelindert werden als auch die Landflucht verhindert wird.Der dritte Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik liegt in der besonderen Unterstützung der ärmsten Länder — es wurde schon darauf hingewiesen —, nämlich der sogenannten least developed countries, der LDCs. Es versteht sich von selbst, daß bei diesen Prioritäten nicht viel Raum für die Beschäftigungswirksamkeit der Politik in Europa und auch in Deutschland übrigbleibt, die hier immer so hochgespielt wird.Im Blick auf den Bereich der Wüstenbekämpfung und der Förderung erneuerbarer Energien, was Baumkulturen und Wälder beides erreichen können, habe ich auf Grund des Fünften Entwicklungspolitischen Berichts eine Anregung zu geben, die ich für die Zukunft zu beachten bitte.Sehr geehrter Herr Minister Warnke, nicht nur die Länder der Europäischen Gemeinschaft müssen künftig bei dieser gigantischen Aufgabe noch besser zusammenarbeiten und ihre Aktionen untereinander mit den benachbarten Entwicklungsländern und mit Drittländern koordinieren, sondern auch dem Entwicklungsministerium unterstellte Organisationen müssen dabei noch besser kooperieren. Ich meine hier speziell die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit und die Kreditanstalt für Wiederaufbau. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau kann z. B. für Sägewerke, die zur Erschließung, Verwertung und Verbesserung von Waldbeständen erstellt wurden, keine 8 %ige Verzinsung verlangen. Aufforstungen und Sägewerke sind keine Industriemaßnahmen, sondern Teil einer ökologischen Maßnahme.
Sie müssen von solchen Vorgaben entbunden werden. Eine gesamtvolkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Analyse wäre hier sicher eher am Platze.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend sagen, daß ich oft eher amüsiert als beunruhigt in der Presse lese, die deutsche Entwicklungspolitik habe eine radikale Wende vollzogen. Der Fünfte Entwicklungspolitische Bericht weist dies jedenfalls nicht aus, der neue Haushalt ebenfalls nicht. Es wurden einige Akzente neu gesetzt, die notwendig, ja, überfällig waren. Die deutsche Entwicklungspolitik ist im ganzen etwas ehrlicher geworden und nun mit etwas weniger ideologischem Ballast befrachtet.Dies gilt auch für die ganze Auseinandersetzung um den DED, den Deutschen Entwicklungsdienst.
Meine Damen und Herren, der Deutsche Entwicklungsdienst ist kein Staatsdienst, aber er kann auch nicht völlig losgelöst von der Politik der Bundesregierung agieren oder sich gar gegen diese Politik wenden.
Wir Freien Demokraten wollen bestimmt verhindern, daß das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, aber wir wollen erreichen, daß das hervorragende Engagement der Mitarbeiter des Deutschen Entwicklungsdienstes in weniger ideologisch belastete Bahnen gelenkt wird.
Alles in allem glaube ich für die FDP und sicher auch für den Koalitionspartner feststellen zu können, daß es der Opposition in diesem Hohen Hause sehr schwerfallen wird, Konfliktfelder zu finden, um die gemeinsame Linie zu verlassen. Auch das groß angekündigte Dritte-Welt-Programm der SPD gibt dazu, schiebt man einmal den ganzen Schaum beiseite, nicht viel her. Wir bleiben lieber auf dem soliden Kurs der Kontinuität der Entwicklungspolitik.Vielen herzlichen Dank.
Zur Geschäftsordnung hat Frau Abgeordnete Nickels das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Namens meiner Fraktion beantrage ich Unterbrechung und Vertagung der Sitzung, um meiner Fraktion die Gelegenheit zu
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Frau Nickels
einer Sondersitzung zu geben. Ich will dies wie folgt begründen.
Mein Kollege Jürgen Reents ist von der Sitzung ausgeschlossen worden, weil er folgendes gesagt hat: — —
Frau Abgeordnete Nikkels,
entsprechend § 36 der Geschäftsordnung kann die Ordnungsmaßnahme hier nicht diskutiert werden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich will die Ordnungsmaßnahme nicht diskutieren, Herr Präsident. Ich will hier begründen, warum meine Fraktion Bedarf an einer Sondersitzung noch während der Debatte hat. Wenn man das will, muß man die Sitzung unterbrechen, damit wir nicht von der Debatte ausgeschlossen werden.
Wir haben Bedarf an einer Fraktionssitzung, weil mein Fraktionskollege Jürgen Reents hier ausgeschlossen worden ist.
Frau Abgeordnete Nikkels, ich entziehe Ihnen das Wort!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Gemäß Paragraph — —
Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht — —
Frau Abgeordnete Nickels, ich habe Ihnen das Wort entzogen und habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß Sie zu diesem Punkt nicht Stellung beziehen dürfen. Nach Paragraph — —
Nach § 36 der Geschäftsordnung bitte ich Sie, das Rednerpult zu verlassen. Ich bitte darum, das Mikrophon freizugeben.
Sie haben den Antrag auf Unterbrechung begründet. Darf ich Sie bitten.
— Herr Abgeordneter Fischer, ich rufe Sie zur Ordnung!
— Herr Abgeordneter Fischer, ich rufe Sie zum zweitenmal zur Ordnung!
— Herr Abgeordneter Fischer, ich schließe Sie von der weiteren Teilnahme an der Sitzung aus!
Meine Damen und Herren,
Ich unterbreche die Sitzung des Bundestages, bis der Herr Abgeordnete Fischer, der von der weiteren Teilnahme an der Sitzung ausgeschlossen ist, den Plenarsaal verlassen hat.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete Jahn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion bitte ich, die Sitzung zu unterbrechen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dringenden Beratungsbedarf.
Ich bitte, in der Sitzung des Ältestenrates, die ich für 14 Uhr anzusetzen bitte, darüber zu beraten, zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Themen wir die Plenarsitzung fortsetzen werden.
Wird weiter das Wort zur Geschäftsordnung gewünscht? — Herr Abgeordneter Seiters, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion war gewillt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Unterbrechung der Sitzung abzulehnen mit Blick auf den Umstand, daß wir uns in einer entwicklungspolitischen Debatte befinden, die um Viertel vor eins oder ein Uhr zu Ende gegangen wäre und um ein Uhr die Fraktion DIE GRÜNEN die Möglichkeit gehabt hätte, eine eigene Frak-
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Seiterstionssitzung zu machen und das zu debattieren und zu besprechen, was sie glaubte heute morgen besprechen zu sollen.Wir haben nicht nur den Eindruck, meine Damen und Herren, daß die Abgeordneten der Fraktion DIE GRÜNEN versuchen, zu filibustern, die Arbeit des Parlaments zu stören,
sondern die Vorgänge auch heute morgen in diesem Hause veranlassen mich ganz persönlich zu der Feststellung: Die Methoden, die Sie anwenden, haben in früheren Jahren schon einmal zur Zerstörung einer Demokratie, nämlich der Weimarer Republik, geführt.
Herr Abgeordneter Seiters — —
Diese Methoden, Herr Kollege Schily, werden wir uns als eine große demokratische Partei und große demokratische Fraktion, die diesen Staat gemeinsam mit den Sozialdemokraten und Freien Demokraten aufgebaut haben, nicht gefallen lassen im Interesse der Bürger unseres Landes.
Bitte kommen Sie zum Schluß. — Herr Abgeordneter Seiters, dies ist keine Debatte, sondern es ist ein Geschäftsordnungsantrag auf Unterbrechung der Debatte gestellt. Ich bitte, sich darauf zu beschränken.
Ich möchte noch einen Satz zu dem Antrag der Fraktion der SPD sagen.
Dem Antrag der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion auf Unterbrechung der Sitzung stimmen wir zu.
Herr Abgeordneter Jahn zur Geschäftsordnung, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe lediglich eine Bitte, und zwar jetzt darüber zu entscheiden, ob wir hier eine Debatte darüber führen, wie das Verhalten von Fraktionen zu bewerten ist, oder ob wir eine Geschäftsordnungsdebatte führen.
Wenn eine andere als eine Geschäftsordnungsdebatte geführt werden soll, ist die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dazu durchaus bereit.
Herr Abgeordneter Beckmann zur Geschäftsordnung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das, was hier zu regeln ist, ergibt sich aus Recht und Gesetz, die sich dieses Haus selbst gegeben hat, aus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. So hätte es denn, meine ich, der Fraktion DIE GRÜNEN wohl angestanden, wenn sie sich auf die entsprechenden Vorschriften zurückgezogen hätte und gegen den Ordnungsruf schriftlich Einspruch eingelegt hätte.
Herr Abgeordneter Beckmann, der Ordnungsruf hat in dieser Geschäftsordnungsdebatte außen vorzubleiben.
Da wir aber jetzt den Antrag der SPD-Fraktion vorliegen haben, können wir uns ihm nicht entziehen, obwohl wir eine andere Entwicklung lieber gesehen hätten.
Vielen Dank.
Da anscheinend die Fraktionen mit der Unterbrechung der Sitzung einverstanden sind, erübrigt sich eine Abstimmung.
Die Sitzung ist unterbrochen. Der neue Beginn wird durch Rundspruch bekanntgegeben.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der unterbrochenen Sitzung fort.Es gibt eine Vereinbarung, die Fragestunde nicht stattfinden zu lassen*). Über weitere Beschlüsse des Ältestenrates kann ich Sie nicht unterrichten, weil der Ältestenrat noch tagt.Aufgerufen ist noch der Tagesordnungspunkt 6: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung — Fünfter Entwicklungspolitischer Bericht der Bundesregierung — Drucksachen 9/2411, 10/358 Nr. 109, 10/1274 —.Dazu liegt als nächste die Wortmeldung des Herrn Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit vor. Bitte schön, Herr Bundesminister.*) Bis auf die Fragen 29 und 30 des Abgeordneten Dr. Hupka sowie die Fragen 66 und 67 des Abgeordneten Eigen, die von den Fragestellern zurückgezogen wurden, werden die in der Drucksache 10/2110 enthaltenen und noch nicht behandelten Fragen schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
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6700 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit der Vorlage des Fünften Entwicklungspolitischen Berichts haben sich Herausforderungen neu gestellt: friedensgefährdende Spannungen im südlichen Afrika und in Zentralamerika, die Schuldenkrise, die Zunahme des Hungers in Afrika und die Zerstörung der Umwelt.Eine Neuorientierung unserer Entwicklungspolitik ist die Antwort darauf. Weniger denn je löst es die Probleme, wenn weiterhin immer nur mehr Geld gefordert wird. Deshalb ist auch der DritteWelt-Plan der SPD, der nur die Milliarden verdoppeln will, Entwicklungspolitik von gestern. Heute ist die Steigerung der Wirksamkeit unserer Entwicklungshilfe gefragt.
Diese Aufgabe hat die Regierung Kohl in den letzten beiden Jahren angepackt:Erstens. Wir wirken auf wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen hin, die die im einzelnen Menschen angelegte schöpferische Kraft zur Entfaltung bringen und nicht ersticken.Zweitens. Wir verwirklichen das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe. Wir führen es aus der Gefahr heraus, zur Leerformel zu erstarren.
Drittens. Im Mittelpunkt steht die Sicherstellung der Ernährung aus eigener Kraft.Viertens. Umweltschutz ist fester Bestandteil unserer Entwicklungspolitik geworden.Fünftens — und das ist das Wichtigste —. Wir setzen Entwicklungspolitik als Instrument ein, die Kräfte des friedlichen Ausgleichs und nicht die der Gewalt zu fördern.
Die Sicherung des Friedens ist Leitmotiv unserer Entwicklungspolitik. Friedlichen Ausgleich und dauerhafte Stabilität haben wir im Fünften Entwicklungspolitischen Bericht als unsere Zielsetzung für das südliche Afrika genannt — im Geiste des einstimmigen Beschlusses vom 5. März 1982.Die tatsächliche Entwicklung hat diese politische Zielsetzung bestätigt. Was noch vor Jahresfrist niemand sich vorzustellen wagte, heute ist es Wirklichkeit: ein Wirtschafts- und Sicherheitsabkommen zwischen Mosambik und Südafrika, der Beginn einer Annäherung zwischen Südafrika und Angola. Ein Anfang. Sicher nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die Regierung der Republik Südafrika und der weiße Bevölkerungsteil wären gut beraten, die Gunst der Stunde zur Weiterführung der ersten Schritte einer Politik des rassischen Ausgleichs im Innern zu nutzen. Wir fördern die regionale Zusammenarbeit über Rassengrenzen, unterschiedliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen hinweg.Zum ersten Mal war in diesem Jahr die Bundesrepublik Deutschland auf einer Jahrestagung der SADCC abgekürzten Zusammenarbeit von Staaten im südlichen Afrika auf Ministerebene vertreten. Dies war ein politisches Zeichen, das von unseren politischen Partnern verstanden worden ist.Den Vorwurf, den Herr Ehmke heute früh in der Aussprache zur Regierungserklärung erhoben hat, die Bundesregierung betreibe in Afrika ideologisch verblendete Politik, weise ich angesichts dieses klaren Kurses als flagrante politische Unredlichkeit mit Nachdruck zurück,
und er fällt auf seine Urheber zurück. Herr Ehmke hat nicht versucht, auch nur den Schatten eines Beweises für seine Behauptung zu erbringen.
Beweisbar aber ist: Bis auf den heutigen Tag hat die SPD einem Mann wie Kenneth Kaunda und anderen an der politischen Entspannung im südlichen Afrika Beteiligten die Anerkennung versagt,
für neue Hoffnung, die diese Entspannung den leidenden Menschen im kriegszerrütteten Mosambik gebracht hat. Die schlecht verhohlene Enttäuschung der Opposition, für die sie auch jetzt mit ihren Zwischenrufen ein Beispiel gibt,
über die politische Annäherung zwischen der Republik Südafrika und Mosambik, die Tausenden und Abertausenden von Menschen vor Tod durch Krieg oder Hunger rettet, heiße ich eine ideologische Verblendung.
In Mittelamerika hat die Bundesregierung den Weg des friedlichen Ausgleichs mit Festigkeit und unbeirrt durch linke Polemik unterstützt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang an den Antrag der Koalitionsfraktionen zu Mittelamerika und der Karibik erinnern, die Konferenzen der Staaten der EG und Mittelamerikas in San José, die wesentlich auf die Initiative der Bundesregierung zustande kam, brachte den Einstieg der Europäischen Gemeinschaft in die Entwicklungshilfe für die Region und beweist das verstärkte politische Engagement Europas für die friedliche Lösung der Konflikte Zentralamerikas.
Die Wiederaufnahme unserer Entwicklungshilfe für El Salvador war unser Beitrag zu friedlicher Entwicklung, besserer Achtung der Menschenrechte und zum sozialen Ausgleich in diesem Lande. Die jüngste Entwicklung hat diese Politik bestätigt. In El Salvador gibt es keine demokratische Alternative zu Präsident Napoleón Duarte.
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Bundesminister Dr. WarnkeGerade in diesen Tagen hat Präsident Duarte unter Einsatz seines eigenen Lebens der Guerilla dort die Hand zur Versöhnung entgegengestreckt.
Er setzt damit ein Beispiel, auch für die Comandantes in Nicaragua.
Die Bundesregierung bekundet ihren Respekt vor dem mutigen Demokraten Napoleón Duarte.
Weltweit haben wir 1983 genauso wie 1984 die Ansätze für die Entwicklungshilfe überdurchschnittlich gesteigert — 1985 wollen wir das fortsetzen —, im Gegensatz übrigens zu Nachbarn, wie Frankreich, die die Entwicklungshilfe kürzen. Wer aber heute noch glaubt, daß die Probleme der Entwicklungsländer allein mit riesigen Kapitalübertragungen zu lösen seien, der ist geistig noch nicht über die frühen 60er Jahre hinausgekommen. Damals meinte man, Geldumschaufeln bedeute Entwicklung.
Genau diese überholte Verteilungsphilosophie ist Kernpunkt des Dritte-Welt-Plans der SPD: eine zusätzliche Entwicklungshilfe von 50 Milliarden Dollar, also zur heutigen Hilfe fast noch einmal das Doppelte dazu, ohne daß konkret gesagt wird, wie diese Mittel sinnvoll ausgegeben werden könnten, zu verteilen, unter ausdrücklichem Ausschluß der bewährten Kanäle von Weltbank und Währungsfonds, durch Schaffung einer neuen internationalen Entwicklungsbürokratie, ohne daß nach Eigenanstrengungen und Nutzen gefragt wird, und nicht nur vom Abrüstungswillen der Sowjets abhängig, sondern von ihrer völlig imaginären Bereitschaft, diesbezügliche Ersparnisse selbstlos der Dritten Welt zu überweisen. Kein Afrikaner wird von solcher Lyrik satt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Holtz?
Ich bedaure, Herr Präsident. Die Kürze der zu Verfügung stehenden Zeit läßt es nicht zu, daß ich Zwischenfragen zulasse.Die Entwicklungspolitik der Bundesregierung kann nicht abstellen auf illusionäre Zukunftsperspektiven. Sie braucht mehr Wirksamkeit; Wirksamkeit hier und heute. Wir fördern deshalb marktwirtschaftliche Elemente innerhalb der Rahmenbedingungen der Entwicklungsländer. China hat dafür ein Beispiel gegeben. Dort wurden — in einem sozialistischen System — schon 1983 die Ziele in der landwirtschaftlichen Produktion für das kommende Jahr, für 1985 erreicht, ja übererfüllt, nachdem den Bauern ein Quentchen marktwirtschaftlicher Freiraum gegeben worden war.Die Inaussichtstellung von 50 Millionen DM Kapitalhilfe für eine Milliarde Menschen mit brennendem Entwicklungsbedarf und mit einer nachgewiesenen und erprobten Fähigkeit, Entwicklungshilfe umzusetzen, mit dem Wort „Spendierhosen" zu bezeichnen — wie es Herr Ehmke heute früh getan hat —, drückt Mißachtung vor China und eine elementare Unkenntnis entwicklungspolitischer Grundsachverhalte aus.
Aus diesem Grunde der Förderung marktwirtschaftlicher Elemente war es auch richtig, daß es die Bundesregierung mit Festigkeit vermieden hat, in Tansania, einem befreundeten Land, sehenden Auges Fehlinvestitionen zu fördern, wie das ein Jahrzehnt vorher der Fall gewesen ist;
Fehlinvestitionen, die dieses Land noch tiefer in eine ausweglose Situation hineingeführt hätten. Mit unserer Politik haben wir dazu beigetragen, daß die tansanische Regierung heute eine wirtschaftliche Wende eingeleitet hat. Tansania hat sicherlich noch einen schwierigen Weg vor sich, aber heute besteht zum erstenmal Hoffnung auf langfristige wirtschaftliche Gesundung.
Mehr Wirksamkeit bedeutet keine Patentrezepte, sondern beharrliche Arbeit im Rahmen einer Vielzahl von einzelnen Maßnahmen. Ich will das an vier Bereichen erläutern.Erstens. Die Entwicklung der Landwirtschaft und die Sicherstellung der Ernährung aus eigener Kraft wurden zentrales Anliegen unserer Entwicklungsförderung, insbesondere in Afrika. Übrigens, wenn ich an heute vormittag denke: Jener Kollege Schwenninger, der es jetzt vorzieht, abwesend zu sein,
hat eine Behauptung aufgestellt, an der wahr ist, daß die statistischen Berechungsgrundlagen für die ländliche Entwicklung fortentwickelt worden sind. Aber unwahr ist die Unterstellung des Kollegen Schwenninger, daß damit eine Steigerung vorgetäuscht worden sei. Sowohl nach der alten wie nach der neuen Berechnungsweise haben wir von 1982 bis 1985 eine Steigerung der Ausgaben für die ländliche Entwicklung in der Entwicklungshilfe von 3,5 % zu verzeichnen. Ich erspare mir ein weiteres Eingehen auf zahlreiche andere Angriffe; sie waren von genau derselben minderen Bonität.
Natürlich gehören Telefonnetze, Kraftwerke und Straßenbau zur ländlichen Entwicklung. Es wäre eine unerträgliche Überheblichkeit, wenn DIE GRÜNEN ernstlich verlangen wollten, daß die Menschen im ländlichen Raum ohne Strom bleiben und kein Telefon haben sollten, das erforderlich ist, um z. B. einen Arzt herbeirufen zu können.
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Bundesminister Dr. WarnkeDie Ernährungslage vieler schwarzafrikanischer Staaten hat sich in diesem Jahr verschlechtert. 30 Länder sind es, die von außerordentlicher Nahrungsmittelknappheit betroffen sind. Die Bundesregierung hat schnell und unbürokratisch gehandelt. Jenen besonders betroffenen Ländern haben wir zusätzlich zu der ohnehin geleisteten Nahrungsmittelhilfe von rund 70 Millionen DM in diesem Jahr weitere 15 Millionen DM Soforthilfe geleistet.Auch 1985 werden in diesen Ländern schlechte Ernten erwartet. Zur Steigerung der Nahrungsmittelproduktion in jenen 30 Ländern hat die Bundesregierung deshalb die Mittel erhöht; bei der technischen Hilfe um ein Viertel, bei der Kapitalhilfe um mehr als das Vierfache. Auch Millionen unserer Mitbürger haben mit ihrer Hilfe den Hungernden in Afrika ein Zeichen der Mitmenschlichkeit gesetzt. Dafür gebührt ihnen der Dank von Bundestag und Bundesregierung.
Zweitens. Entwicklung kann nur von einzelnen Menschen getragen und geleistet werden. So steht bei der Entwicklung der Landwirtschaft und der Sicherstellung der Ernährung aus eigener Kraft der Kleinbauer im Mittelpunkt unserer Anstrengungen. Personelle Hilfe, Bildung und Ausbildung spielen eine entscheidende Rolle.Drittens. So sehr das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe in der Vergangenheit auch unumstritten war und ist, so sehr steht es in der Gefahr, zur inhaltsleeren Formel herabzusinken. Um der Selbsthilfe mehr Wirklichkeit zu verleihen, habe ich im letzten Jahr eine Sondereinheit meines Hauses eingesetzt mit der Aufgabe, praktische Vorschläge auszuarbeiten, keine neuen Patentrezepte. Es geht um Kredit, der in den Dörfern und bei den kleinen Produzenten auch tatsächlich ankommen muß. Es geht um den Aufbau und die Stärkung von Organisationen, die von den Mitgliedern selbst und nicht von Bürokraten kontrolliert werden. Selbsthilfegruppen von Kleinbauern gebührt in unserer Entwicklungshilfe grundsätzlich der Vorrang vor Großbetrieben und staatlichen Organisationen.
Viertens. In den letzten zwei Jahren haben wir den Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen zu einem Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik gemacht. Wir haben alle laufenden und neuen Vorhaben auf ihre Umweltwirkungen hin überprüft. Wir haben dabei festgestellt, daß von 1 300 Projekten rund ein Prozent Umweltschäden zur Folge haben, die wir nicht hinnehmen konnten. Es handelt sich dabei vorwiegend um industrielle Vorhaben, vor allem um Papier- und Düngemittelfabriken. Ich habe veranlaßt, daß in allen Fällen Schritte zur Abhilfe eingeleitet wurden.Ein Sechstel unserer Projekte leisten umgekehrt unmittelbar einen Beitrag zur Verminderung von Umweltschäden oder haben den Umweltschutz überhaupt als ihr Hauptziel. Wir erhöhen diese Zahl. Das werden vor allem Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung der Wüsten und zurWalderhaltung sein. Vor fünf Jahren gab es 34 Forstprojekte; heute sind es 54. Ihrem Hinweis, Herr Kollege Rumpf, daß damit zum Teil unzumutbare Finanzierungsbedingungen verknüpft seien, werde ich nachgehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, weg von der Ideologie und hin zu pragmatischen Lösungen
— das ist der Weg der Dritten Welt heute. Ich meine, die Dritte Welt ist damit vielen von der Opposition in diesem Hause weit voraus.
Wir haben mit unserer Neuorientierung der Entwicklungspolitik dieser Bereitschaft, die Ideologie beiseite zu schieben und die vorliegenden Aufgaben konkret anzupacken, Rechnung getragen. Deutsche Interessen anzusprechen und sie ehrlich mit den Entwicklungsländern zu diskutieren und dann mit den Entwicklungszielen der Dritten Welt auf einen Nenner zu bringen — so verstehen wir echte Partnerschaft. Damit haben wir Verständnis bei den Ländern der Dritten Welt gefunden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Holtz.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihre in weiten Teilen, sehr geehrter Herr Minister, kämpferische und buchhalterische Rede war enttäuschend und polemisch zugleich. Sie enthielt unsachliche Teile, etwa in bezug auf das Zukunftsprogramm Dritte Welt. Entgegen Ihrer Behauptung, die SPD wolle eine neue Entwicklungsbürokratie aufbauen, heißt es dort: Bestehende Institutionen im Rahmen der Vereinten Nationen sollen genutzt werden, damit es nicht wieder zu einer neuen Bürokratie kommt. Wenn Sie etwas anderes behaupten, dann ist es unseriös.
Aber vielleicht wollten Sie von dem eigentlich Zentralen und Bemerkenswerten unserer heutigen Arbeit ablenken. Wir als Parlament setzen Richtlinien für die Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Richtlinien, die zu einer besseren, wirksameren und partnerschaftlichen Nord-Süd-Politik führen sollen, Richtlinien, die dem Dialog und nicht dem Diktat verpflichtet sind. Damit führen wir eine Arbeit fort, die wir vor zweieinhalb Jahren begonnen haben.Für die bundesdeutsche Entwicklungspolitik gibt es praktisch nur ein Gesetz: das jährliche Haushaltsgesetz. Auf seine Gestaltung kann der zuständige Fachausschuß, der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit, nur begrenzt — so ist es bei den anderen Fachausschüssen auch — einwirken.Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6703Dr. HoltzDem Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit fehlt also das eigentliche Instrument von Einfluß, Impulsgebung und Kontrolle gegenüber der Exekutive, nämlich die Beratung und Formung einzelner Gesetze für seinen Geschäftsbereich.Seit Beginn der 80er Jahre bemühen sich Entwicklungspolitiker über die Fraktionsgrenzen hinweg in einer gemeinsamen Anstrengung, diese Gesetzeslücke zu füllen. Bislang wurden dabei drei Etappen zurückgelegt.Erste Etappe: Unter der Berücksichtigung des ersten Brandt-Berichts, der entwicklungspolitischen Grundlinien der Bundesregierung und der internationalen Entwicklungsstrategie für die dritte Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen sowie des Dialogprogramms der beiden Kirchen entwickelte der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit einige Grundsätze für die Entwicklungspolitik der Bundesregierung. Diese Grundsätze, eine Präambel und 14 Punkte, wurden nach intensiver Debatte am 5. März 1982 vom Bundestag einstimmig verabschiedet.Diese Grundsätze stellen einen entwicklungspolitischen parlamentarischen Grundkonsens in wichtigen — nicht in allen — Punkten dar. Er war möglich, weil Sozialdemokraten, Freie Demokraten und die CDU/CSU jeweils darauf verzichteten, an ihren parteipolitischen Vorstellungen kompromißlos festzuhalten.Der entwicklungspolitische Beschluß des Deutschen Bundestages vom 5. März 1982 wurde vom 10. Deutschen Bundestag am 19. Januar 1984 wiederum einstimmig bestätigt, ohne daß auch nur ein Jota verändert worden wäre. Unter den „Wende"Bedinungen der neuen Regierung ist dieser von allen Fraktionen getragene Beschluß ein erstaunliches Ereignis, eine, so möchte ich sagen, parlamentarische Sensation, zumal da Minister Warnke vorher öffentlich mehrfach beklagt hatte, daß er in dem Beschluß einen Hinweis auf marktwirtschaftliche Elemente vermisse.Auch die jetzige Bundesregierung ist also aufgefordert, den im Beschluß vom 5. März 1982 festgeschriebenen Grundsätzen und Leitlinien zu folgen. Da kann man sich als einzelner Abgeordneter nun nicht das eine oder andere herausgreifen und sagen; Das gefällt mir, und jenes gefällt mir nicht. Deshalb will ich die wichtigsten Punkte kurz nennen.Vorrangiges Ziel ist die Bekämpfung der absoluten Armut, wobei Hauptzielgruppen die ärmsten Bevölkerungsschichten sind; Verwirklichung der Menschenrechte und Erfüllung der Grundbedürfnisse; Mobilisierung und aktive Beteiligung der betroffenen Bevölkerung am Entwicklungsprozeß.Die wichtigsten Förderbereiche: ländliche Entwicklung, Energie, Schutz der Umwelt — das, was Sie hier groß verkaufen, ist damals von uns so gefordert worden; wir finden es gut, wenn die Bundesregierung dann dementsprechend tätig wird — sowie Bildung und Ausbildung; nachhaltige Förderung der entwicklungspolitischen Arbeit der Nichtregierungsorganisationen; Steigerung der öffentlichen Entwicklungshilfe auf das 0,7 %-Ziel hin; aktive Mitwirkung am Aufbau einer leistungsfähigen, gerechten und sozialen Weltwirtschaft.Wir werfen der derzeitigen Bundesregierung vor, daß sie sich häufig nicht an diese Richtlinien hält bzw. von ihnen abweichen will.Ich nenne der Kürze der Zeit wegen nur ein paar Stichworte: Die Einführung des digitalen Fernsprechsystems in Pakistan hat wenig mit der Befriedigung der Grundbedürfnisse, aber viel mit falsch verstandener Exportförderung zu tun.
Die Bundesregierung soll, so der Bundestag, die Nichtregierungsorganisationen fördern, aber sie nicht — wie im Falle des Deutschen Entwicklungsdienstes — an die staatliche, parteipolitische Kette legen wollen.
Die zweite Etappe zur Erweiterung des entwicklungspolitischen Grundkonsenses im Parlament: Auf Vorschlag der SPD-Fraktion nahm der Bundestag am 19. Januar 1984 eine Präzisierung im Bereich Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechte unter Rückgriff auf eine Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vor. Danach soll die Bundesregierung stärker auf die tatsächliche Wirkung der Entwicklungshilfe abstellen und den Nachweis führen, daß die aufgewendeten Gelder auch zur Verwirklichung von Menschenrechten sowie zur Förderung demokratischer Verhältnisse und des sozialen Friedens in den einzelnen Ländern beitragen. Gegenüber menschenrechtsverachtenden Regimen soll besonderer diplomatischer Druck zur Einhaltung der Menschenrechte ausgeübt und die Entwicklungszusammenarbeit auf solche Projekte beschränkt werden, die der notleidenden Bevölkerung zugute kommen. Notfalls soll die öffentliche Entwicklungshilfe verringert oder gar eingestellt werden. Entwicklungsländer, die innere Reformen durchführen, demokratische Strukturen zu errichten und soziale Gerechtigkeit zu fördern versuchen, sollen durch zusätzliche entwicklungspolitische Anstrengungen unterstützt werden.Das heißt, Entwicklungspolitik wird nach Auffassung von uns, den Parlamentariern, demnach eher als ein Instrument zur Ermutigung für die Schaffung demokratischer, menschenwürdiger Verhältnisse denn als ein Instrument zur Bestrafung verstanden.Unsere Vorwürfe an die Bundesregierung — wiederum in Stichworten —: El Salvador braucht Ermutigung auf seinem Weg; aber auch Nicaragua braucht Ermutigung und nicht Entmutigung.
Die Bundesregierung mißt in Menschenrechtsfragen mit zweierlei Maß.
Gegenüber Nicaragua — auch da werden Menschenrechte, deren Einhaltung wir fordern, verletzt,was auch von uns beklagt wird — werden hohe Vor-
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6704 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Dr. Holtzbedingungen für die Freigabe der blockierten Entwicklungshilfemittel gefordert. Im Falle der „Strauß-Lieblinge" Togo und Zaire zeigt man Großzügigkeit. Das ist in der Tat doppeltes Maß.
Wir fordern, daß für demokratische Entwicklungsländer zusätzlich Mittel zur Verfügung gestellt werden und stellten einen dementsprechenden Antrag während der letzten Haushaltsdebatte hier im Bundestag, nämlich Costa Rica und der Dominikanischen Republik mehr Mittel zu geben. Das lehnen Sie ab. Auch da handeln Sie gegen den Geist dieser Richtlinien.
Die dritte Etappe: Die beiden Bundestagsbeschlüsse vom 5. März 1982 und 19. Januar 1984 werden heute um einen dritten ergänzt werden, falls Sie dies noch so wollen, meine Damen und Herren. Wiederum legt der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit eine mit großer Mehrheit verabschiedete Beschlußempfehlung vor, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, unter Berücksichtigung der bereits gefaßten Beschlüsse „wesentliche Grundsätze der Zusammenarbeit mit der Dritten Welt" zu beachten. Dabei werden der Bundesregierung einmal Zielvorgaben mit auf den Weg gegeben, zum anderen wird sie in bestimmten Bereichen „an die Leine" gelegt. Diese Grundsätze der Zusammenarbeit mit der Dritten Welt überschreiten das enge entwicklungspolitische Feld und treffen Aussagen zu allgemeinpolitischen, außenpolitischen sowie wirtschafts- und handelspolitischen Fragen.Als Beispiele für Zielvorgaben seien genannt: Beitrag der als Teil der Friedenspolitik verstandenen Entwicklungspolitik zu politisch, wirtschaftlich und sozial gerechten Entwicklungen in der Dritten Welt, Verstetigung der Rohstoffexporterlöse der Entwicklungsländer, Abbau der Zolldifferenzierung zwischen nicht verarbeiteten und verarbeiteten Produkten — eine wichtige antikolonialistische Forderung —, bei Krediten des Internationalen Währungsfonds Beachtung entwicklungspolitischer Notwendigkeiten.Bei folgenden Punkten wird die Bundesregierung an die Leine gelegt und aus berechtigtem Anlaß vor einem falschen Kurs gewarnt — wörtlich —:Die Blockfreiheit in der Dritten Welt ist zu fördern; der Ost-West-Konflikt darf nicht auf die Nord-Süd-Politik übertragen werden.Oder:Privatinvestitionen sollen im Rahmen der entwicklungspolitischen Zielsetzungen gefördert werden.Oder:Projekte der Entwicklungszusammenarbeit sind nach entwicklungspolitischen Gesichtspunkten auszuwählen und durchzuführen.Und nur in entwicklungspolitisch geeigneten Fällen soll auf Beschäftigungswirksamkeit in der Bundesrepublik geachtet werden.Wir werfen der Bundesregierung vor, daß sie sich häufig nicht — noch nicht? — an diese wesentlichen Grundsätze hält. Dazu wiederum nur Stichworte: keine klare Mißbilligung gewalttätiger direkter oder indirekter Interventionen, etwa in bezug auf Lateinamerika, Befrachtung der Entwicklungspolitik mit einem globalen Heilsanspruch außenpolitischer und ordnungspolitischer Grundsätze. Ein Brief des US-Präsidenten Reagan zum Seerecht, und schon setzt sich die Bundesregierung über die Aufforderung hinweg, aktiv am Aufbau einer gerechten und sozialen Weltwirtschaft mitzuwirken!
Mit den entwicklungspolitischen Beschlüssen vom 5. März 1982, 19. Januar 1984 und 18. Oktober 1984 hat der Deutsche Bundestag eine Dritteweltplattform geschaffen und der Bundesregierung wichtige Zielvorstellungen und Grundsätze für ihre Zusammenarbeit mit der Dritten Welt vorgegeben. Ich hoffe, daß es in diesem Fall kein „entwicklungspolitisches Buschhaus" geben wird.Diese Zielvorstellungen sind für uns Sozialdemokraten zugleich Leitlinien unserer Nord-Süd-Arbeit im Bundestag. Wo sich die Bundesregierung an die Bundestagsentschließungen hält, kann sie unserer kritischen Unterstützung sicher sein. Weicht sie davon ab, werden wir sie deswegen schonungslos anklagen. Wir werden selbst weiterhin Initiativen im Sinne dieser politischen Plattform entwickeln.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Hedrich.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1977 regte der damalige Weltbankpräsident Robert McNamara die Bildung einer unabhängigen Kommission für internationale Entwicklungsfragen an. Sie ist heute mehr unter dem Namen ihres Vorsitzenden, unseres Kollegen Brandt, bekannt. Ziel sollte es sein, neben einer allgemeinen Analyse einen Weg in eine gerechtere Zukunft aufzuzeigen und ein praktikables Basisdokument für unser Jahrzehnt zu finden. Diese Hoffnung drückte der frühere Bundespräsident Walter Scheel wie folgt aus:Es wird nicht darum gehen, einen Katalog idealer Forderungen aufzustellen. Es wird hauptsächlich um praktikable Vorschläge gehen, um Ideen, die die festgefahrenen Fronten lockern, den Dialog zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern wieder in Gang setzen.Inzwischen liegen der Bericht und ein Sofortprogramm vor. Haben sich unsere Hoffnungen erfüllt? Sind dort Anregungen für konkrete Politik enthalten? Die Antwort muß leider „nein" lauten.Lassen Sie mich mit Rücksicht auf die Kürze der Zeit unser Urteil nur an Hand weniger grundsätzlicher Mängel belegen. Die Vorschläge der NordSüd-Kommission konzentrieren sich immer wieder auf den Gebrauch monetärer Instrumente als ein Heilmittel für die Probleme der Dritten Welt. Un-
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Hedrichbeirrbar glaubt man, durch finanzielle Expansion wirtschaftliches Wachstum zu erreichen. Diese Easy-Money-Politik und -Philosophie verschiebt aber bestenfalls die Probleme in die Zukunft. Gleichzeitig verhindert sie notwendige Anpassungsmaßnahmen in den Entwicklungsländern selbst. Warum auch unpopuläre und harte Entscheidungen treffen und damit stabile wirtschaftliche Verhältnisse als Voraussetzung für ein langfristiges Wachstum schaffen, wenn doch die Illusion des leichten Geldes so reizvoll ist? Ohne Frage wird es auch weiterhin erforderlich sein, finanzielle Mittel für die Staaten der Dritten Welt zur Verfügung zu stellen. Dies kann aber nur eine Initialzündung für die wirtschaftliche Entwicklung sein.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir diskutieren gegenwärtig die Frage einer Vereinbarung über das sogenannte Abkommen von Lomé III. Da feilschen die Entwicklungsländer und die Europäische Gemeinschaft um die Summe, ob nur 7 oder 8,3 Millionen ECU, also Eurodollar, zur Verfügung gestellt werden sollten. Wenn man dann aber sieht, daß aus dem bisherigen Lomé-II-Abkommen erst 30 % der zur Verfügung stehenden Mittel abgeflossen sind, weiß man, daß es nicht notwendig ist, ständig neues Geld zur Verfügung zu stellen. Das ist ein Schattenboxen. Es geht wirklich darum, Maßnahmen zu ergreifen, die die Länder der Dritten Welt in die Lage versetzen, dieses Geld für konkrete Maßnahmen auch abzurufen.
Hier knüpft unser zweiter Kritikpunkt an. Die Nord-Süd-Kommission überschätzt erheblich die Bedeutung der Hilfe von außen. Die entscheidenden Genesungs- und Wachstumsvoraussetzungen müssen aber von den Ländern der Dritten Welt selbst geschaffen werden. Wirtschaftlicher, sozialer und politischer Fortschritt sind nur durch interne Reformen zu erreichen. Das ständige Propagieren von Umverteilungsstrategien und eine ungebrochene Reformeuphorie, wie sie z. B. immer wieder in der geforderten neuen Weltwirtschaftsordnung zum Ausdruck kommen, helfen wenig.In seinem Aufsatz „Entscheidung im Süden" hat der Würzburger Professor Bruno Molitor den Finger in diese Wunde gelegt. Er plädiert auf der einen Seite für den Vorzug der Befriedigung von Grundbedürfnissen vor Industrialisierungsbemühungen. Zugleich empfiehlt er auch den Entwicklungsländern, für im Prinzip marktwirtschaftliche Verhältnisse zu sorgen. Viele Länder in der Dritten Welt, die sich dem Sozialismus verpflichtet fühlen, betreiben eine Politik, die die wirtschaftliche Malaise noch vergrößert. Sogenannte Kapitalisten werden enteignet, auch wenn es sich um Kleinproduzenten und mittelständische Gewerbetreibende handelt. Die Erzeugerpreise in der Landwirtschaft werden administrativ so gedrückt, daß den Bauern die Lust an einer Überschußproduktion vergeht, die dann in anderen Landesteilen fehlt. Damit verbaut man sich aber die Voraussetzung für jede weitere wirtschaftliche Entwicklung, besonders aber verbaut man sich die Chancen des Ankoppelns an die weltwirtschaftliche Entwicklung.Natürlich müssen die Entwicklungsländer alle Voraussetzungen schaffen, um auch exportieren zu können. Dies ist notwendig, um lebensnotwendige Importe bezahlen zu können. Das gilt nicht zuletzt für Investitionsgüter und 01.Aber nicht nur die Frage, ob überhaupt entsprechende Produkte erzeugt und exportiert werden können, sondern natürlich auch die Frage, wie Exporterlöse dann verwendet werden, ist von Interesse. Hier haben in der Tat so manche Entwicklungsländer gesündigt: durch importierten Luxuskonsum der Staatseliten, durch Prestigeinvestitionen und vor allem auch durch den Kauf modernster Waffen.Der Kollege Schluckebier hat in einer sehr moderaten Form den entwicklungspolitischen Bericht der Bundesregierung gewürdigt. Das kommt j a auch in der Zustimmung der Sozialdemokraten zu diesem Bericht zum Ausdruck. Aber ich wollte noch eine Bemerkung aufgreifen. Er kritisierte u. a., daß die Bundesregierung die Bemerkung zu den Befreiungsorganisationen nicht aufgenommen habe. Wenn man das so hinstellt, klingt das ganz gut. Was meint er denn damit? Meint er möglicherweise, es müsse sich darin zu einer Unterstützung der terroristischen Organisation Sendero Luminoso in Peru geäußert werden, oder plädiert er gegebenenfalls für die Unterstützung der Unita in Angola? Vielleicht spricht er sich möglicherweise für eine nachhaltige Hilfe der Freiheitskämpfer in Afghanistan aus. Wir würden gerne wissen, was die Sozialdemokraten darunter verstehen, wenn sie anmahnen, daß über Befreiungsorganisationen gesprochen wird.
— Sie können sich j a dazu äußern.
Als einen ganz wesentlichen Punkt sollten wir noch einmal festhalten, daß die Kommission in ihrem Bericht immer wieder die Notwendigkeit des sogenannten Nord-Süd-Dialogs betont. Unterschwellig heißt das aber die Anmahnung einer Tributpflicht des Nordens dem Süden gegenüber. Einseitige Schuldzuweisungen haben jedoch noch nie etwas bewirkt. Diese undifferenzierte und verzerrte Nord-Süd-Optik birgt vielmehr eine Gefahr für die internationale Zusammenarbeit in sich.Wie in vielen Punkten vereinfacht der Bericht der Nord-Süd-Kommission die Probleme in unzulässiger Weise. Er schert die Ursachen, die Bedingungen und die Lösungen der gesamten Weltwirtschaftskrise über einen Kamm. Ende der 70er Jahre haben wir mit viel Hoffnungen die Arbeit und Bildung dieser Kommission betrachtet und verfolgt. Heute müssen wir feststellen, daß darin viele altbekannte Forderungen enthalten sind oder auch Forderungen, die sich teilweise schon längst überholt haben, wenn ich an die Aufstockung der Mittel für die IDA denke.Doch leider sind die negativen Aspekte von besonderer Bedeutung — ich fasse noch einmal zusammen —: Mehr Geld für die Entwicklungsländer ohne Bedingungen, neue Weltwirtschaftsordnung, neue internationale Organisationen. Das heißt aber
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6706 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Hedrichfür mich im Klartext: größere Inflationsraten und Ineffizienz der Weltwirtschaft, Verkrampfung des Verhältnisses zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und — was ich persönlich für das Schlimmste halte — ein zusätzliches Aufblasen der internationalen Bürokratie. Das Ergebnis ist eine weitere Verschlechterung der Lage der Entwicklungsländer. Dies kann und darf nicht Ziel und Inhalt deutscher Entwicklungspolitik sein.Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Luuk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 27. September 1984 hat, Herr Bundesminister Warnke, Ihr Parlamentarischer Staatssekretär Köhler auf einer Pressekonferenz in Bonn eine traurige Publizität erkämpft und hat damit einen Pyrrhussieg für die deutsche Entwicklungspolitik errungen. Nachdem sich Herr Köhler wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen benommen hatte,
hagelte es Hiebe auf den Herrn Staatssekretär, und zwar von allen Seiten; einzig der Graf Huyn blieb treu an seiner Seite. Das besagt, woher der Wind weht.Herr Kollege Köhler, es hat selten einen Staatssekretär in diesem Hause gegeben, der mit einem einzigen Rundumschlag so viel politischen Schaden angerichtet hat wie Sie.
Zielscheibe dieses ministeriellen Gewaltakts war der DED, der Deutsche Entwicklungsdienst, der seine Zentrale in Berlin-Kladow hat, der über 800 Entwicklungshelfer in alle Welt entsendet und dessen Leistung auch von den für die Entwicklungspolitik in dieser Bundesregierung Verantwortlichen als anerkanntermaßen exzellent qualifiziert wird.An diesen DED nun legt die Bundesregierung die Elle der entwicklungspolitischen Wende an. Man hätte sich durchaus sachlich über Vorschläge zur Veränderung unterhalten können.
Zwei Geschäftsführer sind allgemeiner Konsens. Wenn „fachliche Mitbestimmung" auch den entwicklungspolitischen Aspekt mit einbezieht, ist das diskussionsfähig. Nicht zustimmen werden wir allerdings einer so veränderten Zusammensetzung des Verwaltungsrates, wie Sie sie vorschlagen. Aber gestern in der Fragestunde hatten Sie ja überhaupt keine neuen Vorstellungen von der Zusammensetzung des Verwaltungsrates.Die Art und Weise, auf die der Herr Kollege Köhler Ende September ins Regierungshorn geblasen hat, muß unsere schärfste Mißbilligung finden.
Sie manipulieren ein Gutachten des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik zu Lasten des DED. Sie schrecken nicht davor zurück, Jahre zurückliegende Vorgänge, die sich längst vor Ihrer Regierungszeit ereigneten, zu einem Popanz aufzublasen. Das Verhalten einiger weniger instrumentalisieren Sie gegen die Gesamtinstitution DED.Dabei kann man über die Berechtigung solcher Resolutionen einiger DED-Mitarbeiter durchaus geteilter Meinung sein. Da es der Wahrheitsfindung dient, darf ich Ihnen, Herr Köhler, mitteilen, daß jene aus dem Herbst 1981 stammende Anzeige, in der sich DED-Mitarbeiter gegen die Hausbesetzerpolitik des Senats gewandt hatten, noch vergleichsweise gemäßigt war gegenüber jenen Vorwürfen, die Innensenator Lummer aus jenem Anlaß in der gesamten Öffentlichkeit und auch im Parlament zu hören bekam, denn schließlich war bei einem in seiner ganzen Härte vermeidbaren Polizeieinsatz auf tragische Weise ein junger Mensch zu Tode gekommen.
Weil ich als Berliner Abgeordnete sicherlich nicht darüber hinweggehen kann, wenn Sie in diesem Zusammenhang
— j a, hören Sie jetzt einmal zu! — beklagen, daß, als der Standort von Bonn nach Berlin verlagert worden ist, das neue gesellschaftspolitische Umfeld, aus dem dann die neuen Mitarbeiter des DED kamen, in Berlin als problematisch angesehen wird, mache ich mir Sorgen um Herrn Diepgen.
Dessen Ohren müssen j a klingen,
denn für den CDU-Senat wirbt er genau mit diesem Umfeld in all seinen Facetten und in seiner Ausstrahlung und hält das für durchaus werbewirksam.
Ohne sich auch nur die Mühe zu machen, den Beweis für Ihre Behauptungen anzutreten, beklagen Sie einen angeblich linkskonformistischen Meinungsdruck in der DED-Zentrale und versuchen den Eindruck zu erwecken, als würden Kandidaten, die sich als Entwicklungshelfer bewerben, reihen-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6707
Frau Luukweise abgelehnt, weil ihnen die „richtige" politische Einstellung fehle.
Sie haben schließlich mit Ihren mündlichen Äußerungen auf der Pressekonferenz ganz bewußt versucht, den DED als eine linke Kaderschmiede hinzustellen,
dessen Sozialrevolutionäre endlich an die Kette gelegt werden müßten.
Wie schlimm muß es dort doch zugehen,
wenn Sie im gleichen Atemzuge einräumen, Ziel der ganzen Operation sei es, die „ausgezeichnete Arbeit" des DED in der Dritten Welt „zu erhalten".
Wir müssen deshalb feststellen: Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist bei seiner Kritik am DED weder mit Fairneß noch mit Sachverstand in der Analyse vorgegangen. Hier hat einer mit dem Holzhammer gewütet, nachdem er die Öffentlichkeit zu diesem Happening eingeladen hatte.
Der Schaden, der dabei angerichtet wurde, läßt sich mit einigen schönen regierungsamtlichen Floskeln, die dann in nichtöffentlicher Ausschußsitzung ausgestreut werden, nicht beheben. Die Ohrfeigen, die Ihnen Ihr DED-Mitgesellschafter auf diese Attacke hin verpaßt hat, müssen Sie, die Sie sich doch verbal so euphorisch um das Subsidiaritätsprinzip mühen, treffen. Denn wie sagt doch Ihr privater Mitgesellschafter:In der Sache widersprechen wir nachdrücklich der geäußerten Kritik als Charakterisierung der Gesamtarbeit des DED.Und diese Feststellung wird im einzelnen sehr konkret belegt. Wer Einzelfälle mißbraucht, um sie als Charakteristika einer Gesamtinstitution hochzumanipulieren, der darf nicht erstaunt sein, wenn sein Teilhaber mit großen Befürchtungen darauf wartet, was denn nun das Ziel dieser gesamten Operationen sein soll.Ihr Ziel ist uns in diesem Haus aber längst klar. Hier soll die Institution des DED nun endlich auf Regierungskurs getrimmt werden. Ob die Konstruktion der Gesellschaft, die bislang ein Garant für entwicklungspolitischen Freiraum war, in dem der DED arbeiten konnte, dabei Schaden nimmt, ob die Entwicklungshelfer vor Ort in ihren Leistungen beeinträchtigt werden oder ob sie nach ihrer Rückkehr in die Heimat als Angehörige einer von Regierungsseite in eine extreme Ecke gedrückten Organisation beim Wiedereinstieg ins Berufsleben Schaden nehmen, das alles scheint diese Regierung nicht zu kümmern.Der DED ist ein Freiwilligendienst, und er soll es nach Ihren Vorstellungen bleiben. Unsere Entwicklungshelfer sind sozial engagierte junge Leute, die alle für ein gleiches Unterhaltsgeld unter schwierigen Bedingungen vor Ort in der Dritten Welt arbeiten, die, wie wir alle wissen, exzellente Leistungen vollbringen, auf die wir stolz sein können. Eine solche Arbeit ist nicht für alle attraktiv, und nicht jeder, dem man das Fachwissen attestiert, ist für eine solche Arbeit geeignet. Sie reizt Menschen mit einem hohen sozialen Engagement und einem ausgeprägten politischen Interesse. Der DED lebt von diesem sozialen Engagement seiner Entwicklungshelfer. Er hat seine Leistungskraft nie aus dem parteipolitischen Engagement der Minister und Staatssekretäre bezogen, die gerade in den Amtssesseln des BMZ Platz genommen hatten.Der DED wird immer nur junge Menschen anziehen, die ihren Verstand und ihr Engagement nicht bei der Geschäftsstelle in Berlin-Kladow abgeben, wenn sie ihren Dienst in der Dritten Welt antreten, sondern die sich vor Ort die Frage stellen, warum die Menschen in diesem Lande, in dem sie arbeiten, so leben müssen, wie sie leben, und ob die Ursachen dafür unwandelbar sind. Es wird — und das können auch Sie nicht ändern — der staatstragende und angepaßte politische Popper auch künftig die Ausnahme im DED bleiben, ob Sie nun die Auswahl der Entwicklungshelfer, Pädagogen oder Psychologen festangestellten oder externen Prüfern übertragen.Ich fasse zusammen: Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat mit seinen im September vorgetragenen haltlosen Vorwürfen dem DED schweren Schaden zugefügt.
Die angebliche Reform des DED zielt darauf ab, die Entwicklungshelfer ans Gängelband zu nehmen und den entwicklungspolitischen Freiraum des Dienstes einzuengen.Ich darf in Erinnerung rufen, daß der DED sich nicht einen eigenen Arbeitsrahmen geschaffen hat, sondern die jetzt gültigen Rahmenbedingungen für den DED durch die Gesellschafter, nämlich einmal die Bundesregierung und den nichtstaatlichen Arbeitskreis „Lernen und Helfen in Übersee" sowie durch Beschluß des Verwaltungsrates geschaffen wurden. Dazu gehören vor allem auch die „Grundsätze und Kriterien für die Arbeit des DED". Diese Grundsätze und Kriterien messen wir an den von Herrn Holtz hier auch noch einmal ausführlich vorgestellten entwicklungspolitischen Beschlüssen des Deutschen Bundestages vom 5. März 1982. Da finden wir — das müssen Sie zugeben — uns in Übereinstimmung mit dem privaten Gesellschafter des DED. Sie, Herr Köhler, haben diesem Gesellschafter doch selbst versichert, Sie seien an einer breiten Übereinstimmung interessiert, die sich notwendigerweise nicht nur an den entwicklungspolitischen Vorstellungen der jeweils amtierenden Bundesregierung orientieren müsse. So ist uns dies jedenfalls von den Vertretern der Kirchen dargestellt
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Frau Luukworden. Unter dem Vorwand einer Neuordnung des DED soll die entwicklungspolitische Wende jetzt auch an einer überaus respektablen Organisation im Inland praktiziert werden. Dem werden wir uns widersetzen.
Das Wort hat der Abgeordnete Repnik.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Beschlußempfehlung zum Fünften Entwicklungspolitischen Bericht befaßt sich zu ihrem größten Teil mit den Problemen der Energieversorgung der Entwicklungsländer. Hierzu wollte ich jetzt eigentlich auch sprechen.
— Nur, Herr Bindig: Die Angriffe seitens der Opposition, auch von Ihrer Partei, sowohl auf die Regierung als vor allen Dingen auch auf unseren Minister, und zwar in der gestrigen Fragestunde und auch am heutigen Tag, zwingen mich leider — in der gebotenen Kürze — dazu, einige Klarstellungen vorzunehmen, denn so können Ihre Unterstellungen — insbesondere die, die Frau Luuk gerade zum Schluß gemacht hat — nicht stehenbleiben.
Statt hier die brennendsten Probleme der Entwicklungsländer sachlich zu diskutieren — die Energielücke gehört zweifellos dazu —, verbrauchen wir unsere Zeit, um Ihre Haltlosigkeiten geradezurücken. Ich wünsche mir, daß Sie in der Zukunft wieder zu einer sachbezogenen Arbeit zurückkehren und nicht den Angriff um jeden Preis und mit allen Mitteln als oberstes Prinzip für Ihre entwicklungspolitischen Beiträge praktizieren.
Herr Schluckebier, da hilft auch Ihre moderate Rede nichts, wenn Sie von Ihren Kollegen konterkariert werden. Für mich ist eines sehr eigenartig: die Beschlußempfehlung wurde — zumindest was die SPD angeht — einvernehmlich verabschiedet, und heute hören wir diese erstaunlichen Einlassungen zu dem Bericht.
Gestatten Sie mir einige Anmerkungen zu dem Beitrag von Frau Luuk zum DED. Frau Kollegin Luuk, es wird Ihnen nicht gelingen — auch nicht durch noch so radikale Formulierungen —, von den Tatsachen in diesem Bereich abzulenken. Den Holzhammer in dieser Sache hat nicht der Minister oder gar der Staatssekretär geschwungen, den Holzhammer haben Sie soeben geschwungen. Ich habe allerdings den Eindruck, daß Sie sich bei dieser Geschichte etwas übernommen haben.
Die Art der Kritik am DED und an der Regierungspolitik in diesem Punkte sowie die Tatsache, an welchem Ort Sie diese Kritik geäußert haben, tragen mit Sicherheit nicht dazu bei, daß diese Fragen einer sachlichen Lösung zugeführt werden. Sie sind auf Schlagzeilen aus. Dies zeigt auch der Umstand, daß wir gestern nicht im AWZ, in dem eigentlich zuständigen Ausschuß, darüber diskutiert haben, und zwar sachlich und in Ruhe, wie es dem Ernst dieses Themas eigentlich angemessen gewesen wäre, sondern daß Sie diese Geschichte gestern in der Fragestunde mit großem Theaterdonner in die Öffentlichkeit getragen haben, nicht weil es Ihnen um den DED ging, sondern weil Sie draußen innenpolitisches Kapital daraus schlagen wollten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?
Ich bitte sehr um Nachsicht;. ich habe nur wenige Minuten Redezeit. Ich kann daher leider nicht auf Zwischenfragen eingehen.
— Herr Holtz, es ist eine schlimme Unterstellung, wenn Sie der Bundesregierung vorwerfen, sie betreibe beim DED Parteipolitik.
— Herr Bindig, es hat auch nichts mit Rechtsdruck zu tun. Sie haben ein kurzes Gedächtnis. Der Bundesminister Warnke und der Parlamentarische Staatssekretär Köhler — der übrigens, Frau Luuk, lange Jahre im Verwaltungsrat des DED war und genügend Sachverstand mitbringt — reparieren nur die Fehler der Vergangenheit, die übrigens bereits der Bundesminister Offergeld erkannt hat. Leider hatte er nicht die Kraft, sie abzustellen.
Ich darf nur zwei kurze Passagen aus einer Rede von Herrn Offergeld zitieren, die er auf der Mitarbeiterkonferenz des DED 1982 gehalten hat. Daran werden Sie sehen, daß dies nichts mit Wendepolitik zu tun hat. Er sagte:Auch wenn der DED als Gesellschaft mit beschränkter Haftung als privatrechtliche Gesellschaft verfaßt ist, muß das Zuwendungsrecht, das bei Ihren Diskussionen eine Rolle spielt, angewandt werden.
— Einverstanden. Die Regierung tut nichts anderes, als das Zuwendungsrecht anzuwenden.
Ein zweiter Satz; vielleicht kommen wir uns dann schon näher. Er sagte:Ich erinnere mich gut an die Zeit vor vier Jahren — ich war noch keine drei Monate im Ministerium —, da kam durch irgendeine Indiskretion ein Bericht des Bundesrechnungshofes, der Kritik an der Verwendung der Mittel des DED übte, an die Öffentlichkeit; er erregte großes Aufsehen und große Aufgeregtheiten. Wer da vorgeführt wurde, wer das in der Offentlichkeit zu vertreten und zu rechtfertigen hatte,Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6709Repnikwar natürlich der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Er trägt für die Tätigkeit des DED gegenüber der Offentlichkeit wie dem Parlament Verantwortung.Dies ist der Punkt, und nichts anderes nehmen diese Regierung und dieser Minister und dieser Staatssekretär Köhler wahr, nämlich die Verantwortung vor dem Parlament für eine entsprechend gute Arbeit des DED.
Es wird Ihnen auch mit noch so viel Polemik nicht gelingen, diese Antwort umzukehren. Nicht die Bundesregierung, sondern Teile — ich betone bewußt: Teile — des DED und einige Mitarbeiter haben die Ursachen für die Kritik in der Offentlichkeit gelegt. Ich bedaure, daß dies so dargestellt werden muß; denn wir wissen genau, daß viele der freiwilligen Helfer draußen in den Entwicklungsländern hervorragende Arbeit leisten.Wir danken daher dem BMZ, daß er die Frage der Neuordnung so umsichtig und sorgfältig angegangen hat — entgegen der Darstellung der SPD übrigens in fast allen Punkten einvernehmlich im Verwaltungsrat, in dem Ihre Fraktion auch vertreten ist, und in fast allen Punkten einvernehmlich mit dem privaten Träger sowie einvernehmlich mit den Kirchen. Das BMZ ist auch bei der Mitarbeiterkonferenz in der vorvergangenen Woche kaum auf Widerspruch gestoßen, und es handelte im Einklang mit den Untersuchungsergebnissen des Rechnungshofes und des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik.Diese Maßnahmen waren überfällig. Es würde zu weit führen, wenn ich auf alle Punkte eingehen wollte. Nur eines. Neben fachlichen und organisatorischen Mängeln haben auch politische Implikationen eine ganz gewichtige Rolle gespielt. Der DED ist Mandatar des Bundes, d. h. er führt Projekte im Auftrag der Bundesregierung durch, die sie zu verantworten hat. Er hat nicht das Recht und nicht die Aufgabe, ein eigenes Politikverständnis oder gar eine eigene Entwicklungspolitik selbständig zu entwickeln. Die Aufgabe dieser Bundesregierung ist es nun, den DED wieder zu seinen ureigensten Aufgaben zurückzuführen.Warum — dies noch einmal als letzten Punkt — ist der DED in den vergangenen Wochen und Monaten in das Kreuzfeuer der Kritik geraten? Doch nicht so sehr auf Grund seiner entwicklungspolitischen Arbeit oder seiner entwicklungspolitischen Einlassungen. Es waren Presseerklärungen, Veröffentlichungen, Stellungnahmen zu der Hausbesetzerfrage in Berlin,
zur Startbahn West, zum NATO-Doppelbeschluß und dergleichen mehr. Er hat sich hier Sprecherrollen angemaßt, und dies hat doch erst das Bild des DED in der Öffentlichkeit verzerrt.
— Herr Kollege Brück, wir sind bemüht — es wäre schön, wenn Sie mitarbeiten würden —, den DED wieder in ein ruhigeres Fahrwasser zu bringen. Jede Effekthascherei, wie sie hier heute und gestern betrieben wurde, ist schädlich für den DED und für die Helfer.
Sie trägt auch nicht zur Motivation der jungen Leute bei.Lassen Sie mich einen unverdächtigen Zeugen zitieren, der in dieser Woche in der „Aachener Volkszeitung" einen Kommentar zu dieser Arbeit der Regierung, zum DED geschrieben hat, nämlich den Fernsehjournalisten Claus Hinrich Casdorff. Er schrieb:DED an die straffe Leine?— wie es hier vorgeworfen wurde —Die Antwort lautet nein. Aber den Dienst in die deutsche Entwicklungspolitik sinnvoll einzugliedern, da lautet die Antwort uneingeschränkt ja. Warum nur muß eine solche Selbstverständlichkeit sofort wieder zu Streit und zu Kampf führen?
Lassen wir mit dieser Diskussion dieses Thema in der Öffentlichkeit ruhen, und sorgen wir dafür, daß der DED sich wieder einer vernünftigen Arbeit zuwenden kann.
Ich möchte noch einige Anmerkungen zu einem Thema machen, das die Kollegen Holtz und Schwenninger angesprochen haben, nämlich zu dem Thema der außenpolitischen Abhängigkeit und des Ost-West-Konflikts. Versuchen Sie doch bitte auch hier, Herr Kollege Holtz, die Fakten sachlich anzugehen. In keiner Regierung ist die Frage nach der Wirksamkeit der Entwicklungspolitik intensiver gestellt worden als in dieser Regierung unter diesem Minister. Wir wissen, daß Entwicklungspolitik nichts bewirkt, wenn das Umfeld, wenn die Rahmenbedingungen im Entwicklungsland den Menschen in seinen Selbsthilfebestrebungen entmutigen oder gar behindern. Wir wissen aber, daß sich einiges, meist Entscheidendes erreichen läßt, wenn der Staat die private Initiative zuläßt oder gar bewußt fördert. Es gehört zum Wesen der parlamentarischen Kontrolle und damit zu unseren Aufgaben, dafür zu sorgen, daß unsere Entwicklungshilfegelder den höchstmöglichen Erfolg erzielen, d. h. möglichst viele Menschen zur Selbsthilfe befähigen. Wenn wir daher in unserer Entwicklungspolitik, Herr Kollege Holtz, den Staaten gegenüber kritischer eingestellt sind, die die private Initiative von Kleinbauern, von Kleingewerbetreibenden abwürgen, so hat dies nichts mit der Übertragung des OstWest-Konflikts zu tun, sondern folgt aus unserem Auftrag, das Bestmögliche aus unseren knappen Mitteln herauszuholen, und zwar für die Menschen und nicht für die Eliten.
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6710 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
RepnikLassen Sie mich zum Schluß kommen. Meine Damen und Herren der SPD, auch Herr Holtz, es wird Ihnen nicht gelingen, die Schuld bei dem Abgehen vom Weg der gemeinsamen Entschließung uns zuzuweisen. Wir fragen Sie, wir appellieren an Sie: Wollen Sie noch die vielbeschworene Gemeinsamkeit, die sich über Jahre hin bewährt hat?
Stehen Sie, Herr Schluckebier, — —
Herr Abgeordneter, Sie müssen zum Schluß kommen. Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Noch zwei Sätze, bitte! — — noch zu dieser Entscheidung? Sie tasten das entwicklungspolitische Feld — das ist unsere Meinung — in erster Linie darauf ab, was es an innenpolitischen Konfliktstoffen hergibt. Damit schaden Sie der Sache. Besinnen Sie sich bitte wieder auf die Sachlichkeit! Suchen Sie mit uns den Konsens! Wir haben genügend Gemeinsamkeiten.
Ich habe Ihnen eine Minute mehr schon gegeben. Ich muß Sie bitten, nun wirklich den letzten Satz gesprochen zu haben.
Ich darf mich sehr herzlich bedanken, Herr Präsident. Ich darf noch einen Appell an das ganze Haus richten.
Nein. Das dürfen Sie nun nicht mehr.
Ich bedanke mich.
Weitere Wortmeldungen liegen zu dieser Debatte nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Drucksache 10/1274 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? —
Die Beschlußempfehlung des Ausschusses ist einstimmig angenommen.
Die hohe Weisheit unserer Geschäftsführer hat dazu geführt, daß die Tagesordnungspunkte 7 und 8 einvernehmlich von der Tagesordnung abgesetzt werden. Das bedeutet: Ich muß zum Tagesordnungspunkt 9 kommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Rohde , Dr. Jens, Lutz, Dr. von
Bülow, Buschfort, Collet, Dreßler, Egert, Dr.
Ehrenberg, Frau Fuchs , Glombig, Heyenn, Jung (Düsseldorf), Junghans, Kirschner, Frau Dr. Martiny-Glotz, Meininghaus, Dr. Mitzscherling, Peter (Kassel), Reimann, Reuschenbach, Roth, Schreiner, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Frau Steinhauer, Urbaniak, Weinhofer, von der Wiesche, Wolfram (Recklinghausen), Zeitler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Einführung eines Arbeitsmarktberichts durch die Bundesregierung
— Drucksache 10/1893 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ich bitte um Aufmerksamkeit. — Im Ältestenrat ist für die Aussprache eine Runde vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch dagegen. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Rohde .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die fachlichen Einzelheiten unseres Antrags werden die zuständigen Ausschüsse des Parlaments sicher noch eingehend beschäftigen. Darum will ich angesichts der ohnehin begrenzten Zeit mehr auf die Motive und die Ziele unseres Begehrens eingehen. Wir wollen eine profunde Arbeitsmarktberichterstattung der Regierung gegenüber dem Parlament erreichen. Wir greifen damit die grundlegende Frage auf, welche Rolle eigentlich der Bundestag angesichts des Umfangs, der Ursachen und vor allem der sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit künftig spielen wird.Sicher — das weiß ich —, es gibt in diesem Hause keinen Mangel an großen Bekenntnissen. Die Debatten zeigen das. Ständig wird von allen Seiten erklärt, die Arbeitslosigkeit sei das Thema Nr. 1. Was aber die konkrete Politik angeht, den Parlamentsalltag also, so gewinne nicht nur ich den Eindruck, daß hier die Tagesordnung eher beim Thema Nr. 2 und den folgenden beginnt. Die Frage hat sich in der öffentlichen Beurteilung und Einschätzung unserer Arbeit zugespitzt, ob die Arbeitslosigkeit nicht viel mehr für innenpolitischen Schlagabtausch als für vorrangige Arbeit dieses Hauses benutzt wird.
Die Beweise dafür kennen wir ziemlich genau. Es verstärkt sich der Eindruck, als hätten wir bei der Arbeitslosigkeit mit einem Problem zu tun, das Regierung und Parlament weithin auf andere delegiert haben. Ihnen wird Verantwortung zugeschoben: So der Bundesanstalt für Arbeit, dem viel zitierten Markt, der Wirtschaft also, den Sachverständigen — die Reihe ließe sich erweitern. Sicher haben alle von mir Genannten ihre Verantwortung. Entscheidend aber ist auch auf diesem Felde dieDeutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6711Rohde
Führungsfähigkeit des Parlaments. Wir, der Bundestag, machen immer mehr die Erfahrung, daß man mit den schütteren Monatsdaten der Bundesanstalt für Arbeit und den oft abenteuerlichen Kommentaren dazu dem schwerwiegenden sozialen Prozeß der Arbeitslosigkeit nicht beikommen kann. Wir sind vielmehr in der Gefahr, daß diese Art der Behandlung der Arbeitslosigkeit zu einem Akt politischer Routine und gesellschaftlicher Gewöhnung wird. Und das ist alles andere, aber nicht das Thema Nr. 1, das in den großen Debatten dieses Hauses immer zitiert wird.
Hier liegt ein entscheidender Grund für unseren Antrag. Er geht von einer Erfahrung aus, die wir bei uns wie auch in anderen Ländern machen können: Danach wird die Arbeitslosigkeit mehr als jede andere innenpolitische Entwicklung der Charakter der Gesellschaft, die politischen und sozialen Verhältnisse in den nächsten Jahren verändern. Die wachsende Kluft zwischen der Arbeitswelt auf der einen und den Hoffnungen und Erwartungen der Menschen auf der anderen Seite ist aus meiner Sicht zur gravierendsten innenpolitischen Frage für das Parlament geworden. Es reicht eben nicht, neben den schütteren Monatsmeldungen aus Nürnberg dem Bundestag am Jahresende noch eine knappe Passage im Jahreswirtschaftsbericht zur Arbeitslosigkeit vorzulegen. Wenn wir, sei es in Haushaltsdebatten oder in sonst breit angelegten Erklärungen, dauernd wiederholen, die Arbeitslosigkeit sei das erste Thema, dann muß das auch in der konkreten Arbeit von uns sichtbar werden. Dann ist logischerweise neben dem Jahreswirtschaftsbericht am Jahresende auch ein Arbeitsmarktbericht vorzulegen, also eine arbeitsmarktpolitische Bestandsaufnahme.Das Parlament muß auf diesem Felde auf eine andere Qualität dringen. Die von uns beantragte Jahresbilanz soll u. a. die Ursachen globaler und struktureller Arbeitslosigkeit aufzeigen und die Wirkungen bisheriger wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen überprüfen. Wir müssen darlegen, welche Konsequenzen wir aus dieser Bilanz ziehen wollen und was wir uns für die vor uns liegende Zeit vorgenommen haben.Unsere Vorschläge für den Inhalt des Berichts haben wir im Antrag dargelegt. Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Bemerkungen dazu machen. Da ist zunächst die Kluft zwischen Bildungszeiten und Arbeit. Die Lebensübergänge werden immer schwieriger; sonst wären ja auch die Probleme in der Ausbildung und der Jugendarbeitslosigkeit nicht zu erklären. Viele befürchten, daß dies nicht nur ein kurzfristiger Prozeß ist, sondern dieser Zustand die Menschen auch in Zukunft bedrückt.Gleichzeitig haben wir es mit jenen Problemen zu tun, die aus dem sich verschärfenden Tempo der technologischen Konkurrenz für die Arbeitswelt erwachsen. Sie kann man j a nicht nur dem Markt überlassen, sie können wir als Bundestag nicht von uns wegschieben, dafür müssen wir soziale und politische Verantwortung übernehmen.Sichtbar ist auch, wie sich die Situation in der Arbeitswelt für Mädchen und Frauen zuspitzt, zum anderen das regionale Gefälle. Schwerwiegender sind die Probleme in den Industrielandschaften der alten Schornsteine und schließlich auch die Probleme, die in der Regionalpolitik der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts begründet liegen. Da reichen flotte Kommentare, die zudem schnell von der Wirklichkeit wieder eingeholt werden, nicht mehr aus.Dem Parlament muß auch eine profunde Darstellung darüber gegeben werden, wie sich Umfang und Art der Erwerbstätigkeit entwickeln, wie Defizite in der Erwerbstätigkeit von heute zu wachsender Arbeitslosigkeit von morgen werden. Wir reden von Arbeitslosigkeit — mit Recht —, aber wir reden zuwenig von der Erwerbstätigkeit und den Arbeitsplätzen — zu Unrecht, weil das ein gravierender Punkt für die Beurteilung der Zukunft ist.Unsere Meinung ist, daß der Bundestag in diesen Fragen im Rahmen seiner Arbeit und seinen Beratungen seine politische Rolle spielen muß. Er riskiert sonst einen weiteren Verlust von politischer Führungsfähigkeit. Lassen Sie mich das offen sagen: Wir können hier so viel von Selbstverständnis reden, wie wir wollen. Wenn wir ein mangelndes Verhältnis zum Selbstbewußtsein des Parlaments haben, wird das nichts nutzen; jedenfalls ist das meine Erfahrung.Hierbei geht es ja auch nicht allein um wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Daten. In deren Schatten entwickeln sich heute gleichzeitig neue Ausgliederungsprozesse, wachsende Armut und neue Formen der Proletarisierung, und zwar in ganz Europa. Die Erfahrungen zeigen — auch wieder in allen Ländern —, wie tief Arbeitslosigkeit in die Gesellschaft und auch in das Empfinden der Menschen eingreift. Die öffentliche Diskussion, an der wir alle teilnehmen, spiegelt das wider. Was über Jahrzehnte hinweg von den Menschen als selbstverständlich angesehen, als Grundlage ihres persönlichen und sozialen Lebens emfpunden wurde, was sie als Inhalt ihrer Lebensplanung betrachteten, gerät für viele immer mehr ins Rutschen.Ein neues Bild entwickelt sich: Die Zahl dauerhafter Arbeitsverhältnisse wird geringer, Stammbelegschaften werden kleiner. Der Kreis unständig Beschäftigter wächst. In die Arbeitsvertragssicherheit wird per Gesetz eingegriffen. In der ohnehin großen Arbeitslosigkeit wächst die Zahl der Dauerarbeitslosen. Damit werden gleichzeitig soziale Kosten von Nürnberg auf die Schultern der Gemeinden transportiert. Schließlich erhöht sich die sogenannte Dunkelziffer. Das sind jene Menschen, die in keiner Statistik mehr auftauchen, die von der Arbeitslosigkeit mit am schwersten betroffen sind.In dieser Lage eine gestaltende Rolle zu spielen, als Bundestag nicht nur immer Appelle vom Stapel zu lassen — ob bei Debatten ü ber die Lage der Nation, den Haushalt und bei Regierungs- oder auch Oppositionserklärungen —, sondern dem sozialen Erosionsprozeß zu begegnen, mit dem wir es zu tun haben, und zwar mit handfester Politik, das ist der Sinn unseres Antrages.
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6712 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Rohde
Auf der Grundlage dieser arbeitsmarktpolitischen Bestandsaufnahme, so schlagen wir vor, sollen Sachverständigengespräche mit den gesellschaftlichen Gruppen — den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und anderen Sachverständigen — geführt werden. Der Bundestag kann solche Dialoge ja nicht nur den Kamingesprächen im Kanzleramt überlassen. Was wäre das für ein Verständnis von der Verantwortung, die er hat! Er muß selbst mit den Gruppen reden, zumal er nach der Verfassung der zentrale Ansprechpartner der gesellschaftlichen Gruppen in diesem Staate ist.
Er muß dann — gestützt auf Bestandsaufnahme und sozialen Dialog — Anforderungen an die Zukunft deutlich machen.In dem vergangenen Jahrzehnt — ich rede nicht nur von ein paar Monaten — ist die Arbeitslosigkeit uns schon als alles mögliche vorgestellt worden: am Ende der 70er Jahre als konjunktureller Betriebsunfall — in den Sachverständigengutachten jener Zeit sind diese Hinweise Legion —, in den Wirtschaftsberichten am Anfang der 80er Jahre wurde von einer vorübergehenden Flaute gesprochen, durch die man einfach hindurchsegeln müsse. Sie erinnern sich: Man war der Meinung, einen Handlungsbedarf gebe es nicht.
Dann wurde sie als ein Vermittlungsthema unter der Überschrift „Zumutbarkeit" betrachtet. Dann folgte der plakatierte „Aufschwung". Jeder sprach von ihm, aber dieser Aufschwung muß ein Filou sein, denn keiner kennt ihn präzise.Im Februar dieses Jahres wurde dann noch in Nürnberg von kräftigen „Silberstreifen am Horizont" geredet. Jetzt werden wieder „Hoffnungen" prophezeit, zum Teil mit abenteuerlichen Einschätzungen und Bagatellisierungen.Ich finde, es ist an der Zeit, angesichts des Umfangs und des Charakters, den die Arbeitslosigkeit in Deutschland angenommen hat, daß diese Arbeitslosigkeit endlich als das behandelt wird, was sie wirklich ist: als schwerwiegendster gesellschaftspolitischer Eingriff der 80er Jahre und damit als ein Vorgang, bei dem das Parlament gegenüber den Menschen, aber auch gegenüber sich selbst seine Verantwortung deutlich machen muß.
Was wir mit unserem Antrag sagen und wollen, das ist ein Begehren, das man eigentlich mit ruhigem Gewissen nicht zurückweisen kann.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Pohlmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was wir hier erleben, ist im Grunde wieder ein Musterbeispiel für die Aufblähung unserer Bürokratie. Ich muß ganz neidlos anerkennen und zugestehen, daß Sie Weltmeister im Schreiben von Berichten, Analysen, Papieren sind.
Über eines müssen wir uns im klaren sein, verehrter Herr Kollege Rohde: Mit dem Schreiben von Berichten ersetzen wir keine aktive Arbeitsmarktpolitik.
Ich befürchte — lassen Sie mich das so formulieren —, daß wieder ein Papiertiger aufgebaut wird. Es heißt in dem ersten Satz Ihres Antrags:
Die Überwindung der Arbeitslosigkeit ist die zentrale Herausforderung im weiteren Verlauf der 80er Jahre.
Das ist absolut richtig. Der unbefangene Leser wird beim Lesen des weiteren Textes erwarten, daß irgendwann einmal das Patentrezept erscheint, wie Sie die Arbeitslosigkeit bekämpfen, wie Sie die Arbeitslosigkeit beseitigen wollen.
Herr Abgeordneter Pohlmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Ich habe nur wenige Minuten Zeit. Ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen.
— Völlig richtig. Das tue ich immer, meinem Vorsitzenden gegenüber besonders gern. Nur, wenn wir hier zehn Minuten Zeit haben, zu einem so wichtigen Thema zu sprechen, verehrter Herr Kollege Glombig, dann bitte ich um Verständnis, daß ich diese zehn Minuten auch ausnutzen will.
Der unbefangene Leser wird also sehr schnell Fehlanzeige festellen. Das, was herauskommt, ist ein Antrag auf ein neues Papier. Meine Damen und Herren, wir klagen tagtäglich über die Flut an Papieren, von der wir erschlagen werden.
Draußen stöhnen wir unter dieser Last und sagen, daß das alles gar nicht mehr lesbar sei. Was Ihnen zu diesem Thema einfällt, ist im Grunde wiederum die Erstellung eines neuen Papiers auf diesem Papierberg.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6713
PohlmannIch würde, Herr Kollege Rohde, mit mir darüber reden lassen, wenn wirklich ein Bedürfnis für einen solchen Arbeitsmarktbericht bestünde,
wenn sichergestellt würde, daß wir durch einen solchen Arbeitsmarktbericht neue Erkenntnisse bekommen würden. Das ist doch nicht der Fall. Zu dieser entscheidenden Frage nach der Notwendigkeit_ eines solchen Berichts haben Sie nach meiner Auffassung eben nichts Überzeugendes vortragen können.
Sie wissen, daß wir Abgeordnete — wie auch die Öffentlichkeit — regelmäßig Informationen erhalten. Von der Bundesregierung, von der Bundesanstalt für Arbeit, vom Statistischen Bundesamt werden wir sehr umfassend und differenziert informiert.
Das sind nicht irgendwelche globalen Aussagen, sondern differenzierte Angaben über die regionalen und die berufsspezifischen Probleme. Da werden Sie im einzelnen über die Branchenentwicklung und über die Struktur der Arbeitslosen unterrichtet. Das ist ganz hervorragendes Material.
Wenn Ihnen das nicht genügt, meine Damen und Herren von der Opposition, dann nehmen Sie dazu das Jahresgutachten des Sachverständigenrates. Gerade der Sachverständigenrat widmet der Analyse und der Bewertung des Arbeitsmarktes immer wieder breiten Raum.Wenn Ihnen das auch noch nicht genügt, dann nehmen Sie die Deutsche Bundesbank. Auch dort finden Sie monatlich eine umfassende Darstellung der Arbeitsmarktlage.
Meine Damen und Herren, das ist schon eine Menge Lesestoff, der erst einmal verarbeitet werden muß.Sie wissen sehr wohl, verehrter Herr Kollege Rohde, daß die Bundesanstalt für Arbeit nach § 6 des Arbeitsförderungsgesetzes zu einer umfassenden Berichterstattung verpflichtet ist. Sie muß aus den in ihrem Geschäftsbereich anfallenden Unterlagen Statistiken, insbesondere solche über Beschäftigung und Arbeitslosigkeit der Arbeitnehmer, aufstellen. Sie hat Umfang und Art der Beschäftigung sowie Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zu beobachten, zu untersuchen und zur Durchführung der Aufgaben auszuwerten. Diese Ergebnisse, meine Damen und Herren von der Opposition, werden regelmäßig veröffentlicht und vor allem in der monatlichen Arbeitsmarktberichterstattung der Bundesanstalt für Arbeit kommentiert.Und wenn Ihnen das auch noch nicht genügt, dann nehmen Sie das Institut für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung bei der Bundesanstalt: Auch dieses veröffentlicht seine Forschungsergebnisse viertelj ährlich.Mit dieser Aufzählung will ich mich begnügen. Wenn Sie das alles zu diesem wichtigen Thema — insoweit stimme ich Ihnen zu — gelesen haben, dann haben Sie einen beachtenswerten Wissensstand.
Ich meine, da ist einfach kein Raum mehr für zusätzliche Information. Ich sage hier ohne jede Übertreibung und mit großem Dank und Respekt vor diesen Institutionen: Ich glaube, daß es für keinen wirtschafts-, für keinen gesellschaftspolitischen Bereich umfangreicheres und detaillierteres Material gibt als gerade für den Bereich, über den wir sprechen.
Ich darf zusammenfassen: Erstens. Eingehende Analysen der Arbeitsmarktlage und der Darstellung der Beschäftigungspolitik sind vorhanden. Es gibt also weder Anlaß noch ein Bedürfnis für einen zusätzlichen Arbeitsmarktbericht.Zweitens. Die Bemühungen des Kollegen Rohde — Sie sind doch der Initiator dieses Antrages — sind uns schon seit langem bekannt.
Er hat schon zu Zeiten der sozialliberalen Koalition einen entsprechenden Vorstoß unternommen. Es war bemerkenswerterweise ein sozialdemokratischer Arbeitsminister, der schon damals die Überflüssigkeit eines solchen weiteren Papiers erkannt hatte; denn sonst hätte er mit Sicherheit Ihre Forderung erfüllt.Drittens. Sie wollen einen isolierten Arbeitsmarktbericht ohne Berücksichtigung der wirtschafts- und der finanzpolitischen Daten haben.
Das ist nach unserer Auffassung absolut unzureichend. Damit setzen Sie im Grunde konsequent die Politik fort, die wir als verhängnisvoll bezeichnet haben. Ein ganz wesentlicher Kritikpunkt, den wir Ihnen in den letzten 13 Jahren immer wieder vorgehalten hatten, war doch, daß Sie den Zusammenhang der Sozialpolitik, der Wirtschafts- und Finanzpolitik mißachtet haben und uns deshalb bei der Regierungsübernahme nur leere Kassen übergeben konnten.
Viertens. Meine Damen und Herren — und hier spreche ich ganz besonders die Kollegen aus dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung an —, Sie wissen, wieviel Arbeit die Beamten dieses Ministeriums geleistet haben und noch werden leisten müssen. Ein jährlicher Arbeitsmarktbericht würde doch, wenn wir ehrlich sind, lediglich zur Beschäfti-
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Pohlmanngungstherapie für ohnehin überlastete Beamten führen.
Damit komme ich, fünftens, zum wichtigsten Punkt. Meine Damen und Herren, mit so einem Papier kommen wir nicht einen Schritt weiter. Mit einem solchen Papier schaffen wir für keinen einzigen Arbeitslosen einen neuen Arbeitsplatz.
Ich meine, meine Damen und Herren — da unterscheiden wir uns eben —, daß wir weniger Berichte schreiben sollten, als aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben.
Das haben diese Bundesregierung und wir getan. Wir haben die gesetzlichen Voraussetzungen für tarifvertragliche Vorruhestandsregelungen geschaffen. Wir werden das Beschäftigungsförderungsgesetz auf den Weg bringen;
das ist ein Tagesordnungspunkt, der nachfolgt. Wir haben die Teilnehmerzahl bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen von 29 000 im Jahre 1982, als Sie noch regierten, auf 82 700 im September 1984 erhöht.
— Das ist eine Steigerung, verehrter Herr Kollege Dreßler, von über 285%.
Wir haben mehr Arbeitnehmer und insbesondere arbeitslose Arbeitnehmer in berufliche Bildungsmaßnahmen gebracht. Wir haben die Kurzarbeitergeldregelung verbessert. Wir haben über die Rückkehrförderung für ausländische Mitbürger nicht nur geredet, sondern gehandelt.
Meine Damen und Herren, das ist eine aktive Arbeitsmarktpolitik.
Diese Politik werden wir weiter ausbauen, diese Politik werden wir weiter fortsetzen. Damit kommen wir weiter und helfen den Arbeitslosen mehr als mit dem Schreiben von Berichten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Unbestreitbar ist das Problem Nr. 1 unserer Gesellschaft die Arbeitslosigkeit.
Und unbestreitbar ist, daß gründliche Diagnose Voraussetzung für sinnvolle Therapie ist. Aber überflüssige Doppel- und Dreifachuntersuchungen sind nicht zum Wohle des Patienten,
weder im Krankenhaus noch bei dem Problem, das heute hier ansteht.Die SPD bleibt sich selber treu. Wenn ihr nichts mehr einfällt, werden Papiere und Anträge fabriziert. Heute wird also ein Arbeitsmarktbericht verlangt. Die Flut von Berichten, die nicht mehr sinnvoll diskutiert werden können, die mehr verteilt und abgelegt als gelesen werden, steigt und steigt. Zig, möglicherweise Hunderte von Beamten werden mit der Erstellung von Berichten beschäftigt,
ohne daß das Ganze außer von den Verfassern und möglicherweise dem einen oder anderen, der im Bericht erwähnt wird, gelesen wird.
Berichte ersetzen nun einmal nicht Arbeitsplätze, die wir brauchen.Nun, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sollte man sich schon die Mühe machen, beim SPD-Antrag einmal zu fragen: Welche Informationen werden denn verlangt, insbesondere welche zusätzlichen Informationen werden verlangt? Schauen wir uns also einmal an, was vom Bericht konkret erwartet wird!Da werden zusätzliche Strukturdaten verlangt. Weil schon so viele Informationen fabriziert werden, übersieht möglicherweise auch der eine oder andere Kollege der SPD — auch die Fachleute —, was alles an Daten in diesem Zusammenhang schon geliefert wird.Da gibt es eine jährliche Arbeitsmarktanalyse an Hand ausgewählter Bestands- und Bewegungsdaten.
Da gibt es Ergebnisse und statistische Übersichten. Da gibt es Sonderuntersuchungen, die von der Bundesanstalt für Arbeit sogar veröffentlicht werden. Da gibt es jährliche Arbeitsmarktbeobachtungen der Fachvermittlung für besonders qualifizierte Fach- und Führungskräfte oder jährliche Ergebnisse der Berufs- und Beratungsstatistik. Diese werden veröffentlicht, Kollege Glombig. Da werden Auskünfte über das Erwerbspotential einschließlich der stillen Reserve, wie es jetzt verlangt wird, geliefert. Alles dies ist veröffentlicht, z. B. in Heft 4/83 des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit. Die Kollegen, die das alles aufmerksam lesen, werden sicher nicht bei der Formulierung dieses Antrags mitgeholfen
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Cronenberg
haben. Denn ich kann mir nicht vorstellen, daß bei der Formulierung dieses Antrages irgend jemand auf die Idee gekommen ist, irgend etwas zu verlangen, was ohnehin schon vorhanden ist. Das wäre in der Tat unsinnige Doppelarbeit.Im Arbeitsmarkt- und Berufsforschungsbericht von 1984 wird nach der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung der Arbeitslosigkeit gefragt. Da gibt es den Arbeitsmarktmonatsbericht der Bundesanstalt für Arbeit für das Bundesgebiet, den wir immer in einem, wie Kollege Rohde nach meiner Meinung richtigerweise einmal gesagt hat, unerträglichen Ritual zu kommentieren haben. Da gibt es die Berichte der Landesarbeitsamtsbezirke und der Arbeitsamtsbezirke, in denen das statistische Material minuziös aufgearbeitet wird. Da wird nach den Auswirkungen der Technologieprozesse gefragt. Eine durchaus berechtigte Frage, in der Tat eine Sache, mit der wir uns ernsthaft beschäftigen müssen und beschäftigen! Aber im Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit ist der Arbeitsbereich V, Technologie und Betriebswirtschaft, auf diese Fragen spezialisiert, verfügt über diese Daten und veröffentlicht diese Daten. Die brauchen Sie nur in Ruhe nachzulesen. Dann haben wir alles, was Sie wünschen.Da wird gefragt nach den Beziehungen zwischen beruflicher Qualifikation und Beschäftigungschancen. Eine durchaus berechtigte Frage, die auch immer wieder diskutiert worden ist, auch im Plenum des Deutschen Bundestages. Auch dieses Material ist vorhanden, ist einsehbar und wird veröffentlicht.Da wird gefragt nach Wirkung und Erfolgskontrolle arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Wie Sie alle wissen — Sie selber haben es verlangt, gemeinsam haben wir es beschlossen —, es gibt eine Kontrolle des Erfolgs arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen. Diese wird auch veröffentlicht. Wie Sie alle wissen, werden bei der Bundesanstalt für Arbeit Bestands- und Bewegungsstrukturuntersuchungen durchgeführt und veröffentlicht. Es werden Sonderstatistiken und Berichte der Fachabteilungen der Bundesanstalt für Arbeit über einzelne arbeitsmarktpolitische Instrumente erstellt. Das braucht man nur nachzulesen. Es gibt Sonderuntersuchungen, mehr, als man überhaupt verarbeiten kann.Was die wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Auswirkungen anbelangt, so verweise ich auf den Jahreswirtschaftsbericht.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe auch bei genauer Durchsicht Ihres Antrags nicht eine Forderung nach Informationen gefunden, die es nicht längst gibt, zum Teil auf Grund von Initiativen, die wir gemeinsam ergriffen haben.Allerdings möchte ich dem Kollegen Rohde ausdrücklich zustimmen, daß sich die Diskussion um das Thema Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik sicher nicht auf Kamingespräche im Bundeskanzlerbungalow beschränken darf.
Ich bin da völlig einer Meinung mit dem Kollegen Rohde. Deshalb möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, die Kollegen der SPD, die über bessere Beziehungen zu den Gewerkschaften verfügen als ich, z. B. den Kollegen Dreßler, zu bitten, doch mit dafür zu sorgen, daß die bewährte Konzertierte Aktion, wo genau diese Gespräche geführt werden sollen und können, wiedereingeführt wird;
da haben Sie genau das, was wir brauchen. Der Dialog zwischen den Verbänden, Ihnen und uns findet ja Gott sei Dank im Hause und in der Umgebung des Hauses permanent statt.Niemand will irgend jemandem Informationen vorenthalten. Niemand kann und will die Diskussion um die Arbeitslosigkeit und die Verbesserung der Beschäftigungssituation verhindern.
Im Gegenteil. Ich betone nochmals: Richtige Analyse ist Voraussetzung für Therapie. Aber es gibt all diese Informationen, wie ich Ihnen eben darlegen konnte, heute schon.Da ist aber auch ein generelles Problem, das nicht nur für diesen Bereich zutreffend ist: Ich habe manchmal den Eindruck, daß die Vielzahl der Informationen zur Desinformation führt. Kein Mensch ist mehr in der Lage, dies alles zu verarbeiten.
Insofern kann ich die Kollegen der SPD ja verstehen, daß sie selber mit diesem Wust von Informationen nicht mehr fertigwerden.
Wenn das eine große Fraktion schon nicht schafft, wie schwer ist es dann für die heute nicht vorhandenen GRÜNEN oder auch für unsere Fraktion, sich mit alledem zu beschäftigen. Trotzdem gelingt uns dies immer wieder, weil wir eben am praktischen Beispiel beweisen, daß ein mittelständisch organisiertes Unternehmen wie die FDP-Fraktion eine Portion effektiver ist als die beiden großen Fraktionen des Hauses.
Selbstverständlich sind wir gern bereit, in den Ausschußberatungen mit den Kollegen der SPD zu untersuchen, ob nicht doch die eine oder andere Frage, die sinnvollerweise noch zusätzlich beantwortet werden sollte, von mir übersehen worden ist. Aber das alles soll dann in Gottes und drei Teufels Namen nicht in einen neuen Bericht für die Ablage hinein, sondern, da es sich ja um eine gesamtwirtschaftliche Problematik handelt, in den Jahreswirtschaftsbericht. Dort haben wir Gelegenheit, die Dinge in dem richtigen Zusammenhang, nämlich als gesamtwirtschaftliches Problem, zu diskutieren, wie wir das in der Vergangenheit getan haben, und unsere unterschiedlichen Vorstellungen und Vor-
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Cronenberg
schläge entsprechend zu verarbeiten. Wir fühlen uns verpflichtet, alles zu untersuchen, was Sie vorschlagen, und zu prüfen, ob etwas tatsächlich noch nicht vorhanden ist. Ich behaupte, es ist alles vorhanden. Aber da bin ich um unvoreingenommene Prüfung selbstverständlich bemüht. Sie sollten mit uns gemeinsam den Kampf gegen unsinnige Berichtesflut führen. Dann erleichtern wir die Erstellung einer sinnvollen Analyse, die Voraussetzung für vernünftige Beschäftigungspolitik ist.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag auf Drucksache 10/1893 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft und den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 und den Zusatzpunkt auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985
— Drucksache 10/2102 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Förderung der Beschäftigung
— Drucksache 10/2132 —
Meine Damen und Herren, es ist für den Tagesordnungspunkt 10 und den Zusatzpunkt eine gemeinsame Beratung von einer Runde vereinbart worden. — Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte hier zum Beschäftigungsförderungsgesetz der Bundesregierung meine erläuternden Darstellungen geben.Die Bundesregierung betreibt keine Politik auf alten, verrosteten Gleisen, die in stillgelegten Sackbahnhöfen enden.
Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist weder Wunderwaffe noch Jahrhundertgesetz.
Es versucht, auf neue Fragen neue Antworten zu geben. Was gestern richtig war, muß ja nicht auch heute noch richtig sein, und bei dem, was heute nützlich ist, gibt es keine Garantie dafür, daß es auch morgen noch hilfreich ist. Die Gegenwart ist nicht einfach die Verlängerung der Vergangenheit, und die Zukunft ist nicht einfach die Verlängerung der Gegenwart.
Neues ist nicht ohne Wagnis. Deshalb begrenzen wir einen Teil der Maßnahmen. Wenn sie sich als hilfreich erweisen, werden sie Dauereinrichtungen, wenn nicht, werden sie wieder abgeschafft. Wir machen eine undogmatische Politik. Ich habe etwas gegen Besserwisser, die Ewigkeitsgesetze beanspruchen. Und wer nicht wagt, der nicht gewinnt. — Das sind in der Tat alte Weisheiten.Das Alte, die SPD, hat jedenfalls mit den alten Maßnahmen weder den arbeitsmarktpolitischen Dammbruch verhindert noch das Ansteigen der Arbeitslosigkeit gebremst.
Um 1 700 % — ich wiederhole das: 1 700 % — stieg die Arbeitslosigkeit in den 13 SPD-Regierungsjahren. Der Verursacher des Dammbruchs eignet sich nicht als Schleusenwärter. Die alten Rezepte haben versagt. Laßt uns mit neuen Mitteln versuchen, unseres gemeinsamen Problems Herr zu werden! Der gute Ruf der Sozialpolitik wird nicht geschädigt, wenn Einrichtungen und Vorschriften geändert werden, die gestern ihren Zweck erfüllten, heute aber in Gefahr sind, sich ins Gegenteil zu verkehren. Was gestern Schutz war, kann heute Sperre sein.Der Kündigungsschutz ist und bleibt gut für diejenigen, welche drinnen sind, in der Erwerbsgesellschaft. Für die, die vor der Tür stehen, nämlich in der Arbeitslosigkeit, kann er allerdings wie eine hohe Sperrmauer wirken.
Der Kündigungsschutz für jene, welche Arbeit haben, wird nicht zurückgenommen, aber die Rückkehrchancen für die Arbeitslosen sollen durch eine unkomplizierte und unbürokratische Befristung von Arbeitsverträgen erhöht werden.Meine Damen und Herren, damit da keine Legenden gebildet werden: Befristungen sind heute schon möglich und werden genutzt, werden sogar von Gewerkschaften genutzt. Es kann ja nichts Unschamhaftes sein, wenn der DGB selber mit befristeten Arbeitsverträgen operiert.
Aber es ist doch die Frage, ob ein kleiner Handwerksmeister nachts die arbeitsrechtliche Literatur
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Bundesminister Dr. Blümstudieren kann, damit er tagsüber keinen Fehler macht.
Es ist doch die Frage, ob man nicht im Sinne einer Einstellung von Arbeitslosen diese Möglichkeit mit einer Befristung bis zu einem Jahr ganz unbürokratisch und ohne Begründung ergreifen kann. Bei neugegründeten Unternehmen sollen solche Arbeitsverträge sogar bis zu zwei Jahren möglich sein.Meine Damen und Herren, da spricht doch der gesunde Menschenverstand! Da muß man doch nicht lange in der Bibel, bei Karl Marx oder sonstwo nachgelesen haben.
— Sie können nachlesen, wo immer Sie wollen. Mir reicht mein gesunder Menschenverstand. Sie haben höhere Ansprüche; das kann schon sein.
Ich weiß es ohne Konfuzius, und ich weiß es ohne Karl Marx: Wenn ein Betrieb neu aufmacht, hält er sich mit Neueinstellungen zurück, weil er nicht weiß, wie der Betrieb läuft, und weil er nicht das nächste Kündigungsschutzverfahren und den nächsten Sozialplan riskieren will. Wenn ich dem die Chance gebe, befristete Arbeitsverträge abzuschließen, kann er in die Vollen gehen, und nirgendwo steht geschrieben, daß, wenn es klappt, aus solchen Arbeitsverträgen nicht unbefristete werden. So einfach ist unser Latein!
Wir wollen Einstellungsverzögerungen vermeiden. Wir wollen die Ausrede zerstören, weil die Lage noch unsicher sei, müsse die Stammbelegschaft zunächst einmal Überstunden machen. Das ist nichts anderes als eine Form von Rücksichtslosigkeit. Wir sagen: Einstellen geht vor Überstunden. Das ist der erste Grundsatz.
Und zweitens: Lieber befristete Arbeit als unbefristet arbeitslos. Das ist der zweite Grundsatz.
Wir machen keine Politik für Burgbesatzungen, die sich in ihren Gemächern häuslich einrichten, derweil es draußen bei den Arbeitslosen stürmt und schneit. Die Festung Erwerbsgesellschaft muß die Zugbrücken herunterlassen, damit die Arbeitslosen einkehren können.
Meine Damen und Herren, ganz so schlimm kann das j a nicht sein, was wir da wollen. Ist es die Gunst des Schicksals, ist es ein Fingerzeig? Jedenfalls erreichte mich vor wenigen Stunden ein Brief der Stadtwerke Bochum. Ich habe gerade einmal nachgesehen: Bochum hat eine Mehrheit von 45 SPD-Stimmen — herzlichen Glückwunsch! —, CDU 23,GRÜNE 7 Stimmen. Es ist also eine traditionsreiche sozialdemokratische Stadt.
— Wird noch ausgebaut, u. a. dadurch, daß die Stadtwerke Bochum mir einen Brief schreiben:Wir möchten diese Stellen nämlich im Rahmen einer Aktion „Erster Job" mit Bewerbern besetzen, und zwar zeitweise, die Arbeitsverträge auf ein Jahr befristen, um nach Ablauf dieses Jahres die genannten zehn Stellen für eine zweite Generation von Berufsanfängern frei zu haben. Unsere Aktion „Erster Job" steht und fällt jedoch mit der Befristung. Angesichts der sehr restriktiven Rechtsprechung der Arbeitsgerichte zu dem Komplex Befristung von Arbeitsverträgen möchten wir die mit den Hochschulabsolventen abzuschließenden Arbeitsverträge befristet abschließen.
Das ist eine sehr fortschrittliche Stadt, muß ich sagen. Das ist eine Stadt, die durchaus erkannt hat, wie hilfreich befristete Arbeitsverträge sind.Ich kann aber noch weitermachen. Der Arbeitsminister unseres Nachbarlandes Frankreich schreibt in einem beachtenswerten Aufsatz vom 17. September — also auch noch nicht sehr alt —:Das Schlimmste ist die Untätigkeit, nicht zu verwechseln mit der Faulheit. Wenn befristete Arbeitsverträge heute so weit verbreitet sind, so wahrscheinlich deshalb, weil sie eine Antwort auf die Unsicherheiten unserer Zeit sind. Sie stellen eine Möglichkeit des Zugangs zum Berufsleben dar. Vielleicht muß die Praxis dieser befristeten Verträge flexibler gestaltet werden.Frankreich wird sozialistisch regiert.Ich kann weitermachen, wenn Sie den Zitatenschatz haben wollen. In Spanien regiert auch keine Partei aus unserer Verwandtschaft, sondern Sozialisten.
— Nein, aus Ihrer. Das ist doch nichts Schändliches. Freuen Sie sich doch! — Da steht in dem Bericht unserer Botschaft: Die Hauptzielsetzung des Gesetzes: Einführung flexibler Zulassungsbestimmungen für zeitlich befristete Arbeitsverträge, und zwar bis zu drei Jahren.Das können doch nicht alle Reaktionäre sein. Ich muß die Stadt Bochum in Schutz nehmen, ich muß die Franzosen und ihre Sozialisten in Schutz nehmen, ich muß die Spanier und ihre Sozialisten in Schutz nehmen, gegen die Vorwürfe der Opposition in Schutz nehmen, befristete Arbeitsverträge seien etwas Schlimmes.
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6718 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Bundesminister Dr. BlümUnd ich muß Ihren stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Roth in Schutz nehmen. Sie sehen, die Klugheit schleicht sich auch bei Ihnen ein.
— Ja, streng vertraulich, nur in dpa-Meldungen. Da steht: Voraussetzung für diese Arbeitszeitformen, zu denen auch die an der Auslastung der Betriebe orientierte Arbeit auf Abruf und befristete Arbeitsverträge gehören müssen, müsse aber auf jeden Fall sein, daß sie sozialversicherungsrechtlich abgesichert seien. — Das ist die beste Begründung für das, was wir wollen. Ich bedanke mich bei dem Kollegen Roth für diesè Unterstützung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch die andere Seite noch nennen. Der DGB wirft uns in einer Presseerklärung vor:Man kann arbeitslosen Menschen nicht dadurch helfen, daß man sie bis ins nächste Jahrzehnt ihres Kündigungsschutzes beraubt.Das kann nur eine Freudsche Fehlleistung sein. Arbeitslose können gar keinen Kündigungsschutz haben, sie haben nämlich keine Arbeit. Diese Presseerklärung verrät, daß die gesamte Sozialpolitik durch die Brille der Erwerbstätigen gesehen wird, und das heißt: Blindheit gegenüber den Arbeitslosen, und Blindheit gegenüber den Arbeitslosen kannn nicht sozial fortschrittlich sein.
Wir wollen die Teilzeitarbeit sozial-, arbeitsrechtlich hoffähig machen. Sie soll kein Arbeitsverhältnis zweiter Klasse sein. Wir versehen sie zum erstenmal mit einem Mindeststandard von arbeitsrechtlichem Schutz. Den Tarifpartnern ist freie Bahn gegeben, flexibel wie sie sein können, diesen neuen Entwicklungen mit dem Tarifvertrag auf die Sprünge zu helfen.Ähnliches gilt auch für die variable Arbeitszeit. Kein Mensch will doch die variable Arbeitszeit jetzt als Normarbeitszeit! Wir wollen überhaupt keine Arbeitszeituniformen mehr. Wir wollen Arbeitszeiten, die sich jeder nach seinen Bedürfnissen aussuchen kann. Diese variablen Arbeitszeiten sollen von uns zum erstenmal mit einem Mindeststandard von Kalkulierbarkeit ausgestattet werden. Wenn variable Arbeitszeiten vereinbart sind, dann sehen wir die Pflicht vor, daß die Arbeitszeit mindestens vier Tage vorher vereinbart sein muß. Den Arbeitnehmer in Lauerstellung am Telefon wollen auch wir nicht. Wir verbieten es, Sie jammern nur darüber, aber geben keinen Rahmen vor, der sozial erträglich ist und einer solchen Entwicklung dennoch Raum gibt.Die IG-Metall-Zeitung behauptet hier wie anderswo das Gegenteil der Wahrheit, nämlich — ich zitiere —: Arbeitnehmer werden zur variablen Arbeitszeit verpflichtet, sofern sie vier Tage vorher mitgeteilt würde. — Niemand wird dazu verpflichtet. Nur: Wenn es einen variablen Arbeitsvertrag gibt, dann wird diese Bremse eingebaut. Sie sehen: Das ist Fehl- und Falschinformation der Arbeitnehmer. Die Metall-Zeitung behauptet zu unserem Gesetz auch, illegale Beschäftigung würde erleichtert. Das Gegenteil ist der Fall. Wir verschärfen die Strafbestimmungen. Deshalb will ich die Gelegenheit, das klarzustellen, hier von diesem Pult aus nutzen. Ich werde nicht damit aufhören, bis diese Gewerkschaftszeitungen zur Wahrheit zurückgefunden haben.
Ich sage hier von diesem Pult aus: Arbeiter, laßt Euch nicht durch Gewerkschaftszeitungen, die von Eurem Geld finanziert werden, für dumm verkaufen!
Wehrt Euch gegen die Verdrehungsfunktionäre! — Das ist mein Aufruf.
Es ist — um nichts Schlimmeres zu sagen — die Unwahrheit, zu sagen, wir würden die illegale Beschäftigung erleichtern.
Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wenn diejenigen, die es geschrieben haben, es nicht besser wissen, dann ist es Dummheit;
wenn sie es wissen und trotzdem das Gegenteil schreiben, dann ist es nicht Unwahrheit, sondern Lüge. Sie, meine Damen und Herren, können jetzt zwischen Dummheit oder Lüge wählen. Das ist die einzige Möglichkeit zur Erklärung dieser Information.
Meine Damen und Herren, ich nehme nicht alles hin, auch nicht als Gewerkschafter, was an Falschinformation der Arbeitnehmer mit System betrieben wird.Nächster Punkt: Leiharbeit. Ich sehe eine Möglichkeit darin, Mitarbeiter in Zeiten der Krankheit oder des Mutterschutzes zu ersetzen, jene Arbeitsplatzgarantien zu überbrücken, ohne daß Überstunden gemacht werden müssen, ohne daß der Nachbar die Arbeit mitmacht; denn ich fürchte, daß solche Schutzfristen, die wir ja nicht zurücknehmen wollen, zu guter Letzt nur dazu führen, daß jene Personen, die diese Schutzfristen in Anspruch nehmen können, nicht mehr eingestellt werden. Was haben sie denn davon? Ich möchte diese Leiharbeit durchaus aus dem Zwielicht herausbringen. Nur: Wenn sie dauernd verteufelt wird, dann bleibt sie in diesem Zwielicht. Wir wollen sie dem Licht der Offentlichkeit aussetzen. Es gibt ja auch Mitbürger,
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6719
Bundesminister Dr. Blümbeispielsweise junge Mitbürger, die keineswegs an einem Schraubstock oder an einem Schreibtisch klebenbleiben wollen, die wechseln möchten. Wenn das im Rahmen eines geregelten, mit allem arbeitsrechtlichem Schutz versehenen, Leiharbeitsverhältnis möglich ist, warum eigentlich nicht?Mutterschutz: Kein Jota soll vom Mutterschutz zurückgenommen werden, aber seine Kosten sollten vom Betrieb abgekoppelt werden. Denn, meine Damen und Herren, jetzt wiederum abseits aller Theorien: Wenn die Kosten des Mutterschutzes auf den einzelnen Betrieb zukommen, dann ist doch die Gefahr groß, daß der Betrieb diesen Kosten ausweicht, daß er junge Mütter nicht einstellt oder jungen Frauen vor der Einstellung dumme, unzulässige, unschamhaftige Fragen stellt. Wenn wir das vermeiden wollen, müssen die Kosten in eine überbetriebliche Ausgleichskasse. Das kann doch nicht sozial rückschrittlich sein, das kann nur die Einstellungsbedingungen für die jungen Frauen erhöhen.Ausbildungsvermittlung: Kein Mensch will die Bundesanstalt aus der Lehrstellenvermittlung verdrängen; aber die Bundesanstalt soll sich helfen lassen.
Es kann doch nicht richtig sein, daß in einer Zeit, wo wir sozusagen Suchmeldungen nach jedem Ausbildungsplatz aufgeben, wo wir geradezu Detektiv sein müssen, auch noch den letzten Ausbildungsplatz aufzutreiben, daß in einer Zeit, wo die Bundesanstalt neue Stellen beansprucht, weil sie überlastet ist, daß genau in der Zeit sich Mitbürger oder Politiker wehren, daß die Bundesanstalt unterstützt wird durch das Engagement von Gruppen, die ihr helfen wollen. Diese Gruppen sollen keine Bußgeldbescheide bekommen, die sollen Anerkennung bekommen. Das halte ich für viel wichtiger.
Sozialpläne soll es geben wie bisher. Nur, wir wollen sie vor ihrer Ausuferung schützen. Der Sozialplan muß mehr individuell orientiert sein. Ein Arbeitnehmer, der im selben Betrieb, im selben Unternehmen, im selben Konzern einen anderen Arbeitsplatz erhält oder der einen Arbeitsplatz in einer anderen Firma erhält, hat aus meiner Sicht doch nicht die gleichen Ansprüche auf soziale Unterstützung wie derjenige, der in die Arbeitslosigkeit fällt. Auch dafür spricht wieder der gesunde Menschenverstand. Wir wollen dieses Instrument am Leben erhalten. Denn was würde sonst das Ende sein? Es gibt keine Sozialpläne mehr und keine Arbeit.
— Oder die Konkurse. — Ein Korsett — so etwas ist ja auch der Sozialplan — kann stützen, und es kann erdrücken. Wir wollen ein Stützkorsett für die Arbeitnehmer und kein Erdrückungskorsett.
Kassenkuren — Sie sehen, ich mache es ganz konkret — sollen wieder erleichtert werden. Das ist gesundheitspolitisch wie arbeitsmarktpolitisch eineVerbesserung. Wie die SPD dieses Gesetz als ein gegen die Arbeitnehmer gerichtetes Gesetz betrachten kann,
das bleibt ihr Betriebsgeheimnis. Ist die Verbesserung bei Kassenkuren gegen die Arbeitnehmer gerichtet? Ist die Verbesserung bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gegen Arbeitnehmer gerichtet?
Ist die Abkoppelung der Betriebskosten im Mutterschutz eine Verbesserung oder eine Verschlechterung? Ist die Möglichkeit von befristeten Arbeitsverträgen eine Verbesserung oder eine Verschlechterung? Ich entscheide mich bei der Antwort auf diese Frage: Dies ist ein Gesetz für die Arbeitslosen. Dies ist praktische Hilfe, keine ideologische; und wir entscheiden uns für praktische Hilfe.
Herr Kollege Glombig, parlamentarisch war Ihr Ausdruck nicht, den Sie hier verwendet haben.
Es kommt nun als nächster Redner der Abgeordnete Dreßler. — Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer einer Sammlung von einzelnen gesetzlichen Maßnahmen einen Namen gibt, der muß es ertragen, daß seine Vorschläge am Titel gemessen werden.
Was wir heute zu behandeln haben, hat der Bundesarbeitsminister ,,Beschäftigungsförderungsgesetz" genannt.
In der Erfindung von Parolen ist Herr Blüm ungefähr so erfindungsreich wie sein Kabinettskollege aus dem Adenauer-Haus. Beide haben übrigens noch eines gemeinsam: Die Titel der Romane haben meist wenig mit dem Inhalt zu tun.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie wollen einerseits mit dem von Ihnen gewählten Titel den Eindruck erwecken, es ginge darum, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, in der Summe mehr Menschen einen anständigen Arbeitsplatz zu geben.
In Ihrer Zeit als aktiver Sozialausschüßler der CDU hätten Sie mir andererseits sicher darin zugestimmt, daß es die Arbeitnehmer sind, die im Wirtschaftsleben das höchste Risiko zu tragen haben, weil der Verkauf ihrer Arbeitskraft ihre Existenzgrundlage ist.
An diesen Aussagen, Herr Blüm, will ich Ihr Gesetzespaket — oder soll ich besser sagen: das Geset-6720 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984Dreßlerzespaket der Herren Albrecht, George und Lambsdorff? — messen.
Wir sollten uns nämlich, Herr Blüm, gegenseitig nichts vormachen. Es kann kein Zufall sein, daß sich im Strategiepapier der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände gleiche Grundlagen wie in diesem Gesetzentwurf wiederfinden.
Das zweite ist: Mehr als neun Monate hat sich die Bundesregierung für diese Gesetzesvorlage Zeit genommen. Das Parlament soll nun in wenigen Wochen seine Beglaubigung abliefern. Ich will an dieser Stelle ankündigen, daß die SPD im Interesse derjenigen, die von diesem Gesetzentwurf bedroht werden, sich dafür einsetzen wird, daß dieses Parlament den Gesetzentwurf ausreichend und sachkundig diskutiert.
Wir lassen uns nämlich nicht zur bloßen Staffage einer Gesetzgebungsmaschinerie machen.
Sie beabsichtigen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, die Möglichkeit des Abschlusses befristeter Arbeitsverträge mit ehemaligen Arbeitsplatzsuchenden und mit jungen Arbeitnehmern nach Abschluß der Ausbildung praktisch auszuweiten.
Für den einigermaßen logisch denkenden Menschen liegen die Konsequenzen dieser Maßnahme auf der Hand:Erstens. Wer das Pech hat, einmal arbeitslos gewesen zu sein, muß als fortdauernde Strafe damit rechnen, seinen Anspruch auf einen dauerhaft gesicherten Arbeitsplatz in den Wind schreiben zu müssen.
Zweitens. Jeder rational denkende Arbeitgeber wird diese Möglichkeit dazu nutzen, möglichst viele freiwerdende Arbeitsplätze — z. B. durch Erreichen der Altersgrenze, natürliche Fluktuation o. ä. — nicht mehr mit Dauerarbeitnehmern zu besetzen.
Wir werden bald messen können, daß sich zwar die Gesamtzahl der Arbeitsplätze in den Unternehmen nicht verändert hat, dafür aber der Anteil der Dauerarbeitsplätze geschrumpft ist. Unser Arbeitsrecht hat bisher wenigstens das Risiko kurzfristiger Schwankungen der Arbeitsmenge vom Arbeitnehmer ferngehalten.
Eine vernünftige Personalplanung war zunächst eine typische Unternehmeraufgabe. Herr Blüm wälzt das Risiko auf die Arbeitnehmer und ihre Familien ab. „Heuern und feuern" soll zum Leitprinzip des Arbeitslebens werden.
Auch wenn Sie es augenscheinlich intellektuell nicht begreifen können:
Wir halten das Schlichtweg für nicht vereinbar mit den Prinzipien eines demokratischen und sozialen Rechtsstaats.
Drittens, Herr George, dürfte auch Ihnen klar sein: Die Verpflichtung zur Beschäftigung der jungen Arbeitnehmer nach Ableistung beispielsweise des Wehrdiensts ist in Zukunft nicht mehr das Schwarze unter dem Fingernagel wert.
Die Begründungen des Bundesarbeitsministers zeugen darüber hinaus von einer bedauernswerten Unkenntnis des geltenden Arbeitsrechts,
die man, Herr Blüm, gerade von einem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung nicht hätte erwarten dürfen.
Der Abschluß von Zeitarbeitsverträgen, Herr Blüm, ist auch nach bestehendem Recht im Prinzip
ohne zeitliche Beschränkung zulässig. Die Gerichteverlangen für einen Zeitvertrag lediglich das Vor-liegen eines sachlich anerkennenswerten Grundes.
Damit soll nämlich der willkürlichen Befristung, die auf eine Umgehung des Kündigungsschutzes oder sonstiger sozialer Schutzbestimmungen zielt, vorgebeugt werden. Und genau diese Vorbeugung der Gerichte, Herr Blüm, nehmen Sie weg und erleichtern den Unternehmern das Geschäft gegen die Arbeitnehmer.
Es läuft letztlich darauf hinaus, ein Unterlaufen desKündigungsschutzes durch Arbeitgeber qua Gesetzzu gestatten und Zeitverträge auch dann zu ermög-
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Dreßlerlichen, wenn hierfür jeder sachlich anerkennenswerte Grund fehlt.
Das Fazit ist: Die Ausweitung von Zeitarbeitsverträgen und Leiharbeit schafft nicht einen zusätzlichen Arbeitsplatz. Sie höhlt den Anspruch der Menschen auf einen einigermaßen gesicherten Arbeitsplatz aus und wälzt ein weiteres Unternehmerrisiko, das der Personalplanung, auf die Arbeitnehmer ab.
Im übrigen, Herr Blüm, werden die Unternehmen geradezu ermuntert, den um sich greifenden Weg der künstlichen Zersplitterung von Unternehmen in Teilunternehmen zur Umgehung des Betriebsverfassungsgesetzes weiter zu beschreiten.Was nun die Regelungen zur Teilzeitarbeit angeht, kann außer den Unternehmern niemand mit den Regelungen zufrieden sein. Denn es geht gar nicht darum, jemanden mit einem Acht-StundenTag gegen seinen Willen zu beglücken. Dieser mit schöner Regelmäßigkeit auch gegen die Gewerkschaften erhobene Vorwurf geht völlig an der Wirklichkeit vorbei. Bisher hat mir noch niemand auch nur einen einzigen Tarifvertrag in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt, der die Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen verhindert hätte. Wenn es heute kein ausreichendes Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen gibt, Herr Bundesarbeitsminister, dann ist dies ausschließlich den Arbeitsplatzanbietern anzulasten. Was Sie mit Ihren Regelungen erreichen, ist keine im Interesse der Arbeitnehmer liegende vernünftige Regelung von Teilzeitarbeitsverhältnissen. Dazu hätte es z. B. der Abschaffung der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung
und der Ausweitung der Mitbestimmungsmöglichkeiten des Betriebsrats bei der Gestaltung von Teilzeitarbeitsplätzen bedurft.
Die Regelungen des Bundesarbeitsministers lesen sich dagegen jedoch wie Taschenspielertricks. Da wird die reine Rufbereitschaft zwar unmöglich gemacht, an ihre Stelle tritt gleichwohl der Zwang zur unbegrenzten Erreichbarkeit durch die VierTage-Frist. Dabei hat der Arbeitnehmer nicht einmal die Gewißheit, ob er überhaupt in dieser Woche oder im Monat gerufen wird. Eine entsprechende Mindestarbeitszeit mit entsprechender Vergütung wird dem Arbeitnehmer nicht garantiert.
Wo liegt bei diesen Regelungen, meine Damen und Herren von der CDU, eigentlich der qualitative Unterschied zu der Lebenslage eines Tagelöhners des letzten Jahrhunderts? Das müssen Sie hier mal begründen.
Auch bei den Regelungen für das Jobsharing ist es der Teilzeitarbeitnehmer, der das ganze Risiko zu tragen hat. Was soll der Kündigungsschutz für einen Jobsharing-Partner, wenn völlig offenbleibt, was mit dem Restarbeitsplatz zu passieren hat? Nicht umsonst weist der Gesetzentwurf auf Änderungskündigung und Kündigung aus anderen Gründen hin. Zusätzlich zu seinem eigenen Arbeitsplatzrisiko bürdet dieser Gesetzentwurf dem Arbeitnehmer auch noch das Unternehmerrisiko mit einem anderen Arbeitnehmer auf. Dies ist die moderne Form der Sippenhaftung im Arbeitsrecht. Herr Blüm.
Was es bedeutet, wenn Herr Blüm das Arbeitsrecht gelenkiger macht, bekommen die Arbeitnehmer in kleineren Unternehmen in Zukunft zu spüren. Mit der Ausklammerung von Teilzeitarbeitskräften bis zehn Stunden in der Woche oder 45 Stunden im Monat aus den Regelungen des Kündigungsschutzes werden auch Hunderttausende Vollzeitarbeitskräfte ihren Kündigungsschutz verlieren, und insoweit trifft Sie der Vorwurf der Gewerkschaften sehr wohl, auch wenn Sie das hier heute nicht wahrhaben wollten.
Nach dem Auftritt des Bundesarbeitsministers bei der Verlosung eines Ausbildungsplatzes
hätte ich mich auch nicht mehr gewundert, wenn diese Bundesregierung die Vermittlung der Ausbildungsplätze gleich der Lotterie übertragen hätte. Schließlich gibt es ja mehr Lottoannahmestellen als Arbeitsämter.Trotzdem halten wir die Aufweichung des Vermittlungsmonopols der Arbeitsämter für Ausbildungsstellen für einen schwerwiegenden Fehler, zumal die erklärten Absichten der FDP vermuten lassen , daß es sich hier um eine Art Versuchsballon handelt, dem bald die weitere Zerfaserung des Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt folgen kann. Wer die Not der Eltern von ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen kennt, der muß wissen, daß er einen widerwärtigen, aber höchst gewinnträchtigen Markt für die Lebenschancen junger Menschen eröffnet. Vor dem Hintergrund dieses Gesetzentwurfs wird endlich auch erklärlich, warum die Arbeitsämter personell nicht in die Lage versetzt werden, ihren Aufgaben zur vollen Zufriedenheit aller nachzukommen; denn nur wenn man verhindert, die personelle Ausstattung den gewachsenen Arbeitslosenzahlen anzupassen,
schafft man sich selbst die Argumente zur Privatisierung der Arbeitsvermittlung, Herr Blüm.Zum Schluß will ich auf das eingehen, was diese Bundesregierung angeblich zur Sicherung der Sozialplanansprüche der Arbeitnehmer tun will. Hieß es in der Regierungserklärung noch, die Mitbestim-
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Dreßlermungsrechte der Betriebsräte würden auf keinen Fall abgebaut, so sind die geplanten Regelungen für die Gestaltung von Sozialplänen genau der entgegengesetzte Weg. Wie sollen Betriebsräte, Herr Blüm, in Zukunft vernünftige Sozialpläne durchsetzen, wenn Arbeitgeber genau wissen, daß sie es vor der Einigungsstelle viel billiger bekommen? Zusammen mit den Zumutbarkeitsklauseln und der wesentlich erweiterten Quote für Entlassungen, bei denen keine Sozialplanpflicht besteht,
ergibt sich der gleiche Effekt, der sich wie ein roter Faden durch das gesamte sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz zieht: Bei Neugründungen, bei Betriebsveränderungen, bei Konjunkturschwankungen, kurz bei allem, das zum Unternehmerrisiko gehört, findet die Verschiebung der Lasten auf die Arbeitnehmer statt. Es ist wie beim Sozialabbau, wie im Ausländerrecht, wie beim Behinderten- und Rentenrecht: Immer derjenige, der in der schwächeren Position in dieser Gesellschaft ist, muß ganz allein die Lasten tragen, ohne daß er mit entscheiden und mitveranworten kann. Der jeweils Stärkere, Herr Blüm, wird ohne Gegenleistung von Ihnen noch stärker gemacht.
Es ist in der Tat ein merkwürdiges Verständnis einer Leistungsgesellschaft.Die SPD-Fraktion lehnt diesen Gesetzentwurf, der eher den Titel „Entlassungserleichterungsgesetz" verdient, ab. Der dem Deutschen Bundestag vorliegende Antrag der Sozialdemokraten zeigt auf, welche vordringlichen Maßnahmen geboten sind, um wirklich Beschäftigung zu fördern.
Unser Entwurf zeigt Möglichkeiten für mehr Beschäftigung auf, Hilfen zur Wiedereingliederung in das Arbeitsleben, Hilfen für die Jugendlichen, Hilfen für die Arbeitsvermittlung und für die Beschäftigungssuchenden.Der Bundesarbeitsminister hat sich zunächst als sehr gelenkig erwiesen, wenn es darum ging, den Arbeitnehmern und sozial Schwachen im Lande in die Taschen zu greifen. Seine Gelenkigkeit, mit der er nun seit Monaten die Arbeitsanweisungen der Herren Albrecht, George und Lambsdorff und der Arbeitgeberverbände zum Abbau von Arbeitnehmerrechten exekutiert, ist allerdings unübertroffen. Das hätten wir von Ihnen nicht erwartet, Herr Blüm.
Ich muß Ihnen sagen — wenn ich daran erinnerndarf —: Auf der 20. Bundestagung Ihrer CDU-Sozialausschüsse, Herr Blüm, formulierte der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, direkt an Sie gewandt,
eine schon damals bemerkenswerte Mahnung. Ich zitiere:Wir haben leider Grund zu der Feststellung, daß hinter Deinem Rücken eine weitere Aufräumkolonne am Werk ist. Diese — nennen wir sie die zweite Kolonne — macht alle Anstalten, den Sozialstaat gleich mit in die Ecke zu kehren.Ich verbessere den DGB-Vorsitzenden nur sehr ungern, Herr Blüm.
Aber hinter Ihrem Rücken, Herr Blüm wird längst nicht mehr der Sozialstaat in die Ecke gekehrt. Sie haben mit diesem Gesetzentwurf den Besen selbst in die Hand genommen; wahrscheinlich zur Befriedigung Ihres CDU-Wirtschaftsrates.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Kolb.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schönen Dank für den Zwischenruf, Herr Kollege Peter. Ich weiß, Sie leiden unter dem Unternehmersyndrom. Der Kollege Dreßler hat das eben wieder ganz deutlich gemacht.
Herr Kollege Dreßler, wenn sie von hire and fire sprechen, muß ich Sie daran erinnern, wie es beim „Telegraf" zugegangen ist, wie es in der Baracke nach dem Regierungswechsel zugegangen ist. Da habe ich Ihre Töne nicht gehört. Ich möchte sagen: Sorgen Sie für das eigene Haus, bevor Sie bei uns beginnen.
Wenn früher in der Schule ein pflichtbewußter Lehrer es nicht fertiggebracht hat, daß seine Schüler alles mitbekamen, hat er Nachsitzen verordnet.
— Wir tun das gemeinsam, Frau Kollegin: nachsitzen. Es ist nämlich notwendig geworden, daß wir das tun.
Die Beschäftigungsförderungsgesetze korrigieren etwas, was nicht mehr stimmt, was wir in einer Ära beschlossen haben, in der wir glaubten — das
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Kolb
haben wir übrigens alle gemeinsam gemacht; ich sage bewußt: alle —, es gehe nur nach oben.
Ich habe mir die Mühe gemacht, lieber Kollege Reimann, die Protokolle von 1971 nachzulesen. Es ist schon sehr verwunderlich, wenn man feststellt, daß es zu jener Zeit außer Vollbeschäftigung fast nichts gegeben hat. Der Kanzler hat zu jener Zeit, von 1970 bis 1972, den 1. Mai jeweils dazu benutzt, eine Vollbeschäftigungsgarantie zu geben. Das war dann natürlich für die Tarifpartner die Aufforderung zum Tanz. Man hat sich doch nicht verpflichtet gefühlt, in irgendeiner Form überhaupt noch Verantwortung zu übernehmen.
Wenn man diese Protokolle von 1971 nachliest, ist auch interessant — Herr Kollege Dreßler, damit komme ich zu der Problematik des Sozialplans —, daß von dieser Stelle aus gesagt worden ist, so wie das Gesetz formuliert sei, lasse es Klagen bis zum höchsten Gericht zu. Das sei eine hervorragende Angelegenheit. Herr Kollege Dreßler, das ist nicht hervorragend, sondern genau das Umgekehrte ist der Fall. Dadurch, daß nicht richtig entschieden, daß der Rahmen nicht richtig gesetzt wurde, kam es doch gerade beim Sozialplan zu diesem Durcheinander.
— Ich weiß, daß solche Dinge, die unangenehm sind, bei Ihnen nicht gerade ankommen.
Ich habe neulich im Zusammenhang mit dem Jugendarbeitsschutz gesagt, es sei zweckmäßig, einmal die Ursachen der Arbeitslosigkeit zu erforschen. Nicht um Fehler zu suchen — das hat keinen Wert —, sondern um einmal festzustellen, was danebengegangen ist. Deswegen erlaube ich mir, einmal Jeremias 2,21 zu zitieren:
Als Edelrebe hatte ich dich gepflanzt, eine ganz edle Sorte. Wie hast du dich gewandelt, zum Wildling, zum entarteten Weinstock?
So ist es mit vielen unserer Gesetze gegangen: Sie sind uns aus dem Ruder gelaufen, weil wir keinen klaren Rahmen gesetzt haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist schon abenteuerlich, wenn dieses Parlament es zugelassen hat, daß die Gerichte sich die Spielwiese ausgesucht haben, die Gesetze, die hier nicht genau definiert waren, für sich auszugestalten.
— Nein, das ist eine Schelte an uns, Frau Kollegin.
Es heißt ausdrücklich, das durch die Richter zum Arbeitsrecht gewordene Kündigungsschutzgesetz müsse in dieser Form etwas aufgelockert werden. Dies geschah, weil nicht klar gesagt wurde, was wir wollten. Deshalb konnten die einzelnen Gerichte so handeln. Es wird für einige Studenten in der Zukunft eine hervorragende Möglichkeit sein, Dissertationen darüber zu schreiben, wie dieses Parlament nicht richtig gehandelt hat.
Aber nun noch einmal zu Ihrem Sozialplan. Wie war es denn mit dem Sozialplan an der alten Gestaltung? In vielen Fällen war es doch völlig uninteressant, noch darüber nachzudenken, ob der Betrieb nachher fortgeführt werden konnte. Es war für viele einfacher, vor allem für die kleineren Betriebe, gleich in Konkurs zu gehen, weil es sowieso nicht möglich war, daß die geforderte Verteilungsmasse zur Lebensfähigkeit des Betriebs ausreichte.
Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren: War der Betrieb groß genug — ich würde sagen: wenn Alles Eine Gesellschaft war —, dann machte es überhaupt keine Schwierigkeiten, dann wurde entsprechend geholfen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die, wie ich schon sagen möchte, überheblichen Sozialplangestaltungen, wie wir sie in den 70er Jahren in der Automobilindustrie hatten. Sie haben exakt gezeigt, daß der Sozialplan anders gestaltet war.
— Das kann ich Ihnen schön beweisen, Herr Kollege. Sie werden sich wundern.
Deswegen ist es unsere Aufgabe, diesen Sozialplan in eine etwas bessere Form zu bringen, damit wir in Zukunft, wenn es geht, so viele Arbeitsplätze wie möglich erhalten und nicht vernichten. Erhaltene Arbeitsplätze werden nämlich die Finanzierung des Sozialstaates garantieren; nicht erhaltene Arbeitsplätze tragen nur zu seiner Verteuerung bei.
Deswegen nutzt es uns gar nichts, wenn wir uns in Maximalbegriffe oder unbestimmte Rechtsbegriffe hineinstürzen. Wir sind hier gefordert, für die Zukunft klare Gesetze mit klaren Regeln zu schaffen. Es muß ein Ende damit haben, daß nach einem Gesetz ellenlange Kommentare der Ministerialbürokratie oder kostenträchtige Schieds- und Einigungsstellen das erledigen, was wir als Gesetzgeber zu unklar, zu unverständlich und zu ungenau ausgedrückt haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Wenn sie kurz ist, ja.
Die Zwischenfrage, Herr Kollege, wird sehr kurz sein. Wenn Sie sagen, die Sozialpläne waren überhöht, wir haben sie jetzt gesenkt und schaffen dadurch mehr Arbeitsplätze, dann würde ich von Ihnen gern die Logik Ihrer Beweisführung erfahren.
Herr Kollege, ich habe gesagt: Es hat keinen Wert, wenn die Forderung des Sozial-
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Kolbplans so hoch ist, daß dem Betrieb die Weiterführung nicht mehr möglich ist und er sozusagen direkt in Konkurs geht. Dies ist doch geschehen.
— Herr Kollege Dreßler, wenn Sie immer so attakkieren: Ich wundere mich, warum Sie mit Ihren Fähigkeiten keinen Betrieb aufmachen und sagen „Ich habe die gesamten Rezepte und werde dafür sorgen, daß wir genügend beschäftigen".
— Natürlich haben wir das.
Herr Dreßler, Sie haben vorhin von Romanen gesprochen. Sie haben Ihrem Roman die Nr. 10/2132 gegeben. Dieses Parlament muß doch damit aufhören, die Tarifpartner mit ihren Ränken, Tollkühnheiten und Fehleinschätzungen zu unterstützen. Es kann doch nicht die Aufgabe des Parlaments sein, zu korrigieren, was die Tarifpartner tun und was anschließend rechts und links des Weges liegenbleibt.Ich will das an folgendem Fall deutlich machen: Ein Arbeitnehmer hat heute nur die Wahl, entweder 108,3% netto zu haben oder mit Almosen aus Nürnberg — mit 62,8% als Verheirateter, mit 58,2 % als Lediger — abgespeist zu werden. Die derzeitige Regelung sagt: 13 Monatsgehälter, das gibt 108,3 %. Oder: Das Arbeitslosengeld aus 12 Monaten, und da gibt es keine 68 %, sondern 62,8%. Dazwischen ist anscheinend nichts möglich.Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, die verbotene Zone ist von der Schattenwirtschaft in der Zwischenzeit hervorragend aufgefüllt worden. Die derzeitigen Schätzungen sagen, daß wir in diesem Bereich rund 200 Milliarden DM umsetzen. Deswegen bin ich, deswegen ist meine Fraktion nicht mehr willens, diejenigen, die eben dies alles umgehen, die mit Mafia-Methoden arbeiten, in Zukunft so elegant wegkommen zu lassen. Wir bezeichnen dies als hinterlistigen Betrug. Herr Kollege Reimann, Sie schauen mich so an
— ja —: In Zukunft ist dies eine Straftat und keine Ordnungswidrigkeit mehr. Denn wir wollen ganz deutlich sagen, daß wir deren unseriöses Verhalten nicht mehr hinnehmen.Hier muß von dieser Stelle aus auch einmal deutlich gesagt werden: Wenn mehr als 600 000 Illegale als dubiose Subunternehmer, als Küchenbrigaden, als Erntehelfer etc. ihr Werk verrichten, dann ist der Gesetzgeber doch aufgefordert, zu handeln. Dann sind natürlich auch Besuchervisen aus Polen, aus Jugoslawien und aus der Türkei in Zukunft nach einem anderen Maßstab zu beurteilen, als das bisher geschehen ist. Wenn ich weiß, wie viele Besucher gern München anschauen, vor allem aus Jugoslawien, dann aber feststelle, daß sie ohne Mittel kommen, aber mit viel Mittel nach Hause gehen, dann ist das schon eigenartig. Hier ist dann doch eine Schleuse zu schließen.
— Herr Kollege Reimann, wir können uns im Ausschuß im Detail darüber unterhalten.Herr Kollege Dreßler, Sie haben hier soeben den Gewerkschaftsstandpunkt vertreten: Wenn die Gewerkschaften jetzt so „Auwei" schreien, dann muß ich doch fragen, warum die bisherigen Rezepte nicht funktioniert haben. Wenn die bisherigen Rezepte so gut gewesen wären, dürfte doch alles das nicht eingetreten sein, was Sie hier vorhin so kritisiert haben. Dann dürfte es doch auch nicht passieren, daß Sie in Ihrer Drucksache 10/2132 nur wieder die alten Rezepte hervorholen, mit denen Sie in den 70er Jahren in Ihren Beschäftigungsförderungsprogrammen keinen Erfolg gehabt haben.
— Ja, das meinen Sie, daß Sie sie geschaffen haben. Ihr Bundesgeschäftsführer Glotz geht zur Zeit durch die Landschaft und sagt: Demnächst werden wir 3 Millionen Arbeitslose haben. Er malt das Menetekel an die Wand. Er fragt aber nicht, was eigentlich der Grund für Arbeit sein muß, nämlich daß ich das, was ich produziere, auch verkaufen kann.Sie haben nun ein neues Produkt angeboten. Sie sagen, wir wollen die Umwelt fördern. Einverstanden, wir wollen sie auch sanieren, aber nicht auf Ihre Art. Denn das, was Sie tun wollen — dazu gibt es schöne Kommentare — ist folgendes: Entweder verteuern Sie bestehende Arbeitsplätze wesentlich und gefährden sie damit mehr, oder Sie zwacken dem von Ihnen so häufig genannten mündigen Bürger zusätzlich etwas ab. Nur, eines können Sie nicht mehr tun, Frau Kollegin Fuchs: Wechsel querzuschreiben. Sie haben in den 70er Jahren soviel Wechsel quergeschrieben, daß uns die Bezahlung der Schulden schneller eingeholt hat, als uns überhaupt lieb war.
Deswegen haben wir heute diese vielen Schwierigkeiten.
— Ich weiß, Frau Kollegin Fuchs, daß so etwas Sie nicht überzeugen kann, weil es Sie sonst aus Ihrer Ideologie herausnähme.Lassen Sie mich noch folgende Bemerkung machen — der Arbeitsminister hat es schon erwähnt —: Die derzeitige Arbeitsschutzgesetzgebung, um sie einmal so zu bezeichnen, ist ja fast das System des Mittelalters. Da war derjenige, der innerhalb der Mauern wohnte, frei. Aber bis jemand hineinkam, hat er äußerst große Schwierigkeiten gehabt. Heute soll derjenige, der einen Arbeitsplatz hat, 200 %ig gesichert werden, und der, der draußen
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Kolbsteht, hat null Rechte. — Es nutzt nichts, wenn Sie den Kopf schütteln, Herr Egert.
— Ich habe Verständnis dafür. Deswegen sollten wir uns, meine sehr verehrten Damen und Herren, bemühen — nun spreche ich uns alle an —, das, was wir in der Rechts- und Tarifpolitik fahrlässig zugenagelt haben, das, was an Hindernissen aufgebaut worden ist, das, was schiefgelaufen ist, zu beseitigen. Dieses Beschäftigungsförderungsgesetz öffnet hier Wege. Der Minister hat zu Recht gesagt: Wenn sich 1991 gezeigt hat, daß hier etwas besser geworden ist, werden wir es beibehalten. Wenn es nicht besser geworden ist, werden wir davon abrücken.
Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, daß Wohltat zur Plage werden kann und wo Schein und Sein nicht übereinstimmen.
Und Sie wollen vor allem uns nicht glauben, daß falsche Propheten die Jünger in die Irre geschickt haben.Ich verhehle nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß ich z. B. gerne gesehen hätte, daß wir auch die Nebentätigkeiten, die 390-DM-Regelung in diesem Gesetz gehabt hätten. Vielleicht können wir im Ausschuß darüber sprechen. Wir werden dies mit einbeziehen müssen, weil es sonst nicht geht.Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren, wer glaubt, er könne immer von Sozialer Marktwirtschaft reden, aber planwirtschaftlich handeln, mußwissen: Das wird nicht funktionieren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Nein, leider nicht mehr. Herr Kollege Glombig, ich bin in der letzten Minute meiner Redezeit. Es tut mir leid. Ich hätte das gerne zugelassen.
Wer von Sozialer Marktwirtschaft spricht und Planwirtschaft meint, muß zur Kenntnis nehmen, daß sich die beiden nicht vertragen. Das ist wie Feuer und Wasser. Deswegen plädiere ich dafür, daß wir uns auch im Arbeitsrecht und in der gesamten Beschäftigungspolitik wieder auf die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft zurückziehen. Sie hat uns allen geholfen. Es bedarf nicht neuer Romane wie 10/2132.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Das ist in der Tat ein Beschäftigungsprogramm, Frau Kollegin.
Herr Präsident! Die verehrten Kollegen der Opposition haben, wenn ich mich richtig erinnere, eben, als ich mich zu dem überflüssigen Arbeitsmarktbericht geäußert und in dem Zusammenhang davon gesprochen hatte, daß überflüssiges Papier erzeugt werde, nicht gerade Beifall geklatscht.
— Danke schön.
Ich meine, Sie haben hier den Beweis,
daß wir nicht unnütze Berichte verlangen, sondern beschäftigungsfördernde Maßnahmen beschließen.
Das ist der Unterschied: Sie verlangen Berichte, wir schaffen die Voraussetzungen dafür, daß mehr Arbeit im Lande ist.
Die Arbeitslosigkeit ist also, wie schon eben gesagt, das Problem Nr. 1. Deswegen sind wir in der Tat verpflichtet, jede nur denkbare Möglichkeit wahrzunehmen, mehr Beschäftigung zu schaffen, mehr Leute in Arbeit und Brot zu bringen.
Dabei ist es ungeheuer wichtig — lassen Sie mich das besonders an die linke Seite des Hauses sagen —, nicht nur Gescheites zu tun, sondern Fehler und Blödsinn zu unterlassen, z. B. strohfeuererzeugende Beschäftigungsprogramme.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Selbstverständlich, unter der Voraussetzung, daß sie kurz ist, Kollege Lutz.
Wie üblich, Kollege Cronenberg, kurz: Können Sie mir einen Monat des Wirkens dieser neuen Regierung nennen, in dem die Arbeitslosenzahl niedriger war als zu Zeiten unserer gerneinsamen Regierungsverantwortung?
Nein, Herr Kollege Lutz, dazu bin ich in der Tat nicht in der Lage. — Aber ich kann Ihnen etwas anderes sagen. Ich kann Ihnen sagen, daß sie in jedem Monat dieser Regierungszeit um vieles niedriger lag, als beispielsweise die verehrte Kollegin Fuchs und wirtschaftswissenschaftliche Institute dies prognostiziert hatten.
Ich kann Ihnen sagen, daß viele, auch seriöse wirtschaftswissenschaftliche Institute erwartet hatten,
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Cronenberg
daß wir um diese Zeit 3 Millionen Arbeitslose haben würden,
daß wir in einigen, leider zu wenigen Monaten einen Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit zu verzeichnen hatten. Ich leugne nicht, daß das in den letzten Monaten etwas anders war. Damit die positive Tendenz, Rückgang der strukturellen Arbeitslosigkeit, sich fortsetzt, werden wir, hoffentlich mit Ihrer Unterstützung, dieses Gesetz verabschieden.
Also, wir müssen Fehler vermeiden, z. B. strohfeuererzeugende Beschäftigungsprogramme oder Abgabensteigerungen oder die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe, wie sie der Kollege Lutz immer verlangt, oder investitionsfeindliche Steuererhöhungen oder sinnlose Meldepflichten für Ausbildungsplätze, die keinen Ausbildungsplatz schaffen, aber die Betriebe mit unnützen Arbeiten belasten und sozusagen von ordentlicher Arbeit abhalten oder andere, wie Graf Lambsdorff gesagt hat, Folterinstrumente. Das Instrumentarium ist da ja ungewöhnlich groß.Der vorliegende Gesetzentwurf greift einige Möglichkeiten auf, zusätzliche Einstellungen vorzunehmen und zu erleichtern und vorhandene Beschäftigungshemmnisse abzubauen. Wegen der Kürze der Zeit möchte ich nur stichwortartig auf einige Probleme eingehen, die insbesondere der Kollege Dreßler angesprochen hat.Verehrter Rudolf Dreßler, Sie haben sicher viel Erfahrung mit Betriebsräten. Jeder Betriebsrat und jeder praktizierende Unternehmer wie ich weiß, daß es unvermeidbare Kündigungen gibt. Jeder weiß, daß die Betriebsratsmitglieder, die bei dem schwierigen Auswahlprozeß solcher Kündigungen beteiligt gewesen sind — —
— Aber Herr Kollege Glombig, diese Frage beleidigt mich. Das ist doch selbstverständlich.
— Das war kein Erziehungsprozeß für den Unternehmer, sondern das war ein Erziehungsprozeß derjenigen, die im Betrieb waren und sich darum bemüht haben, Frau Kollegin Fuchs. Ich war da katholisch; keine Sorge!Ein Betriebsratsmitglied, das bei der Auswahl schon einmal mitgewirkt hat, das die Schwierigkeiten eines solchen Auswahlprozesses in der Praxis also erlebt hat, ist, wie Sie und ich wissen, außerordentlich kritisch, wenn es darum geht, Neueinstellungen vorzunehmen. Die Kollegen in den Betriebsräten verhalten sich genauso wie die Unternehmer. Sie haben nämlich Angst vor Arbeitsgerichtsprozessen. Sie wissen wie ich: Es gibt so gut wie keine Kündigungen mehr, die nicht mit Arbeitsgerichtsprozeß enden.Was ist die Folge dieser Situation? Unternehmer und Betriebsrat vereinbaren Hand in Hand Überstunden, Überstunden, die Sie nicht wollen und wir nicht wollen. Wir sind uns zwar nicht über die Wege einig, wie wir Überstunden verhindern, aber wir wollen sie nicht. Wir wollen lieber Neueinstellungen.Da gibt es zwei Möglichkeiten, das Problem zu lösen. Eine, die ich öfter vorgeschlagen habe, die Ihre Zustimmung überhaupt nicht gefunden hat: man ändert den Kündigungsschutz. Dazu war das Bundesarbeitsministerium — bedauerlicherweise — nicht bereit.
Oder aber: Sie gehen den Weg, den wir hier gegangen sind, nämlich befristete Arbeitsverträge einzuführen.
Sie können sicher sein: Mit solchen befristeten Arbeitsverträgen lösen Sie die Problematik, die ich eben angeschnitten habe. Sie geben auch den Betriebsräten Instrumente in die Hand, sich flexibler zu verhalten. Insofern ist die Schlußfolgerung, Herr Kollege Dreßler, die Sie gezogen haben — insgesamt gleiche Zahl der Arbeitsplätze, aber weniger kündigungsschutzgesicherte Arbeitsplätze; das war ja Ihre These —, falsch. Im Grunde genommen wird Ihren Wünschen, nämlich weniger Überstunden gleich mehr Beschäftigte, Folge geleistet.Deswegen muß ich sagen: Gerade Sie als AfAVertreter, als Boß der Arbeitnehmervertretung Ihrer Partei, und die Gewerkschaften müssen einer solchen Regelung, wenn es Ihnen wirklich um mehr Beschäftigung geht, begeistert zustimmen.
— Nein, wir machen doch nicht das Arbeitsrecht zur Farce. Was Sie tun, ist folgendes. Der Kollege Kolb hat das schon gesagt. Sie plädieren für closed shop. Die, die drin sind, werden geschützt, und die, die draußen sind, interessieren Sie einen feuchten Dreck. Genau das ist das Falsche.
Die Förderung der Teilzeitarbeit war immer ein alter Wunsch von uns und auch der SPD. Es ist erfreulich, in diesem Zusammenhang feststellen zu dürfen, daß alle Möglichkeiten, die Teilzeitarbeit zu erschweren — da hätte es ein ganzes Instrumenta- rium gegeben; ich möchte mich beim Bundesarbeitsminister bedanken —, vermieden worden sind.Aber es gibt noch eine Sache, die ich nicht verhehlen will, Herr Bundesarbeitsminister, die eine Einschränkung der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit ist. Das ist folgendes. Wenn jemand Teilzeitarbeit vereinbart, würde er nach der jetzigen Regelung automatisch, wenn er vorher befreit war, in die Pflichtversicherung zurückkommen.
Das ist ein Instrument, das die Teilzeitarbeit behindert. Deswegen fordere ich den Bundesarbeitsmini-
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ster auf — weil er mit uns gemeinsam die Teilzeitarbeit fördern will —, dafür zu sorgen, daß dies nicht geschieht. Das ist weder im Interesse der gesetzlichen Krankenversicherungen noch im Interesse der Förderung der Teilzeitarbeit.
Weil ich weiß, daß sich Norbert Blüm bemüht, sachlichen Argumenten Folge zu leisten, gehe ich davon aus, daß diese vorgetragene Bitte nicht vergeblich ist.
Nun komme ich nochmals zum Kollegen Dreßler und zu dem angeschnittenen Fragenkomplex der Sozialplanregelung.Meine Damen und Herren, es ist in der Tat so, daß Sozialpläne — so sehr ich Verständnis für die Motive habe — dann, wenn das Volumen dieser Sozialpläne zu groß ist, die Existenz von Teil- oder Restbetrieben, die lebensfähig sind, gefährden kann. So wird die Vernichtung erhaltenswerter Arbeitsplätze gefördert. Ich meine, daß es nicht mehr als recht und billig ist, daß diejenigen Arbeitnehmer, denen ein zumutbarer Arbeitsplatz angeboten wird, in einen solchen Sozialplan nicht hineinkommen. Sie gefährden mit ihren Ansprüchen die Teil-und lebensfähigen Restbetriebe. Es geht doch darum, im Vergleich und Konkurs lebensfähige Abteilungen der Betriebe zu erhalten und nicht kaputtzumachen. Die vorgeschlagene Regelung ist sinnvoll, weil damit Arbeitsplätze erhalten werden.
— Herr Kollege Urbaniak, ehe Sie Ihre Frage stellen, möchte ich noch einen Gedanken einfließen lassen. Sie können ihn dann gleich mit in die Frage packen.Herr Bundesarbeitsminister, wir wären dafür, daß wir eine Begrenzung der Gesamthöhe des Sozialplans vornehmen und dies auch konkretisieren. Im Zusammenhang mit der Konkursordnung haben wir gesagt: Es gibt eine Obergrenze für den Sozialplan, und zwar im Interesse der Betriebe und unter Umständen der Gläubiger.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie fragen, ob Sie die Zwischenfrage zulassen.
Herr Präsident, Sie kennen meine Großzügigkeit insbesondere gegenüber den SPD-Kollegen. Ich lasse die Frage zu, wenn ich den Gedanken zu Ende geführt habe.
Wir haben nun in der Konkursordnung eine Begrenzung vorgenommen. Ich meine, daß die Interessen der Arbeitnehmer in einem erhaltenswerten Teilbetrieb mindestens so wichtig sind wie die Interessen der Gläubiger. Im Interesse der Gläubiger aber wurde in der Konkursordnung eine Begrenzung vorgenommen. Insofern hoffe ich, daß uns die SPD hilft, eine solche Obergrenze für Sozialpläne — wenn es möglich ist, Teil- und Restbetriebe zu erhalten — festzulegen.
Herr Kollege Urbaniak!
Herr Kollege Cronenberg, können Sie mir Beispiele nennen, wo Betriebsräte beim Aushandeln von Sozialplänen ihre Arbeit darauf angelegt haben, daß die materiellen Leistungen des Sozialplans zur Zerstörung des Betriebes beitragen?
Herr Kollege Urbaniak, in der Tat gibt es solche Fälle. Damit komme ich zu dem nächsten Fragenkomplex. Es gibt Beispiele für genau solche Verhaltensweisen, wobei die Interessenlagen der Betriebsräte, was die Motivation anbelangt, ja sogar mein Verständnis finden.
— Herr Kollege, ich habe nur noch zwei Minuten Redezeit. Bei aller Großzügigkeit: Nein.
Ich komme jetzt zum nächsten Fragenkomplex. Diesen Gedanken muß ich auch noch loswerden. Einige Punkte, die ich dem Bundesarbeitsminister an sich über das Protokoll noch mitteilen wollte, kommen ohnehin zu kurz.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Nein, das tue ich nicht.
Gut, das gilt jetzt generell.
Ausnahmsweise ja.Ich muß diesen Gedanken auch noch loszuwerden versuchen. Ich beziehe mich auf die Problematik der Einigungsstellen. In diesem Zusammenhang möchte ich wiederum eine Aufforderung an die SPD richten. Die Fälle sind ja nicht selten, daß Teil-und Restbetriebe, die erhaltenswert sind, in einem solchen Vergleichs- und Konkursverfahren wegen des komplizierten Ablaufes unnützerweise in den Konkurs getrieben werden, statt in den Vergleich zu gehen. Deswegen möchten wir, daß das Verfahren so unbürokratisch wie nur eben möglich gemacht wird, daß kurzfristig und schnell entschieden werden kann. In den letzten Jahren sind so ungewöhnlich wenig Vergleiche praktiziert worden, weil die gesamten Verfahrensabläufe die Unternehmen zwangsläufig in den Konkurs treiben. Dabei haben — sicher ungewollt — auch Sozialpläne ihren erheblichen Beitrag geleistet. Sie sollten uns behilflich sein, daß wir dieses ändern.
Was die unentgeltliche Ausbildungsstellenvermittlung der Bundesanstalt für Arbeit anbelangt, so bin ich sicher, daß sie die Zustimmung des ganzen Hauses finden müßte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend jemand ernsthafte Bedenken dagegen
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hat, sich unentgeltlich und uneigennützig um die Vermittlung von Ausbildungsstellen zu bemühen. Ich nehme an, verehrte Kollegen, daß alle, die hier sind, laufend uneigennützig — so hoffe ich wenigstens — und unentgeltlich — davon bin ich überzeugt — solche Ausbildungsstellen vermitteln. Ich hoffe, daß das alle tun, auch die, die hier jetzt nicht anwesend sind. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß es irgend jemanden gibt, der gegen diesen sinnvollen und vernünftigen Vorschlag ist.
Verehrte Kollegen, mit Rücksicht auf die Zeit muß ich leider darauf verzichten, einige Positionen, die ich hier noch gern klargemacht hätte, zu verdeutlichen. Aber eine will ich noch ganz kurz ansprechen: Wir müssen uns darüber Gedanken machen, ob wir uns im Zusammenhang mit den ABMMaßnahmen nicht möglicherweise dazu durchringen, uns bei der Entgeltregelung nicht sklavisch an Tarifverträge zu klammern, denn 5 % weniger Lohn bedeuten 5% mehr Beschäftigte. Ich könnte mir vorstellen, daß man auch über diese Dinge völlig unvoreingenommen reden kann.Verehrte Kollegen, um vieles von dem, was hier vorgeschlagen wird, haben wir uns — das sei der Objektivität halber gesagt — schon früher bemüht,
aber leider haben wir es früher nicht durchsetzen können. Ich gebe auch offen zu — ich leugne das überhaupt nicht —, daß manches von dem, was ich mir in dem Gesetz gewünscht hätte, auch heute nicht darin steht.
Insofern, verehrte Kollegen, bin ich nicht hundertprozentig zufrieden. Aber wir haben einige Schritte
in die richtige Richtung gemacht, und ich hoffe, daß — nicht zuletzt unter dem Eindruck der hier vorgetragenen Argumente — auch die Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion, die sich ganz besonders den Arbeitnehmerinteressen verpflichtet fühlen, im Interesse der Beschäftigungslosen, wenn nicht diesen Vorstellungen zustimmen, so doch mindestens sehr ernsthaft in den Ausschüssen über sie beraten werden und — ich hoffe es sehr und appelliere ganz ernsthaft an die SPD-Fraktion — bei der Verabschiedung dieses Gesetzes zumindest keine Verzögerungstaktik anzuwenden,
sondern uns hilfreich zur Seite stehen, um das Ganze möglichst schnell auf einen guten Weg zu bringen. Für dieses Bemühen möchte ich mich im voraus ebenso bedanken wie für Ihre Geduld.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 10/2102 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Rechtsausschuß und an den Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/2132 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Darüber hinaus ist beantragt worden, die beiden Vorlagen auch noch an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung beschlossen.
Ich rufe die Punkte 11 und 12 der Tagesordnung auf:
11. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Kassenarztrechtes
— Drucksache 10/1329 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
12. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung des wirtschaftlichen Einsatzes von medizinisch-technischen Großgeräten in der kassenärztlichen Versorgung
— Drucksache 10/1625 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 11 und 12 und ein Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Darf ich fragen, ob das Wort zur Begründung gewünscht wird? — Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. Dann eröffne ich die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak. Bitte sehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die beiden heute unter so unterschiedlichen Titeln zur Beratung stehenden Gesetzentwürfe behandeln ein wichtiges gesundheitspolitisches Problem. Es geht um die Frage, ob es auch in Zukunft möglich sein soll, daß der niedergelassene Kassenarzt ohne übergreifende Bedarfsplanung medizinische Großgeräte anschafft und einsetzt. Demjenigen, der auf die Deckblätter der beiden Gesetzentwürfe blickt, fällt auf, daß zu dieser Frage zwar der Bundesrat und die parlamentarische Opposition einen Antwortvorschlag erarbeitet haben, daß die Bundesregierung aber eine Antwort schuldig geblieben ist. Dies überrascht nicht; dies ist vielmehr symptomatisch für die gesundheitspolitische Handlungsunfähigkeit dieser Bundesregierung, die wir Sozialdemokraten feststellen.Die Unfähigkeit, zu konkreten gesundheitspolitischen Problemen Lösungsvorschläge zu erarbeiten,
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Urbaniakoffenbart sich nicht nur in der Frage der Großgeräteplanung in der Medizin, sondern auch in der Frage des Arzneimittelmarktes und der Arzneimittelpreise, in dem unzulänglichen Vorschlag für die Reform der ärztlichen Ausbildung, den gerade gestern in einer gemeinsamen Anhörung der beteiligten Ausschüsse alle Sachverständigen mit einhelliger Kritik bedacht haben, und letztlich auch in dem Tohuwabohu bei der Krankenhausfinanzierung selbst. All dies belegt, daß die Bundesregierung gesundheitspolitisch nicht handlungsfähig ist und dort, wo sie es glaubt, sofort mit handfesten und abweichenden Vorstellungen der der eigenen Partei angehörenden Bundesratsmehrheit konfrontiert wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Faltlhauser?
Herr Kollege Urbaniak, zum Thema Handlungsfähigkeit: Meinen Sie nicht, daß diejenige Bundesregierung handlungsfähig ist, die bereits nach zwei Jahren eine neue Bundesärzteordnung vorlegt im Gegensatz zu derjenigen, die fünf Jahre lang in Kenntnis der großen Probleme überhaupt nichts vorzulegen in der Lage war?
Herr Kollege, was Sie gestern in der Anhörung vorgelegt haben, ist von allen Beteiligten so zerrissen worden, daß Sie gut beraten wären, diese Vorlage schleunigst zurückzuziehen. Das will ich Ihnen mal sagen.
Sie schafft nur Unsicherheiten, Dummheiten, und Sie können damit im Sinne einer gesundheitspolitischen Komponente überhaupt nichts Vernünftiges gestalten. Das war mein Eindruck gestern.
— Wenn Sie nicht aufmerksam zuhören, kriegen Sie das nicht mit. — Ziehen Sie Ihre Vorlage also zurück!Die Sprachlosigkeit der Bundesregierung bei der Planung medizinischer Großgeräte ist schon, wie ich meine, beeindruckend. Dabei ist es unbestritten, daß die immer aufwendiger werdenden medizinischen Großanlagen gerade wegen der knappen Mittel im Gesundheitswesen des planvollen Einsatzes bedürfen. Es ist ebenfalls unbestritten, daß diese Bedarfspläne nicht nur für den stationären, sondern auch für den ambulanten Bereich dringend erforderlich sind.Es ist schließlich unbestritten, daß das bisherige Bedarfsplanungsinstrumentarium der Kassenärztlichen Vereinigungen völlig unzureichend ist, um hier die notwendigen Verbesserungen zu erreichen. Das werden Sie sicherlich zugestehen. Es dient sowohl den Interessen der Patienten und ihrer Krankenversicherung als auch den Interessen der Ärzte selbst, wenn in Zukunft medizinisch-technische Großgeräte, die ja immerhin eine Investition von mehreren Millionen D-Mark erforderlich machen, nur nach einem abgestimmten Bedarfsplan eingesetzt werden. Es dient den Interessen der Ärzte, weil durch die Bedarfsplanung verhindert wird, daß unnötige und teure Parallelinvestitionen vorgenommen werden, die dann zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen.Darum sage ich hier: Es dient den Interessen der Patienten und der Krankenkassen, weil verhindert wird, daß durch nicht bedarfsgerechte Doppelinvestitionen der niedergelassene Kassenarzt einem Amortisationsdruck unterworfen wird, der ihn letztlich dazu veranlaßt, den Krankenkassen Leistungen in Rechnung zu stellen, die zu erbringen eigentlich gar nicht erforderlich gewesen wäre.Unser Gesetzentwurf sieht vor, daß Kassenärzte und Krankenkassen in Zukunft gemeinsam eine Großgeräteplanung für den ambulanten ärztlichen Sektor durchführen, in der genau festgelegt wird, an welchen Stellen der Einsatz dieser Großgeräte wirtschaftlich sinnvoll und den Versorgungsnotwendigkeiten der Patienten entsprechend erfolgen kann. Nach unseren Vorstellungen soll der Arzt, der sich an diesen Bedarfsplan nicht hält, d. h. der außerhalb dieses Planes ein Großgerät anschafft, inZukunft die damit erbrachten Leistungen nicht mehr über die Krankenkassen abrechnen können.Unserem Vorschlag ist entgegengehalten worden — wir wissen das —, dies sei eine Reglementierung eines freien Berufes und damit unzulässig. Ich verweise darauf, meine Damen und Herren, daß unsere Regelung nur für den Bereich der kassenärztlichen Versorgung gilt und der Kassenarzt eine Reihe von besonderen Verpflichtungen zu erfüllen hat, die ebenfalls reglementierend in seine ärztliche Tätigkeit eingreifen.Ich nenne nur eine Reihe von Pflichten, die er zu erfüllen hat, damit klar wird, daß unser Vorschlag zur Großgeräteplanung keine neue Qualifikation hinsichtlich der Einschränkung der freien Berufsausübung darstellt. Ich nenne die Pflicht zur Teilnahme am Notfalldienst, die Präsenzpflicht, die Residenzpflicht, die Pflicht zur persönlichen Ausübung der kassenärztlichen Tätigkeit, die Pflicht zur ordnungsgemäßen Abrechnung, die Pflicht zur Teilnahme an der Qualitätssicherung bestimmter Leistungen, die Pflicht zur wirtschaftlichen Erbringung der ärztlichen Leistungen, und man könnte noch einiges anhängen. Dies alles zeigt Ihnen, daß der Reglementierungsvorwurf nicht zutrifft.Auch der Bundesrat geht in seinem Entwurf davon aus, daß der Einsatz der medizinisch-technischen Großgeräte in Zukunft nicht mehr ungesteuert erfolgen soll. Dieser Vorschlag des Bundesrates geht ja auf eine Initiative des Landes Hessen zurück, die allerdings im Laufe der Beratungen vor allem durch die baden-württembergischen Initiativen so verändert worden ist, daß mit dem ursprünglichen hessischen Vorschlag kaum mehr Gemeinsamkeiten vorhanden sind.Der entscheidende Unterschied zwischen dem Entwurf meiner Fraktion und dem des Bundesrates liegt in der Rolle und der Mitwirkung der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung. Für uns Sozialdemokraten ist eigentlich unbestritten: Die
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UrbaniakKrankenkassen zahlen die mit den Großgeräten erbrachten Leistungen. Daher müssen sie mitwirken, wenn der Plan, der den Einsatz dieser Großgeräte bestimmen soll, aufgestellt wird. Unser Gesundheitswesen ist im Bereich der kassenärztlichen Versorgung auf Vertragspartnerschaft zwischen Krankenkassen und Kassenärzten angelegt. Dies aber kann nicht heißen, daß die eine Seite uneingeschränkt bestimmt, was gemacht wird, während die andere Seite zu zahlen und ansonsten zu schweigen hat. Eine Bedarfsplanung, die die Kassenärzte alleine aufstellen, den Krankenkassen also die notwendige Mitwirkung verweigert, wird unsere Zustimmung nicht finden können.Wie sollte eigentlich eine solche Bedarfsplanung aussehen? Sie wird sicherlich unpopuläre Maßnahmen erforderlich machen, denn es ist nicht sonderlich erfreulich, einem niedergelassenen Kassenarzt die Anschaffung eines Großgerätes zu verweigern, weil es dem Bedarf nach nicht notwendig ist. Wie sollten die kassenärztlichen Vereinigungen und ihre Repräsentanten solche Bedarfspläne eigentlich gegenüber den Kassenärzten durchsetzen, von denen sie doch in ihre Funktionen gewählt sind und auch wiedergewählt werden wollen? Nein, meine Damen und Herren, die Mitwirkung der Krankenversicherungsträger ist für uns zwingend.Genau dies ist der Punkt, an dem wir uns entschlossen haben, der Bundesratsinitiative eine eigene Gesetzesinitiative gegenüberzustellen, die unseren Vorstellungen Rechnung trägt. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat sich dabei entschlossen, die ursprüngliche hessische Bundesratsinitiative als ihre eigene zu übernehmen.Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, während der nun vor uns liegenden Ausschußberatungen eingehend zu prüfen, wie das berechtigte Mitwirkungsinteresse der Krankenkassen sichergestellt werden kann. Unser Vorschlag bietet dafür eine gute Grundlage; aber auch der Vorschlag des Bundesrates kann so verändert werden, daß die Krankenversicherungsträger damit arbeiten können.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Die Selbstverwaltung in der Krankenversicherung ist ein schwieriges Unterfangen. Sie lediglich in Sonntagsreden zu loben, wenn dies die Damen und Herren von der Koalition bevorzugen, reicht nicht aus. Sie muß vielmehr Instrumente erhalten, mit denen sie wirkungsvoll arbeiten kann. Ich meine, wir sollten der Krankenversicherung dieses zusätzliche Instrument nicht verweigern.Ich bitte um Zustimmung zu der Überweisung an die zuständigen Ausschüsse.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Beide Gesetzentwürfe zum Problem der medizinisch-technischen Großgeräte haben dieselbe Zielsetzung: Sie wollen mit unterschiedlichen Mitteln den Einsatz medizinisch-technischer Großgeräte in der ambulanten Praxis des niedergelassenen Kassenarztes stärker als bisher am Bedarf orientieren. Gegebenenfalls soll auch unter bestimmten Voraussetzungen die Abrechnung solcher Leistungen zu Lasten der Krankenkassen versagt werden können.Zu den Einzelheiten der beiden Entwürfe, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich mich hier nicht äußern.
Auch möchte ich mich einer Bewertung der beiden Entwürfe enthalten. Ich will aber nicht verhehlen, daß ich dem Lösungsvorschlag des Bundesrates positiver gegenüberstehe.
— „Positiver", Frau Fuchs, habe ich gesagt. — Ich halte auch den Ausgangspunkt der Überlegungen für richtig. Die Anwendung medizinisch-technischer Großgeräte in der Praxis der niedergelassenen Kassenärzte hat ihre eigene Dynamik entwikkelt.
Wie es aussieht, liegt hier ein weiterer Entwicklungsprozeß noch vor uns.Die Geräte dienen vor allem der Verfeinerung der Diagnostik. Großgeräte im Therapiebereich haben in der Praxis der niedergelassenen Ärzte nur eine geringe Bedeutung.Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates zum Ausdruck gebracht, daß sie die derzeitigen Regelungen für die Sicherung eines wirtschaftlichen Einsatzes der Großgeräte nicht für ausreichend hält. Dem wurde entgegengehalten, daß der Umfang der Ausgaben, die durch den Einsatz solcher Geräte entstehen, in der ambulanten kassenärztlichen Versorgung bisher nur verschwindend gering sei. Dies ist jedoch eine unzutreffende Betrachtungsweise.Das Problem liegt vielmehr in der Gefahr einer ungebremsten Entwicklung des Einsatzes solcher Großgeräte und damit in der Gefährdung der Ausgabenstabilität der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Zuwachsraten der Ausgaben für solche Leistungen, wie sie von Jahr zu Jahr mit zweistelligen Zahlen auftreten, geben Veranlassung zu einer solchen Betrachtungsweise und zu Befürchtungen.Die Inanspruchnahmequoten steigen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich ohne gegenwirkende Maßnahmen eine Routinepraxis für den Einsatz moderner Geräte herausbildet. Dann können die notwendigen Feststellungen, ob sie in jedem Fall für die gebotene Diagnostik erforderlich sind, außer Acht geraten. Auch im ärztlichen Beruf entwickelt moderne Technik ihre eigene Attraktivität. Wenn sie zur Routine wird, ist die Gefahr der Unwirtschaftlichkeit nicht auszuschließen.Ich will es ausdrücklich betonen: Die Fortschritte der Medizin, wie sie sich auch in der Entwicklung medizinisch-technischer Großgeräte darstellen, sol-
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Dr. Becker
len auch den Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen ungeschmälert zugute kommen. Dem steht aber die Forderung entgegen, daß sich medizinischer Fortschritt den wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten der gesetzlichen Krankenversicherung anzupassen hat. Es wäre eine Fehlentwicklung, wenn ein immer größerer Anteil der Ausgaben für die ärztliche Versorgung für solche Maßnahmen aufgebracht werden müßte, die unter Einsatz von Geräten erbracht werden, deren Funktion in der Verfeinerung der Diagnostik besteht. Eine solche Entwicklung kann nur dann sinnvoll sein, wenn sie nicht auf Kosten der unmittelbaren Versorgung und Betreuung geht und wenn gleichzeitig andere Leistungen erspart werden, sei es im ambulanten, sei es im stationären Bereich.Es ist sicherlich auch richtig, daß dem Kassenarzt in einer freiberuflichen Stellung ermöglicht werden muß, über die Notwendigkeit einer Investition in seiner Praxis selbst zu entscheiden. Um die Fortschritte der Medizintechnik auch in der technologisch aufwendigen Form für die ambulante Praxis nutzbar zu machen, ohne daß die Zielsetzung wirtschaftlicher Versorgungsweise gefährdet wird, halte auch ich Regelungen für notwendig.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zu dem Bundesratsentwurf zum Ausdruck gebracht, daß sie es für möglich hält, im Rahmen der Selbstverwaltung der Kassenärzteschaft und der Krankenkassen zu Lösungen zu kommen. Meiner grundsätzlichen Einstellung nach gebe ich Selbstverwaltungslösungen den Vorzug. Warum? Selbstverwaltung hat in der Regel die größere Sachnähe, sie hat den besseren praktischen Verstand. Ich habe auch Vertrauen darauf, daß Lösungen entwickelt werden können. Allerdings mache ich den Vorbehalt, daß sie effektiv sein müssen.
Und ein zweites. Wir haben erst vor zwei Jahren dieses Gesetz für neue Regelungen verabschiedet. Die entsprechenden Ausführungsbestimmungen sind noch gar nicht in der Lage, wirksam zu werden, weil sie viel zu differenziert und umfangreich sind. Ich halte nichts davon, alle zwei Jahre ein neues Gesetz zu machen. Das ist nur ein Aktivismus, der nichts bringt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es müssen Regelungen geschaffen werden, die verhindern, daß aus der Anwendung solcher Großgeräte, wie sie derzeit existieren und auch in Zukunft noch zu erwarten sind, eine Routinepraxis entsteht, ohne daß dafür eine spezifische medizinische Indikation gegeben ist. Wenn das Ausmaß solcher Leistungen stärker als bisher am wirklichen medizinischen Bedarf ausgerichtet ist, muß
auch der Arzt, der sich ein solches Gerät anschafft, bewußter das Risiko seiner Investition im Hinblick auf die Kostendeckung einschätzen; denn das Risiko bleibt immer bei ihm. Ich hoffe und erwarte, daß hier ein erfolgreicher Weg für eine Selbstverwaltungslösung gefunden wird.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manche Gesetzentwürfe gehen einen merkwürdigen Weg. Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung zu beraten haben, geht auf einen Antrag zurück, den das Land Hessen im Bundesrat eingebracht hat. Das Land Hessen ist, wie wir wissen, seit langem sozialdemokratisch regiert und dafür bekannt, daß es immer gern besonders viel planwirtschaftliche Instrumente einsetzt. Diese Gesetzesinitiative ist dann im Bundesrat geändert worden, und die staatliche Planung wurde durch eine Planung der Selbstverwaltung ersetzt. Dieses geht auf eine Initiative des Landes Baden-Württemberg zurück und hat leider die Mehrheit im Bundesrat gefunden; denn Investitionslenkung wird nicht dadurch besser, daß sie durch die Selbstverwaltung anstelle irgenwelcher staatlicher Behörden vorgenommen wird.
Das wiederum ist der Grundtenor des Gesetzesantrags, wie er uns jetzt auf dem Tisch liegt. Es wird gefordert, daß die freie Entscheidung eines Freiberuflers — und der Kassenarzt ist eben Freiberufler — durch die Planung der Selbstverwaltung ersetzt wird. Das ist ein weiterer Schritt auf dem Wege zu einem System, das von der Freiberuflichkeit zur Staatlichkeit hinüberwechselt. Diesen Weg wollen wir nicht mitgehen.Darüber hinaus wird in dem Antrag etwas deutlich, was ich nur als Planungsfetischismus bezeichnen kann. Wenn dieser Weg weitergegangen werden soll, muß man sich fragen, ob wir nicht in einigen Jahren auch noch festlegen, welche Praxis eine Waage für Patienten haben darf und wieviel die kosten darf und welche Praxis vielleicht dieses oder jenes Instrument, das nicht täglich zur Untersuchung gebraucht wird, überhaupt noch anschaffen darf. Damit hätten wir dann eine totale Verplanung.Wir halten diesen Gesetzesantrag für überflüssig. Die heute schon bestehenden Regelungen reichen aus.Erstens muß heute bei der Anschaffung eines Großgerätes bereits eine Abstimmung über die Kassenärztliche Vereinigung mit der Landeskrankenhausgesellschaft vorgenommen werden. Diese Abstimmung bezieht sich sowohl auf die Anschaffung als auch auf die Mitbenutzung von Großgeräten sowohl in der kassenärztlichen Praxis als auch im Krankenhaus.Zweitens gibt es auch heute schon eine Anmeldepflicht für die Anschaffung von Großgeräten. Das
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Frau Dr. Adam-Schwaetzerhaben wir selber mit dem KrankenversicherungsKostendämpfungs-Ergänzungsgesetz vor einiger Zeit beschlossen.Drittens hat auch der Bundesausschuß Ärzte/Krankenkassen beschlossen, eine Erfassung der Standorte von Großgeräten vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, hinzu kommt, daß der Gesetzentwurf einfach nur auf Befürchtungen zurückgeht, aber auf keine konkret erfaßbaren Tatsachen; denn richtig ist, daß die Ausgaben für die Benutzung von Großgeräten in der kassenärztlichen Versorgung nicht erkennbar gestiegen sind, wie im übrigen auch alle Krankenkassen bestätigen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Egert?
Ja, bitte!
Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, das seien alles Befürchtungen. Würden Sie mir bestätigen, daß die Auslastung für einen Computertomographen bei 250 000 potentiellen Patienten liegt? Allein in Frankfurt sind acht dieser Computertomographen aufgestellt. Würden Sie auch dann noch meinen, daß das nur eine Befürchtung sei, oder ist dies nicht schon ein Stück Wirklichkeit?
Es ist in der Tat eine Befürchtung, Herr Kollege Egert, weil die Abrechnung der Krankenkassen — das zeigt sich ganz eindeutig — nicht in die Höhe gegangen sind. Darüber hinaus — damit greifen Sie dem letzten Teil meiner Rede vor, Herr Kollege — haben wir schließlich die Instrumente, die auch eingesetzt werden sollen, um die Wirtschaftlichkeit in der kassenärztlichen Versorgung sicherzustellen.
Das sind Instrumente der Selbstverwaltung. Es muß sichergestellt werden, daß die Wirtschaftlichkeitsprüfung funktioniert. Auch bei der Gebührenfestsetzung für die Nutzung solcher Geräte gibt es eben die Instrumente der Selbstverwaltung, die hier greifen müssen.
Meine Damen und Herren, wir wollen verhindern, daß sich das Gesundheitswesen weiter auf den Weg in den Dirigismus begibt. Deshalb kann ich eigentlich nur an Sie alle appellieren, jetzt einmal abzuwarten, wie sich das geltende Recht, das wir geschaffen haben, auswirkt. Es nützt doch wirklich nichts, in einen Aktionismus zu verfallen, nur weil große Befürchtungen an die Wand gemalt werden. Wir sollten das geltende Recht ausschöpfen; das ist gar keine Frage. Aber wir werden sehr bald feststellen, daß dieses geltende Recht auch genügt.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Gesetzentwürfe, die in den Tagesordnungspunkten 11 und 12 genannt sind, an die Ausschüsse vor; die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung. Gibt es anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 und 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfes eines Gesetzes zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung
— Drucksache 10/2095 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend
und gemäß § 96 GO
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Krankenhausfinanzierung
— Drucksache 10/2096 —
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die Tagesordnungspunkte eine gemeinsame Beratung mit einer Runde vereinbart worden. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich frage, ob das Wort zur Begründung gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Krankenhaus soll gut sein, und das Krankenhaus soll sparsam sein. Es soll gut zu den Patienten und sparsam für die Beitragszahler sein.
— Auf alle Fälle wollen wir kein trauriges Krankenhaus. Das ist schon richtig, Herr Kollege.Patienten und Beitragszahler sind keine feindlichen Gruppen. Es sind dieselben Leute, die manchmal Patienten und immer Beitragszahler sind, ja, sie sind Beitragszahler, weil sie auch Patienten werden können. Wir machen keine Politik, die die Interessen des einen gegen die des anderen ausspielt. Wir wollen das menschliche Krankenhaus zu erträglichen Preisen. Wir wollen eine Politik der sozialen Balance. Ich widerspreche dem neuzeitlichen Irrglauben, alles, was teuer sei, sei deshalb auch gut. Vielleicht erstickt zuviel Geld ebenso die Phantasie und die Hilfsbereitschaft, wie zuwenig Geld beides lähmen kann. Auch hier versuchen wir eine Politik der Balance. Es besteht kein Zweifel: Die Waage hat Schlagseite, das Krankenhaus kostet zuviel.Fast ein Drittel der Ausgaben der Krankenkassen gehen ins Krankenhaus. 1973 zahlten die Kran-
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Bundesminister Dr. Blümkenkassen 11, 7 Milliarden DM für das Krankenhaus, zehn Jahre später 30,9 Milliarden DM. Das ist eine Steigerung auf fast 300 %. Wenn das so weitergeht, kann sich jeder ausrechnen, wann die Krankenhauskosten entweder unser Gesundheitssystem oder die Beitragszahler erdrückt haben. Das ist weder im Sinne der Patienten noch der Beitragszahler. Deshalb: Es kann so nicht weitergehen. Das ist der erste feststehende Punkt.Ich stehe hier auch als ein Anwalt der Beitragszahler. Wenn nichts geschieht, rollt im nächsten Jahr eine Welle der Beitragserhöhungen über uns. Niemand soll dann sagen, er habe es nicht gewußt, daß jetzt etwas geschehen muß.Wenn wir die Steigerung der Lohnnebenkosten nicht stoppen, ruinieren wir den Arbeitsmarkt und die Sozialversicherung. Wenn die Beiträge steigen, verlieren die Arbeitnehmer auch jeden Spaß an der Steuerentlastung. Denn wenn mit der einen Hand Steuerentlastung gegeben wird — Gott sei Dank machen wir das — und diese mit der anderen Hand durch erhöhte Beiträge wieder weggenommen werden, ganz besonders bei den Arbeitnehmern unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze, bei denen die Belastungen entstehen, und bei den Arbeitgebern, die lohnintensiv arbeiten, dann wäre das in der Tat eine Politik, die niemand in diesem Hause akzeptieren könnte.
— Herr Kollege, ich würde an Ihrer Stelle bei dem Thema ganz still sein. Denn in den 13 Jahren haben Sie ja beim Thema Krankenhaus jedenfalls das nicht zustande gebracht, was jetzt notwendig ist.
— Ich hatte heute gar nicht vor, zum Thema Krankenhaus eine parteipolitisch gefärbte Rede zu halten.
Da sowohl Sozialdemokraten wie Christ- und Freidemokraten ins Krankenhaus kommen können, ist es unser gemeinsames Krankenhaus. Wir machen doch kein SPD-Krankenhaus und kein CDU- und kein FDP-Krankenhaus.
Ich will eindeutig klarstellen: Das Krankenhaus — und das, so glaube ich, ist wichtig — ist nicht der einzige Kostentreiber des Gesundheitssystems.
Aber wer will die Ärzte, die Pharmaindustrie und die Versicherten zur Sparsamkeit ermahnen, wenn wir im ureigensten Bereich gegenüber dem Hauptkostenverursacher, dem Krankenhaus, versagen?Ich will auch klarstellen: Es kann keine weiteren notwendigen Strukturreformen im Gesundheitssystem geben — auch Umstellungen für den Versicherten —, wenn der Gesetzgeber die Mutprobe Krankenhaus nicht besteht.
— Ach, seien Sie doch mit Ihren Vorschußlorbeeren negativer Natur ein bißchen sparsamer! Sie haben doch schon in der Vergangenheit so häufig danebengegriffen. Setzen Sie doch diese Reihe der Fehlleistungen nicht fort mit Prognosen, Verehrte.Die dritte Klarstellung ist notwendig: Die Kritik am Zustand des Krankenhauses ist keine Kritik an der Leistung und dem Dienst der im Krankenhaus beschäftigten Mitbürger.
Ich bin dafür, daß hier nicht Mißverständnisse entstehen. Das System selber ist schuld, nicht die im Krankenhaus Beschäftigten. Von der Putzfrau bis zum Chefarzt: Der Dienst am Krankenbett ist ein Dienst, der nicht ohne Opferbereitschaft, Uneigennützigkeit und Nächstenliebe möglich ist.Ich möchte deshalb die Gelegenheit dieser Debatte auch nutzen, allen Mitarbeitern im Krankenhaus unseren Respekt und unseren Dank auszudrücken.
— Jetzt hätten sogar alle klatschen können.
Das System des Krankenhauses leidet an mehreren Konstruktionsfehlern. Der erste ist: Die Krankenkassen, welche die Hauptlast der Krankenhausfinanzierung tragen, haben aus meiner Sicht zuwenig zu sagen.
— Ich bedanke mich für die Zustimmung.Das stärkste Interesse an der Kostendämpfung hat der, welcher die größten Kosten trägt. In der gleichen Zeit, in der die Ausgaben der Krankenkassen für das Krankenhaus auf das Dreifache stiegen, erhöhten sich die Investitionskosten der öffentlichen Hand um ein Drittel. Wir halten am dualen System fest, also — auch das gegen Mißverständnisse — die Länder tragen die politische Letztverantwortung für Krankenhausbedarf und -planung.Aus dieser — wie ich hoffe, unbestrittenen — Feststellung darf jedoch nicht eine Arbeitsteilung geschlußfolgert werden, nach der die einen die Ursachen bestimmen und die anderen die Folgen zahlen. Ein Klinikum Aachen wäre nicht gebaut worden, behaupte ich, wenn die gefragt worden wären, welche die Folgekosten zu tragen haben.
Über die Formen der Mitwirkung der Kassen muß gesprochen werden. Ihre Rechte und Pflichten zur Mitwirkung allerdings sind unstrittig. Deswegen meine ich: Entweder gibt es mehr Mitwirkung der Krankenkassen bei der Planung der Investitionen, oder die Krankenkassen schließen mit den Krankenhäusern, die sie finanzieren sollen, vorher
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Bundesminister Dr. Blümeinen Vertrag. So ungewöhnlich ist das nicht. Die Vertragslösung war bis 1977 allgemein möglich. Die Vertragslösung ist in jedem Fall marktwirtschaftlicher als eine staatliche Planungshoheit.Wer für Entstaatlichung der Daseinsvorsorge ist, der kann bei der Krankenhausreform seinen Mut beweisen. Im übrigen: Auch für das Vertragssystem gibt es viele Modifikationen, bei denen gleichgewichtige und gleichberechtigte Interessen unterzubringen sind.Ich will nicht nur den Beschäftigten im Krankenhaus Dank sagen. Ich will auch nach wochenlanger Diskussion zu diesem Thema die Krankenkassen gegen Angriffe in Schutz nehmen, die den Eindruck erwecken, als seien die Krankenkassen die geborenen Gegner der Krankenhäuser.
Der zweite Konstruktionsfehler ist folgender: In dem jetzigen Pflegesatzrecht steckt kein Anreiz zur Sparsamkeit. Im tagesgleichen vollpauschalierten Pflegesatz steckt einfach kein wirtschaftlicher Treibsatz. Er wirkt wie eine Bequemlichkeitsprämie. Wer keinen Gewinn machen darf, wer nicht zurücklegen kann, hat auch keinen Ansporn zum Sparen. Wer spart schon gern, wenn er selbst nichts davon hat? Wer spart schon gern für andere? Dieser Fremdsparer müßte erst noch erfunden werden. Das ist die eine Seite der Medaille: Man beraubt die Krankenhäuser des Spaßes, für sich selber durch Sparsamkeit zu sorgen.Die andere Seite der Medaille ist: Der erzwungene Verzicht auf Gewinn und Verlust wird durch ein bequemes Selbstkostendeckungsprinzip, sofern es Erstattungsprinzip ist, schmackhaft gemacht. Dieses Selbstkostendeckungsprinzip als Erstattungsprinzip ist der Lehnstuhl des Krankenhauses, in dem seine Sparsamkeit schlummert.Laßt endlich etwas marktwirtschaftlichen Wind in die Krankenhäuser!
— Es muß nicht gleich ein Sturm sein; ein Wind genügt mir.
Der tagesgleiche vollpauschalierte Pflegesatz ist die ins Krankenhaus eingebaute Versuchung, den Patienten länger im Krankenhausbett liegenzulassen, als es notwendig ist; denn mit der Länge der Verweildauer kostet der Patient weniger, da er in der Regel auch gesünder wird.
— Aber wir haben das Krankenhaus ja nicht als Melkmaschine der Beitragszahler, sondern als eine wertgeschätzte Institution für die Patienten. Das steht im Vordergrund.Leistungsentgelte sind besser als Einheitspreise. Es gibt immer noch viele Diskussionen, aber in diesem Punkt, daß mehr Marktwirtschaft bei den Pflegesätzen gelten sollte, daß mehr Leistungsentgelte eingeführt werden sollten, stimmen Bund und Länder überein. Das ist ein großer Fortschritt gegenüber dem bisherigen Stand der Diskussion. Das ist ein Schritt nach vorn bei aller Diskussion, die noch geführt werden muß.Eine Einigung über die Pflegesätze sollte im Streitfall nicht von einer landesbehördlichen Instanz vorgenommen werden. Wenn die alte Behörde einen neuen Namen hat und ein paar Beisitzer, so geht von einer solchen Kommission mit einem weisungsgebundenen Vorsitzenden als Schiedsrichter zu wenig Einigungszwang auf die Vertragsparteien aus. Man verläßt sich auf den Staat.Eine Preisfestsetzung von oben ist weder marktwirtschaftlich noch subsidiär noch selbstverwaltungsfreundlich. Marktwirtschaftlich, subsidiär und selbstverwaltungsfreundlich sind die drei großen Eigenschaften, denen sich die Regierungsparteien verantwortlich fühlen.Ich möchte an dieser Stelle auch das ausdrückliche Bekenntnis zu den freigemeinnützigen Krankenhäusern ablegen. Die kirchlichen Krankenhäuser sind älter als die amtliche Sozialpolitik. Als Karl Marx noch nicht geboren war, an Bismarck noch niemand dachte, da gab es schon kirchliche Krankenanstalten. Der eine, Karl Marx, steht für revolutionäre Sozialpolitik und ihre Scherben, die sie hinterlassen hat; der andere, Bismarck, für evolutionäre Sozialpolitik und ihre Erfolge, an denen viele, Gewerkschafter, Sozialdemokraten
— ja, stellen Sie Ihr Licht doch nicht unter den Scheffel;
die beste Tradition der Sozialdemokraten ist die evolutionäre Sozialpolitik; für die steht doch nicht Karl Marx; beschämen Sie sich doch nicht selber —, Arbeitgeber, Christdemokraten und Liberale wie Friedrich Naumann, mitgewirkt haben.Älter als die ganze neuzeitliche Sozialpolitik — bei allen großen Verdiensten — ist der kirchliche Samariterdienst.
— Wenn Sie es nicht mehr ertragen können: Sie sind ein freier Mann wie ich; Sie brauchen mir nicht zuzuhören.
Sie sind ein freier Abgeordneter. Trotzdem bleibe ich dabei und stelle fest, was für Sie nicht zu ertragen ist: Älter als die ganze neuzeitliche Sozialpolitik ist der kirchliche Samariterdienst.
Bei diesem Satz erklärt ein Sozialdemokrat, es sei nicht mehr zu ertragen.
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Bundesminister Dr. BlümDas wollen wir doch festhalten. Es ist im Protokoll nachzulesen, an welcher Stelle dieser Satz kam.Dieser Samariterdienst ist nicht veraltet. So wie der Staat auf der einen Seite der Selbstverwaltung der Krankenkassen neue Chancen geben muß, so soll und muß auf der anderen Seite Trägervielfalt erhalten bleiben. Gegliedertes Sozialsystem, Selbstverwaltung, Pluralität — das ist der Garten, das ist das Feld, auf dem wir leben wollen, nicht aber in einer uniformen Zementwüste des Kollektivismus. Das ist ein wichtiger Unterschied.Ich verstehe manche Sorgen der freigemeinnützigen Krankenhäuser, aber nicht alle Ängste. Die Wirtschaftlichkeit dieser freigemeinnützigen Krankenhäuser ist in der Regel besser, ihre Pflegesätze sind niedriger. Diese Krankenhäuser sind mindestens ebenso gut wie andere. Sie brauchen gar keinen Vergleich zu scheuen. Ich bin zwar für christliche Demut, aber nicht für anerzogene Ängstlichkeit, die sich in einem Unterlegenheitsgefühl ausdrückt, für das es überhaupt keinen Grund gibt.Die berechtigte Sorge der freigemeinnützigen Krankenhäuser ist, daß ihre Investitionen zu kurz kommen. Hinter den kirchlichen und anderen freigemeinnützigen Krankenhäusern stehen eben nicht finanzkräftige Kommunen und andere öffentliche Träger.
Hier muß der Staat für Chancengleichheit sorgen. In der Konsequenz des Abbaus der Mischfinanzierung liegt allerdings, daß die Adresse für diese Sorge jetzt die Länder sind. Denn der Bund hat seine Investitionsmittel an die Länder zurückgegeben.Ich sehe in der in unserem Entwurf vorgesehenen Möglichkeit der Krankenkassen, sich an Investitionen zu beteiligen, wenn sie der Rationalisierung, also auch der Kostensenkung, dienen, eine Chance, in manchen Fällen vielleicht sogar einen Rettungsring für freigemeinnützige Krankenhäuser, und ich werbe bei den Krankenkassen für die freigemeinnützigen Krankenhäuser. Die freigemeinnützigen Krankenhäuser sind die Blutsverwandten der Selbstverwaltung. Sie verdanken ihr Entstehen — wie die Krankenkassen — der solidarischen Selbsthilfe.Meine Damen und Herren, ich bin nach wie vor optimistisch, daß wir, wenngleich wir mit zwei Entwürfen in die parlamentarische Beratung dieses Hohen Hauses hineingehen, dieses Hohe Haus mit einem Entwurf verlassen, und zwar mit einem guten.
— Also, Frau Kollegin Fuchs, das Wesen der Demokratie ist die Alternative. Laßt uns doch aus alternativen Vorschlägen die große Synthese formen! Sie als alte Dialektikerin müssen doch aus zwei Thesen die große Synthese fordern können. —Nun, fünfmal ist der Bund auf Einigungsvorschläge der Länder eingegangen, fünfmal wurden diese wieder zurückgenommen. Wir sind auch zum sechsten Versuch bereit. Orientierungspunkte dabei bleiben: Stärkung der Selbstverwaltung, Kostendämpfung und Entmischung.Unsere Debatte ist keine Kompetenzdebatte zwischen Bund und Ländern. Es geht hier nicht um Kompetenzgerangel. Der Bund fordert für sich keine Planungskompetenzen. Es geht um die Stärkung der Selbstverwaltung, Kostendämpfung, aus meiner Sicht die Schicksalsfrage der Sozialpolitik in den nächsten Jahren, Finanzierbarkeit und Überlebensfähigkeit der Sozialpolitik. Es geht um das menschliche Krankenhaus, auch um das bezahlbare. Die Sozialpolitik, die nicht mehr finanziert werden kann, ist wie die Kuh, die keine Milch mehr gibt, weil sie geschlachtet worden ist. Es liegt am Gesetzgeber, Mut in der Reform der Krankenhausfinanzierung zu beweisen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch eine Mitteilung zur weiteren Abwicklung der heutigen Tagesordnung machen. Es ist im Ältestenrat vereinbart worden, daß Punkt 15 und Punkt 17 der Tagesordnung ohne Debatte behandelt werden und Punkt 19 der Tagesordnung vertagt wird. Ich sage dies, damit sich diejenigen, die mit diesen Tagesordnungspunkten befaßt sind, entsprechend vorbereiten können.
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Egert.
Das kann nur mehr werden.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben den Bundesarbeitsminister gehört und einmal mehr bewundern müssen, wie er es schafft, so viele inhaltsleere Wortgebilde aneinanderzusetzen.
Dies ist eine Kunst, um deren Beherrschung man ihn wirklich beneiden muß. Nur, die Vorlagen aus seinem Haus, über die wir hier sprechen müssen, sind zu ernst, als daß in dieser einfachen und schlichten Art und Weise über sie hinweggeredet werden dürfte. Wir müssen uns schon ein bißchen tiefer mit der Sache beschäftigen.Ich hatte zeitweilig den Eindruck, daß er die parlamentarischen Gremien verwechselt hat. Ein Teil seiner Rede erschien mir so, als sei es ein Nachtrag zu seiner Vorstellung im Bundesrat;
[SPD]: Richtig!)
denn er hat hier Appelle an uns gerichtet, die eigentlich an die CDU-Mehrheit im Bundesrat zu richten wären.
Gut, er soll jede Gelegenheit haben, dies zu tun, wenn ein sinnvolles Ergebnis am Ende steht. Es reicht aber nicht aus, Herr Minister, zu sagen, es werde ein Gesetzentwurf herauskommen. Ein bißchen mehr müssen wir schon darüber reden, was6736 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984Egertam Ende an Inhalt in diesem Gesetzentwurf stehen wird.
Und da haben Sie alle unsere guten Wünsche — weil wir eigene leidvolle Erfahrungen haben, auf die Sie hingewiesen haben. Es ist doch nicht so, daß das Unternehmen Krankenhausfinanzierungsgesetz den Bundestag zum erstenmal beschäftigt. Wir nehmen jetzt den vierten Anlauf. Und bei diesem vierten Anlauf haben wir die Merkwürdigkeit, uns gleich mit zwei Gesetzentwürfen beschäftigen zu müssen. Da überbieten Sie uns allerdings. Bisher war es immer nur ein Gesetzentwurf, und dann war der Vermittlungsausschuß das Kämmerlein, wo dann auch wir Federn lassen mußten.Nun ist es unter den kundigen Thebanern überhaupt keine Frage, daß wir eine Novellierung der Krankenhausfinanzierung brauchen. Ich glaube aber, es ist nicht so sehr das Problem dieses Bundestages,
sich über die Elemente einer Novellierung der Krankenhausfinanzierung zu verständigen. Ich glaube, da sind die Parteien hier weniger auseinander als Bund und Länder mit ihrem Interessengeflecht; denn die Klippe lag in der Vergangenheit — und ich befürchte: auch in der Zukunft wieder — zwischen Bund und Ländern. Da, Herr Bundesarbeitsminister, haben Sie unsere guten Wünsche. Ich hatte es schon gesagt. Aber ich würde mich hier nicht in vollmundigen Ankündigungen ergehen und sagen: Mutprobe zur Entstaatlichung. Wen meinen Sie denn, wenn Sie „Entstaatlichung" sagen? Meinen sie da nicht die Länder in Gänze? Wenn ich mir die Stellungnahmen zu diesen Gesetzentwürfen angucke, wird deutlich, was die hohe Kunst der Diplomatie ist: hinter vielen Worten die subtile Uneinigkeit zu verstecken, Herr Minister. In Ihrem Gesetzentwurf steht manches Bedenkenswerte, Unterstützenswerte, und wenn ich die Stellungnahme des Bundesrates lese, dann bleibt als Hauptpunkt in der Sache übrig: Es geht ums Geld.
Es geht ums Geld, und über Kompetenzen und inhaltliche Veränderungen wird später bzw. überhaupt nicht mehr geredet werden. Sie sagen umgekehrt: Wir wollen in der Sache etwas anderes. Und Sie sagen: Den Preis bezahlen wir vorweg — Frage der Entmischung. Da, meine ich, liegt der erste gedankliche und politische Fehler bei Ihrem Unternehmen, die Krankenhausfinanzierungsreform diesmal mit besserem Ergebnis zustande zu bringen; denn den Streit, den wir zwischen Bund und Ländern haben, haben Sie möglich gemacht, indem Sie in Ihrer Regierungserklärung formuliert haben: Die Mischfinanzierung soll bei der Krankenhausfinanzierung angegangen werden. Was heißt denn dies? Es wird doch nicht eine einzige müde Mark mehr in den unterfinanzierten Krankenhausbereich kommen, sondern es wird Finanzierungsverantwortung vom Bund auf die Länder abgeschoben.
Dann kommt ein Zweites, Herr Kollege Faltlhauser, hinzu. Die 972 Millionen DM, die dann über irgendwelche Finanzierungswege in die Länderhaushalte kommen, kommen doch nicht in den Fachhaushalten der Gesundheitsminister an.
Die kommen in den allgemeinen Finanzhaushalt. Nun bin ich kein Prophet. Ich kenne sozialdemokratische Finanzminister und deren Begehrlichkeit. Ich kenne die Begehrlichkeit christdemokratischer Finanzminister. Ich habe meine großen Zweifel, daß der unterfinanzierte Krankenhausbereich besser ausgestattet wird, auch vor dem Hintergrund der Finanzierungssituation der Länder. Denken wir einmal ans Saarland, denken wir an Hamburg oder Bremen. Wir können nehmen, was wir wollen.
— Kommen Sie nicht mit einem lächerlichen Einzelfall,
bei einer Finanzierungsgröße von 972 Millionen DM, die hier verschoben werden sollen, was im Ergebnis dazu führen wird, daß wir eine Regionalisierung und Provinzialisierung im Krankenhausbereich kriegen, die auf dem Rücken der Patienten ausgetragen werden.
Das ist doch der Unfug, den Sie hier anstellen. Wissen Sie, wenn Sie nichts davon verstehen, sollten Sie sich dümmlicher Zwischenrufe enthalten.
Zum Punkt der Entmischung eine zweite Bemerkung. Wenn die Landeshaushalte zur Finanzierung nicht zur Verfügung stehen, dann ist, Herr Minister, Ihr Versprechen, daß wir das duale System im Grunde nicht in Frage stellen, doch kaum zu halten. Wer soll denn dann in die Finanzierungslücke eintreten? Es gehört nicht viel Originalität dazu, um sich vorzustellen, daß über die Krankenkassen in die Taschen der Beitragszahler gegriffen werden soll.
Dies ist der Punkt, wo wir in dieser rein finanztechnischen Operation ein zweites Negativum sehen. Ihnen werfen wir vor, Herr Arbeitsminister, daß Sie diesen Verschiebebahnhof ohne Not ermöglicht haben und jetzt glauben, daß Sie als Geschenk, als Morgengabe von den Ländern eine inhaltliche Reform bekommen, wo wir sagen: Da sind Punkte drin, die wir unterstützen. Wenn es z. B. darum geht, die Selbstverwaltung zu stärken, den Krankenkassen mehr Mitsprache bei der Pflegesatzgestaltung zu geben, also bei der Vereinbarung, was bezahlt werden soll, dann haben Sie unsere Unterstützung.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6737
EgertNur fürchte ich, Sie kriegen einen Gesetzentwurf, mit dem Finanzierungsmanöver stattfinden, mit dem sich aber inhaltlich nichts verändert. Wenn es darum geht, bei der Bedarfsplanung mehr Mitsprache für die Krankenkassen als denjenigen, die die Musik bezahlen sollen, zu eröffnen, dann haben Sie auch unsere Unterstützung, Herr Minister. Also, darum geht der Streit nicht. Der Streit geht darum, ob wir zu diesem Punkt, der inhaltlichen Diskussion, überhaupt kommen. Wir haben allerdings erhebliche Zweifel, daß Sie dies erreichen werden.Ich habe das Protokoll der Bundesratsdiskussion wirklich sehr sorgfältig gelesen. Nach meinem Eindruck waren Sie als der sonst so wortgewaltige Bundesarbeitsminister bereits zum Statisten in der Frage der Krankenhausfinanzierung degradiert. Denn die Ankündigung im Bundesrat, daß Sie notfalls auch bereit seien, einen Kompromiß auf der Basis des Bundesratsentwurfs zu finden,
zeigt doch deutlich, daß Sie hier schon die inhaltlichen Vorstellungen ein Stück weit in die Rumpelkammer zurückverwiesen haben. Ich sage nicht, daß ein Kompromiß an sich etwas unanständiges wäre. Nur kann sich jeder ausmalen, wie der Kompromiß zwischen einem Elefanten und einer Maus aussieht. Und Sie, Herr Bundesarbeitsminister, sind in diesem Bild beileibe nicht der Elefant.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat Ihnen in der Vergangenheit die Bereitschaft signalisiert, Sie bei der Durchsetzung vernünftiger inhaltlicher Reformen in der Krankenhausfinanzierung im Bundestag zu unterstützen. Dieses Versprechen gilt noch immer. Wir haben nichts zurückzunehmen. Allerdings wäre es schon eine makabre Situation und würde ein bezeichnendes Schlaglicht auf den Zustand der Koalition und ihrer Handlungsfähigkeit werfen, wenn die SPD-Opposition in den folgenden Beratungen in den Ausschüssen und im Bundestag als einzige Fraktion Teile der inhaltlichen Reformvorstellungen der Bundesregierung zur Krankenhausfinanzierung unterstützen würde während sich die Regierungsparteien entgegen ihren eigenen Vorstellungen bereits auf die Position des Bundesrats zurückziehen. Dies wäre eine Rollenverschiebung, die ihre besondere politische Pikanterie hätte.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glombig?
Sehr gern, Herr Kollege Glombig.
Herr Kollege Egert, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß sich die Haltung der heutigen Opposition von der Haltung der damaligen Opposition zur Zeit der sozialliberalen Koalition grundsätzlich dadurch unterscheidet, daß die Linie, die die heutige Regierung und die Regierungskoalition vertreten, von der damaligen Opposition auf das heftigste bekämpft statt unterstützt worden ist?
Herr Kollege Glombig, das muß ich Ihnen leider bestätigen: Es wäre besser gewesen, es hätte damals eine einheitliche politische Front des Bundestages in diesem Interessenkonflikt zwischen Bund und Ländern gegeben. Das wäre gut gewesen.
Lassen Sie mich nach der allgemeinen politischen Bewertung zu einigen Einzelproblemen des Regierungsentwurfs — und nur dort sind inhaltliche Vorstellungen zur Reform der Krankenhausfinanzierung enthalten — Stellung nehmen. Es wird Sie nicht überraschen, daß ich aus den Gründen, die ich genannt habe, an dieser Stelle noch einmal deutlich mache, daß wir die Aufhebung der Mischfinanzierung kategorisch ablehnen. Mein Appell geht besonders an die Adresse des Kollegen Faltlhauser und die Kollegen von der CSU. Ich fordere sie auf, die ohnehin bescheidenen Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundes im Krankenhauswesen nicht weiter zu beschneiden. Elf verschiedene Krankenhausfinanzierungssysteme, die nicht viel mehr als den Namen gemeinsam haben, elf unterschiedliche Versorgungsstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland — da kann man doch allen Ernstes nicht mehr von einer Verbesserung der Krankenhausversorgung unserer Bevölkerung reden. Wenn Sie die Mischfinanzierung aufheben und statt dessen Ausgleichszahlungen des Bundes in anderen Bereichen vorsehen, dann haben Sie zwar das Ziel erreicht, Finanzmittel hin- und herzuschieben; Sie haben in der Krankenhausfinanzierung dann aber wirklich nur die Finanziers ausgetauscht. Deshalb mein Appell an Sie: Helfen Sie mit, daß wir dieser kurzsichtigen Überlegung, allein eine finanztechnische Manipulation vorzunehmen, entgegentreten.
Ein Punkt, von dem ich schon gesprochen habe und den ich nachdrücklich unterstützen will, ist die Verbesserung der Mitwirkungsmöglichkeit der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung. Wir wollen, daß die Krankenkassen als diejenigen, die die Musik bezahlen, die die Folgekosten der Krankenhausinvestitionen über die Pflegesätze tragen müssen, auch bei der Planung dieser Krankenhausinvestitionen mitbestimmen können.
Wir wollen, daß die Krankenkassen und die Träger der Krankenhäuser sich eigenständig darüber verständigen, was ein angemessener Pflegesatz ist. Wir unterstützen die Vorstellung, die im Regierungsentwurf steht, daß im Nichteinigungsfalle ein Schiedsspruch die unterschiedlichen Interessen ausgleichen soll. An diesen Punkten kann der Bundestag beweisen, ob es ihm mit dem Ausbau der Rechte der Selbstverwaltung wirklich ernst ist oder ob
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6738 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
EgertSelbstverwaltung weiterhin nur ein Thema für Sonntagsredner ist.Ein gewichtiger anderer Punkt ist der, daß wir alle wissen — der Herr Minister hat davon gesprochen; auch hier hat er unsere Unterstützung —, daß das bestehende Selbstkostendeckungsprinzip dem wirtschaftlichen Denken Hohn spricht und daß es eigentlich verändert werden muß. Wir Sozialdemokraten sind in begrenztem Umfang zu einer Änderung bereit. Das Selbstkostendeckungsprinzip funktioniert nach dem jetzigen Verfahren im Gewinn-und Verlustausgleich nicht. Man kann wirtschaftliches Verhalten nicht dadurch anreizen, daß man Gewinne, also Betriebsüberschüsse, wegnimmt und Verluste, also Betriebsdefizite, nachträglich wieder erstattet. Dieses System ist tatsächlich ökonomisch widersinnig. Mein Appell geht deshalb auch an die Adresse der Krankenhausträger. Wir hören überall, die Krankenhäuser erbrächten nur Leistungen, die ohnehin notwendig seien und deshalb bezahlt werden müßten. Ich finde, daß man sich mit dieser allzu schlichten Darstellung der kritsichen Diskussion nicht entziehen kann. Man wird in der politischen Diskussion, die über das Krankenhaus und seine Wirtschaftlichkeit geführt wird, so lange nicht glaubwürdig werden, solange man die eigene Position für sakrosankt erklärt.Ich appelliere deshalb an die Krankenhausträger, darüber nachzudenken, daß Wirtschaftsunternehmen mit zum Teil mehreren hundert Millionen DM Umsatz im Jahr sich der Diskussion stellen müssen und mit dazu beitragen müssen, daß die Instrumente einer modernen Betriebswirtschaft in einem großen Betrieb auch angewandt und akzeptiert werden.
Die Beratungen im federführenden Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung werden politisch sicherlich besonders interessant werden. Ich wiederhole noch einmal unser Angebot an die Adresse des Bundesarbeitsministers: Wir sind bereit, einige der inhaltlichen Vorstellungen zur Reform der Krankenhausfinanzierung, soweit sie nicht das Problem der Mischfinanzierung berühren, zu unterstützen. Wir fürchten allerdings, daß sich der Bundesarbeitsminister mit seiner bisherigen Politik im Krankenhausbereich bereits selbst ein Bein gestellt hat und außer der Aufhebung der Mischfinanzierung an inhaltlicher Reform am Ende nichts erreichen wird.
Dies ist nicht im Sinne einer geordneten und qualitativ hochstehenden Krankenhausversorgung der Bürger. Diesem Ziel jedoch sollten sich alle Abgeordneten auch deshalb verpflichtet zeigen, weil die Erreichung dieses Zieles auch von gravierender Auswirkung auf die weitere Kostenentwicklung im Gesundheitswesen sein wird.Einen letzten Satz noch zur Kollegin AdamSchwaetzer, die meinte, hier ein Wort über die Merkwürdigkeiten der Gesetzesinitiative zu den medizinisch-technischen Großgeräten reden zu müssen. Was ist wohl merkwürdiger als zwei Gesetzentwürfe bei gleichen politischen Konstellationen, mit denen wir uns auf dem Feld der Krankenhausfinanzierung auseinandersetzen müssen?Vielen Dank für Ihre geduldige Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Egert, herzlichen Dank für das Angebot der Mitarbeit an diesem wichtigen Gesetzentwurf.
Wir werden Sie daran erinnern.
Meine Damen und Herren, die Neuordnung der Krankenhausfinanzierung ist wohl eines der wichtigsten gesundheitspolitischen Gesetze in dieser Legislaturperiode. Ziele sind die Sicherung ausreichender Finanzmittel für die bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen Krankenhäusern, dazu die Auflösung der sich bisher nachteilig auswirkenden Mischfinanzierung
— ich komme noch darauf, Frau Fuchs — unter Ausweitung der Länderkompetenz bei Planung und Förderung und weiterhin die seit Jahren anstehende Kostendämpfung im Krankenhausbereich.Die neue Regelung soll das alte Krankenhausfinanzierungsgesetz von 1972 ablösen. Dieses Gesetz wurde einst als Jahrhundertwerk gepriesen; es sollte die Finanzprobleme in den Krankenhäusern lösen. Aber bereits drei Jahre nach Erlaß des Gesetzes hatte die damalige sozialdemokratisch geführte Bundesregierung dem Krankenhausfinanzierungsgesetz durch das Haushaltsstrukturgesetz die Finanzbasis für die Investitionen massiv gekürzt. Damit wurde der Bund seiner Verantwortung aber nicht mehr gerecht. Herr Egert, ich weiß nicht, was Sie da an der Mischfinanzierung so hervorragend finden, es sei denn, daß Sie uns zutrauen, wir würden uns eher an das gegebene Wort halten und das erfüllen, was vorgegeben war.Länder und Gemeinden konnten nicht mehr durch eine Erhöhung ihrer Finanzierungsanteile einen Ausgleich schaffen. So bildete sich mit der Zeit ein immer weiter wachsender Investitionsstau von 8 Milliarden DM allein an dringlichen Vorhaben.Sicher hatte das alte Krankenhausfinanzierungsgesetz in den ersten Jahren Erfolge bei den Voraussetzungen für leistungsfähige Krankenhäuser unter Erhalt der Vielfalt der Trägerschaft; aber recht bald zeigten sich dann deutliche Strukturschwächen, die leider viel zu spät angegangen wurden. Selbst als bei den ausufernden Kostensteigerungen im Gesundheitswesen und bei ungünstiger werdender Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage jedermann auch im Krankenhausbereich eine Kostendämpfung als notwendig anerkannte, kam die alte Bun-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6739
Dr. Becker
desregierung trotz mehrmaliger Anläufe damit nicht zu Rande. Dabei hatte diese Regierung selbst in ihrem Bericht vom 31. Dezember 1975 — d. h. drei Jahre, nachdem das Gesetz in Kraft getreten war — festgestellt — ich zitiere—:Es zeichnet sich jedoch bereits jetzt an manchen Stellen eine Entwicklung zu einer gesamtwirtschaftlich nicht mehr zu vertretenden maximalen Krankenhausversorgung ab, die gekennzeichnet ist durch eine regional und nach Fachdisziplinen überhöhte Zahl von Krankenhausbetten, einen trotz vielfach zu hoher Verweildauer und zu hoher Krankenhaushäufigkeit sinkenden Ausnutzungsgrad und eine daraus folgende Tendenz zu Fehlbelegungen der kostenaufwendigen Krankenhausbetten durch Patienten, die entweder in Pflegeheimen untergebracht oder auch ambulant behandelt werden könnten.So zu lesen im Bericht der sozialdemokratischen Bundesregierung von 1975.Nun, meine Damen und Herren von der SPD, in der Diagnose und in der Verpackung waren Sie — das haben wir heute schon einmal gehört — schon oft gut, nur bei der Produktion und bei der Therapie hat es dann immer gehapert.
Darüber begrüßen wir es ganz besonders, daß die CDU-FDP-Regierung
— die CDU/CSU-FDP-Regierung — jetzt rasch die Koalitionsvereinbarungen im Krankenhausbereich realisiert hat und ihren Gesetzentwurf hier vorlegt.
Daß die CDU hier eine baldige Lösung anstrebt, erkennen Sie auch daran, daß vier CDU/CSU-geführte Länder — Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein — noch vor dem Regierungsentwurf einen eigenen Entwurf vorgelegt haben. Wir werten diesen als eine Alternative, denn Demokratie lebt von der Alternative, aber nur dann, wenn sie gut ist.
Beide Entwürfe haben viel Gemeinsames, sind nach unserer Auffassung auch kompromißfähig.Doch zuvor, meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einige Daten aus der bundesdeutschen Krankenhauswirklichkeit hier darstellen, die aufschlußreich sind und zu denken geben: Die von der gesetzlichen Krankenversicherung getragenen Benutzerkosten stiegen von 1973 bis 1983 — wir haben das schon gehört — auf fast das Dreifache an, während die Investitionsaufwendungen von Bund und Ländern in dem gleichen Zeitraum nur um ein Drittel, nämlich von 3,2 auf 4,3 Milliarden DM anstiegen.Bei den Krankenhausbestimmungsgrößen, den sogenannten Determinanten, zeigen sich länderverschieden gewaltige Unterschiede. So lag 1981 die Bettendichte, d. h. die Zahl der Akutbetten auf 10 000 Einwohner, zwischen 58 und 126 Betten. Auch die Zahl der Pflegetage für Akutkranke, die sogenannte Verweildauer, differierte in den Ländern zwischen 12,8 und 21,4 Tagen. Es mag verschiedene Erklärungen für diese enormen Unterschiede geben, aber eine medizinische Begründung gibt es hierfür nicht.Auch die Bettenausnutzung in den Ländern reicht von 80,3 bis 87,8 %. Die Krankenhaushäufigkeit, d. h. die stationären Einweisungen auf 1 000 Einwohner, schwankt länderverschieden zwischen 127 und 210 im Jahre 1981.Bundesweit stieg die Zahl der in Krankenhäusern behandelten Personen von 1972 bis 1982 von 9,8 auf fast 11,6 Millionen an. Sicher spielt dabei die höhere Lebenserwartung und die damit eintretende vermehrte Krankenhausbehandlung bei älteren Menschen eine Rolle. Andererseits wirken aber auch Faktoren mit, wie etwa mehr sozial bedingte Einweisungen von Pflegefällen in das Krankenhaus, eine Tatsache, für die wir weniger kostenaufwendige, dabei aber genauso humane Lösungen finden müssen.In der Bundesrepublik liegt die durchschnittliche Akutbettendichte bei 77 je 10000 Einwohner. Dazu einige Zahlen aus vergleichbaren Ländern: in der Schweiz 68, in Dänemark 58, in Schweden 53, in den Niederlanden 52, in den USA 48 und in Großbritannien 43 Akutbetten je 10000 Einwohner.Wenn die Bettendichte in der Bundesrepublik nur von 77 auf 75 reduziert würde, bedeutete dies eine Einsparung von 12 000 Betten, bei einer Reduzierung auf 70 sogar von 42 000 Betten. Die Bundesländer Schleswig-Holstein, Hessen und Baden-Württemberg haben jetzt schon eine geringere Bettendichte. Dabei kann man nicht sagen, daß darunter die Bevölkerung gelitten habe.Meine Damen und Herren, bisher bestanden in unserem Krankenhaussystem nicht genügend Anreize, um betriebswirtschaftlich sparsam, rationell und dabei doch effektiv zu arbeiten. Im Gegenteil, das sparsam wirtschaftende Krankenhaus wurde sogar benachteiligt. Ein Überschuß wurde auf den Pflegesatz des nächsten Jahres angerechnet und ging damit für das Krankenhaus verloren. Beide Gesetzentwürfe von Bundesregierung und Bundesländern sehen verschiedene Möglichkeiten und Anreize für eine wirtschaftlichere Betriebsführung und zu leistungsgerechten — ich betone: leistungsgerechten — Pflegesätzen vor.Es ist eine ganze Reihe weiterer Übereinstimmungen vorhanden. Beide Entwürfe wollen die Auflösung der Mischfinanzierung zum 1. Januar 1985. Selbstverständlich muß dabei sichergestellt werden, Herr Egert, daß die Mittel dann auch bei den Krankenhausinvestitionen ankommen.Die politische Letztverantwortung der Länder für die Krankenhausplanung und -förderung wird in beiden Entwürfen akzeptiert. Beide Entwürfe über-
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6740 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Dr. Becker
lassen den Ländern in eigener Verantwortung die Regelung der Einzelheiten für die Investitionsförderung. Beide Entwürfe haben das Ziel, das Krankenhaus in die Kostendämpfung einzubinden.Aus einigen Gebieten bestehen noch unterschiedliche Auffassungen. Ich nenne hier das Selbstkostendeckungsprinzip, die Auflösung von Pflegesatzkonflikten und die bessere Mitwirkung der Krankenkassen. Jedoch erscheinen mir die Unterschiede nicht so groß, als daß bei der bestehenden beiderseitigen Kompromißbereitschaft nicht doch eine wirkungsvolle Lösung gefunden werden könnte.Die Interessenlage der Beteiligten ist an sich recht unterschiedlich. Die langwierigen und oft fruchtlosen Bemühungen um die Einrichtungen der verschiedenen Regelungsinstrumente im alten Krankenhausfinanzierungsgesetz haben dies bewiesen. Die Krankenhausträger, insbesondere die freigemeinnützigen und konfessionellen, befürchten eine zu starke Position der Krankenkassen bei den Verhandlungen, die ihnen dann ein Pflegesatzdiktat, sogar den Entzug der Beteiligung an der gesetzlichen Krankenversicherung bringen könnte. Sie befürchten auch, daß die Länder sie bei ihren Investitionsentscheidungen benachteiligen könnten. Vielleicht hat die eine oder andere Wortwahl in den Entwürfen hier zu Mißverständnissen geführt; aber dies ist in den Verhandlungen im Bundestag sicher auszuräumen.Keinesfalls beabsichtigen wir, die Vielfalt der Krankenhausträger aufzugeben. Ich bin sogar der Meinung, daß man solche Angstvorstellungen nicht zu haben braucht, denn da im allgemeinen die Pflegesätze der meisten freigemeinnützigen Krankenhäuser kostengünstiger als die vergleichbarer Krankenhäuser unter öffentlichen Trägerschaften sind, ist wohl davon auszugehen, daß die Krankenkassen bei ihren Preisverhandlungen dies honorieren.Anders als bei den freigemeinnützigen Krankenhäusern gibt es bei den Krankenhäusern in öffentlicher Trägerschaft leicht einen Defizitausgleich. Es reizt nicht gerade zur Sparsamkeit, wenn man weiß, daß die Kommune das Defizit des Krankenhauses finanziert. Wir sollten darüber nachdenken, wie dies zu lösen ist. Ich bin überzeugt: Wenn z. B. das, was die Kommune als Defizitausgleich zahlt, in einer bestimmten Weise auf die nächste Investitionsförderung angerechnet würde, dann würde sehr schnell ein Anreiz zu einer sparsameren Haltung geschaffen.Besondere Aufmerksamkeit wird in den Ausschußberatungen der Frage des Selbstkostendekkungsprinzips zu widmen sein. In einer fixierten Selbstkostendeckung sehen die meisten Gutachter eine der Ursachen dafür, warum die Kostendämpfung nicht weiter vorankam. Hier besteht ein berechtigtes Interesse der Krankenkassen, d. h. der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber, die mit ihren Beitragszahlungen die Benutzerkosten abzudecken haben. Bisher ist die Entstehung der Selbstkosten kaum einer Steuerung unterworfen. Hier könnte ein modifiziertes System dem Anliegen der Krankenkassen gerecht werden. In beiden Entwürfen sind verschiedene Ansätze enthalten.Meine Damen und Herren, im Krankenhausbereich muß bald eine Lösung gefunden werden, denn sonst werden die anderen Partner im Gesundheitswesen ihre bisherige Mitwirkung bei der Kostendämpfung aufkündigen. Dies hätte über die Beitragssatzsteigerungen, die dann unweigerlich kommen, Auswirkungen bis hin zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit, j a bis zur Sprengung des freiheitlichen Systems in unserem Gesundheitswesen. Auch hier wird es — wie überall in unserem Land — notwendig, das Gemeinwohl wieder stärker in den Vordergrund zu rücken.Meine Damen und Herren, in den nächsten Wochen haben wir eine große und schwierige Aufgabe vor uns, die zu lösen sich aber lohnt. Bei einem allseitig guten Willen sollte uns dies auch gelingen.Schönen Dank.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Adam-Schwaetzer. — Herr Kollege Glombig, ich glaube, die Debatte findet hier vorne statt.
Wir überreichen dem Kollegen Glombig natürlich gerne einen Aufnahmeantrag für die FDP.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Egert, in vielen Teilen Ihrer Rede stimmen wir sicherlich überein, mit vielen Ihrer Vorstellungen können wir uns sehr wohl anfreunden, was ja auch weiter nicht verwunderlich ist, wenn man sich die Vergangenheit der Diskussion um die Neuordnung der Krankenhausfinanzierung einmal vor Augen führt.Ich kann in der Tat eine Rede der Kontinuität der Freien Demokraten halten; denn beim ersten Anlauf zur Neuregelung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes 1977 waren ja viele der Positionen, die heute zwischen Bund und Ländern strittig sind, ebenso strittig. Heute wie damals verliefen eigentlich die Linien parallel. Hier im Plenum wäre mit vielen Kollegen der damaligen Opposition Einigkeit zu erzielen gewesen. Aber — das muß man nun leider sagen — es waren damals die Länder, vorwiegend die CDU-regierten Länder, die bei den angestrebten Lösungen nicht mitgemacht haben.Das war auch eigentlich nur zu verständlich, wenn man sich die Entwicklung des Krankenhausbaus seit der Neuordnung der Krankenhausfinanzierung 1972 angesehen hat. Es war ja so einfach: Bund und Land bezahlten die Investitionskosten, geplant wurde im Land. Was dann entstand — nun ja, wir wissen ja, daß in den Landtagen sehr viele Kommunalpolitiker vertreten sind. Womit wir es heute zu tun haben, sind viele Landratgedächtnisstätten,
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Frau Dr. Adam-Schwaetzerdie wir nun aber alle zu finanzieren haben.Die Entwicklung hat dann dazu geführt, daß wir heute zu viele Betten haben. Aber um diese Entwicklung umzudrehen, fehlt uns eine Neuordnung der Krankenhausfinanzierung. Wir stehen vor den gleichen Schwierigkeiten wie 1977 und bei den nachfolgenden Versuchen, weil natürlich die Kommunalpolitiker in den Ländern nicht an Einfluß verloren haben.Ein weiterer Punkt, der den Ländern nicht gefallen hat, war, daß im Zuge der Mischfinanzierung der Bund seine Leistungen in den letzten Jahren ständig weiter eingeschränkt hat. Mischfinanzierung ist von den Ländern immer noch akzeptiert worden, solange die Gelder des Bundes reichlich sprudelten. Sobald diese Gelder aber weniger wurden, besannen sich die Länder darauf, daß eigentlich sie die Kompetenz im Krankenhausbau hatten, und fanden, dann solle sich der Bund einmal ganz schnell daraus zurückziehen. Nun ja, dieser Wunsch der Länder ist verständlich.Wir wollen deshalb den Abbau der Mischfinanzierung im Krankenhausbau beginnen. Aber eines, meine Damen und Herren, muß ganz klar sein: Der Abbau der Mischfinanzierung wird nur dann laufen, wenn gleichzeitig eine Neuordnung der Krankenhausfinanzierung verabschiedet ist.
Beides muß gemeinsam geregelt werden.
Herr Kollege Egert, Sie sprachen vom Klinikum Aachen als einem lächerlichen Einzelfall. Ich kann dieser Bewertung nun überhaupt nicht folgen. Lächerlich ist das Großklinikum Aachen schon gar nicht;
vor allen Dingen dann nicht, wenn man sich einmal vor Augen hält, daß für 2,4 Milliarden DM insgesamt 1 500 Betten des höchsten Komforts gebaut werden
und von diesen 1 500 Betten 500 Betten eigentlich schon heute zu viel sind.
Dabei sind sie gerade erst in Gebrauch genommen worden. Dies ist ein deutliches Zeichen für die Gigantomanie
beim Krankenhausbau und bei der Krankenhausplanung, wie sie in mehreren Ländern vorgekommen ist. Andere Länder, wie z. B. das Land Bayern, haben ihre gigantischen Krankenhausneubauten etwas früher fertig bekommen. Aber daß auch dort einiges an Planung zu groß und zu teuer geraten ist, das kann man sicherlich nicht bestreiten.
Aachen bietet darüber hinaus — da komme ich dem Kollegen Faltlhauser nun wieder entgegen — natürlich die besondere Pikanterie, daß es die Neue Heimat war, die dieses Monstrum gebaut hat;
man kann wohl mit Fug und Recht sagen, daß es sich dort als „Teure Heimat" herausgestellt hat. Aber es ist auch der Neuen Heimat Städtebau nicht gut bekommen, dieses Ding zu machen; insgesamt ist sie mit diesem Projekt bei weitem überfordert gewesen.Ich erwähne Aachen aber noch aus einem anderen Grund. Ich komme schließlich aus der Region, und ich kenne die Sorgen der freigemeinnützigen Krankenhäuser rings um das Klinikum Aachen. Und das ist für mich ein sehr wichtiger Punkt,
den wir ebenfalls mit einer Neuordnung der Krankenhausfinanzierung sicherstellen müssen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Vielfalt der Krankenhausträger erhalten bleibt. Die Befürchtung in der Region Aachen geht natürlich dahin, daß das Land Nordrhein-Westfalen alle frei verfügbaren Mittel nur noch in das Klinikum Aachen steckt
und daß alle leistungsfähigen kleineren freigemeinnützigen Krankenhäuser leer ausgehen und damit nach und nach zugunsten eines Riesenmonstrums ausgetrocknet werden, das den Steuerzahler und den Versicherten viel zu viel Geld kostet, im Vergleich zu anderen Krankenhäusern,
die kleiner, aber genauso leistungsfähig sind.
Ein Punkt, den wir mit der Neuordnung auf jeden Fall erreichen müssen, ist also die Vielfalt der Krankenhausträger auf jeden Fall zu erhalten.Wir möchten außerdem die Selbstverwaltung stärken. Dazu sind ein paar Punkte notwendig.Erstens. Wir halten es für notwendig, daß echte Pflegesatzverhandlungen zwischen den Selbstverwaltungen aller Beteiligten durchgeführt werden. Da bleibt es nicht aus, daß manchmal eine Einigung nicht erzielt werden kann. Deswegen werden wir wohl eine Schiedsstelle brauchen. Aber wer soll denn einer solchen Schiedsstelle vorsitzen? Etwa derjenige, der im Land gleichzeitig die Bedarfspläne für Krankenhäuser zu genehmigen hat? Der wird sich natürlich alles auch an Pflegesätzen genehmigen, was ihm für seine eigenen Krankenhäuser wichtig und notwendig erscheint.
Deshalb halten wir es für unverzichtbar, daß Vorsitzender einer solchen Schiedsstelle ein Neutraler und nicht ein weisungsgebundenes Mitglied einer Landesbehörde ist.
Außerdem muß sichergestellt sein, daß in der Schiedsstelle die Pluralität der Krankenhausträger
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6742 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Frau Dr. Adam-Schwaetzerausreichend zum Zuge kommt. Denn es darf nicht passieren, daß sich z. B. die Vertreter der kommunalen Krankenhäuser zu Lasten der freigemeinnützigen und der privaten einigen.
Also muß auch in der Schiedsstelle sichergestellt sein, daß die Vielfalt der Krankenhausträger repräsentiert ist.
Der zweite wichtige Punkt. Wir brauchen dringend die Ablösung des kostentreibenden Kostendeckungsprinzips. Das Kostendeckungsprinzip hat doch dazu geführt, daß der Sparsame bestraft wird.
Wer sein Krankenhaus wirklich wirtschaftlich und kostengünstig geführt hat, der bekam das bei den Pflegesatzverhandlungen im nächsten Jahr abgezogen, d. h. er wurde für seine Sparsamkeit bestraft.
Aber derjenige, der Kosten gemacht hatte, bekam diese Kosten angerechnet und ersetzt.
Ein solches System kann nicht dazu führen, ein insgesamt wirtschaftliches und sparsames System im Sinn der Patienten zu erhalten.
Der dritte wichtige Punkt. Wir brauchen eine verstärkte Mitwirkung der Krankenhäuser und der Krankenkassen in Bedarfsfragen. Dazu gehört für uns, daß eine Verbesserung der Vertragsmöglichkeiten zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern erreicht wird.
Ich kann ja — ich betone das noch mal — die Sorgen der kleineren Krankenhäuser verstehen, die befürchten, nach solchen Verhandlungen über Gebühr Betten abbauen zu müssen und letztlich ihre Häuser nicht mehr wirtschaftlich weiterführen zu können. Auf der anderen Seite kann ich mir nicht vorstellen, daß die Krankenkassen solche Verträge abschließen würden. Denn eines ist doch klar. Freigemeinnützige und private Krankenhäuser haben auch heute noch die niedrigsten Pflegesätze. Das heißt, jede Krankenkasse kann eigentlich überhaupt kein anderes Interesse haben, als gerade diese Krankenhäuser zu erhalten und wirtschaftlich weiter arbeiten zu lassen.
Die Tatsache, daß zwei Entwürfe zur Beratung vorliegen: ein Entwurf der Bundesregierung und ein Entwurf des Bundesrats, zeigt natürlich, daß hier noch unterschiedliche Auffassungen zwischen der Bundesregierung sowie den sie tragenden Koalitionsfraktionen und den Ländern bestehen. Aber es ist ja nichts Neues, daß wir dann im Gesetzgebungsverfahren miteinander verhandeln. Ich sage allerdings, daß wir einer Einigung nur dann zustimmen können, wenn wirkungsvolle Lösungen zur Kostendämpfung gefunden werden, wenn die Chancengleichheit der Krankenhausträger gesichert bleibt
und wenn auf der anderen Seite auch ein Bettenabbau möglich ist.
Meine Damen und Herren, das sind die Dinge, die wir zu regeln versprochen haben, als wir angetreten sind. Ich denke, daß auf beiden Seiten so viel Verständigungsmöglichkeit und Verständigungsbereitschaft da sind, daß uns dieser Anlauf gelingen und nicht wie die anderen mißlingen sollte.Vielen Dank.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Gesetzentwürfe zu den Tagesordnungspunkten 13 und 14 an die Ausschüsse vor. Haben Sie dagegen Einwände? — Das ist nicht der Fall.Ich rufe Punkt 15 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten— Drucksache 10/2103 —Überweisungsvorschlag:Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung RechtsausschußHaushaltsausschuß gemäß § 96 GOHierzu wird keine Aussprache gewünscht. Der Überweisungsvorschlag des Ältestenrates lautet: federführend Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, mitberatend Rechtsausschuß und Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung. — Es erhebt sich kein Widerspruch; dann ist dies so beschlossen.Ich rufe Punkt 16 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Büchner , Kastning, Kuhlwein, Frau Odendahl, Frau Schmidt (Nürnberg), Dr. Schmude, Toetemeyer, Vogelsang, Weisskirchen (Wiesloch), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes— Drucksache 10/1749 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GODer Ältestenrat schlägt eine Aussprache mit einer Dauer von 10 Minuten je Fraktion vor. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist dies so beschlossen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6743
Vizepräsident Frau RengerDas Wort zur Begründung wird nicht erbeten. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Odendahl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der zum Ziel hat, die Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz im Monat August für Studierende an Abendgymnasien und Kollegschulen für eine kleine Zahl von Schülerinnen und Schülern, die an anderen Schulen elternunabhängig gefördert werden, wiederherzustellen und zu ermöglichen, daß für den vergangenen Augustmonat nachträglich gezahlt wird.
Es geht darum, eine soziale Notlage zu beseitigen, in die die Mehrheit der Betroffenen geraten ist. Kollegiaten und Abendgymnasiasten waren mehrere Jahre berufstätig, leben unabhängig von den Eltern, haben deshalb einen eigenen Haushalt und oft Kinder. Deshalb wird diesen Studierenden nach § 11 BAföG eine elternunabhängige Förderung zugesichert.
Bei der Herausnahme des Monats August aus der Förderung sind die Bundesregierung und die Koalitionsparteien von CDU/CSU und FDP wohl davon ausgegangen, daß die betroffenen Schüler im Monat August arbeiten können,
um so ihren Lebensunterhalt zu sichern. Nur wird
) niemand nach diesem ersten Augustmonat ohne Förderung noch ernsthaft behaupten wollen, daß dies bei der miserablen Lage auf dem Arbeitsmarkt eine ernsthafte Möglichkeit wäre.
Um die spärlichen Ferienjobs, die überhaupt angeboten wurden, mußten die Kollegiaten und Abendgymnasiasten auch noch mit den Studenten konkurrieren, die schon deshalb in den meisten Fällen bevorzugt wurden, weil sie in den Semesterferien länger arbeiten können. Insofern, Herr Kollege Pfeifer, können Sie heute nicht mehr so ausweichend antworten, wie Sie es noch am 26. September 1984 hier im Bundestag auf eine Frage unseres Kollegen Hiller getan haben.
Die genaueren Erfahrungen liegen inzwischen vor, und sie besagen eindeutig, daß Arbeitsmöglichkeiten im notwenigen Umfang und der notwendigen Anzahl nicht bestehen. Nach einer Vereinbarung der Kultusminister vom 21. Juni 1979 besteht für die Studierenden an Kollegs und Abendgymnasien auch ein Verbot, eine berufliche Tätigkeit auszuüben. Außerdem können die gestiegenen Studienanforderungen, denen sich Kollegiaten und Abendgymnasiasten stellen müssen, oft nur dadurch bewältigt werden, daß sich die Betroffenen in den Ferien ebenfalls um ihr Pensum kümmern, und unabhängig von all dem stehen auch den Studierenden an Kollegs und Abendgymnasien Ferien als Erholung doch wohl zu.
Dabei will ich noch auf die besonders schwierige Lage der betroffenen Frauen mit Kindern hinweisen — auch die gibt es —, die oft selbst dann nicht arbeiten können, wenn es der Arbeitsmarkt gestatten würde.
Wenn man den gesamten Lebensunterhalt von monatlich 625 DM BAföG bestreiten muß, kann man aus elf Monaten Förderung keinen zwölften Monat zusätzlich bezahlen.
Die Folgen haben die Betroffenen uns allen ja in zahlreichen Briefen anschaulich geschildert. Viele Kollegiaten konnten ihren regelmäßigen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Es gibt Fälle, in denen Strom und Gas abgeschaltet wurden, der Versicherungsschutz unterbrochen wurde, fehlende Mietzahlungen zu Kündigungen führten und Studierende mit Kindern nicht wußten, wie sie diese ernähren sollten. Kredit hat ein BAföG-Empfänger in aller Regel auch nicht. Auch Sozialhilfe erhielten nur wenige der Betroffenen, da die Sozialämter in aller Regel darauf verwiesen, daß die Bundesregierung j a erklärt habe, die Betroffenen könnten ihren Lebensunterhalt ohne öffentliche Hilfe sichern. Die soziale Notlage ist also nicht zu bestreiten.
Soweit uns Antwortschreiben von Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und FDP auf die Hilferufe der Kollegiaten und Abendgymnasiasten bekanntgeworden sind, wurde die soziale Notlage auch anerkannt und Abhilfe versprochen. So heißt es in einem Antwortschreiben von Ihnen, Herr Daweke:
Angesichts der besonderen Schwierigkeiten, die sich vor allem für die Absolventen des zweiten Bildungswegs daraus offensichtlich ergeben, werden wir das Problem nach Beendigung der parlamentarischen Sommerpause nochmals und sehr ausführlich erörtern. Wir werden uns dabei bemühen, eine Förderung auch im Monat August wieder möglich zu machen.
Herr Daweke und meine Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, lassen Sie diesen Worten doch die entsprechenden Taten folgen.
Ansätze sind j a da. Im Saarland hat gar der CDUMinisterpräsident Werner Zeyer die Streichung der August-Förderung offensichtlich als so skandalös erkannt, daß er — mit Unterstützung aller Parteien übrigens — den Betroffenen die ausgefallene Förderung aus seinen Verfügungsmitteln zahlte. Allerdings war nicht bedacht worden, daß die Beträge zurückgezahlt werden müssen, weil Ausbildungsleistungen nach § 21 Abs. 3 auf BAföG-Zahlungen angerechnet werden müssen. Also so geht es auch nicht.
Deshalb geht kein Weg daran vorbei, die Förderung für den Monat August für die Studierenden an Abendgymnasien und Kollegs sowie für die weni-
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Frau Odendahl
gen Schüler, die sonst elternunabhängig gefördert werden, wiederherzustellen.
Die Kosten von zirka 5 Millionen DM pro Jahr für den Bund und zirka 2 Millionen DM für die Länder pro Jahr liegen nicht nur innerhalb der Schätzgrenzen für BAföG, sondern sind auch aus den vorhandenen Mitteln leicht aufzubringen, weil die Geförderten-Quote — offensichtlich wegen der Umstellung von Studenten-BAföG auf Volldarlehen; wir haben schon darauf hingewiesen — erheblich zurückgegangen ist.
Ich hoffe nicht, daß in den Debattenbeiträgen der Koalitionsfraktionen und der Regierung das Argument angeführt wird, man könne die August-Förderung auch deshalb nicht wiederherstellen, weil es dann zu einer Ungleichbehandlung gegenüber den nicht elternunabhängig geförderten Schülern käme, die j a auch keine BAföG-Leistungen für den August erhalten. Abgesehen davon, daß wir sofort für die Wiederherstellung der August-Förderung für alle Schüler wären,
soweit sie noch BAföG erhalten, fördern Sie im August j a auch die Studierenden und Studenten höherer Fachschulen, Akademien und Hochschulen. Weshalb eigentlich sollen Besucher von höheren Fachschulen beispielsweise gegenüber den Besuchern von Schulen des zweiten Bildungsweges bevorzugt werden? Außerdem hat der BAföG-Kahlschlag insgesamt zu so großen Verwerfungen in der Förderung geführt, daß eine Argumentation mit der Systematik geradezu lächerlich wäre.
Lassen Sie mich zum Schluß darauf hinweisen, daß durch die Streichung der August-Förderung das entscheidende Stück des zweiten Bildungsweges gefährdet wurde, an dessen Erhaltung allen liegen muß, die es mit dem Bildungsanspruch derjenigen ernst nehmen, die ihren Weg über die berufliche Bildung begonnen haben.
Insofern geht es auch um die Glaubwürdigkeit bildungspolitischer Zielvorstellungen, wie sie alle Parteien des Bundestages geäußert haben. Wir hoffen deshalb, daß wir das Gesetz in den Ausschüssen zügig und mit gutem Ergebnis beraten können, damit die Unsicherheit der Betroffenen beendet und — ich habe die Hoffnung — noch vor Weihnachten der Monat August dieses Jahres nachträglich bezahlt wird.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Rönsch.
Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen! Frau Kollegin Odendahl, Siehaben heute wieder das Wort vom Kahlschlag gebraucht, obwohl wir Ihnen und, Herr Kuhlwein, Ihnen doch auch von hier aus und in den Ausschüssen nachweisen konnten, daß es unumgänglich notwendig war, beim BAföG Einsparungen vorzunehmen.
Ich werde Ihnen zu einem späteren Zeitpunkt, Herr Kuhlwein, nachweisen, wer auch schon Einsparungen vornehmen mußte, nämlich Ihre Fraktion. Wir haben das Ganze schon mal hier abgehandelt. Aber an dieser Stelle ist das Gedächtnis der Opposition relativ kurz.
Ich schicke nochmals grundsätzlich voraus, daß wir in einer guten schulischen und beruflichen Ausbildung die besten Voraussetzungen für einen späteren Berufserfolg sehen. Wir meinen, daß mit dieser guten Ausbildung später Arbeitslosigkeit verhindert werden kann. Wir haben auch daraus die Konsequenzen gezogen und mit der achten Novelle zum Bundesausbildungsförderungsgesetz vom 24. Mai 1984 die Bedarfssätze allgemein und die für die Kollegiaten ebenfalls um 4 % angehoben, was einer jährlichen Erhöhung des Förderungsbetrages von 200 bis 275 DM entspricht. Für den Herbst 1985 haben wir ebenfalls eine Zwischenanpassung der Freibeträge vorgesehen.Bereits im Herbst 1980 — Herr Kollege Kuhlwein, ich bitte Sie, zuzuhören, damit Sie das nächste Mal bei der Debatte das auch noch wissen;
nehmen Sie es zur Kenntnis und verhalten Sie sich so, ich glaube, Sie waren Staatssekretär — erfolgte eine grundlegende haushaltspolitische Weichenstellung, die die Ausgaben für die Ausbildungsförderung auf 2,4 Milliarden DM begrenzte. Mit dem 7. Ausbildungsförderungsgesetz vom 1. August 1981 und mit dem im Herbst 1981 beschlossenen 2. Haushaltsstrukturgesetz, das allerdings erst im Herbst 1983 unter unserer Regierungsverantwortung wirksam wurde und das zum Wegfall zum Beispiel der Förderung der Klassen 10 an den berufsbildenden Schulen führte, mußten Einsparungen vorgenommen werden. Ich bitte Sie, die Termine, die ich zum Schluß genannt habe, einmal zu überlegen; das fiel alles in die Zeit Ihrer Regierungsverantwortung.Wir mußten den Weg weitergehen und mußten allerdings wegen der im Herbst 1982 vorgefundenen Haushaltslage nach weiteren Einsparungsmöglichkeiten suchen, um BAföG auch für die nachfolgende Generation finanzierbar zu halten. Das war nur zu erreichen, indem der Bereich der Schülerförderung erheblich eingegrenzt wurde; das muß ich zugestehen. Das heißt, daß grundsätzlich nur noch Schüler in den Fällen notwendiger auswärtiger Unterbringung gefördert wurden. Der zweite Bildungsweg ist davon ausgenommen. Diese Eingrenzung des Bereichs der Schülerförderung reichte jedoch nicht
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Frau Rönschaus, um zu einer entsprechenden Einsparungssumme zu gelangen. Es mußte deshalb noch die Streichung der Förderung im Monat August für Schüler der Abendgymnasien und Kollegs vorgenommen werden.
— Wir haben das auch als schlimm betrachtet und wären froh gewesen, wenn wir wegen der desolaten Haushaltslage diese Maßnahme nicht hätten vornehmen müssen.Bei unserer seinerzeitigen Entscheidung sind wir davon ausgegangen, daß Schüler und Kollegiaten in diesem Ferienmonat etwas dazuverdienen können,
und daß andererseits das Hinzuverdiente, wenn es auf den Ferienmonat beschränkt ist, nicht auf die übrigen BAföG-Leistungen angerechnet werden kann. Dies wäre bei einer Herabsetzung der Förderungssätze aller Monate des Jahres anders gewesen.Nach der BAföG-Änderung durch das Haushaltsbegleitgesetz werden Schüler von weiterführenden allgemeinbildenden Schulen und Berufsfachschulen ab der Klasse 10, von Berufsaufbauschulen usw., deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht voraussetzt, nur dann noch gefördert, wenn die auswärtige Unterbringung notwendig ist. Ich will an dieser Stelle aber noch einmal betonen: Schüler des zweiten Bildungsweges, also der Abendhauptschulen, der Abendrealschulen und der Abendgymnasien, der Kollegs und der echten Fachschulklassen, für deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung Voraussetzung ist, erhalten weiterhin uneingeschränkte Ausbildungsförderung in Form eines Zuschusses. Die einzige Einschränkung, die wir diesen Schülern zumuten mußten, ist die Streichung des Monats August.
— Ich gestehe Ihnen durchaus zu, daß wir davon ausgegangen sind, daß diese Schüler und Kollegiaten im Monat August einen Platz fänden, an dem sie arbeiten könnten.
Ich könnte Ihnen Beispiele nennen, wo ich selbst Leuten zu einem Platz verholfen habe, auf dem sie in einem Ferienmonat arbeiten konnten. Ich wünschte mir, daß Sie das auch täten und fordere Sie auf, hier dasselbe zu tun,
was die Kollegen von unseren Fraktionen auch bei den Lehrstellen für Auszubildende tun. Wir haben da Ihre Mithilfe vermißt, und wir vermissen sie auch an dieser Stelle.
Wir sind damals davon ausgegangen, daß die jungen Leute einen Ferienjob fänden. Wir sehen auch ein, daß nicht jedem betroffenen Schüler eine Arbeitsmöglichkeit während dieses Ferienmonats nachgewiesen werden konnte. Frau Kollegin Odendahl, ich stimme Ihnen zu: Wenn eine junge Frau mit einem Kind sich plötzlich entschließt, noch zum Abendgymnasium zu gehen, dann hat sie es natürlich ausgesprochen schwer, einen Ferienjob für einen Monat zu finden, weil das zeitlich gar nicht mit ihren Hausfrauenaufgaben, mit ihren Aufgaben als Mutter in Einklang zu bringen ist. Wir meinen auch, daß man da doch noch einiges machen muß.Da diese Schülerförderung aber unabhängig vom Elterneinkommen ist, gehen wir allerdings auch davon aus, daß in einzelnen Fällen Eltern von betroffenen Schülern finanziell doch einen Beitrag leisten und den jungen Leuten eine Unterstützung für diesen einen Monat gewähren.In einer wirklich dringenden Notlagensituation kann auch nach Prüfung des Einzelfalls Sozialhilfe gewährt werden.
Wir verkennen gar nicht, daß die Einsparung der Förderung für den Monat August bei Schülern und Kollegiaten im Einzelfall auch zu Schwierigkeiten geführt hat. Da ich aber nicht nur Mitglied des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft bin, sondern gleichzeitig auch dem Ausschuß für Raumordnung, Städtebau und Bauwesen angehöre, habe ich einmal die finanziellen Auswirkungen Ihrer gestern in diesen beiden Ausschüssen vorgebrachten Änderungsanträge für den Haushaltsentwurf zusammengezählt. Allein im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau haben Sie einen Mehrbedarf von 260 Millionen DM angemeldet. Im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft wollten Sie z. B. für Forschung im Kindergarten- und Schulbereich, für Förderung der Informations- und Bildungsarbeit der Bundesschülervertretung usw. über 20 Millionen DM einsetzen bzw. vorhandene Titel erhöhen.
Wie Sie das mit einer koordinierten Haushaltspolitik vereinbaren wollen, das bleibt Ihr Geheimnis. — Herr Kollege Kuhlwein, bitte schön!
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kuhlwein?
Entschuldigung, ja.
Frau Kollegin Rönsch, können Sie bestätigen, daß die Regierungsfraktionen gestern im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ungefähr in der Größenordnung von 200 Millionen DM Mittel für die Aufstockung des Benachteiligungsprogramms gern gehabt hätten, wenn die Haushälter am Ende zugestimmt hätten?
Herr Kollege Kuhlwein, da stimme ich Ihnen sehr gerne zu. Wir hätten die Mittel gern gehabt. Wir hätten gern noch einen we-
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Frau Rönschsentlich größeren Betrag eingesetzt, um dort den jungen Leuten zu helfen.
Aber wir hätten natürlich auch gern gehabt, daß Sie sich mit der gleichen Intensität wie wir daran gemacht hätten, jungen Leuten Ausbildungsplätze zu besorgen. Wenn Sie das in der gleichen Art und Weise gemacht hätten, dann wäre vielleicht das Benachteiligtenprogramm nicht in einer solchen Größenordnung notwendig gewesen.
Ich habe Ihnen eben die Beträge genannt, die nur in den beiden Ausschüssen von Ihnen angefordert wurden, an deren Sitzung ich gestern teilgenommen habe. Ich bin fast sicher, daß Sie Ansprüche in mindestens der gleichen Höhe auch in den anderen Ausschüssen erhoben haben. Ich meine ganz einfach: Eine solide Haushaltspolitik will bedacht werden.
Wir sollten all diese Wünsche, die dringend erforderlichen Programme, die wir getroffen haben, koordinieren. Ich meine, daß wir ein sachliches Gespräch im Ausschuß führen sollten und daß wir dort Prioritäten setzen und einmal überlegen sollten, wie wir am tatkräftigsten helfen können.Lassen Sie uns bei den Beratungen im Ausschuß gemeinsam nach einer Möglichkeit suchen, wie man den Schülern an Abendgymnasien und Kollegs einen Ausgleich für den Ausfall der Zahlungen für den Monat August anbieten kann. Wir erwarten dabei allerdings auch ein Großmaß an Eigeninitiative eines jeglichen Jugendlichen und auch der Schüler des zweiten Bildungswegs. Denn gerade diese jungen Leute, die den zweiten Bildungsweg beschreiten und Berufserfahrung haben, werden ja ausgesprochen gerne von den Firmen genommen, weil sie schon praktisch gearbeitet haben, und Studenten stehen — anders, als Sie es, Frau Kollegin Odendahl, vorhin angeführt haben; das weiß ich aus eigener Erfahrung — sehr oft zurück, einfach weil sie praktische Arbeit, Handarbeit, die sehr oft gefordert wird, noch nicht selbst ausgeübt haben.Wir sollten bei den kommenden Ausschußberatungen auf der Grundlage dieser Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem letzten August diskutieren und vielleicht gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten suchen.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bisherige Debatte zeigt ja schon, daß, auch wenn der heute vorliegende Gesetzentwurf der SPD einen Teilbereich, BAföG, aufgreift, das im Grunde im Gesamtzusammenhang der Ausbildungsförderung zu betrachten ist.
Ich habe bei meinen letzten Ausführungen vorige Woche, als ich das erwähnte, was ich jetzt erwähnen werde, den Zwischenruf von der SPD im Protokoll gelesen: Traumtänzer! Ich will mich also in dieser Hinsicht jetzt noch etwas weiter betätigen.
Deshalb sage ich: Bei einer Gesamtbetrachtung, Herr Kuhlwein, des Themas Ausbildungsförderung muß man auch auf den Bericht der Bundesregierung zur Sicherung der Zukunftschancen der Jugend in Ausbildung und Beruf vom 3. Juli 1984 zurückgreifen. Ich erwähne jetzt — nur symptomatisch — ein Zitat, wo zum Beispiel auf die unterschiedlichen Regelungen der Förderung auch der zu Hause wohnenden Schüler in den Ländern hingewiesen wird. Ich sage dazu: unbefriedigende Regelungen. Die Bundesregierung betont, daß sie es für notwendig hält, bundesweit eine ausreichende Entlastung solcher Familien zu sichern, deren Kinder auch nach Vollendung der Vollzeitschulpflicht vom Elternhaus aus eine weiterführende Schule besuchen. Als einen notwendigen Teil der Familienförderung sieht die Bundesregierung die besondere Entlastung der Familien in der kostenintensiven Phase der Berufsausbildung in der dualen Form — ich muß das jetzt einmal zitieren; deshalb ist es etwas lang — des bestehenden Familienlastenausgleichsystems durch steuerliche Freibeträge und subsidiäre direkte Leistungen an. Sie werde — die Bundesregierung —, so heißt es in dem hier zitierten Bericht, bei der Neuordnung und Verbesserung des Familienlastenausgleichs hierzu Vorschläge vorlegen.
Ich sage dazu: Wir begrüßen diese Feststellung. Sie entspricht der von mir wiederholt dargestellten Notwendigkeit, im Rahmen der Diskussion über eine Neuordnung des Familienlastenausgleichs auch eine Überprüfung und Neuordnung der Ausbildungsförderung zu berücksichtigen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Ja, gerne. Vizepräsident Frau Renger: Bitte schön.
Herr Kollege Neuhausen, können Sie auch etwas darüber sagen, ob es schon eine Zusage des Finanzministers gibt, bei der Neuordnung des Familienlastenausgleichs auch etwas Besonderes für Familien mit Kindern in weiterführender Ausbildung zu tun?
Herr Kuhlwein, auf Grund der kürzlichen Debatte über das Selbstverständnis des Parlaments spreche ich hier nicht für die Bundesregierung, sondern als Parlamentarier, der auf Aus-
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Neuhausenführungen der Bundesregierung zurückgreift, aber auch eine eigene Meinung vertritt.
— Nein, eine zweite kann ich leider wegen der Zeit nicht zulassen. Ich gehe davon aus, daß wer für die Freiheit eines Parlamentariers Beifall spendet, immer richtig stimmt. Da ist gar kein Zweifel.Natürlich kann es nicht darum gehen, einfach alle Sparmaßnahmen wieder rückgängig zu machen. Man sollte mit zu hohen Hoffnungen, Frau Odendahl, was die rückwirkende Zahlung usw. betrifft, ganz vorsichtig sein. Es ist aber im Ernst nie geleugnet worden — von uns jedenfalls nicht —, daß die Änderungen des BAföG zu Ungereimtheiten und Härten geführt haben, zu denen nicht nur, aber auch die genannten unterschiedlichen Länderregelungen gehören. Ich halte prinzipiell ihre Bereinigungen in einem Gesamtkonzept für vernünftiger als die Herstellung eines Flickenteppichs, der wieder zu neuen Ungereimtheiten und Widersprüchen führen würde.Meine Damen und Herren, allerdings ist die sogenannte Ferienmonatsregelung, d. h. der Fortfall der Schülerförderung im August, ein Teilbereich, der auch schon in den Länderparlamenten zu Diskussionen geführt hat, z. B. in Niedersachsen am 20. Juni dieses Jahres, wobei deutlich wird, daß auch in den Länderregelungen ein Fortfall der Gesamtförderung für Schüler im August enthalten ist. So ist es u. a. in dem erst am 13. Juni dieses Jahres beschlossenen Förderungsgesetz des bekanntlich SPD-regierten Landes Nordrhein-Westfalen geschehen.Aber ein Spezialfall — hier stimme ich mit vielem überein, was gesagt worden ist — ist die Situation der Kollegiaten und Abendgymnasiasten, worauf sich der vorliegende Gesetzentwurf bezieht. In der erwähnten Debatte des niedersächsischen Landtags hat der Sprecher der FDP die Frage nach den Auswirkungen des Fortfalls der Augustförderung für diese Gruppe gestellt. Der niedersächsische Minister für Wissenschaft und Kunst hat dabei rechtliche und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Idee einer Kompensation dieses Fortfalls durch ein Landesgesetz geltend gemacht und damit im Grunde die Frage an uns, an den Bund, weitergegeben. Hier fängt eigentlich der Bereich der Fragen an, die geprüft werden müssen.Denn tatsächlich — das wurde gesagt — ist die Frage der Kompensation dieses Fortfalls für Kollegiaten und Abendgymnasiasten besonders problematisch. Von der Situation der übrigen Schüler unterscheidet sich deren Situation dadurch, daß eine Überbrückung durch die Eltern durchgängig nicht in Betracht kommt, da es sich um Studierende handelt, die bereits eine Berufsausbildung absolviert haben.
Widersprüchlich — ich sage das gar nicht wegen des Beifalls der SPD, für den ich mich natürlich bedanke, ich sage das zur Problemauflistung — sind auch die Voraussetzungen einer Kompensierung durch Ferienarbeit. Denn ganz abgesehen von der Situation auf dem Arbeitsmarkt ergibt sich bei näherer Prüfung, daß zwar von seiten einiger Länder die Auffassung vertreten wird, kein Studierender eines Kollegs werde von der Ausbildungsstätte verwiesen, wenn er im August eine Tätigkeit aufnehme. Aber andererseits bestimmen auch jüngste neue Regelungen, wie z. B. die Verordnung des Landes Niedersachsen über das Abendgymnasium und das Kolleg vom 11. September 1984, ausdrücklich — hier in § 3 Abs. 2 dieser Verordnung —: Schüler des Kollegs dürfen keine berufliche Tätigkeit ausüben. Diese Widersprüche, meine Damen und Herren, können nicht Grundlage einer vernünftigen Regelung sein.
Auch die Frage nach einer Überbrückung durch Sozialhilfe ist nicht nur prinzipiell problematisch. Der Gesetzentwurf der SPD weist — etwas undifferenzierter, als von Frau Odendahl heute dargestellt — darauf hin, daß Schüler, die nach dem BAföG gefördert werden, keine Leistungen aus der Sozialhilfe erhalten können. Andererseits hat das Verwaltungsgericht Stade einen Anspruch der Schüler auf Sozialhilfe im Monat August mit der Bemerkung bejaht, daß hier ein Loch bestehe, das gestopft werden müsse. Auch das muß uns natürlich zu denken geben bei unseren Überlegungen.
Meine Damen und Herren, ich wollte hier einige so oder so zu wertende Beispiele und Fragen aufzeigen, die uns sagen, daß sich auch unabhängig von der von mir bevorzugten Gesamtlösung zu speziellen Fragen dringende Notwendigkeiten einer Prüfung ergeben. Wir werden dazu auch im Ausschuß Gelegenheit haben. Das heißt, wir werden uns um eine ernsthafte Behandlung der im vorliegenden Entwurf angeschnittenen Fragen bemühen. Wir sind an einer konstruktiven Zusammenarbeit interessiert.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Im Hinblick auf das, was die beiden Sprecher der Koalitionsfraktionen gesagt haben, möchte ich mich auf drei Bemerkungen beschränken.Zunächst einmal, Frau Kollegin Odendahl, verkenne ich nicht — das ist auch von den Sprechern der Koalitionsfraktionen zum Ausdruck gebracht worden —, daß der Wegfall der Förderung im Ferienmonat August einige Probleme mit sich gebracht hat. Ich würde dennoch nicht von einer generellen Notsituation sprechen, wie Sie es getan haben. Für die wirklich Bedürftigen wurde in zahlrei-
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Parl. Staatssekretär Pfeiferchen Fällen — darauf ist hingewiesen worden — Sozialhilfe geleistet. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft ist im Augenblick dabei, zu klären, wie die Situation aller nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz geförderten Schüler in den einzelnen Bundesländern im August tatsächlich war. Erst wenn hierüber ein genaues Bild besteht, wird man entscheiden können, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen erforderlich sind.Eines allerdings halte ich für ausgeschlossen — das möchte ich hier deutlich sagen —, nämlich daß gesetzliche Maßnahmen eventuell rückwirkend Geltung erhalten können. Sonst müßten ja die Schüler und Kollegiaten, die im August beispielsweise von der Sozialhilfe Leistungen erhalten haben, diese wieder zurückerstatten. Ich meine, das würde zu administrativen Problemen und Schwierigkeiten führen, die wir unter allen Umständen vermeiden sollten.Zweitens. Der Wegfall der Förderung im Ferienmonat August hat nicht nur für die Abendgymnasiasten und für die Kollegiaten Probleme erbracht. Andere Schüler waren nicht weniger betroffen. Wir sollten uns, meine ich, wenn wir hier Überlegungen anstellen, nicht nur auf diejenigen konzentrieren, die sich, wie die Abendrealschüler und die Kollegiaten, am lautesten artikulieren konnten. Wenn wir uns dieses Themas jetzt annehmen, so sollten wir es schon in einer generellen Weise tun.
Meine Damen und Herren, wenn wir Maßnahmen ergreifen, frage ich mich z. B, ob Ihr Vorschlag richtig ist, daß Abendschülern und Kollegiaten im August Ausbildungsförderung gezahlt werden soll, auch wenn sie zu Hause wohnen können, während Schüler, die auswärts untergebracht sind und die deshalb Schüler-BAföG erhalten können, auch künftig nicht im Monat August gefördert werden sollen, obwohl sie auch im Ferienmonat z. B. Miete oder Internatskosten zahlen müssen. Wir sollten dabei auch nicht übersehen, daß Auszubildende des zweiten Bildungsweges sich im August häufig eher helfen können als die übrigen Schüler, z. B. deshalb, weil die Mehrzahl der Kollegiaten und der Abendschüler einen Beruf erlernt hat und deswegen eben leichter zu einem Ferienjob kommen kann als Schüler, die über keine Berufsausbildung verfügen, die auswärts untergebracht sind und die deshalb BAföG erhalten. Ich meine also, bei der Entscheidung in der Frage, ob die Förderungsleistung im Ferienmonat August wiederhergestellt werden soll, muß in erster Linie die wirtschaftliche Bedürftigkeit im Vordergrund stehen. Hier neige ich eher dazu, die förderungsbedürftigen Schüler nicht unterschiedlich zu bewerten.Nun noch zu einem dritten Punkt. In jedem Fall, meine Damen und Herren, müssen alle Maßnahmen im Haushalt finanziell abgesichert sein. Die Beratungen darüber sind heute im Haushaltsausschuß nicht abgeschlossen worden. Der Haushaltsausschuß hat diesen Ausgabentitel zurückgestellt.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Odendahl?
Bitte schön.
Herr Staatssekretär Pfeifer, dürfen wir Ihre Ausführungen so verstehen, daß Sie unseren Antrag noch ergänzen wollen, ihn auf einen weiteren Personenkreis ausdehnen, also praktisch diejenigen einbeziehen wollen, die jetzt bei uns noch nicht berücksichtigt sind?
Nein. Sie dürfen das aber so verstehen, daß wir jetzt zunächst einmal die Ergebnisse der Beratung im Haushaltsausschuß abwarten wollen und daß wir uns dann auch auf der Grundlage der Ergebnisse, zu denen der Haushaltsausschuß gekommen ist, entscheiden werden, welche Maßnahmen möglich sind und welche Maßnahmen nicht möglich sind.
Meine Damen und Herren, deswegen möchte ich für die Bundesregierung abschließend ausdrücklich betonen, daß auch die Bundesregierung in den Ausschüssen des Bundestages zu einer konstruktiven Beratung über das Anliegen, das diesem Gesetzentwurf zugrunde liegt, bereit ist.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/1749 zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft, zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit sowie zur Beratung gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an den Haushaltsausschuß zu überweisen. — Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetzes— Drucksache 10/1528 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche ZusammenarbeitEs wird keine Aussprache gewünscht. Den Überweisungsvorschlag des Ältestenrates ersehen Sie aus der Vorlage. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall; dann ist es so beschlossen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6749
Vizepräsident Frau RengerIch rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Verbot von Lindan — Maßnahmen gegen den Borkenkäfer— Drucksache 10/1578 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Jugend, Familie und GesundheitAuch hier wird keine Aussprache erbeten. Den Überweisungsvorschlag des Ältestenrates ersehen Sie aus der Vorlage. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.Mir wurde gesagt, es sei hier bereits mitgeteilt worden, daß Punkt 19 der Tagesordnung — Beratung des Antrags der Fraktion der SPD zum Personennahverkehr der Deutschen Bundesbahn in der Fläche — abgesetzt ist. Ich stelle noch einmal fest, daß dieser Punkt vertagt wird.Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1984
— Drucksache 10/2080 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: HaushaltsausschußDer Ältestenrat hat für die Aussprache eine Runde vereinbart. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall.Wird das Wort zur Begründung gewünscht? — Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Staatssekretär Voss.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach langen, schwierigen Verhandlungen hat sich der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaften am 2. Oktober dieses Jahres auf einen EG-Nachtragshaushalt geeinigt. Damit ist die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit für die Gemeinschaft zu Ende dieses Jahres gebannt.Grund für die angespannte Haushaltslage der EG sind die gestiegenen Marktordnungsausgaben. Nur zu einem Teil kann der Mehrbedarf für die Agrarmarktausgaben innerhalb der bisherigen Ansätze des EG-Haushalts finanziert werden. Der durch eigene Einnahmen nicht gedeckte Rest, rund 1 Milliarde ECU — das sind 2,24 Milliarden DM —, soll nach Übereinkunft des Ministerrates durch rückzahlbare Vorschüsse der EG-Mitgliedsländer abgedeckt werden. Der auf die Bundesrepublik Deutschland entfallende Anteil beträgt 650 Millionen DM.Ursprünglich hatte die EG-Kommission in ihrem Vorentwurf mit über 2 Milliarden ECU mehr als das Doppelte gefordert. Die Haltung der Bundesregierung, den für den deutschen Vorschuß erforderlichen nationalen Nachtragshaushalt nicht sofort in die Wege zu leiten, sondern in Brüssel zunächst auf weitere Einsparungen zu drängen, hat sich also ausgezahlt. Hier ist ein weiterer Sparerfolg dieser Bundesregierung festzustellen.Der Entwurf des EG-Nachtragshaushalts ist kein Vorgriff auf die Erhöhung der Eigenmittel der EG. Die Erhöhung von bisher 1% auf 1,4 % der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage soll erst im Zusammenhang mit dem Beitritt von Spanien und Portugal am 1. Januar des Jahres 1986 erfolgen.Der Entwurf des Nachtragshaushalts 1984 des Bundes, den wir heute hier in erster Lesung beraten, soll die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen für die notwendigen Zahlungen des Bundes an die EG schaffen. Mit dem Entwurf eines Nachtragshaushalts zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1984 wird ausschließlich den finanziellen Notwendigkeiten der Europäischen Gemeinschaft Rechnung getragen. Deshalb betone ich namens der Bundesregierung, daß es sich um einen Nachtrag für Europa handelt. Dies hat u. a. die Konsequenz, daß weitere Ausgabenwünsche nicht aufgenommen worden sind. Über den reinen haushaltsmäßigen Ausgleich auf der Ausgabenseite hinaus sind deshalb Veränderungen nicht vorgesehen. Die Gesamtausgaben und damit auch die Nettokreditaufnahme bleiben unverändert. Geringere Ansätze konnten vorgesehen werden bei den Zinsen, wobei einmal die seit Ende 1983 günstigere Kapitalmarktlage zu niedrigeren Konditionen beispielsweise bei den Schuldscheindarlehen, bei den Bundesanleihen und bei den Bundesobligationen führten, so daß diese höher, als bisher vorgesehen, aufgelegt werden konnten. Ebenfalls günstiger als erwartet, werden die Inanspruchnahmen aus Gewährleistungen für 1984 ausfallen, so daß insgesamt die Mehrausgaben von 650 Millionen DM ausgeglichen sind.Damit halten wir an der soliden Einstellung fest, den Ausgleich innerhalb des beschlossenen Ausgaberahmens herbeizuführen. Mit dieser bloßen Umschichtung wird ganz bewußt auf denkbare Anpassungen verzichtet, auch da, wo sich Minderausgaben oder höhere Einnahmen im Vollzug des Haushaltes 1984 ergeben oder sogar bereits feststehen. Solche Plankorrekturen sind im Rahmen des Nachtragshaushaltsverfahrens auch haushaltsrechtlich nicht geboten. Nach verfassungsrechtlicher Rechtsprechung hat ein Nachtrag die Aufgabe, für eine Bewilligung von Mehrausgaben im Einzelfall zu sorgen, nicht aber darüber hinaus den Haushaltsplan auf den neuesten Stand zu bringen.Das bedeutet nicht, meine Damen und Herren, daß die veranschlagten Gesamtausgaben und die Nettokreditaufnahme im Haushaltsplan 1984 im Vollzug voll erreicht werden. Im tatsächlichen Ist-Ergebnis 1984 werden beide Werte unterschritten werden. Darauf hat die Bundesregierung schon lange hingewiesen. Nach den Kassenergebnissen bis Ende September 1984 sind die Ausgaben im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 1 % gestiegen. Dieser verhaltene Mittelabfluß ist sicherlich nicht zuletzt auf eine strenge Ausgabendisziplin zurückzuführen, deren Notwendigkeit von allen am Haushaltsvollzug beteiligten Bundesbehörden anerkannt
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Pari. Staatssekretär Dr. Vosswird. Natürlich kann der jetzige Ausgabenstand nicht ohne weiteres bis zum Jahresende hochgerechnet werden. Eine solche Prognose würde den Realitäten nicht gerecht. Ich rechne damit, daß die Steigerungsrate 1984 in der Endabrechnung eine 2 vor dem Komma haben wird. Mehr kann man heute, ein knappes Vierteljahr vor Jahresende, nicht sagen. Darüber hinaus bleibt die Aussage, daß die Nettokreditaufnahme im Endergebnis 1984 voraussichtlich unter der 30-Milliarden-Linie bleiben wird, wobei der endgültige Betrag auch wesentlich vom tatsächlichen Steueraufkommen abhängen wird.Lassen Sie mich noch auf einen wesentlichen Gesichtspunkt hinweisen. An die Gewährung der Vorschüsse an die EG ist in dem Kabinettsbeschluß der Bundesregierung vom 3. Oktober dieses Jahres eine sehr wesentliche Bedingung geknüpft worden, nämlich die Einigung in der EG über die Einhaltung der Haushaltsdisziplin.
Ein erster Schritt in diese Richtung ist durch die grundsätzliche Einigung im Rat der Wirtschafts-und Finanzminister bereits am 1. Oktober dieses Jahres erreicht worden. An dieser Prämisse, meine Damen und Herren, wollen wir auch im weiteren Verfahren festhalten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Walther.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Parlamentarischer Staatssekretär Voss, trotz allem, was Sie hier vorgetragen haben — lustlos, wie wir alle bemerkt haben —, ist dieser Nachtragshaushalt ein weiteres Beispiel dafür, wie hinter dem Vorhang formal seriös erscheinender Vorlagen eine materiell unseriöse Finanzpolitik verschleiert wird.
Herr Bundesminister Dr. Stoltenberg hat gestern im Haushaltsausschuß erklärt, es sei sein Ziel gewesen, aus politischen und — man höre und staune — sportlichen Gründen auf Nachtragshaushalte gänzlich zu verzichten. Meine Damen und Herren, entsprechend dürftig ist der Nachtragshaushalt auch ausgefallen. Er zeichnet sich nämlich eher durch das aus, was er nicht enthält, als durch das, was er enthält.Dieser Nachtragshaushalt enthält das, was die Bundesregierung noch in diesem Jahr an weiteren Zahlungen an die Europäischen Gemeinschaften leisten will. Die Agrarausgaben des EG-Haushaltes sind trotz der angeblich beträchtlichen Einsparungen, von denen der Herr Bundesfinanzminister so gerne spricht, so stark angestiegen, daß die verfügbaren Eigenmittel nicht mehr ausreichen, um die Agrarausgaben bis zum Ende des Jahres zu finanzieren. Es geht also heute darum, die unmittelbar bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der Europäischen Gemeinschaften abzuwenden, und zwar erstmals, meine Damen und Herren, auf dem Wege über eine nationale Vorfinanzierung aus dem Haushalt statt wie bisher über die Abführung eines Anteils am Mehrwertsteueraufkommen.Vor diesem Hintergrund muß die heutige Debatte zunächst und vor allem eine Debatte über die Finanzentwicklung der Europäischen Gemeinschaften, den deutschen Finanzbeitrag zur EG und die Verhandlungen der Bundesregierung und des Bundesfinanzministers persönlich über diese Fragen in Brüssel sein.Als erstes, meine Damen und Herren, muß ich dazu feststellen, daß mit der Finanzierung dieses Nachtragshaushalts zum erstenmal die Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften faktisch überschritten werden. Bereits im vergangenen Jahr — daher kommt es j a —, im Jahre 1983, reichten die EG-Mittel nicht mehr aus, um die Ausgaben ordnungsgemäß zu finanzieren. Damals ließ man die Lagerbestände einfach weiter wachsen und verschob rund 1,5 Milliarden DM in das Jahr 1984. Solche Verschiebemanöver reichen jetzt nicht mehr aus, obwohl sie auch diesmal wieder kommen. Zum erstenmal wird die Bundesregierung mehr als 1 der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage an die Europäischen Gemeinschaften überweisen müssen. Ich betone das deshalb so, Herr Parlamentarischer Staatssekretär und verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, weil alle Fraktionen — sowohl im Haushaltsausschuß als auch hier im Plenum — nahezu einstimmig immer wieder dafür eingetreten sind, daß an der 1%-Grenze festzuhalten sei. Wir hatten darin den Hebel gesehen, mit dem wir alle gemeinsam auf eine vernünftige Ausgabenentwicklung in der EG und auf Einsparungen drängen können. Wir hatten gemeinsam immer wieder präzise Anforderungen formuliert, die erfüllt sein müssen, bevor diese Grenze überschritten werden darf, beispielsweise im Zusammenhang mit der Erweiterung der EG um Spanien und Portugal. Diesen Hebel — Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich muß Ihnen das sagen, weil Ihr Minister ja leider nicht hier sein kann — haben Sie leichtfertig aus der Hand gegeben.
Die Regierungen haben an den Parlamenten vorbei gewissermaßen durch die Hintertür auf dem Wege der fragwürdigen sogenannten rückzahlbaren Vorschüsse die 1%-Grenze aufgehoben. Das muß ich Ihnen jetzt sagen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär: Für dieses Vorhaben gibt es überhaupt keine rechtliche Grundlage.
Das EG-Recht, die geschlossenen Vereinbarungen, die geschlossenen Verträge lassen eine solche Zahlungsmodalität überhaupt nicht zu. Wir haben im Unterausschuß des Haushaltsausschusses für die Europäischen Gemeinschaften, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, immer wieder darauf hingewiesen, daß Finanzierungsinstrumente, die nicht in den EG-Verträgen vorgesehen sind, auch nicht an-
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Walthergewendet werden dürfen. Hier lassen Sie zum erstenmal zu, daß gesetzeswidrig,
daß rechtlich unzulässig ein Finanzierungsinstrument eingeführt wird, das uns noch teuer zu stehen kommen wird, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Der Herr Bundesfinanzminister hat vor zwei Wochen im Bundesrat zum EG-Haushalt folgendes ausgeführt — Zitat —:Langandauernde Sitzungen der Räte waren nötig, um die Voraussetzungen für eine geregelte Finanzwirtschaft der EG in den Jahren 1984 und 1985 zu schaffen.Dieser euphorischen Bewertung muß ich heute entschieden widersprechen: Von einer „geregelten Finanzwirtschaft", meine Damen und Herren, kann überhaupt keine Rede sein.
Dies gilt zunächst nur für das Jahr 1984. Sie sprechen immer wieder von einer EG-Haushaltslücke in Höhe von rund 2,2 Milliarden DM für das Jahr 1984. Aber wir wissen doch alle, Herr Voss, daß schon jetzt die Verschiebemanöver wieder beginnen. Immer mehr Ausgaben werden von 1984 auf 1985 verschoben, und zwar auf Druck des Bundesfinanzministers Dr. Stoltenberg. Wie teuer ist denn z. B. die Weihnachtsbutteraktion für den EG-Haushalt? Und die Butterlieferung an die Sowjetunion? Wie und wann soll das eigentlich bezahlt werden? Offenbar doch alles im Jahr 1985. Wir haben uns gestern im Haushaltsausschuß darüber unterhalten, mit wieviel Milliarden Sie — früher nannte man das bei Herrn Wörner und bei Herrn Apel auf der Hardthöhe „Überkipper" — in das Jahr 1985 „überkippen" und damit bereits jetzt vorprogrammieren, daß Sie im Jahre 1985 die gleiche Operation, nur mit zweieinhalbmal so hohen Zahlen, wiederholen müssen.Dabei ist das, was für das Jahr 1985 in der Zwischenzeit im Haushalt vorgelegt worden ist, der schon aus heutiger Sicht mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun hat, völlig unzureichend. Jeder weiß, daß die Ausgaben 1985 höher sein werden, als sie in dem vom Finanzministerrat der EG beschlossenen Haushalt vorgesehen sind. Jeder weiß, daß damit eine Finanzlücke bei der EG in unbestimmbarer Höhe entsteht. Der zuständige EG-Finanzkommissar hat ja auch erklärt, dieser Haushalt sei ein künstlicher Haushalt, der noch nicht einmal den Anspruch erhebe, die Bedürfnisse der EG im nächsten Jahr zu befriedigen. Es war übrigens Ihr Parteifreund — nein, Ihrer nicht, aber von der CDU war er —, der CDU-Abgeordnete Horst Langes, der sogar verkündet hat, daß die EG-Ausgaben für 1985 bis zu — man höre und staune — 10 Milliarden DM höher ausfallen würden. Wenn man aus Brüssel hört, dieser Haushalt sei eine schlecht getarnte Mogelpackung, kann man dem nur zustimmen.Jetzt lese ich Ihnen, Herr Dr. Voss, einmal vor, was Ihr Finanzminister noch am 28. Juni dieses Jahres hier im Parlament nach dem letzten EG-Gipfel gesagt hat; es ist sehr interessant. Er sagte:Es entspricht nicht der Tatsache, daß die Beschlüsse des Europäischen Rates nur zur Abwendung der Zahlungsunfähigkeit der Gemeinschaft geführt haben; das wäre in der Tat zuwenig ..Nein!— hat Herr Stoltenberg gesagt —Wer den Beschlußtext des Europäischen Rates sorgfältig liest, muß sagen: Hier ist bedeutend mehr erzielt worden. Es gibt keine vergleichbare Konferenz der Europäischen Gemeinschaft seit den 60er Jahren, die so entscheidende Fortschritte gebracht hat ...Ich sage Ihnen: Das ist an Selbstgefälligkeit kaum zu überbieten. Es ist vor allem eine völlige Fehleinschätzung der Verhandlungslage und des Verhandlungsergebnisses, und das nicht nur beim Bundesfinanzminister, sondern auch beim Herrn Bundeskanzler, der die deutschen zusätzlichen Belastungen, die als Preis für den erzielten Kompromiß zu zahlen sind, bis 1988 in diesem Hause auf 18 Milliarden DM beziffert hat. Heute aber wissen wir: Die zusätzlichen Belastungen für den deutschen Steuerzahler addieren sich bis 1991 auf über 60 Milliarden DM.Ich muß in diesem Zusammenhang noch einmal auf die skandalösen Milliardensubventionen, die vor allen Dingen landwirtschaftlichen Großbetrieben zugute kommen, zurückkommen, d. h. auf den nationalen Alleingang bei der Erhöhung der Vor-steuerpauschale, die erst nachträglich mit dem EGRecht vereinbar gemacht wurde. Dies wurde mit großem Nachdruck gegenüber unseren Partnern gefordert. Der Herr Bundeskanzler hat sich persönlich dafür eingesetzt und es durchgedrückt.
— Ja, Sie sagen es, Herr Kollege. — Aber damit haben Sie die deutsche Verhandlungsposition für die Zukunft deutlich und dauerhaft geschwächt.
Das ist ein ganz schwerwiegender Fehler und ein schlimmes Versagen des Bundesfinanzministers. Wie will denn der deutsche Finanzminister zukünftig in der EG glaubhaft auf Einsparungen drängen, wenn er national so freigiebig und großzügig ist? Wie will der deutsche Finanzminister glaubhaft dem Subventionswettlauf in der EG widerstehen, wenn er ihn selber für die Großlandwirtschaft durch nationale Subventionen in Milliardenhöhe neu eröffnet hat?
Dieser Nachtragshaushalt ist für die Bundesrepublik sicherlich zu verkraften. Aber entscheidend ist doch, daß dieser Nachtragshaushalt ein Symptom für tieferliegende Probleme ist; ein Symptom dafür, daß grundlegende Probleme der EG-Finanzwirtschaft weiterhin ungelöst sind und daß hier in den nächsten Jahren gewaltige Belastungen auf den Bundeshaushalt zukommen.Ich komme auf das Verfahren in der weiteren Beratung über diesen Nachtragshaushalt zu sprechen.Der Bundesfinanzminister hat in seiner Pressemitteilung vom 3. Oktober 1984 — die kennen Sie, Herr Voss — zum Nachtragshaushalt wörtlich erklärt:Die Bundesregierung macht den weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens davon abhängig, daß es auch in Fragen der Haushaltsdisziplin in der EG unverzüglich zu einer Einigung auf der Grundlage der Beratungen von Montag und Dienstag in Luxemburg kommt.Was soll das eigentlich konkret für unser Beratungsverfahren bedeuten, Herr Voss? Gibt es die verlangte Einigung inzwischen? Oder sollen wir unsere Beratung bis zu einer solchen Einigung aussetzen? Hier ist eine klare Antwort von Ihnen im Lauf dieses Abends verlangt, damit wir wissen, wie wir in unseren weiteren Beratungen verfahren sollen.Vielleicht könnten Sie, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, auch erklären, ob Presseberichte zutreffen, daß der Bundesaußenminister sich sehr kritisch über Ihre nachgiebige Verhandlungsführung in Brüssel geäußert hat.Lassen Sie mich etwas dazu sagen, wie diese EG-Zahlungen haushaltssystematisch behandelt werden. Es ist schon pikant, daß die Zahlungen an die EG, die heute beschlossen werden sollen, im Bundeshaushalt als Ausgaben für Investitionen verbucht werden.
Begründet wird dies damit, daß das rückzahlbare Vorschüsse an die EG seien. In Wirklichkeit ist es doch so, daß es Vorschüsse auf künftige Beiträge sind und damit überhaupt keinen Darlehenscharakter haben und deshalb nicht zu den Investitionen, sondern zu den laufenden Ausgaben zu zählen sind. Aber ich weiß ja, daß Sie, da die Investitionsansätze in Ihrem Bundeshaushalt so schlecht sind, mit einem solchen Trick versuchen, formal und nach außen hin die Investitionsquote zu erhöhen. Das kann ich nur für einen schlimmen Trick halten.
— Roßtäuscherei; jawohl, Herr Kollege Apel.Für den Finanzminister hat dieser Nachtragshaushalt den Vorteil, daß er seine Zahlen über die Investitionsausgaben noch ein bißchen nachbessern kann. Aber bei nächster Gelegenheit wird unsder Bundesfinanzminister sicher wieder sehr eindringlich erklären, wie sehr diese Regierung der Wende doch auf die Steigerung der Investitionen in allen öffentlichen Haushalten hinarbeitet.Die Entwicklung der EG-Finanzen ist nur ein Beispiel unter vielen dafür, daß diese Bundesregierung nicht in der Lage ist, strukturelle Finanzprobleme nachhaltig zu lösen, und daß sie statt dessen immer neue Verschiebebahnhöfe und Finanztricks erfindet.Ein weiteres Beispiel dafür ist die Entwicklung bei den Rentenversicherungen, die wir derzeit erleben.
Sie haben die Kürzung der Zahlungen der Bundesanstalt für Arbeit an die Rentenversicherung durchgesetzt und damit die Rentenversicherungen in akute Finanzprobleme bereits in diesem Jahr gestürzt.
Von 1985 will ich heute abend gar nicht erst reden.
Eine Schlußbemerkung. Die Eingebung bei der Bundesanstalt für Arbeit — vor allem zu Lasten der Arbeitslosen — war in ihren finanziellen Auswirkungen viel stärker, als von Ihnen unterstellt — was ich, ich sage es nur nebenbei, für skandalös halte. Deshalb müssen Sie den bisher angenommenen Zuschuß von 1,7 Milliarden DM an die Bundesanstalt nicht zahlen. Aber Sie brauchen andererseits durch höhere Langzeitarbeitslosigkeit, um die sich offenbar diese Bundesregierung überhaupt nicht kümmert, mehr Geld für die Arbeitslosenhilfe.
Niemand kann Sie zwingen, das im Nachtrag zu korrigieren. Aber ich sage Ihnen, Herr Voss — Sie haben es abgelehnt, andere notwendige Korrekturen im Nachtragshaushalt zu machen —: Wenn Sie den Prinzipien der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit nachgekommen wären, hätten Sie einen ordentlichen Nachtragshaushalt vorgelegt.
Hätten Sie das aufgenommen, was Sie durch Ihre ständige Flut von über- und außerplanmäßigen Ausgaben bewilligen, dann hätte dieses Parlament einen Überblick über das bekommen, was wirklich bei Ihnen in diesem Jahr abläuft. Dann hätten wir heute abend eine Entscheidungsgrundlage gehabt, die sehr viel besser wäre, als es dieses Stückwerk ist, über das wir heute abend und demnächst im Haushaltsausschuß beraten müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn die Rede des Herrn Dr.
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AustermannVoss lustlos war, dann war Ihre, Herr Kollege Walther, meine ich ärgerlich sicher vom Gemüt her, aber peinlich deshalb, weil sie sich wie eine Philippika gegen die Finanzpolitik der Vorgänger von Herrn Stoltenberg — des Herrn Schmidt, des Herrn Apel und des Herrn Matthöfer — anhörte.
Sie haben sich weithin bei Finanzproblemen der EG aufgehalten. Die Finanzprobleme der EG sind Gott sei Dank nicht mit den Finanzproblemen identisch, die wir in der Bundesrepublik haben.Dies ist der erste Nachtragshaushalt seit dem Kassensturz nach dem Zusammenbruch des Kabinetts Schmidt im Jahr 1982. Er ist nicht deshalb notwendig geworden, weil in der Bundesrepublik etwas nicht stimmt, sondern weil im Haushalt der Europäischen Gemeinschaft eine Deckungslücke besteht, die nicht innerhalb der Eigenmittel der EG finanziert werden konnte. Diese Entwicklung hat sich außerhalb des finanziellen Verantwortungsbereiches dieses Hauses und der Bundesregierung ergeben, und sie mußte noch in diesem Jahr ausgeglichen werden, Herr Walther, um insbesondere der Landwirtschaft, für die Sie sich hier erstaunlich eingesetzt haben, eine fristgerechte Zahlung der Marktordnungsabgaben zu gewährleisten.
Nach der notwendigen Hilfe an die Landwirtschaft durch die Erhöhung der Vorsteuerpauschale fangen wir damit zum zweitenmal mit nationalen Maßnahmen die nachteilige Entwicklung der EG in unserem Haushalt auf.
Es bleibt im Interesse der deutschen Landwirtschaft zu hoffen, daß dadurch die EG-Kommission in die Lage und vielleicht unter Druck gesetzt wird, nachteilige Beschlüsse im Getreidesektor vom September 1984 zu revidieren.
Es bleibt im Interesse der Entwicklung der EG zu hoffen, daß damit die entscheidenden Schritte durch die Finanzminister durchgesetzt werden konnten, die zu einer wesentlich sparsameren Haushaltsführung der EG, die wir auch wollen, beitragen. Vielleicht gelingt es sogar endlich, einen Schritt zu unternehmen, die Besoldungsentwicklung bei den Europabeamten der der vergleichbaren nationalen Beamten anzugleichen.
— Wir gehen an die Aufgaben heran, die Sie bisher als unlösbar bezeichnet und hinterlassen haben.Nach dem geltenden Recht kann diese Vorschußleistung nur durch einen Nachtragshaushalt bewilligt werden. Sie haben hier die Dinge völlig verdreht. Natürlich muß in Brüssel erst mal ein Ent-wurf beschlossen werden, den wir hier national beschließen oder ablehnen, was wir durchaus noch können, da die EG auf unsere Zustimmung angewiesen ist. Eine förmliche Rechtsverpflichtung zur Zahlung besteht insoweit nicht; das müßten Sie, Herr Kollege Walther, eigentlich wissen.Wir mußten das im Nachtragshaushalt machen, weil wir der Auffassung sind, daß diese Rechtsverpflichtung bisher nicht bestanden hat, und weil dies insbesondere das Bundesverfassungsgericht 1977 festgestellt hat, als es damals Anlaß hatte, die Praxis des damaligen Bundesfinanzministers und späteren Bundeskanzlers Schmidt am Jahresende 1973 zu rügen. Es ging um seine unverantwortliche Finanzwirtschaft zum Jahreswechsel 1973/74.
Der Entwurf des Nachtrags unterscheidet sich von dem von Stoltenbergs Vorgängern zu verantwortenden zahlreichen Vorläufern Ihrer Regierungszeit — in die Verantwortung fällt auch der 2. Nachtragshaushalt 1982, als Gerhard Stoltenberg den haushaltspolitischen Scherbenhaufen seiner Vorgänger aufzuräumen begann —
in einem ganz entscheidenden Punkt.
— Darauf komme ich gleich noch. — Er ist nicht notwendig, um wie früher immer neue Milliardenlöcher zu stopfen und zusätzliche Kreditermächtigungen für eine ungehemmte Schuldenwirtschaft einzuholen.
Dieser Nachtrag bleibt in Einnahmen und Ausgaben in der Summe ausgeglichen, unverändert gegenüber dem ursprünglichen Ansatz 1974.
— Genau. — Der Mehrbedarf im EG-Bereich wird durch Einsparungen in gleicher Höhe bei den Ausgaben für Zinsen und Gewährleistung aufgefangen werden. Dieser Nachtrag ist damit nicht Ausdruck einer ungehemmten Schuldenwirtschaft, er ist Teil der Erblast EG-Sanierung. Auch dies ist eine Erblast, die wir übernommen haben,
und eine Bestätigung für stetige und solide Finanzwirtschaft.Diese Finanzpolitik, die wir machen, Herr Walther, findet Ausdruck in der Begrenzung neuer Schulden, und sie hat ablesbare, positive Wirkungen für den Bürger. Die Verbraucherpreissteigerung ist auf 1 % zurückgegangen; das gab es zuletzt bei Ludwig Erhard. Die Mark ist stabil. Wir haben vorhin über die Arbeitnehmer und die Auswirkung
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6754 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Austermannauf die Arbeitnehmer gesprochen. Dabei darf man diese Inflationsrate nicht vergessen.Die Zinsen sind seit 1981 um 5 % gesunken und weiter auf dem Weg nach unten. Die Wirtschaft wächst wieder, die Verschuldung des Bundes wird eingedämmt, und die Steuerschätzungen stimmen wieder.
Dieser Nachtragshaushalt gibt uns einen realistischen Eindruck — offensichtlich teilen Sie diese Auffassung nicht, sonst würden Sie hier nicht so sinnlos herumlärmen — vom voraussichtlichen Jahresabschluß 1984: Schon heute steht fest — trotz der notwendigen Mehrbelastungen —, daß in diesem Jahr mindestens 4 Milliarden DM weniger neue Schulden gemacht werden müssen,
eine erstaunliche Leistung.
Die eindeutige Tendenz einer Eindämmung der Neuverschuldung wird bestätigt.Ich will Ihnen gern ein Zitat bringen, das Sie vielleicht noch unruhiger macht. Ruft man sich nämlich die Äußerungen des Kollegen Apel, des finanzpolitischen Sprechers der SPD aus dem Frühjahr 1983 in Erinnerung, dann wird einem klar, wie weit Sie sich von den haushaltspolitischen Realitäten entfernt haben. Am 7. April 1983 hatte Apel für die SPD-Fraktion einen Nachtragshaushalt wegen einer angeblichen Fünf-Milliarden-Lücke gefordert. Er unterstrich, daß die SPD nicht zulassen werde, daß die Bundesregierung für das Jahr 1984 erneut einen Haushalt mit „Phantasiezahlen" vorlegen werde. Inzwischen zeigte sich, daß 1983 9 Milliarden DM weniger an Krediten aufgenommen werden mußten. Das von Apel prognostizierte Fehl von 15 Milliarden DM wird es nicht geben. Statt dessen gibt es eine Reduzierung der Kreditaufnahme, die weit unter dem Soll-Ansatz liegt.
In der Sache sind drei im Nachtrag angesprochene Positionen — der Vorschuß auf die eigenen Einnahmen der EG und der Ausgleich dieser zusätzlichen Ausgaben durch Minderausgaben bei Zinsen sowie Gewährleistungen — unproblematisch. Allein bei den Gewährleistungen kann mit einem Minderbedarf von zirka 500 Millionen DM gerechnet werden, nachdem die Gewährleistungen noch zu Beginn des Jahres als eines der wesentlichen und nicht abwägbaren Risiken angesehen werden mußten.Bei den Zinsen wirkt sich der positive Jahresverlauf 1983 ebenfalls aus. Wenn weniger Kredite aufgenommen werden mußten, schrumpfen Zinsen und Disagio. Die Kassenverstärkungskredite wurden weniger in Anspruch genommen. Ich muß hier allerdings den Bundesfinanzminister erneut bitten, zu überprüfen bzw. überprüfen zu lassen, ob nicht die Bundesbank für den verzögert ausgezahlten Gewinn tatsächlich Zinsen an den Bund abführen sollte.Unsere Fraktion wird bei der Beratung im Haushaltsausschuß prüfen, inwieweit noch andere Ansätze des Haushaltes 1984 an die Entwicklung seit der Verabschiedung vor fast einem Jahr angepaßt werden sollten.
— Hören Sie zu. — Nach dem Vorgesagten muß eine solche Anpassung positiv ausfallen. Der Bundesbankgewinn ist um 2,4 Milliarden DM höher als veranschlagt. Der Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit bleibt in der Kasse, weil die Arbeitslosigkeit niedriger ist, als zu Beginn des Jahres bzw. im Dezember 1983 geschätzt.
Die Investitionshilfeabgabe der Besserverdienenden bringt mehr Einnahmen als erwartet.
Andererseits — und jetzt kommt etwas für Sie sicher nicht sehr Rühmliches — werden jedoch die Steuereinnahmen wegen der Streiks im Frühsommer, wegen gesetzlicher Maßnahmen, z. B. in der Landwirtschaft, aber auch infolge günstiger Entwicklungen wie der niedrigen Inflation — —
— Frau Präsidentin, darf ich Sie bitten, für etwas Ruhe zu sorgen?
Worum geht es denn, Herr Kollege? Ich habe gerade nicht aufgepaßt.
Meine Damen und Herren, ich bitte doch, den Herrn Redner zu Wort kommen zu lassen.
Herr Walther, Ihre Sprechzettel liegen noch hier. Ich habe darauf verzichtet, dazu etwas zu sagen.
Weil verschiedene Änderungen eingetreten sind, werden die Steuereinnahmen in diesem Jahr voraussichtlich niedriger sein, als im Ansatz zugrunde gelegt. Die IstAusgaben waren Ende September noch um fast 6 Milliarden DM niedriger, als sie zu dem Zeitpunkt hätten sein müssen. Das bestätigt die Annahme, daß sie 1984 insgesamt deutlich unter den Soll-Ansätzen bleiben dürften. Hier zeigen sich die Wirkungen des Arbeitskampfes beim Bund mit einigen 100 Millionen DM Mindereinnahmen; denn der Einbruch bei der Steuer fiel genau in den Monaten in den Bundesländern an, in denen die Metaller streikten. Inzwischen steht auch fest, daß der sinnlose Streik etwa 1 % Wachstum und damit die ge-
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Austermann
samte Volkswirtschaft etwa 17 Milliarden DM an Verlust gekostet hat.
Mit diesen 17 Milliarden DM hätte man gut zwei Konjunkturprogramme nach den Vorstellungen von DGB und SPD verwirklichen können. Ich meine, niemand, der sich für Streik und Arbeitskampf in diesem Frühjahr ausgesprochen hat, hat noch ein Recht, zusätzliche staatliche Maßnahmen und mehr Anstrengungen der Wirtschaft für Ausbildungsplätze zu fordern. All diejenigen die die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich gefordert haben, haben dazu beigetragen, daß ein ganzes Konjunkturprogramm verschleudert und viele 100 Millionen DM Steuereinnahmen vom Bund nicht eingenommen wurden.
Alles in allem überwiegen die positiven Abweichungen und Veränderungen im Jahresablauf immer noch gegenüber den negativen Abweichungen.
— Das müssen Sie als angeblicher Bildungspolitiker gerade sagen, Herr Kuhlwein.
Der Nachtragshaushalt kann schon wegen des Zeitpunkts Mitte Oktober kein umfassender Korrekturhaushalt sein. Um alle Ansätze neu zu überprüfen und zu beraten, ist die vom Grundgesetz und von der Geschäftsordnung vorgesehene Beratungszeit zu knapp, wenn die Mittel rechtzeitig bei der EG eingehen sollen. Wir werden einen angemessenen Mittelweg finden, der unvertretbare Zeitverluste vermeidet, aber doch zuläßt, die positive Entwicklung unseres Haushaltes zu markieren. In diesem Sinne darf ich Sie für die CDU/CSU-Fraktion schon jetzt um die Unterstützung des Nachtragshaushaltes bitten.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Weng.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gebe zu, daß man als „Haushaltsabgeordneter" das Gefühl der Ohnmacht in Richtung Brüssel nicht los wird, wenn man sieht, welche Dinge sich dort abspielen.
Ich bin sicher, daß man dieses Gefühl der Ohnmacht auch der Regierung nicht absprechen kann. Deswegen geht die Kritik am Finanzminister in der Frage des hier vorgelegten Nachtragshaushalts ins Leere.Mit diesem Nachtragshaushalt 1984 geht es Herrn Stoltenberg nämlich so ähnlich wie einem ehrgeizigen Langstreckenläufer, der angekündigt hat, er werde einen neuen 10 000-Meter-Weltrekord laufen, und den die Zeitmessung aus Versehen eine Runde zuviel laufen läßt.Meine Damen und Herren, bei der Beratung des Haushalts 1984 in diesem Hause konnten die Bundesregierung und die sie tragende Koalition mit Sicherheit davon ausgehen, daß kein Nachtrag notwendig sein werde. Dies gilt ja auch für den Ablauf des nationalen Haushalts ganz ohne Zweifel.Leider hat uns — hier ist es wie bei dem Langstreckenläufer, dem der Zeitnehmer noch eine Zusatzrunde „genehmigt" hat — eine zusätzliche Anforderung der EG in Form der Finanzierung einer Deckungslücke des Haushalts 1984 der Europäischen Gemeinschaft einen Strich durch die Rechnung gemacht.Ich möchte, meine Damen und Herren, zu dieser späteren Stunde dies trotzdem noch zum Anlaß nehmen, mich einmal kritisch mit dem Finanzgebaren der Europäischen Gemeinschaft auseinanderzusetzen. Nach den Verträgen von Rom muß der Gemeinschaftshaushalt stets ausgeglichen sein. Die Ausgaben haben sich also nach den verfügbaren Einnahmen zu richten. Dies ist die richtige Reihenfolge.Deren Quellen — Zölle, Agrarabschöpfungen an den Grenzen und vor allem die auf 1 % der einheitlichen Bemessungsgrundlage begrenzten Mehrwertsteuereinnahmen — haben dafür gesorgt, daß der EG-Haushalt 1984 an die Grenzen der Machbarkeit gestoßen ist. Dies hätte ein Appell an die Verantwortlichen zur Zurückhaltung sein müssen.Trotz der jetzt gefaßten Beschlüsse zur Eindämmung der Mehrausgaben scheint es aber nach wie vor für Brüssel der bequemere Weg zu sein, die Einnahmen nach den Ausgaben zu richten. Es entsteht nicht der Eindruck, daß man von diesem Weg abgehen will. Da hilft, meine Damen und Herren, auch nicht die Ausrede, die der Vizepräsident der Kommission, Herr Tugendhat, vor dem Europäischen Parlament gebraucht hat, daß die Ausgabensteigerungen im wesentlichen auf frühere vom Ministerrat und vom Parlament beschlossene Verpflichtungen zurückzuführen seien, die jetzt kassenwirksam würden.Bereits mit dem Haushalt 1984 ist die Gemeinschaft nämlich mit dem vorliegenden Haushaltsvolumen zu 99,7 % an die Obergrenze gestoßen. Die freie verfügbare Masse des Haushalts betrug bei Vorlage nur noch 43 Millionen Ecu, also rund 100 Millionen DM. Dieses muß man im Verhältnis zum Gesamtvolumen von 67 Milliarden DM sehen. Dann muß man sich doch sehr ernsthaft Gedanken darüber machen, wo angesetzt werden muß.
Der jetzt zu fassende Beschluß über den Nachtragshaushalt 1984 ist ja insofern auch ein politischer Beschluß, als es hier u. a. darum geht, das Problem der Deckung des britischen Haushaltsausgleichs zu lösen. Dies mußte geschehen, weil die Gemeinschaft in einer echten Krise war
6756 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984Dr. Wengund auch die Bundesrepublik zur Lösung einer solchen Krise, Herr Kollege Walther, einen Beitrag leisten mußte. Ich frage mich, was eine von Ihnen geführte Regierung in dieser Situation anderes gemacht hätte.
Dieser Ansatz löst allerdings in keiner Weise die Strukturprobleme des Haushalts der Europäischen Gemeinschaft. Einiges von dem, was der Kollege Walther hierzu gesagt hat, war ja richtig.
Es hilft uns im Grunde genommen nicht, für ein paar Monate über die Runden zu kommen.
Pieter Dankert, der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, hat denn auch den Nachtragshaushalt 1984 und den vorliegenden Haushaltsentwurf 1985 der EG als ein „betrügerisches Unternehmen" bezeichnet,
bei dem — ich zitiere — die Buchhaltung gefälscht sei und wissentlich teilweise falsche Zahlen genannt und benutzt worden seien.
Dies muß zum Denken Anlaß geben.
Der Beschluß über den Nachtragshaushalt des Bundes mit einem Mittelansatz von 650 Millionen DM für die Europäische Gemeinschaft zeigt insofern nur die Spitze eines Eisbergs. Für 1985 schätzen die Experten ja bereits jetzt einen zusätzlichen Finanzbedarf der Gemeinschaft zwischen 8 und 10 Milliarden DM, der ebenfalls nicht gedeckt werden kann.Daß man aus dieser ganzen Misere in Brüssel nichts gelernt hat, zeigt der bereits genannte Vorentwurf des Haushalts der EG für 1985. Er sieht nämlich eine Steigerung von fast 11% vor, wobei die zu erwartenden Einnahmen zur Deckung natürlich weit hinter diesem horrenden Steigerungssatz zurückbleiben.Auch die eigentlich aus anderen Gründen beschlossene Erhöhung des Mehrwertsteueranteils auf 1,4 % ab 1986 wird hier natürlich keine Lösung bringen. Es ist davor zu warnen, daß die bereits jetzt ins Auge gefaßte mögliche weitere Erhöhung des Mehrwehrtsteueranteils auf 1,8 % in Kraft gesetzt wird, ehe die Grundlagen der Finanzierung hier wirklich in aller Konsequenz geändert sind.
— Herr Kollege Eigen, wenn es wirklich 1,6% sind, dann gibt auch diese Zahl Anlaß, hierüber nachzudenken. Ich werde das gerne kontrollieren und dann gegebenenfalls berichtigen. Meine Vorlage sagt: 1,8 %. Aber Sie als einer der Nutznießer im landwirtschaftlichen Bereich mögen über diese Dinge besser Bescheid wissen als ich.
In einer Zeit, meine Damen und Herren, in der sich fast alle Mitgliedstaaten der EG, mehr oder weniger unterschiedlich motiviert, zum Teil doch sehr ernsthaft darum bemühen, die Konsolidierung ihrer nationalen Haushalte einzuleiten, halte ich es für einen Skandal, wenn man in Europa beim EGHaushalt nach wie vor von zweistelligen Zuwachsraten ausgeht.Eine zentrale Rolle bei den finanzpolitischen Erörterungen im Rahmen der EG-Gremien spielte die Staatsverschuldung der Mitgliedsländer. Es hätte auch berücksichtigt werden müssen, daß die Zinsaufwendungen für Schulden seit Ende der 70er Jahre unangemessen schnell steigen. In einigen Ländern hat die Verschuldung inzwischen bereits 100% des Bruttosozialprodukts erreicht. Die Mehrheit der Mitgliedsländer hat in ihren nationalen Haushalten Zinsaufwendungen, die zwischen 10 % und 20% der gesamten Ausgaben liegen.Dies bedeutet doch, daß die Schlußfolgerung gezogen werden muß, daß es keine andere Alternative als das Zurückschneiden der Ausgaben gibt, und dies muß auch für die Europäische Gemeinschaft gelten. Dies bedeutet auf der anderen Seite, daß auch die Kommission mit einer wirksamen und nachdrücklichen Haushaltskonsolidierung endlich beginnen muß.
Es ist, meine Damen und Herren, sonst widersprüchlich, wenn auf der einen Seite die nationalen Staaten alles in ihrer Macht Stehende versuchen, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen, und auf der anderen Seite die Europäische Gemeinschaft diese Bemühungen mit zweistelligen Zuwachsraten konterkariert.Vorrangig für die kommenden Jahre sind aus meiner Sicht eine stärkere Kontrolle der Ausgaben bei der EG sowie eine überfällige Umstrukturierung des Systems der Einnahmen und der Ausgaben.Weiterhin ist ein strikteres Haushaltsverfahren erforderlich, insbesondere hinsichtlich der Haushaltstermine und der Überwachung des Haushaltsvollzugs. Unbedingt erforderlich sind, ebenso wie es bei uns im Bundeshaushalt ganz selbstverständlich ist, strengere Bewirtschaftsgrundsätze, insbesondere hinsichtlich der Leistung über- und außerplanmäßiger Ausgaben. Meine Damen Herren, hier hat auch unsere Bundesregierung einen wichtigen Auftrag. Ich füge hinzu: Hier ist ein gewisses Maß an Härte in Brüssel in Zukunft sicherlich noch angebrachter, als es das auch in der Vergangenheit gewesen wäre.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend festhalten, daß der Grund für den Nachtragshaushalt im Bundeshaushalt 1984 äußerst besorgniserregend ist, daß die Probleme mittel- und langfristig zunehmen werden und daß unsere Regierung aufgerufen ist — wir sind sicher, daß das geschieht —, alles Mögliche zu tun, um zu der überfälligen Konsolidierung des Haushalts der Europäischen Gemeinschaft zu kommen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984 6757
Dr. WengIch danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Die Vorlage auf Drucksache 10/2080 wird gemäß dem Vorschlag des Altestenrates an den Haushaltsausschuß überwiesen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 und 22 auf:
21. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Frau Dr. Bard, Bastian, Baum, Frau Beck-Oberdorf, Bernrath, Berschkeit, Burgmann, Daubertshäuser, Drabiniok, Dr. Ehmke , Fischer (Frankfurt), Frau Fuchs (Köln), Gilges, Frau Gottwald, Herterich, Frau Dr. Hickel, Dr. Holtz, Horacek, Hoss, Ibrügger, Dr. Jannsen, Frau Kelly, Kleinert (Marburg), Kretkowski, Kriszan, Lennartz, Frau Matthäus-Maier, Frau Nickels, Dr. Nöbel, Frau Potthast, Frau Reetz, Reents, Frau Renger, Sauermilch, Schily, Schlatter, Schneider (Berlin), Frau Schoppe, Schwenninger, Stratmann, Verheyen (Bielefeld), Vogt (Kaiserslautern), Frau Dr. Vollmer, Vosen, Wiefel, Wischnewski
S-Bahn Köln
— Drucksache 10/1376 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß
22. Beratung des Antrags der Abgeordneten Milz, Straßmeir, Schmitz , Dr. Möller, Müller (Wesseling), Müller (Remscheid), Herkenrath, Krey, Braun, Louven, Wimmer (Neuss), Lamers, Broll, Dr. Daniels, Günther, Hauser (Krefeld), Dr. Kronenberg, Dr. Hupka, Pesch, Wilz, Dr. Pohlmeier, Schemken, Dr. Blank, Dr. Blens, Hanz (Dahlen), Bühler (Bruchsal), Fischer (Hamburg), Tillmann, Seesing, Dr. Pinger, Weiß, Dr. Hüsch, Haungs, Nelle, Bohlsen, Pfeffermann, Hoffie, Kohn, Paintner, Dr. Weng und der Fraktionen der CDU/CSU und FDP
S-Bahn im Kölner Raum
— Drucksache 10/1724 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr Haushaltsausschuß
Hierzu wird das Wort nicht erbeten.
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Überweisung der Anträge auf den Drucksachen 10/1376 und 10/1724 an die Ausschüsse vor, die in der Tagesordnung angegeben sind. Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Sind Sie mit diesem Vorschlag des Altestenrates einverstanden? — Dann ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 23 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes
— Drucksache 10/1727 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit
Auch hierzu wird das Wort nicht erbeten.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf auf Drucksache 10/1727 an den Verteidigungsausschuß — federführend — und zur Mitberatung an den Innenausschuß und den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Punkte 24 bis 26 der Tagesordnung auf:
24. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen
— Drucksache 10/1988 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
25. Beratung des Antrags des Abgeordneten Drabiniok und der Fraktion DIE GRÜNEN Erhalt aller Güterwagen-Ausbesserungswerke der Deutschen Bundesbahn
— Drucksache 10/1638
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
26. Beratung des Antrags der Abgeordneten Fischer , Voigt (Frankfurt), Dr. Ehmke (Bonn), Roth, Catenhusen, Daubertshäuser, Grunenberg, Frau Fuchs (Verl), Hettling, Ibrügger, Dr. Jens, Jungmann, Klejdzinski, Nagel, Schäfer (Offenburg), Dr. Scheer, Frau Simonis, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Stahl (Kempen), Stockleben, Vahlberg, Vosen, Zander und der Fraktion der SPD
Weltraumfahrt
— Drucksache 10/1900 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Forschung und Technologie Auswärtiger Ausschuß
Verteidigungsausschuß
Haushaltsausschuß
Das Wort wird nicht erbeten.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Anträge auf den Drucksachen 10/1988, 10/1638 und 10/1900 an die Ausschüsse vor, die in der Tagesordnung angegeben sind. Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
6758 Deutscher Bundestag — 10.Wahlperiode — 91. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 18. Oktober 1984
Vizepräsident Frau Renger
Ich rufe die Punkte 27a und 27b der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Sammelübersicht 47 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 10/2070 —
b) Beratung der Sammelübersicht 48 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen
— Drucksache 10/2073 — Das Wort wird nicht erbeten.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses, die in den Sammelübersichten 47 und 48 enthaltenen Anträge anzunehmen, zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Dies ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen. Der Herr Vizepräsident des Deutschen Bundestages Stücklen teilt dem Herrn Bundestagspräsidenten folgendes mit:
Betr.: Ordnungsmaßnahmen nach § 38 der Geschäftsordnung gegen die Abgeordneten der Fraktion der GRÜNEN Reents und Fischer
Sehr geehrter Herr Präsident,
unter Würdigung der Aussprache in der Altestenratssitzung von heute, 14 Uhr, entscheide ich gemäß § 38 der Geschäftsordnung folgendermaßen:
Die gegen den Herrn Abg. Reents ausgesprochene Ordnungsmaßnahme in der heutigen Plenarsitzung wird auf weitere vier Sitzungstage ausgedehnt.
Die gegen den Herrn Abg. Fischer ausgesprochene Ordnungsmaßnahme in der heutigen Plenarsitzung wird auf einen weiteren Sitzungstag ausgedehnt.
— Meine Damen und Herren, an diesem Punkt ist keine Kritik im Hause üblich.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Oktober 1984, 8 Uhr ein und darf Ihnen noch mitteilen, daß fünf Minuten nach Beendigung der Plenarsitzung eine Fraktionssitzung der SPD stattfinden wird.
Die Sitzung ist geschlossen.