Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute hat der Abgeordnete Löher seinen 60. Geburtstag.
— Das ist wunderbar. Trotzdem gratulieren wir ihm alle recht herzlich.
Auf Grund einer Vereinbarung im Ältestenrat wird vorgeschlagen, in der Sitzungswoche vom 10. September 1984 — das ist die erste Sitzungswoche nach der Sommerpause — mit Rücksicht auf die für diese Woche vorgesehene Haushaltsberatung keine Fragestunde durchzuführen. Findet das Ihre Zustimmung? — Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um zwei Punkte, die Zusatzpunkte 6 und 7, erweitert werden. Diese Punkte sind in der Liste „Zusatzpunkte zur Tagesordnung", die Ihnen vorliegt:
6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Zweiundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste
— Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —
— Drucksachen 10/1446, 10/1677 —
Berichterstatter: Abgeordneter Reuschenbach
7. Beratung des Antrages der Abgeordneten Kroll-Schlüter, Wissmann, Braun, Breuer, Sauer und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Eimer , Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Cronenberg (Arnsberg), Frau Seiler-Albring und der Fraktion der FDP
Lösungsvorschläge aus dem Schlußbericht der Enquete-Kommission Jugendprotest im demokratischen Staat
— Drucksache 10/1692 —
Gleichzeitig mit der Aufsetzung der Zusatzpunkte auf die Tagesordnung soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden. Auch damit ist das Haus einverstanden? — Dann ist das auch so beschlossen.
Die Fraktion der GRÜNEN hat ihren Antrag, drei Punkte zusätzlich auf die Tagesordnung zu setzen, zurückgezogen, so daß wir diese Punkte nicht zu behandeln brauchen.
— Doch, Frau Nickels hat das eben alles mitgeteilt. Das ist alles in Ordnung.
Ich rufe dann Zusatzpunkt 3 zur Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Die finanziellen Risiken der Deutschen Bundespost durch die flächendeckende Verkabelungspolitik des Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen
Die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. lc der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde verlangt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Walther.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde ist notwendig geworden, weil der Bundespostminister zum wiederholten Male öffentlich ins Gerede gekommen ist.
Sie ist aber auch deshalb nötig geworden, weil eine Reihe von Fragen - Herr Kollege Dr. Friedmann, Sie wissen das — im Rechnungsprüfungsausschuß und im Haushaltsausschuß unbeantwortet und ungeklärt geblieben sind.
In der an Skandalen gewiß nicht armen Geschichte dieser Bundesregierung Kohl/Genscher
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5728 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
Walthernimmt der Bundespostminister eine herausragende Stellung ein.
Durch sein ungeschicktes Verhalten, welches ihm im übrigen j a schon einmal eine väterliche Ermahnung durch den Herrn Bundeskanzler eingetragen hat,
hat er den Ruf der Deutschen Bundespost und ihrer Mitarbeiter leichtfertig aufs Spiel gesetzt. Ein Paradebeispiel dafür ist das, was wir heute morgen zu besprechen haben: das jetzt vorliegende Gutachten des Bundesrechnungshofs über die Wirtschaftlichkeit der Breitbandverkabelung.Ich möchte im Namen meiner Fraktion zunächst dem Bundesrechnungshof Dank für seine gewissenhafte, objektive und fundierte Arbeit sagen.
Übrigens, dieses Werk hat der Haushaltsausschuß in Auftrag gegeben, nicht der Bundespostminister, der es eigentlich hätte tun sollen
oder der zumindest selbst solche Untersuchungen hätte anstellen müssen.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Dr. Friedmann, und den Kollegen der Regierungskoalition im Haushaltsausschuß herzlich Dank dafür sagen, daß Sie durch Ihr Verhalten die Anforderung dieses Gutachtens ermöglicht haben.
Wenn Sie, Herr Bundespostminister, den Kollegen der Regierungskoalition intern jetzt vorwerfen, diese hätten Sie in die Pfanne gehauen,
dann beweisen Sie damit nur, welch gestörtes Verhältnis Sie zu der Stellung eines unabhängigen, an Aufträge und Weisungen nicht gebundenen Abgeordneten haben.
Daß Ihr Druck trotzdem ausgereicht hat, zeigt die gestrige Abstimmung im Haushaltsausschuß, mit dem die einvernehmliche Beschlußempfehlung des Rechnungsprüfungsausschusses kassiert worden ist.Aus der Fülle der zu treffenden Feststellungen greife ich nur wenige heraus. Der Bundespostminister hat seine Verkabelungsentscheidung auf der Grundlage eines völlig unzureichenden, ja chaotischen Datenmaterials getroffen.
Ich sage Ihnen, jedes Vorstandsmitglied eines Privatunternehmens wäre bei einem solchen Verhalten sofort hochkantig gefeuert worden.
Zweitens. Der Bundespostminister hat seine eigenen unzulänglichen Vorgaben bewußt zu optimistisch gehalten, um eine Rentabilität vorzutäuschen, die es gar nicht gibt.
Die Vorgaben waren politisch, nicht ökonomisch, und sollten eine Pseudorechtfertigung für den medienpolitischen Hobbyreiter Schwarz-Schilling darstellen.
Drittens. Der Bundesrechnungshof stellt fest, daß nach den Preisständen von 1983 die Investitionskosten nicht 13 1/2 Milliarden DM, wie von Herrn Schwarz-Schilling angegeben, sondern weit über 21 Milliarden DM betragen werden. In seiner Pressekonferenz nach Vorlage des Gutachtens sagte der Minister, er habe schon immer mit Kosten zwischen 20 und 30 Milliarden DM gerechnet, und dabei tut er so, als befände er sich in völliger Übereinstimmung mit dem Bundesrechnungshof. In Wahrheit meint der Bundespostminister aber die volkswirtschaftlichen Kosten, also die von Post und Privaten aufzubringenden Kosten. Im Haushaltsausschuß hat der Postminister im letzten Herbst eine Summe von 25 Milliarden DM genannt und hat dann diese Summe als sich aus Investitions- und Kapitalfinanzierungskosten der Deutschen Bundespost zusammensetzend definiert. Er gibt immer eine Definition, wie sie ihm gerade paßt. Im übrigen, Herr Bundespostminister, wenn die letztgenannte Definition stimmt, dann betragen die Kosten nach den Kriterien des Bundesrechnungshofes jetzt nicht 25 Milliarden DM, sondern es sind weit über 50 Milliarden.
— Ach Gott, Herr Kollege Pfeffermann, gerade Sie müssen von Quatsch reden — bei Ihren Redebeiträgen.
Dieses unglaubliche Verwirrspiel soll nur verschleiern, daß sich der Bundespostminister gewaltig verrechnet hat. Er hat damit jedenfalls auch mich im Postverwaltungsrat getäuscht.
Meine Damen und Herren, das Fazit aus diesen wenigen Feststellungen lautet: Dieser Bundespostminister ist untragbar, ja noch mehr, er ist eine Gefahr für die Deutsche Bundespost. Nachdem der Herr Bundeskanzler ja bei Herrn Derwall war und sich mit gelben und roten Karten auskennt, sage ich: Die gelbe Karte hat er Herrn Schwarz-Schilling
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Waltherschon vorgeführt; jetzt wird es Zeit, daß er ihm die rote zeigt.Vielen Dank.
Nur der guten Ordnung halber: „Quatsch" ist nicht ganz parlamentarisch unter den Kollegen.
— Ach so, Pardon.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Friedmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Thema dieser Aktuellen Stunde ist die Wirtschaftlichkeit der Breitbandverkabelung. Wir haben es also mit der wirtschaftlichen Seite einer technischen Sache zu tun, denn die Breitbandverkabelung bietet die Möglichkeit, mehr Übertragungswege für Rundfunk- und Fernsehübertragungen zur Verfügung zu stellen.
Ich möchte von vornherein klarstellen: Die Union will mehr Übertragungsmöglichkeiten.
Wir wollen Programmvielfalt bei Rundfunk und bei Fernsehen und wollen dafür auch die organisatorische Möglichkeit für ein privates Fernsehen. Da gibt es überhaupt keinen Dissens innerhalb der Union. Allerdings, die Breitbandverkabelung war Gegenstand heftiger Diskussionen. In der Öffentlichkeit ist gesagt worden, dies sei eine falsche Technik, die zu viele Milliarden verschlinge. Ich gebe gerne zu, ich war derjenige, der im Haushaltsausschuß angeregt hat, dieses Gutachten anzufordern. Der Haushaltsausschuß hat dann einstimmig zugestimmt. Heute bestreitet aber niemand, daß dieses Gutachten hilfreich und wertvoll für alle war; das bestreitet auch der Postminister nicht. Es ist richtig, daß die Investitionen vom Rechnungshof auf 21,3 und nicht auf 13,5 Milliarden DM beziffert werden, also um 8 Milliarden DM höher. Der Rechnungshof sagt, woher dies kommt. Die Kosten pro Übergabepunkt lägen nicht bei 1 600 DM, sondern bei 2 200 DM. Er sagt, pro Übergabepunkt könnten im Schnitt nicht drei Wohnungen, sondern nur zweieinhalb angeschlossen werden. Er sagt, die Betriebs- und Personalkosten lägen nicht bei 3%, sondern bei 6,2 %. Der Rechnungshof sagt weiter, die Akzeptanz sei mit 90 % zu hoch angesetzt; man könne nur mit 80 % rechnen.
Ich persönlich bin der Meinung, daß die Annahmen
hinsichtlich der Lebensdauer der Anlagen und hin-
sichtlich einer Akzeptanz von 80 % möglicherweise auch noch zu optimistisch sind.
Aber, meine Damen und Herren, diese Daten beruhen auf den Erfahrungen eines Jahres. Dann hat man natürlich noch nicht die letzte Sicherheit. Die Beratungen innerhalb der Fraktion und in den Parlamentsgremien haben folgendes ergeben.
Erstens. Ich möchte feststellen: Eine Vollverkabelung der Bundesrepublik steht nicht zur Diskussion.
— Etwa ein Drittel der Haushalte wird nicht verkabelt, was nicht bedeutet, daß es ein Stadt-LandGefälle gibt; denn wenn jetzt die Ballungsgebiete verkabelt werden, gilt ein geschlossenes Dorf auf dem flachen Land genauso als Ballungsgebiet wie eine Großstadt.
Zweitens möchte ich feststellen: Es besteht Klarheit, daß sich diese Breitbandverkabelung wirtschaftlich lohnen muß.
Es ist zugestanden, daß während der ersten Jahre auf Teilkostenbasis kalkuliert wird, um an den Markt heranzukommen; aber auf mittlere Sicht, d. h. etwa ab sechs bis sieben Jahre, muß sich diese Breitbandverkabelung auf Vollkostenbasis rentieren.
Drittens ist es genauso klar und ausdiskutiert, daß nicht nur auf die Verkabelung, sondern auch auf neue Techniken gesetzt wird, wie auf den direkt abstrahlenden Rundfunksatelliten und auf die Richtfunktechnik.
Meine Damen und Herren, es ist vom Rechnungshof nicht bestritten worden, daß es richtig war, den Weg der Verlegung von Kupferkoaxialkabeln zu gehen, und es ist nicht bestritten worden,
daß es richtig war, Baumstrukturen zu wählen. Trotzdem möchte ich nicht verkennen, daß Risiken für die Post wie bei jedem neuen Geschäft bleiben. Deshalb wird es in jedem Fall notwendig sein, daß das Parlament die Arbeit des Bundespostministers kritisch begleitet.
Schönen Dank.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Reetz.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der Bundesrechnungshof hat in seinem Bericht zur Wirtschaftlichkeit des öffentlichen Breitbandverteilnetzes eine bemerkenswerte Feststellung gemacht, die auch die heutige Aktuelle Stunde rechtfertigt. Das ist die Feststellung, daß es eine politische Entscheidung ist, ob der Bundespost unter Inkaufnahme außerordentlicher unternehmenspolitischer und betriebswirtschaftlicher Risiken zugemutet werden kann, gemeinwirtschaftliche Aufgaben wahrzunehmen. Wir GRÜNEN sagen, es
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Frau Reetzhandelt sich nicht um gemeinwirtschaftliche Aufgaben, wenn die Bundesrepublik verkabelt wird.
Gemeinwirtschaftliche Aufgaben wären allein dann gegeben, wenn diese Regierung alles in Angriff nimmt, was mit der Gesunderhaltung des Lebens zu tun hat, d. h. wenn es um Aufgaben geht, die uns die Umweltzerstörung stellt. Auch nur mit diesen Aufgaben könnten wir auf anderen Märkten Innovation und Anerkennung finden, während wir, wenn wir mit den Medien, wozu die Breitbandverkabelung die Öffnung sein soll, wenn wir mit der Medientechnologie auf andere Märkte gehen, im besten Fall durch die Konkurrenz andere verdrängen können, was uns aber kaum gelingen wird.Ich komme auf die politische Entscheidung zurück. Diese politische Entscheidung bedeutet auch, daß wir alle diese Entscheidung verantworten, Parlamentarier, Politiker — nicht der Bundespostminister allein —, und die politische Öffentlichkeit. Das heißt, daß wir selbst uns viel mehr mit dieser Breitbandverkabelung befassen müssen. Es tun dies bereits Leute, z. B. die, die in Berlin und München eine Klage gegen den Kabelgroschen, d. h. gegen die erhöhten Fernsehgebühren angestrengt haben, die widerrechtlich für die Kabelpilotprojekte abgezweigt werden. Es tun dies auch die Gewerkschaften, die Postgewerkschaften und der DGB, die fragen, ob wir das Kommerzfernsehen oder den Kornmerzrundfunk überhaupt annehmen wollen. Diese Frage gründet sich auf die Zweifel, ob wir wirklich eine bessere Qualität der Programme bekommen, da die privaten Anbieter j a allein auf die Werbeeinnahmen angewiesen sind.Der politischen Verantwortung ist sich z. B. auch der Verband der Postbenutzer bewußt, der eine außerordentlich fundierte Dienstaufsichtsbeschwerde über den Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, Herrn Dr. Christian Schwarz-Schilling, beim Bundeskanzler eingereicht hat,
in der er seine große Sorge über die Vernachlässigung der anderen Postdienste zum Ausdruck gebracht hat. Er hat ausgeführt, daß wir in bezug auf den Paket- und Briefdient in nahezu mittelalterliche Verhältnisse zurückgefallen sind. Ist Ihnen vielleicht noch in Erinnerung — nein, es kann nicht sein; aber vielleicht wissen Sie es von Ihren Großeltern her —, daß vor 70 Jahren ein Brief im Stadtverkehr 2 Pf und im Landverkehr 10 Pf gekostet hat?
Das Konzept der Breitbandverkabelung hat jedenfalls zu außerordentlichen Gebührenerhöhungen in den anderen Diensten geführt.Weiter sind sich der politischen Verantwortung natürlich auch die Antikabelgruppen bewußt, die mit ihrem Slogan „Laß dich nicht verkabeln" doch schon einen gewissen Erfolg hatten, denn der Bundespostminister strebt, wie hier eben ausgeführt wurde, nicht mehr die flächenmäßige Verkabelung an, sondern er hat in dieser Beziehung sein Konzept geändert.Der Bundespostminister hat in der letzten Sitzung des Postausschusses gesagt, es gebe noch keine Untersuchungen, noch keine Marktanalysen über die Akzeptanz. Die Bundespost geht aber in bezug auf Akzeptanz höchst abenteuerliche Wege, zum Teil sogar durch Ausübung von Druck. Ich möchte auf das Mietrecht hinweisen. Es ist überhaupt noch nicht geklärt, wie sich eine Verkabelung mietrechtlich auf Vermieter und Mieter auswirkt, ob sie wirklich eine Erhöhung des Wohnwertes bedeutet. Ungeklärt sind auch die Auswirkungen auf das Wegerecht der Gemeinden. Die Post schließt mit den Gemeinden einen Gestattungsvertrag ab und verpflichtet sich, für den Fall, daß das Wegerecht infolge der Anfechtung durch die Gemeinden nicht der Post zugestanden wird, die Ausgaben zu erstatten.Ich meine, der Bundespostminister wird vielleicht noch einmal froh sein, wenn er sich aus einem aus der Bahn geworfenen Satelliten katapultieren kann, damit er nicht, wie das z. B. im alten China üblich war, angesichts der Verfehlungen die Kabel alle eigenhändig wieder aus der Erde reißen muß.Wir sind gegen die Verkabelung.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hoffie.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Fraktion hat eine Aktuelle Stunde über eine Wirtschaftlichkeitsberechnung beantragt, deren Ergebnisse genau zehn Jahre alt sind. Denn was der Bundesrechnungshof jetzt festgestellt hat, entspricht exakt den Zahlen, die von der Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems 1974 und 1975 prognostiziert worden sind. Diese sogenannte KtK, der ich ebenso angehören durfte wie z. B. die Herren Glotz und Lafontaine, stellte schon damals fest: Die Gesamtinvestitionen für nahezu flächendeckende Verkabelung werden 22 Milliarden DM, die monatlich zu erhebenden Gebühren müßten 16,50 DM betragen. Der Bundesrechnungshof spricht jetzt von Investitionen von 21,5 Milliarden DM und monatlichen Gebühren von 15,50 DM.Im Streit ist hier heute überhaupt nichts anderes als die Berechnungsgrundlage einer Teil- bzw. einer Vollkostenberechnung. Im Streit ist die Frage, ob wir schon in den Anlaufjahren neuer Fernsehprogramme und Kommunikationsdienste alle Verwaltungs- und Personalkosten den Benutzern auf Mark und Pfennig in Rechnung stellen sollten oder ob zunächst eine Einstiegsgebühr für die Marktöffnung sinnvoller ist.Auch der Bundesrechnungshof sagt, dies sei letztlich eine politische Entscheidung. Die FDP ist bereit, diese Entscheidung zu treffen. Wir wollen den
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HoffieFortschritt in den Informations- und Kommunikationstechniken. Wir treten für Wachstumsmärkte der Zukunft ein, die ja auch neue Arbeitsplätze schaffen. Wir wollen uns nicht aus einer Schlüsselindustrie abmelden. Wir bekennen uns zum freien Zugang aller Bürger zur Vielfalt und zur Auswahl neuer Informations-, Nachrichten- und auch Unterhaltungsquellen. SPD und GRÜNE, meine Damen und Herren, wollen das nicht.
Aber wer die Umkehr oder den Stopp in der Kabelpolitik verlangt, wer auf Glasfaser- oder Satellitenprogramme warten will, verkennt, daß richtig bleibt, was die KtK vor zehn Jahren unter Mitwirkung von Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaft übereinstimmend erklärt hat: Der Ausbau der Telekommunikation genießt hohe Priorität. Kupfer- und Glasfasernetze, Satelliten, die Programme direkt ausstrahlen oder in Kabelantennen einspeisen, stehen eben nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sie bedingen und ergänzen einander. Deshalb müssen, meine Damen und Herren, die Optionen dafür offengehalten werden, in welchem Umfang welche Technik bezahlt und genutzt werden soll. Um die Neubestimmung dieser Gesamtstrategie geht es. Es geht um einen marktorientierten, nachfragegerechten Ausbau des Kabelnetzes.Niemand kann erwarten, daß sich vor Läden, in deren Regalen überhaupt noch keine Waren liegen, schon lange Kundenschlangen bilden. Deshalb wiederholen wir unsere Forderung, daß die Länder endlich mit medienpolitischen Entscheidungen den Weg für mehr und für neue Programme und Dienste freimachen müssen.
Der Bericht des Bundesrechnungshofes ist eine klare Bestätigung der Positionen, die die FDP zur Kabelpolitik in diesem Hause in den Debatten von Ende letzten Jahres vertreten hat. Dieser Bericht bestätigt unsere damaligen Warnungen an den Postminister hinsichtlich der Kosten, der Anschlußdichte und der Akzeptanz. Deshalb bleiben wir bei unserer Auffassung, daß die neue Verkabelung im Gegensatz zum Telefon eben keine Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge und schon gar kein neues Monopol für die Post ist. Schon deshalb muß die Post ihre Milliarden-Risiken bei Investitionen in neue Kabel und Satelliten verkleinern. Dieser neue Markt, meine Damen und Herren, wird natürlich in dem Maße wachsen, in dem wir der privaten Wirtschaft Gelegenheit geben, sich mit Kapital und Know-how zu engagieren. Ich glaube, wenn das unser gemeinsames Bemühen ist, können wir uns künftig Debatten über Gutachten des Bundesrechnungshofes und Aktuelle Stunden dieser Art sparen. — Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Zander.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesrechnungshof hat eine gute und gründliche Arbeit vorgelegt. Der Bericht dokumentiert, daß der Bundespostminister die Öffentlichkeit mit falschen Angaben über die Kosten seiner Pläne irregeführt hat.
In einer Pressekonferenz des Postministers ist zudem deutlich geworden, daß der Bundespostminister die Öffentlichkeit über seine wahren Absichten bisher getäuscht hat. — Das ist im Streit, Herr Abgeordneter Hoffie. Die Aktuelle Stunde ist notwendig geworden, weil wir über die Pressekonferenz des Bundespostministers vom 19. Juni und die dort gezeigte Ignoranz des Ministers nur den Kopf schütteln können.Wir Sozialdemokraten finden, daß der Bericht unsere Bedenken eindrucksvoll bestätigt hat. Wir halten die Breitbandverkabelung für prinzipiell falsch und für unwirtschaftlich. Sie sollte daher aufgegeben werden.
Auf den Seiten 92 bis 94 des Berichtes werden die Gründe in einer Gesamtbewertung zusammengefaßt. Dort führt der Bundesrechnungshof aus — ich zitiere —:Unter Berücksichtigung dieser Faktoren ist eine Amortisation der beabsichtigten Investitionen in BK-Netze innerhalb der Nutzungszeit bei den derzeitigen Gebühren nicht zu erwarten.Es heißt an anderer Stelle:Auch bei produktions- und absatzpolitischen Anstrengungen wird der Deutschen Bundespost ein sehr großes unternehmerisches Risiko bei Investitionen in BK-Netze verbleiben.Daraus ziehe ich die Schlußfolgerung: Wenn die Bundesregierung ihre Verkabelungspläne nicht schleunigst aufgibt, wird sie die Bundespost in massive Defizite oder massive Gebührenerhöhungen oder beides steuern.Wie ist es denn eigentlich, meine Damen und Herren, miteinander vereinbar, auf der einen Seite ein sehr großes Risiko für den Bundeshaushalt einzugehen, während dasselbe Bundeskabinett angeblich aus Gründen der Haushaltskonsolidierung für Millionen von Bürgern Sozialabbau betreibt?
Haben wir nun volle Kassen, oder haben wir leere Kassen? Soll nun auch die Post — ich frage, und ich frage es warnend, Herr Minister, wenn Sie gelegentlich einmal zuhören wollen bei der Debatte, die Sie betrifft — auf den Weg gebracht werden, auf dem die Bundesbahn in ein Milliardendefizit geraten ist? Der Minister kann sich auch nicht dahinter verschanzen, der Bundesrechnungshof hätte falsch gerechnet. Der Minister selbst hat zum Bericht des Bundesrechnungshofes erklärt, er, der Minister, habe bei der Vorbereitung seiner Maßnahmen Ende 1982 und Anfang 1983 zwangsläufig noch auf zum Teil dürftiges und unsicheres Zahlenmaterial zurückgreifen müssen. Der Bundespostminister fährt dann in seiner Stellungnahme fort: „Dabei kann mit Befriedigung festgestellt werden, daß die sehr sorg-
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Zanderfältigen Analysen und Erhebungen des Bundesrechnungshofes die Zahlen der Deutschen Bundespost weitgehend bestätigen." Ich nenne das Chuzpe.Nichts ist bestätigt worden, Herr Postminister, jedenfalls nichts, was die entscheidenden Punkte Ihrer Berechnungen angeht.
Nicht 13,5 Milliarden DM, sondern mehr als 21 Milliarden werden für eine weitgehend flächendekkende Verkabelung aufzuwenden sein. Die übrigen Abweichungen hat der Kollege Friedmann Ihnen hier schon vorgeführt.Meine Damen und Herren, es ist wohl auch noch nicht jedermann klar, daß der Postminister die Zwangsverkabelung plant. Das heißt, wenn die Bürger nicht freiwillig bereit sind, dann droht die Gewalt des Gesetzgebers, der Zwangsanschluß ans Kabel mit allen damit verbundenen Kosten.Nun hat der Minister, inzwischen auf dem Rückzug, erklärt, er denke gar nicht an eine flächendekkende Verkabelung, er habe daran nie gedacht. Es werde mit Sicherheit dünner besiedelte Gebiete geben, die niemals verkabelt würden und zu deren Versorgung direkt empfangbare Satelliten eingesetzt werden müßten. Wir wollen von ihm wissen und wissen es bis heute nicht, welche Gebiete etwa Schleswig-Holsteins oder Niedersachsens denn nun die dünn besiedelten sind, die von den Wohltaten des Kabels ausgeschlossen werden. Meine Damen und Herren, es gibt eine Fülle von Belegen dafür in den Protokollen des Postverwaltungsrates, in amtlichen Begründungen zur Änderung der Fernmeldeordnung, worin eindeutig von den Plänen einer Flächendeckenden Vollverkabelung die Rede ist.Wir Sozialdemokraten wollen dieses finanzielle Abenteuer auf keinen Fall unterstützen. Wir appellieren an den Minister: Geben Sie diese Pläne auf!Die „Süddeutsche Zeitung" hatte am 22. Juni einen Kommentar überschrieben: „Über die Kabel gestolpert". Ich möchte es so sagen, Herr Bundesminister: Wenn Sie angesichts des für Sie verheerenden Berichts des Bundesrechnungshofs Ihre Pläne nicht schleunigst aufgeben, dann müßten Sie eigentlich politisch nicht über die Kabel stolpern, sondern über die Klinge springen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Weirich.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie die Verkabelung, meine Damen und Herren von der SPD, in den 70er Jahren so intensiv betrieben hätten wie die Kabbelei nach der Wende, dann hätten der Postminister und wir überhaupt keine Probleme.
Ich habe einmal nachgezählt. Sie haben bis zumgestrigen Tage den Postminister 24mal zum Rücktritt aufgefordert, heute wieder. Wir feiern heute das silberne Rücktrittsjubiläum der SPD.
Ich kann nur sagen, dies ist ein typisches öffentlich-rechtliches Programm, es lebt von seinen Wiederholungen.
Beim Privatfernsehen könnten Sie damit nicht bestehen, deswegen empfehle ich Ihnen eine bessere Dramaturgie der Öffentlichkeitsarbeit. Vielleicht machen Sie, Herr Paterna, einmal ein Seminar für Öffentlichkeitsarbeit bei Herrn Bölling.In Wirklichkeit wollen Sie über die Tristesse der sozialdemokratischen Medienpolitik hinwegtäuschen.
Die besteht aus fünf Punkten: Erstens wollen Sie einen totalen Kabelstopp. Gleichzeitig stehen sozialdemokratische Gemeinden in der Warteschlange für die Verkabelung. Sie haben Brandreden gegen Kommerzfernsehen im Bundestag gehalten. Gleichzeitig stand der letzte Finanzminister im letzten Aufgebot von Helmut Schmidt beim ersten Privatfernsehveranstalter für ein millionenschweres Engagement auf der Matte.
Vielleicht organisieren Sie Herrn Lahnstein einmal als One-Dollar-Man. Da erklärt Herr Glotz die Wende in der Medienpolitik, und da ruft ihm Herr Börner zu: Kommt für uns nicht in Frage, wir wollen eine Monopolinsel. Und er sagt: „Lassen Sie Ihre intellektuellen Schlauchboote vorbeifahren." Da erklärt der Hamburger Wirtschaftssenator in Bonn: Wir wollen die Medienmetropole Hamburg ausbauen. Gleichzeitig verwehren Sie dem Privatfernsehveranstalter in Hamburg die Verkabelung, auf die er setzt. Sie, Herr Paterna, halten Philippiken gegen die Verkabelung, und gleichzeitig kommt ein sozialdemokratischer Bundestagskollege und fragt in Nordrhein-Westfalen an, wie es eigentlich mit einem privaten Programm wäre, das wir gemeinsam machen könnten.Das alles erinnert mich an die ideologisch verkrampfte Haltung von neuzeitlichen Absolutisten, die sagen: Nach langem Hin und Her haben wir uns dafür entschieden, Autos zuzulassen, aber wir wollen keine Straßen bauen, auf denen diese Autos fahren können.
Deswegen habe ich Ihnen, Herr Paterna, heute morgen als Präsent vor der Sommerpause ein durchsichtiges Glasfaserkabel mitgebracht, damit Sie endlich medienpolitischen Durchblick bekommen.
Nun zur Sache selbst sieben kurze Feststellungen:Erstens. Das Gutachten des Rechnungshofes gibt wertvolle Fingerzeige für wirtschaftlicheres Han-
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Weirichdein, die beachtet werden sollten, aber es beschreibt nur den Ist-Zustand und die Vergangenheit, und vom Ist-Zustand wissen wir alle, daß sich die Einstiegsphase nicht rechnet. Das gilt für jeden Dienst der Deutschen Bundespost, das gilt auch für Bildschirmtext und andere Dienste, die völlig unbestritten sind. Konstruktive Postpolitik für die Zukunft heißt, alle technischen Möglichkeiten — Kabel und Satellit — zu nutzen.Zweitens. Wer aufs Kabel verzichtet, kastriert die Fernmeldesatellitentechnik. Er weist ihr nur Daten- und Telefonübertragung zu und verzichtet bewußt auf die Chance der Rundfunkübertragung. Das wäre töricht.Drittens. Satellit und Kabel ergänzen sich. Es geht nicht um die eine oder die andere Alternative. Von Totalverkabelung zu reden wäre falsch, von totalem Kabelstopp verhängnisvoll.Viertens. Wir fordern die Post auf, ihre Untersuchungen über erweiterte Nutzungsmöglichkeiten des Kabels für breitbandige Informationsdienste schnell abzuschließen. Herr Postminister, je vielfältiger das Kabel genutzt wird, desto besser.
Fünftens. Private Veranstalter brauchen Planungssicherheit. Publizistischer Wettbewerb kann nur entstehen, wenn jetzt verkabelt wird und die Satellitentechnik gleichzeitig entschlossen genutzt wird.Sechstens. Die Länder sollten ihre Verhandlungen über die Nutzung der Satellitentechnik schnell abschließen und Landesmediengesetze verabschieden. Das gilt insbesondere für SPD-Länder, die nur reden, nicht handeln.
Siebtens und letztens. Wir müssen höllisch aufpassen, daß die wirtschaftliche Zukunft unserer europäischen Telekommunikationssatellitenindustrie gesichert wird. Das geschieht nicht dadurch, daß man sich an die rote Klagemauer begibt, sondern nur durch intelligente Konzepte für die Nutzung der Satellitentechnik und zur Herstellung unserer Wettbewerbsfähigkeit. Das ist die eigentliche Herausforderung der Medien- und Postpolitik der Zukunft.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Berschkeit.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Weirich, bis zum 11. im 11. sind es noch genau vier Monate und zwölf Tage, und ich glaube, wir sollten uns heute wichtigeren Dingen zuwenden, als uns Ihre karnevalistischen Einlagen anzuhören.
So, wie sich der Minister nach und nach von seinen ursprünglich flächendeckenden Verkabelungsplänen verabschiedet, verabschiedet er sich auch von seinen beschäftigungspolitischen Argumenten. Sozialdemokraten haben immer eine besondere Verantwortung des Staates bei der Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen gesehen. Insofern haben sie dem öffentlichen Unternehmen Deutsche Bundespost auch immer eine besondere arbeitsmarktpolitische Signalwirkung zugewiesen.Seit Beginn seiner Verkabelungsoper hat Minister Schwarz-Schilling immer wieder den arbeitsmarktpolitischen Aspekt seiner Breitbandverkabelung hervorgehoben. Nur, was ist aus seinen blumigen Ankündigungen geworden? Am Anfang waren es noch 25 000 Arbeitsplätze, die angeblich durch die Investition von 1 Milliarde DM im Bereich der Breitbandverkabelung geschaffen würden. Dann waren es plötzlich nur noch 20 000 Arbeitsplätze. Mittlerweile schätzt der Minister gegenüber dem Bundesrechnungshof die Beschäftigungswirkung auf 13 900, und nach heutiger Pressemeldung schätzt er nur noch 6800 neue Arbeitsplätze durch die Verkabelung. Der Bundesrechnungshof hat sich hierzu bezeichnenderweise einer Stellungnahme enthalten.Sicherlich ist eine gewisse Wirkung durch die Breitbandverkabelung im Hinblick auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Erhaltung von Arbeitsplätzen nicht abzustreiten. Das Entscheidende ist aber, daß durch alternative Investitionen — z. B. bei der Digitalisierung des Fernsprechnetzes — auf Dauer erheblich mehr Arbeitsplätze erhalten und geschaffen werden könnten. Statt dessen investiert der Minister in diesen Bereich insgesamt lediglich 400 Millionen DM.Letztlich dient dem Minister das Arbeitsplatzargument nur als Feigenblatt für seine Verkabelungspläne. Ein beschäftigungspolitisches Interesse könnte er zeigen, wenn er die 2 000 Fernmeldehandwerker nach der Ausbildung übernehmen würde, was nicht nur finanziell tragbar und möglich,
sondern angesichts des Fehlbestandes von Technikern und Ingenieuren bei der Deutschen Bundespost auch notwendig ist. Man stelle sich vor: Allein der Verlust bei der Verkabelung im Jahre 1984 würde ausreichen, um den 2 000 jungen Fernmeldehandwerkern über zehn Jahre sinnvolle Arbeit bei der Deutschen Bundespost zu beschaffen.Aber nicht nur die Zukunft der Beschäftigten ist dem Bundespostminister bei der Verfolgung seiner medienpolitischen Ziele gleichgültig, er setzt auch die Entwicklung ganzer Bereiche aufs Spiel, die für die Daseinsvorsorge der Bevölkerung von großer Bedeutung sind. Die Großtaten an Kahlschlägen bei der Postzustellung sprechen eine deutliche Sprache: Wegfall der Nachtleerung, Einstellung der Vormittagsleerung, Einstellung der Briefkastenleerung am frühen Freitagnachmittag in vielen ländlichen Bereichen, Verschlechterung der Laufzeiten bei Briefen usw.
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Hier sollen durch einseitige Rationalisierung weitere Kabelgroschen zusammengekratzt werden. Auch wenn der Minister auf Druck des Bundeskanzlers weitere geplante Verschlechterungen vorerst zurückgestellt hat, spätestens nach der Vorlage des Berichts der mit den Untersuchungen beauftragten Experten im Frühjahr nächsten Jahres wird es weiter zur Sache gehen. Die Vorbereitungen hat er längst getroffen, z. B. durch einen Untersuchungsauftrag an das Posttechnische Zentralamt in Darmstadt zur Schaffung sogenannter Postzustellfachanlagen.Die Frage ist, wer den Minister von seinem Vorhaben abbringen kann. Die Mahner aus allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft, sei es den Deutschen Industrie- und Handelstag oder das Handwerk, scheint er nicht zu hören. Selbst Hinweise aus seiner eigenen Partei — und die sind ja nicht gerade schwach zu hören — werden von ihm ignoriert. Er hat den Weg in die Isolation gewählt. Das zeigt sich insbesondere auch im Umgang mit seinem eigenen Personal.Unternehmenskonzepte für die Deutsche Bundespost werden draußen erarbeitet. Führungskräften wird gedroht, daß sie in Zukunft von Informationen abgeschnitten werden; Vorgänge werden verschlüsselt an das Ministerium gegeben, damit kein Mitarbeiter den Gesamtzusammenhang ersehen kann. Zuständige Abteilungsleiter erfahren erst aus der Presse von neuen Verkabelungsprojekten. Diese Liste ließe sich beliebig weiterführen.Fazit: Ein Unternehmer, der behauptet, ein Anhänger der freien Marktwirtschaft zu sein, aber Unternehmensentscheidungen im Alleingang trifft, ohne Marktanalysen erstellen zu lassen, .. .
Herr Abgeordneter, ich muß Sie unterbrechen.
... ein Unternehmer, der auf Technologie setzt, die nach Auffassung vieler Experten schon längst überholt ist, ein Unternehmer schließlich, der über hervorragende Fachleute verfügt, sie aber nicht nutzt, der kann auch ein Unternehmen wie die Deutsche Bundespost in den Ruin führen.
Das Wort hat der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das langersehnte Gutachten liegt nun vor.
Zunächst einmal möchte ich mich bedanken, daß esin sehr sachlicher Form alle diejenigen in ihrer Argumentation begrenzt, die die Zahlenspielerei gerne fortgesetzt hätten.
Wir haben es gehört: Herr Ministerpräsident Rau sprach von Verkabelungsinvestitionen in Höhe von 40 Milliarden DM bis 60 Milliarden DM;
Herr Müller-Römer sprach von 40 Milliarden DM.
Wir wissen heute, daß bei einer Vollverkabelung der Bundesrepublik, wenn diese 95% der Wohnungseinheiten umfaßt, Investitionen in Höhe von 21 Milliarden DM notwendig werden. Dabei stellt die Vollverkabelung von 95 % einen Eckwert dar. Wir haben von Anfang an — das können Sie sehr genau feststellen, Sie haben ja auch Zugang zu den Verfügungen bei den Oberpostdirektionen —, bereits am 16. Dezember 1982, niemals daran gedacht, 95% aller Wohnungseinheiten zu verkabeln,
sondern haben mit Selbstverständlichkeit gesagt: Wir hören auf mit den Inselnetzen, mit den reinen Hochhausabschattungen, und wir werden dafür sorgen, daß großflächige Netze, die auch mehr Programme in Rundfunkempfangsstellen einspeisen können, wie im benachbarten Ausland in der Bundeserepublik sofort eingeführt werden.
Das hat nichts mit Stadt oder Land zu tun. Der Venusberg hier in Bonn hat eine lockere Bebauungsweise und ist daher kostenträchtiger zu verkabeln als z. B. Meckenheim, wo Sie ein entsprechendes Zentrum mit einer kleineren Gemeinde haben. Wir haben in Deutschland meistens Haufendörfer, wie Sie wissen. Wir sind nicht daran interessiert, Einzelgehöfte oder ähnliches zu verkabeln. Unter solchen Annahmen kommen die 21 Milliarden DM zustande.
Wir werden nach Berechnung des Bundesrechnungshofes bei der Vollkostenrechnung, wenn wir 64 % der Übergabepunkte in der Bundesrepublik installiert haben und damit 80% aller Wohnungseinheiten versorgen können, unter 15 Milliarden DM Investitionskosten kommen. Der Unterschied liegt dann zwischen 13 und 15 Milliarden DM. Den gebe ich Ihnen gerne zu. Nur war bei den 13 Milliarden DM ebenfalls die Vollversorgung und nicht die 80 %- Versorgung die Grundlage.Ich glaube, es ist wichtig, das zu sagen, denn Sie gehen jetzt wahrscheinlich durch die Lande, auch hier wieder wissentlich etwas Falsches sagend: Ihr Flächenstaaten, ihr kommt ja gar nicht mehr dran.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984 5735
Bundesminister Dr. Schwarz-Schilling— So, jetzt haben wir es gehört, Herr Paterna. Sehr gut; Sie haben es schon jetzt gesagt.Ich sage Ihnen hier noch einmal mit aller Deutlichkeit: Die drei Kategorien, über die aufgelockerte Bauweise bis zum Kernbereich von Städten, haben nichts zu tun mit Stadt oder Land, sondern sind in jeder Fläche für sich zu untersuchen. So wird eine Gemeinde von 5 000 Einwohnern eher zu verkabeln sein als manche Randzone einer Großstadt, die aufgelockerter bebaut ist.Nächster Punkt. Sie haben hier gesagt, daß die Akzeptanz vorher nicht genügend untersucht worden ist. Ich möchte Ihnen sagen: Wir haben sehr genau Akzeptanzuntersuchungen gemacht, sowohl in der Bundesrepublik als auch in den benachbarten Ländern. Da kann ich Ihnen nur sagen, daß ein Gutachten, das wir zu dieser Frage in Auftrag gegeben haben, ganz klar sagt: Aus der Sicht der Konsumenten ist die technische Infrastruktur alleine ohne Wert. Anschlußkosten und laufende monatliche Gebühren rechtfertigen sich allein durch das verfügbare und nutzbare Programm- und Dienstangebot. Insofern kommt einer auf den Auslandserfahrungen basierenden Abschätzung der Attraktivität der verschiedenen Programmangebote und Zusatzdienste als Incentive für die Akzeptanz — und Nachfrageentwicklung und damit für die Rentabilitätsentwicklung eine entscheidende Bedeutung zu. Der entscheidende Akzeptanzfaktor war in den meisten Verkäuferländern Westeuropas die Einspeisung bzw. Bereitstellung von zusätzlichen, sonst nicht ortsüblich empfangbaren Programmen.
Und dann wollen Sie hier zu einer Zeit Untersuchungen machen, wo genau das nicht erlaubt ist, weil die medienrechtlichen Voraussetzungen noch nicht gegeben sind. Meine Damen und Herren, damit führen Sie sich doch selbst ins Abseits.
Was will die SPD im Grunde genommen überhaupt? Sie ist im Prinzip bereits in den 70er Jahren gegen die Verkabelung gewesen, weil sie keine Medienvielfalt wollte. Das ist der erste Grund.
Das haben Sie zunächst einmal mit medienpolitischen Dingen begründet. Dann haben Sie die Glasfaser hervorgezogen und glaubten damit die 80er Jahre überbrücken zu können, um Medienvielfalt zu verhindern.
Das haben wir allerdings nicht zugelassen, sondern wir haben wie alle anderen Länder der Welt die Ausbaustrategie mit dem Kupferkoaxialkabel begonnen. Sie sollten sich einmal die Seite 11 des Rechnungshofgutachtens anschauen, wo diese Entscheidung für richtig erklärt wird, während Siezwei Jahre diesen Postminister ständig beschimpft haben, er würde auf die falsche Technik setzen.
Lesen Sie es einmal nach.
Dann fragen Sie: Wieso haben Sie jetzt nur 8 DM oder 6 DM Gebühren und 3 DM für die Zuführung? Das würde zu wenig sein. Haben Sie einmal nachgerechnet, was geschehen wäre, wenn ich die alte Vorlage der Bundesregierung mit 400 Millionen DM zu den damaligen Gebühren für die Bundespost umgesetzt hätte? Dann hätten wir im Jahre 1999 mehr als 400 Millionen DM Verlust, weil die Einnahmen unter den Ausgaben liegen, während die 1 Milliarde DM, die wir theoretisch in der Planung vorgesehen hatten, mit unseren heutigen Gebühren 1999 amortisiert wäre. Das heißt: Ich hätte die Bundespost, wenn ich Ihre Gebühren beibehalten hätte, echt in ein Milliardengrab gebracht. Ich habe eine riesige Gebührenerhöhung vornehmen müssen, um überhaupt in die Nähe von Rentabilität zu kommen.Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier noch eines sagen: Die Arbeitsmarktproblematik interessiert Sie nur, wenn es Proteste bei Fernmeldeämtern gibt,
aber nicht dann, wenn es um Entscheidungen geht, Arbeitsplätze bei der Deutschen Bundespost auch zu schaffen.
Im vorigen Jahr haben wir 4400 Menschen im Rahmen dieses Projekts Arbeit und Brot gegeben. In diesem Jahr werden wir 6800 Menschen Arbeit und Brot bei der Deutschen Bundespost geben. Daneben sind noch die 15 000 Arbeitsplätze zu sehen, die wir insgesamt, in der Industrie, im Elektrohandwerk, im Bauhandwerk, im Tiefbau, schaffen.
Das ist der entscheidende Punkt: daß Sie in dieser Frage plötzlich gegen die Schaffung von Arbeitsplätzen sind.
Sie sind gegen die Innovation bei der Bundespost.Jetzt plötzlich sagen Sie: Die Bundespost hat solche Aufgaben nicht. Ich darf Ihnen zum Schluß zitieren, was der frühere Bundespostminister Matthöfer im September 1982 zu dieser Aufgabe gesagt hat:Die Bundespost als Netzbetreiber muß erheblich vorleisten; das entspricht ihrer gesetzlichen Verpflichtung. Vorleistungen in Netze sind im allgemeinen langfristig, günstigenfalls mittelfristig angelegt. Der Auf- und Ausbau neuer und erst langfristig ertragreicher Netze wird im wesentlichen von der technischen Ent-
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Bundesminister Dr. Schwarz-Schillingwicklung bestimmt. Ein Beispiel: In den 60er Jahren baute die Bundespost Teilnehmeranschlüsse auf 30 Jahre im voraus, und diese legten die Grundlage für den finanziellen Erfolg Mitte der 70er Jahre.Wir werden der Bundespost als Innovationsunternehmen diese Möglichkeiten auch weiterhin geben. Die Bundesregierung sieht keinerlei Anlaß, von dieser Politik abzugehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Paterna.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundespostminister, Sie haben gesagt: Investitionsbedarf: 13,5 Milliarden DM. Der Bundesrechnungshof hat gesagt: Nein, 7,8 Milliarden DM mehr, also 21,3 Milliarden DM. Sie haben im Haushaltsausschuß gesagt: Gesamtinvestitionsbedarf d. h. einschließlich Amortisation: 25 Milliarden DM. Sie haben die Bundesregierung dazu verleitet, uns hier die Auskunft zu geben: Gesamtkosten: 20 bis 30 Milliarden DM. Wenn Sie das jetzt hochrechnen, ins Rechnungshofgutachten einmal hineingucken und nicht nur die Lyrik, sondern auch die Zahlen lesen, dann werden Sie feststellen: Die Gesamtkosten, einschließlich Amortisation, sind jetzt mit 52,9 Milliarden DM anzusetzen.
Da haben Sie sich exakt um 27,9 Milliarden DM, also um mehr als 100"/o, verrechnet. Das heißt: Sie brauchen jetzt ein Volumen von 40 bis 60 Milliarden DM — ohne die Kosten für die Satelliten, ohne die Kosten für die Hausverkabelung, ohne Gerätekosten usw.
Und dann meinen Sie, Sie könnten der staunenden Öffentlichkeit erzählen, die Horrorzahlen, wie Sie sie nennen, seien in das Reich der Fabel zu verweisen. Nein, sie sind auf erschreckende Weise bestätigt und noch höher, als Sie bisher befürchten mußten.
Nun ein weiterer Aspekt: Der Postminister ist j a wie Kimble auf der Flucht. Jetzt erzählt er plötzlich, es sei ein ganz schrecklicher Irrtum gewesen, zu glauben, die Bundesrepublik solle flächendeckend verkabelt werden. Da hat er nun aber übersehen, daß die Bundesregierung uns geantwortet hat: „nahezu flächendeckende Verkabelung", daß er dem Bundesrechnungshof selbst mitgeteilt hat, wie das zu definieren ist: 95 % der Haushalte, 90 % der Fläche. Jetzt sagt er: 80 % der Haushalte, 63 % der Fläche. Sie wollen uns doch wohl nicht weismachen, daß bei 63 % der Fläche von einer „nahezu flächendeckenden Verkabelung" gesprochen werden kann. Das kann ja wohl nicht sein.
Da bin ich mal sehr gespannt, was Sie von den Kolleginnen und Kollegen in Schleswig-Holstein, in
Niedersachsen, in Bayern und Rheinland-Pfalz zu
hören kriegen, wenn die nun erfahren müssen, daß über 90 % der Gemeinden dort nach dem neuesten Programm nicht mehr verkabelt werden.
Denn 63 % sind es bei weitem nicht; das wird noch sehr viel weniger.
Das will ich Ihnen einmal deutlich machen an einem Satz, der Ihnen, Herr Kollege Pfeffermann, eigentlich hätte aufgefallen sein müssen. Der Minister sagte nämlich im Postausschuß am Mittwoch dieser Woche in dem üblichen Postchinesisch — wörtliches Zitat —: „Der wesentliche Punkt ist, im Ausbaugebiet insgesamt für einen Bereich nicht unter eine Dichte von 3,0 Wohnungen pro Übergabepunkt im Schnitt zu kommen." Damit Sie einmal wissen, was das bedeutet, will ich Ihnen sagen, daß etwa die Stadt Cuxhaven auf einen Schnitt von 2,6 kommt — Verhältnis Wohneinheiten pro Übergabepunkt. Nach der neuesten Lesart des Ministers also nicht verkabelungswürdig. Osnabrück-Stadt 2,8 — nicht verkabelungswürdig! Bremen-Stadt 2,9 — nicht verkabelungswürdig!
— Ja, so ist es. Da merken Sie mal, wie Sie wie ein Bulle — mit Ring durch die Nase — von diesem Minister an der Nase herumgeführt werden. Ich frage mich, wie lange Sie sich das noch gefallen lassen.
Wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich ja mal ein Quiz veranstalten und Sie fragen, was Sie wohl glauben, auf welchen Planungswert Bonn kommt. Die Besiedlungsstruktur hier kennen Sie ja. Ich könnte auch den Minister mal fragen. Der grinst wie immer arrogant und hat die Zahlen nicht im Kopf.
Bonn: 2,0 — nicht verkabelungswürdig! Ab morgen also Verkabelung von Bonn einstellen! Und das Ganze nennt sich dann „flächendeckende Verkabelung". Einen größeren Salto mortale innerhalb einer Woche kann wohl kein Minister vorführen. Und Sie merken es nicht einmal.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Seiler-Albring.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Paterna, das Bild von dem Bullen mit dem Ring möchte ich, zumindest für meine Fraktion, zurückweisen. Mir fällt aber ein
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Frau Seiler-Albringviel schöneres für Sie ein in bezug auf die Medienpolitik, nämlich das Bild des hübschen Vogels mit dem Kopf im Sand.
Meine Damen und Herren, ich möchte wie Dr. Friedmann das vorliegende Gutachten des Rechnungshofes ausdrücklich als sehr hilfreich begrüßen, aber natürlich aus anderen Gründen als die SPD. Dieses Gutachten hat den Vorteil, daß von einer neutralen Stelle endlich greifbare Zahlen und Fakten auf den Tisch gelegt worden sind. Ich habe gehofft, daß jetzt die Diskussion um die Breitbandverkabelung objektiver als bisher geführt wird und daß die wilden Spekulationen, die insbesondere — auch heute morgen wieder — von der Opposition genährt worden sind, beendet werden. Es gehört ja schon eine ganz gehörige Portion Chuzpe dazu, Gerüchte in die Welt zu setzen, die von einem Kostenrahmen von bis zu 60 Milliarden DM ausgehen.Dennoch muß sich der Herr Bundespostminister die Frage stellen, ob er mit dem ursprünglich geplanten Verkabelungsvolumen nicht betriebswirtschaftliche Risiken in Kauf genommen hat, ohne sich auf ausreichend fundierte Daten zu stützen. Diese Sorge ist jedenfalls der Grund, weshalb der Haushaltsausschuß den Rechnungshof mit der Überprüfung des Vorhabens beauftragt hatte.Der Rechnungshof kommt — das wissen wir alle — zu bedenkenswert anderen Angaben, z. B. was den Kostenrahmen und die Akzeptanz anlangt. Wir werden uns mit diesen Aussagen sehr gelassen auseinandersetzen, und wir bitten den Bundespostminister, diese Aussagen in der Fortentwicklung seiner von uns gestützten und mitgetragenen Politik in seine Überlegungen einzubeziehen.Die SPD muß sich dem Vorwurf stellen, daß gerade sie es in der Vergangenheit gewesen ist, die auf Grund ideologischer Engstirnigkeit eine Weiterentwicklung im Medienbereich verhindert hat.
Die Bundesrepublik ist im Vergleich zu anderen Industrienationen hier mittlerweile das Schlußlicht. Wir haben einen Vorsprung der anderen Länder von zehn Jahren aufzuholen. Gleiches gilt für die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in den Bereichen der Spitzentechnologie gegenüber den USA und Japan und die Schaffung und Erhaltung hochqualifizierter Arbeitsplätze.Auf Grund des Gutachtens ist der Gesamtrahmen kritisch zu überprüfen. Der Postminister bleibt aufgefordert, die Rentabilität beim Ausbau der Breitbandverteilnetze mittel- und langfristig sicherzustellen. Er wird dafür Sorge tragen müssen, alle technischen Möglichkeiten, die sich künftig aus Kabel- und Satellitentechnik für die Rundfunkversorgung ergeben, voll auszuschöpfen.Lassen Sie mich noch einmal dem Rechnungshof für das vorgelegte Gutachten danken. Wir sollten wegen der finanziellen Dimensionen der anstehenden Entscheidungen spätestens in einem Jahr imRechnungsprüfungsausschuß und im Haushaltsausschuß einen Bericht des Postministers zur Verkabelung entgegennehmen und unsere weiteren Entscheidungen von den Ergebnissen dieses Berichtes leiten lassen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Linsmeier.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hoffe, daß die Erregung, die Herr Kollege Paterna vorher gezeigt hat, mehr spielerischer Natur war
und er sich zwischenzeitlich wieder etwas beruhigt hat. Herr Kollege Paterna, ich verstehe ja durchaus, daß Sie sich nach der 25. Rücktrittsforderung, die immer noch nicht Ihrem Wunsche gemäß erfüllt worden ist, langsam ärgern. Wir können Ihnen aber wirklich nicht helfen.
Ändern Sie Ihre Einlassungen zum Minister. Dann müssen Sie sich nicht mehr selbst ärgern.Am Ende dieser Aktuellen Stunde möchte ich noch ein paar Punkte zusammenfassen und hier für das Protokoll festhalten. Zwischen der Deutschen Bundespost und dem Rechnungshof besteht Übereinstimmung in mehreren Punkten, nämlich erstens im methodischen Ansatz, mit dem die Berechnungen durchzuführen sind, zweitens bei den Sachkosten je Übergabepunkt, drittens beim kalkulatorischen Zinssatz, viertens bei der Nutzungsdauer, und fünftens bei der Anschlußentwicklung.Wir haben lediglich zwei Bereiche, wo möglicherweise ein mehr oder weniger großer Dissens herrscht. Einer davon ist die Zahl der Wohneinheiten je Übergabepunkt. An diesem Punkt wird meiner Meinung nach auch deutlich, wie schwierig es immer für jeden Postminister, aber auch für jeden Rechnungshof und für jeden Kollegen und jede Kollegin im Hause sein wird, die solche Gutachten verfassen oder überprüfen. Denn ob die Zahl 3,7 Wohneinheiten pro Übergabepunkt, so wie sie der Bundespostminister in seinen jetzigen Anlagen hat, ob die Zahl 3,0 oder ob die Zahl 2,5 am Ende nach 19 Jahren die endgültige Zahl sein wird, vermag bei allem Respekt vor prognostischen Fähigkeiten im Grunde heute niemand ernsthaft so oder anders zu behaupten. Deshalb sollte man mit verbaler Aggression, Herr Kollege Paterna, etwas zurückhaltender sein.
Sie haben die Datenlage des Postministeriums kritisiert. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wären Ihre Postminister dem Auftrag des FAG gerecht geworden, hätten Sie
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Linsmeierbereits vor zehn Jahren dafür gesorgt, daß die damals neue Technologie der Kupferkoaxialverkabelung eingeführt worden wäre, stünden wir heute überhaupt nicht vor diesen Problemen.
In anderen Ländern hat man sie eingeführt. Weil Sie damals diese Entwicklung verschlafen haben, stehen wir heute vor dem Problem, daß wir die Kupferkoaxialverkabelung nachholen müssen,
und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wo Glasfaser wirtschaftlich einsetzbar ist.In dem Zusammenhang möchte ich mich noch einmal ausdrücklich beim Rechnungshof bedanken, daß er auf Seite 11 des Gutachtens festgestellt hat, daß die Kupferkoaxialverkabelung die gegenwärtig einzig zur Verfügung stehende Technik für die Verteilung von Hörfunk und Fernsehen in diesen Bereichen ist. Damit ist der Streit — Warten auf Glasfaser —, wie ich hoffe, endlich vom Tisch.Neben der Glasfaser stehen wir vor einer weiteren Technik, die wir gleichzeitig mit einführen müssen, nämlich der Satellitentechnik in den beiden unterschiedlichen Formen der direkt abstrahlenden Satelliten und der Fernmeldesatelliten.Sie haben im Grunde dieses Innovations-CrashProgramm, das heute gemacht werden muß, verursacht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, Sie haben am allerwenigsten Anlaß, dieses heute zu kritisieren.Danke schön.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Nöbel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich höre den ganzen Morgen „Postminister". Wer so gegen die Post ist, kann doch kein Postminister sein.
Ich sage auch nicht, Herr Kollege Weirich, „intellektuelles Schlauchboot". Ich sage noch nicht einmal „Kabeljau", weil das wahrscheinlich unparlamentarisch wäre.
Aber was er ist, sage ich: Er ist eine zunehmende
Belastung, und eine Belastung muß eigentlich weg.
Generell ist festzustellen, daß das für den Postminister niederschmetternde Ergebnis des Bundesrechnungshofes noch ungünstiger ausfallen müßte — das sage ich zum Schluß —, wenn eine Vielzahl von Risiken, die vom Rechnungshof gar nicht berücksichtigt worden sind, noch angeführt würden. So fehlt z. B. die Auswirkung — Herr Linsmeier hat eben darauf hingewiesen — künftiger direkt strahlender Satelliten. Dazu brauche ich kein Kabel. Es ist ganz klar — das braucht man nicht zu beweisen —, daß dann, wenn direkt strahlende Satelliten eingesetzt werden, die Nachfrage nach Breitbandanschlüssen noch weiter zurückgeht.
Ungeklärt ist ebenfalls die Antwort auf medienrechtliche, urheberrechtliche und wegerechtliche Fragen.
Herr Schwarz-Schilling drückt gern auf den Knopf; so in Ludwigshafen. Da werden zeitgleich Programme des Pilotprojektes Ludwigshafen nach Bayern übertragen. In Bayern gibt es eine Landesverfassung und einen Art. 111 a, der über eine Volksbefragung zustande gekommen ist. Interessiert gar nicht! Wir haben ein Grundgesetz, und wir sollten uns darauf besinnen. Hier kann nicht ein Postminister mit der Verfassung eines Landes und dem Grundgesetz spielen.
Ich will darauf hinweisen, daß hier noch zusätzliche negative Einflüsse auf die Wirtschaftlichkeit von Breitbandverteilnetzen auftreten werden.
Wir fordern den Postminister auf, die Konsequenzen aus dem Bundesrechnungshofbericht zu ziehen und seine ausschließlich medienpolitisch motivierte Breitbandverkabelung aufzugeben. Die Deutsche Bundespost darf nicht zum Spielzeug Herrn Schwarz-Schillings werden.
Letzte Wortmeldung, Herr Abgeordneter Pfeffermann.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich denke, nichts hat deutlicher gezeigt als der letzte Beitrag, als buchstäblich in der zweiten Minute der Stoff ausging, daß diese frühe Stunde, die als Aktuelle Stunde angekündigt war, nichts anderes als ein Flop der SPD-Fraktion ohne jeden sachlichen Hintergrund gewesen ist.
Wenn Sie wirklich daran interessiert gewesen wären, auszuloten, was es mit der Verkabelung auf sich hat, dann hätten Sie das ja z. B. in der letzten Fragestunde, in der Sie acht Fragen eingebracht haben, hier ausdiskutieren können. Aber Sie haben sie zurückgezogen bzw. sie schriftlich beantworten lassen, weil Sie natürlich überall der sachlichen Diskussion ausweichen.Es ist sehr viel einfacher, in irgendeinem Fernmeldeamt, Herr Paterna, die Leute aufzuhetzen, als
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PfeffermannVerantwortung dafür zu tragen, daß sie Arbeitsplätze behalten und bekommen.
Von der Rücktrittsforderung war heute morgen die Rede. Das zu fordern ist in der Demokratie guter Brauch, es ist demokratischer Stil.
— Wenn ich Ihre Zwischenrufe höre, weiß ich, was nicht guter Stil ist; denn Ihre Zwischenrufe sind weder sachlich, noch stehen sie in irgendeiner Weise im Zusammenhang mit dem Thema. Es ist guter demokratischer Brauch der Opposition, am besten den Rücktritt der ganzen Regierung zu fordern.
Ich weiß, daß Sie mehr als diesen Ruf in der Zwischenzeit nicht einzubringen haben. Das haben ja auch die Europawahlen gezeigt. Schauen Sie sich die Ergebnisse an, und Sie sehen, wo Sie mit Ihren Hetztiraden in der Bundesrepublik geblieben sind.
Meine Damen und Herren, dieser Postminister arbeitet auf der Basis der Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Dieser Bundesminister arbeitet auf des Bundeskanzlers Basis der Investitionspolitik nach Maßgabe des Regierungsberichts Informationstechnik.
Dieser Bundesminister arbeitet in Einklang mit den Regierungsfraktionen. Das ist ihm sowohl von der Fraktion einstimmig als auch vom Haushaltsausschuß und vom Postausschuß mehrheitlich bestätigt worden.
Dort ist noch einmal bestätigt worden: Das Gutachten, das endlich einmal auch für kritische Geister noch akzeptable Rahmendaten gebracht hat, hat nichts aufgezeigt, was uns veranlassen könnte, die Regierungspolitik in diesem Bereich zu ändern. Dieser Minister hat das Vertrauen der Regierungskoalition und des Bundeskanzlers, was dieser erst am Mittwoch in der Sitzung des Kabinetts ausdrücklich zum Ausdruck gebracht hat.
Nun zu den Vorwürfen der SPD. Meine Damen und Herren, Sie haben doch heute morgen nichts, aber auch gar nichts einbringen können, was nicht schon längst bekannt ist.
Sie stellen sich hierher und sagen, Sie sind gegen die Verkabelung. Das wissen wir seit langem. Seither haben Sie gegen die Totalverkabelung gesprochen, die niemand anders aufgebracht hat als Sie selbst. Jetzt haben Sie ein neues Verbum gefunden.Sie sind gegen die Flächenverkabelung und zweifeln die an.
Ja, Herr Paterna, wie können Sie sie denn anzweifeln? Sie sind doch für die Null-Lösung in diesem Bereich und stellen sich hierher und fragen nach Arbeitsplätzen.
Die Verkabelung, meine Damen und Herren, die dieser Bundesminister eingeführt hat, hat in den letzten zwei Jahren die Arbeitsplätze gebracht, auf deren Basis es möglich war, die neu ausgebildeten Fernmeldetechniker überhaupt zu beschäftigen.
Diese Zahlen stehen hier im Raum.
Dies ist sein Verdienst, während Sie den Kopf in den Sand stecken und in der Vergangenheit nichts beigetragen haben. Nein, meine Damen und Herren, wir werden nicht Ihrem schlechten Rat folgen, sondern wir werden eine gute Politik machen, damit Medienvielfalt, und das heißt Demokratie und freiheitliche Auseinandersetzung, in diesem Lande möglich ist.
Meine Damen und Herren, damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Wir fahren in der Tagesordnung fort.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 bis 42 und den Zusatzpunkt 7 auf:39. Beratung des Antrags der Abgeordneten Büchner , Kastning, Kuhlwein, Frau Odendahl, Frau Schmidt (Nürnberg), Dr. Schmude, Dr. Steger, Toetemeyer, Vogelsang, Weisskirchen (Wiesloch) und der Fraktion der SPDPläne der Bundesregierung zur Förderung von „Elite-Universitäten"— Drucksache 10/1337 —40. Beratung des Antrags der Abgeordneten Müller , Frau Fuchs (Köln), Jaunich, Frau Dr. Czempiel, Delorme, Fiebig, Gilges, Hauck, Kastning, Frau Schmidt (Nürnberg), Sielaff und der Fraktion der SPD Forderungen des Schlußberichts der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat"— Drucksache 10/1155 —Zusatzpunkt 7: Beratung des Antrags der Abgeordneten Kroll-Schlüter, Wissmann, Braun, Breuer, Sauer und der Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Eimer , Frau
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5740 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
Vizepräsident StücklenDr. Adam-Schwaetzer, Cronenberg , Frau Seiler-Albring und der Fraktion der FDPLösungsvorschläge aus dem Schlußbericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat"— Drucksache 10/1692 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für Forschung und Technologie41. Beratung des Berufsbildungsberichts 1984 der Bundesregierung— Drucksache 10/1135 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Ausschuß für WirtschaftAusschuß für Arbeit und SozialordnungAusschuß für Jugend, Familie und Gesundheit Haushaltsausschuß42. Erste Beratung des von den Abgeordneten Jaunich, Frau Fuchs , Egert, Buschfort, Lutz, Dreßler, Frau Schmidt (Nürnberg), Glombig, Hauck, Müller (Düsseldorf), Frau Dr. Czempiel, Delorme, Gilges, Sielaff, Schreiner, Peter (Kassel), Frau Steinhauer, Urbaniak, von der Wiesche, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachte Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Krankenversicherungsschutzes arbeitsloser Jugendlicher— Drucksache 10/1574 —Überweisungsvorschlag des ÄltestenratesAusschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit HaushaltsausschußZu Tagesordnungspunkt 41 liegen Ihnen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/1639 und der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP auf Drucksache 10/1673 vor.Meine Damen und Herren, es sind eine gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte 39 bis 42 und des Zusatzpunktes 7 sowie eine Aussprache von zwei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.Wird das Wort zur Begründung einer der Anträge gewünscht? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Ältestenrat hat in seiner unermeßlichen Weisheit für diesen Vormittag in verbundener Debatte eine Reihe von Tagesordnungspunkten vorgesehen, die allerdings alle gemeinsam haben, daß sie sich mit den Problemen junger Menschen beschäftigen.
Es geht einmal um die Schlußfolgerungen aus dem Bericht der Jugendenquetekommission, es geht um den Berufsbildungsbericht 1984, es geht um die Pläne der Bundesregierung zur Förderung von sogenannten Elite-Universitäten, und es geht um einen verbesserten Krankenversicherungsschutz für arbeitslose Jugendliche. Die Debatte wird Gelegenheit geben, bildungs- und jugendpolitisch nach 21 Monaten eine erste Bilanz der Arbeit der Wende-Regierung zu ziehen, und diese Bilanz — diese Bewertung kann man schon jetzt vornehmen — wird lauten: Auch die Jugend hat unter der Wende erheblich leiden müssen.
Die Enquete-Kommission „Jugendprotest" hat in ihrem Schlußbericht davor gewarnt, zunehmende Jugendarbeitslosigkeit und ein immer größerer Mangel an Ausbildungsplätzen könnten einen Teil der Jugend bereits vor dem Einstieg in das Berufsleben aus der gesellschaftlichen Teilhabe und Anerkennung ausgliedern und damit das Selbstwertgefühl der gesamten jungen Generation bedrohen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat diese Aussage offenbar gleichgültig gelassen. Sie hat den Schülern das BAföG gestrichen, belastet die Studenten mit hohen BAföG-Schulden. sorgt nicht für ausreichende Ausbildungsplätze und versteigt sich stattdessen in nebulöse Vorschläge für private Elite-Universitäten, die eines ganz sicher nicht leisten werden, nämlich die Sicherung der Zukunftschancen der jungen Generation, wie das in Ihrem jüngsten Papier so vielversprechend heißt.Ihre Ordnungspolitik, Frau Minister Wilms, hat mit der früher einmal gemeisam getragenen Chancengleichheit gründlich aufgeräumt, und diese Ordnungspolitik steht dafür, daß auch im Bildungsbereich die alte Ordnung von unten und oben wieder hergestellt werden soll.Der Bundeskanzler hatte im vergangenen Jahr versprochen: Für jeden ist eine Lehrstelle da. Am 30. September 1983 waren aber 80 000 Bewerber ohne Lehrstelle übriggeblieben. Das war die schlechteste Bilanz seit Einführung der amtlichen Berufsbildungsstatistik, und in diesem Jahr werden Sie, Frau Minister Wilms, Ihren eigenen Rekord wahrscheinlich noch übertreffen. Nach den bisher vorliegenden Zahlen aus Nürnberg hat sich die Schere zwischen Angebot und Nachfrage bei den Ausbildungsplätzen weiter geöffnet. Während 1983 im Juni rechnerisch noch 120 000 Ausbildungsplätze fehlten, sind es in diesem Jahr über 175 000, und jeder, der die Grundrechenarten beherrscht, muß unsere Befürchtung teilen, daß 1984 über 100 000 junge Menschen auf der Straße bleiben werden. Allein in Nordrhein-Westfalen stehen heute noch 73 000 auf den Bewerbungslisten.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat den bildungspolitischen Konsens aufgekündigt, der darin bestand, daß alle Jugendlichen eine Chance auf eine qualizifierte Ausbildung erhalten sollen. Sie fühlt sich nur begrenzt für die Zukunfts- und Lebenschancen der Jugend verantwortlich. Sie überläßt die Jugendlichen den Selbstheilungskräften des Marktes, obwohl sie ganz genau weiß, daß
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984 5741
Kuhlweindabei Zehntausende von Jugendlichen auf der Strecke bleiben werden. Statt Programme aufzulegen, die jungen Menschen Ausbildungs- und Arbeitsplätze sichern könnten, denken Sie, Frau Minister, darüber nach, wie man knappe Steuermittel in die Konzernkaderschmieden einer selbsternannten Elite umdirigieren könnte.Wir möchten gern von Ihnen wissen, wie Sie diesen Widerspruch auflösen wollen, wir möchten auch gern wissen, wie Sie Ihre Privatisierungsideologie mit den berechtigten Ansprüchen der staatlichen Hochschulen in Einklang bringen wollen, die der Bundesaußenminister als „Brothochschulen" zu diffamieren beliebte, und wir möchten von Ihnen vor allem wissen, ob Sie wirklich der Meinung sind, die Bundesregierung habe mit der Vorlage des Berufsbildungsberichts 1984 ihre Schuldigkeit getan.Statt eine ehrliche und saubere Bilanz in Sachen Berufsausbildung vorzulegen, haben Sie den Berufsbildungsbericht zu einer statistisch geschönten Dankadresse an die deutsche Wirtschaft gemacht.Günter Apel hat Ihnen als Bevollmächtigter des Hamburger Senats für den Ausbildungsmarkt ins Stammbuch geschrieben, wo überall Sie in Ihrem Bericht am Berufsbildungsförderungsgesetz vorbei-laviert haben. Da geht es vor allem um § 3 des Gesetzes, der eindeutig vorschreibt, daß der Bericht die voraussichtliche Weiterentwicklung des Ausbildungsplatzangebots der kommenden Jahre enthalten muß. Da geht es dann darum, daß nach demselben Paragraphen in den Bericht auch Vorschläge für die Behebung aufzunehmen sind, wenn die Sicherung eines ausreichenden Angebots gefährdet erscheint. In beiden Punkten, Frau Minister Wilms, registrieren wir Fehlanzeige. Wir haben den Verdacht, daß Sie die Zahlen entweder bewußt verschwiegen haben oder immer noch hoffen, daß in den nächsten Wochen irgendwie ein Wunder geschieht.Ich gehe davon aus, daß Sie genauso wie wir mit einer sehr hohen Zahl unversorgter Bewerber im Herbst rechnen. Wenn das richtig ist, dann wäre spätestens jetzt die Zeit zum Handeln gekommen.
Da Sie die eine Handlungsmöglichkeit ausschließen, nämlich die Erhebung einer Berufsbildungsabgabe, bleibt nur der Weg, mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt zu einem ausgewogenen Verhältnis von Angebot und Nachfrage bei den Ausbildungsplätzen zu kommen. Sie sollten sich ein Beispiel etwa an den SPD-regierten Ländern nehmen. Nordrhein-Westfalen will jetzt mit einem 235-MillionenDM-Programm 20 000 neue Ausbildungsplätze schaffen. Der Beitrag des Bundes kann sich doch nicht darauf beschränken, daß Appelle ansprochen und Ausbildungsplatzbörsen veranstaltet werden oder daß sich gar, wie wir es gestern gehört haben, Politiker der Koalition, nämlich die Herren Mischnick und Dregger, zu der Behauptung versteigen, SPD und GRÜNE hätten durch die Verhinderung einer Novellierung des Jugendarbeitsschutzgesetzes die Katastrophe, die im Herbst droht, mitverschuldet. Wie groß, meine Damen und Herren von der Koalition, muß Ihre Angst vor dem Herbst sein, daß Sie zu solch erbärmlichen Ausreden greifen!
Ich will hier einmal ganz deutlich folgendes sagen. Das Jugendarbeitsschutzgesetz ist keine ausbildungshemmende, sondern eine ausbeutungshemmende Vorschrift, eine Vorschrift, die junge Menschen davor bewahren soll, zu früh im Arbeitsprozeß kaputtgemacht zu werden. Eine Novellierung dieses Gesetzes bringt keinen einzigen zusätzlichen Ausbildungsplatz. Deshalb halten wir an diesem Gesetz fest, das im Deutschen Bundestag 1976 gemeinsam beschlossen wurde.Die SPD-Fraktion legt Ihnen heute ein Sofortprogramm zur Verbesserung der Berufsausbildung und zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vor, das 50 000 zusätzliche Jugendliche in Ausbildung und über 100 000 jugendliche Arbeitslose in Arbeit bringen würde. Damit würde vor allem Mädchen und jungen Frauen geholfen, die es heute besonders schwer haben.Einer Regierung, die erneut Steuergeschenke für die Besserverdienenden plant und mit leichter Hand 3 Milliarden DM jährlich zusätzlich für die Landwirtschaft aufbringen kann, dürfte es wohl nicht schwerfallen, die erforderlichen 1,5 Milliarden DM zu finanzieren. Sie sollten dazu den Bericht der Jugendenquetekommission nachlesen. Darin heißt es:Verantwortliches politisches Handeln sollte aber nicht erst dann einsetzen, wenn es zu demonstrativen Aktionen und zum Ausbruch von Gewalttätigkeiten kommt. Die jetzt immer deutlicher werdende Gefährdung der Arbeitsplatzchancen der nachwachsenden Generation ist ein hinreichender Auftrag für die Politik.Meine Damen und Herren, von einer Bundesbildungsministerin sollte man erwarten, daß sie einen solchen Auftrag zur Kenntnis nimmt und entsprechend politisch handelt. Von einer Bundesbildungsministerin sollte man erwarten, daß sie die Interessen der jungen Generation energisch vertritt, daß sie kämpft und Ansprüche anmeldet. Frühere Bildungsminister haben damit auch gegenüber Kanzlern und Finanzministern Erfolg gehabt.
Diese Bundesbildungsministerin hat sich damit abgefunden, daß sie nichts zu sagen hat. Sie hat das Schüler-BAföG kampflos verschenkt. Sie hat auch die Chance vertan, beim neu geplanten Familienlastenausgleich etwas für Schüler und Studenten herauszuholen, obwohl sie ein ganzes Jahr lang entsprechende Ankündigungen in die Welt gesetzt hat.
Sie hat weiter die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses den Ländern überlassen. Schließlich hat sie von vornherein auf die notwendige Aufstockung des Benachteiligtenprogramms und auf ein erneutes Sonderprogramm für Ausbildungsplätze verzichtet.
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5742 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
KuhlweinFrau Minister Wilms, Sie haben aus einem schlagkräftigen Instrument gesamtstaatlicher Bildungsplanung und Bildungspolitik in kurzer Zeit ein Semantikministerium für Wendeideologie gemacht.
Selbst der Ring Christlich Demokratischer Studenten befürchtet, daß Sie sich bereits mit der Auflösung Ihres Ministeriums abgefunden haben.Die öffentliche Meinung, meine Damen und Herren, rechnet die Bundesbildungsministerin zu den schwächsten Ministern in einem ohnehin schon schwachen Kabinett. — Frau Minister Wilms, ich appelliere an Sie: Zeigen Sie endlich, daß die öffentliche Meinung insoweit unrecht hat, und handeln Sie endlich. Wir als Opposition werden nicht Ruhe geben, und wir Weden Sie immer wieder an Ihre Pflichten erinnern.
Das Wort hat Frau Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist, wie wir alle wissen, auch in 1984 schwierig. Dies weist der Berufsbildungsbericht der Bundesregierung in aller Nüchternheit aus.
Wir benötigen in diesem Jahr 715 000 bis 735 000 Ausbildungsplätze. Diese müssen im Rahmen des bestehenden bewährten dualen Systems in der Verantwortung der Wirtschaft bereitgestellt werden. Hierzu brauchen die Betriebe Sicherheit über die rechtlichen, finanziellen und arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen. Wir haben unseren Beitrag dazu geleistet, um diese Sicherheiten zu schaffen. Die Bundesregierung hat immer wieder deutlich gemacht, daß sie an dem erfolgreichen System der beruflichen Bildung in der Eigenverantwortung der Wirtschaft festhält.Die Wirtschaft investiert heute über 20 Milliarden DM netto in die Berufsausbildung, und dafür sei ihr Dank gesagt.
Eine direkte finanzielle Unterstützung der Betriebe für Ausbildungsleistungen wird es auch in diesem Jahr nicht geben; denn dies würde nur zum Attentismus und möglicherweise zu Aussteigermentalität bei Betrieben führen. Betriebe, die auf Subventionen hoffen, hoffen auch in diesem Jahr vergebens. Gleichzeitig können die Betriebe aber auch sicher sein, daß die Bundesregierung an der einzelbetrieblichen Finanzierung festhält. Eine gesetzliche Fondsfinanzierung wird es ebenfalls nicht geben.Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß wir uns wenigstens darin einig sind, daß sich die Folgen der Tarifauseinandersetzungen nicht nachteilig auf die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe in den nächsten Wochen auswirken dürfen und daß auch hier möglichst bald wieder Sicherheit eintritt.Diese Sicherheiten sind notwendig; denn die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, daß die Sommermonate für die Entwicklung des Gesamtangebots an Ausbildungsplätzen entscheidend sind. Die Dramatisierung wenig aussagekräftiger, weil unvollständiger Statistiken, wie Sie von der Opposition sie immer wieder betreiben, trägt nur zur weiteren Verunsicherung bei und schadet den Jugendlichen, statt ihnen zu nutzen.
Ich appelliere an dieser Stelle noch einmal an alle Verantwortlichen, die großen Kraftanstrengungen des vergangenen Jahres zu wiederholen, ja zu verstärken und noch weitere Ausbildungsplätze, vor allem durch bisher nicht ausbildende Betriebe, bereitzustellen.
Meine Damen und Herren von der SPD, wer diese Appelle als wirkungslos abtut, wie Sie, hat das duale System in seiner Substanz überhaupt nicht begriffen,
mißachtet die Eigenverantwortung der Wirtschaft und die subsidiäre Rolle des Staates dabei.Meine Damen und Herren, Sie verschweigen — auch der Kollege Kuhlwein hat es verschwiegen —, daß der Bund auch in diesem Jahr als Ausbilder mit gutem Beispiel vorangeht. Die Bundesregierung wird in diesem Jahr das Angebot an Ausbildungsplätzen auf Bundesseite um über 7,5 % auf insgesamt 29 500 steigern. Insgesamt bildet der Bund in diesem Jahr knapp 82 000 Jugendliche in seinem Bereich, einschließlich Bahn und Post, aus. Über 30 % davon sind Ausbildungen über Bedarf. Wenn die private Wirtschaft ähnlich hoch steigert und über Bedarf ausbildet, wären die Probleme gelöst. Die Bundesländer und die Kommunen haben ebenfalls zugesagt, in ihrem Bereich entsprechende Anstrengungen zu unternehmen. Alle öffentlichen Körperschaften stehen hier in der Pflicht und tragen gemeinsam Verantwortung.Meine Damen und Herren, die unmittelbare Bereitstellung von Ausbildungsplätzen ist aber nur ein Teil der Anstrengungen der Bundesregierung. Wenn Sie von der Opposition, insbesondere von der SPD, hier den Eindruck erwecken wollen, die Bundesregierung beschränke sich auf Appelle und sei im übrigen untätig,
so möchte ich doch auf die Fakten verweisen, die Ihnen zwar bekannt sind, die Sie aber immer tunlichst verschweigen.Ich erinnere beispielhaft an die Aufstockung des Benachteiligtenprogramms innerhalb von zwei Jahren von 44 Millionen in Ihrer Regierungszeit auf 144 Millionen DM in diesem Jahr. Weitere Erhöhungen werden in den nächsten Wochen und zum
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Bundesminister Frau Dr. WilmsHaushalt 1985 folgen. Herr Kuhlwein, ich weiß nicht, woher Sie die Information haben, daß hier nichts geschähe.Ich erwähne weiterhin beispielhaft die Förderung überbetrieblicher Ausbildungsstätten in Höhe von 200 Millionen DM. An Bildungshilfen zahlt der Bund 120 Millionen DM. Es gibt ausbildungsrelevante Hilfen in Gewerbeförderungsprogrammen in der regionalen Wirtschaftsförderung.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte den Satz gerade zu Ende führen, und dann, Herr Kollege.
Aus dem Haushalt der Bundesanstalt kommen Berufsbildungsbeihilfen in Höhe von etwa 440 Millionen DM. Ich will die Aufzählung hier nicht fortsetzen, sondern sagen, daß insgesamt von Bundesseite in diesem Jahr rund 1,4 Milliarden DM an flankierenden Hilfen für die außerschulische berufliche Bildung gegeben werden.
Herr Dr. Schmude, bitte.
Nachdem Sie, Frau Minister, eben wörtlich ausgeführt haben, zum Benachteiligtenprogramm würden weitere Erhöhungen der Mittel in den nächsten Wochen und für den Haushalt 1985 — noch einmal: in den nächsten Wochen und für den Haushalt 1985 — erfolgen, frage ich Sie: Kündigen Sie damit an, daß auch für dieses Jahr noch zusätzliche Mittel für diejenigen bereitstehen werden, die dringend darauf warten, jetzt im Herbst noch neue Ausbildungsplätze aus diesem Programm zu besetzen?
Ja, ich kündige Ihnen an — dieses ist bereits auf dem Wege —, daß wir durch Umschichtungen in meinem Haushalt den Titel von 144 Millionen DM, wie er im Soll angesetzt ist, im Ist erhöhen und daß dieses durch entsprechende Erhöhungen im Bundeshaushaltsentwurf 1985 voll zum Ausdruck kommt. Sie wissen, daß die Haushaltsberatungen erst in der nächsten Woche im Kabinett erfolgen. Ich werde Sie dann darüber informieren, in welchen erheblichen Größenordnungen dieses erfolgt.
Ich möchte also noch einmal betonen, damit das Gerede endlich aus der Welt kommt, daß der Bund 1,4 Milliarden DM — das sind Soll-Zahlen — in diesem Jahr an flankierenden Hilfen für die außerschulische berufliche Bildung gibt. Damit werden die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe gestärkt und die Chancen der Problemgruppen gebessert. Ich möchte ausdrücklich betonen, in diesen 1,4 Milliarden DM sind nicht die BAföG-Mittel inbegriffen, sind nicht die Mittel aus Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen inbegriffen, die der Jugend auch zugute kommen. Sie müssen noch hinzugerechnet werden.Meine Damen und Herren, neben diesen finanziellen Aufwendungen bemüht sich die Bundesregierung aber auch um die Verbesserung des rechtlichen Rahmens der Ausbildung. Zu nennen sind hier beispielhaft die Beseitigung ausbildungshemmender Vorschriften sowie die Änderung der Ausbildereignungsverordnung, wodurch die vorhandene Ausbildungsplatzkapazität erhalten bleibt und Ausbildungsqualität gesichert bleibt. Wir setzen das fort, was unter Ihrer Regierung schon eingeleitet worden ist, aus den gleichen Gründen.Meine Damen und Herren, vom Nichtstun der Regierung kann also wirklich nicht die Rede sein. Allerdings, die SPD-Vorschläge sind für uns nicht relevant, da sie von einem zentralistischen und bürokratischen bildungspolitischen Ansatz ausgehen.
Leitprinzip unserer bildungspolitischen Maßnahmen ist es, mit einer Fülle gezielter, unterschiedlich gestalteter Förderungsmaßnahmen Bildungschancen zu eröffnen und zu sichern. Hierin unterscheiden wir uns eben grundsätzlich von der Bildungspolitik der SPD. Wir lehnen pauschale und ungezielte Programme ab, die es nämlich an sich haben, daß sie dann entweder unbezahlbar werden oder niemandem mehr nützen. Wir sehen den jungen Menschen im Mittelpunkt, der individuell gefördert werden muß, der seinen Bildungsweg finden muß.Dies gilt besonders für die Benachteiligten, denen wir besonders helfen müssen, ebenso wie für den Hochbegabten. Seine Talente dürfen nicht unter dem Druck staatlicher Bürokratisierung und Reglementierung verkümmern. Nur wenn wir den Leistungsfähigen ermutigen, seine Talente zu nutzen,
wird er die personale Solidarität üben können, derer der Schwächere bedarf und ohne die menschliches Zusammenleben unerträglich ist. Solidarität und Leistungswettbewerb schließen einander nicht aus. Gegenteilige Behauptungen sind für mich demagogische Floskeln, die sich nur für Demo-Transparente eignen.
Die Bundesregierung hat auch für die Hochschulen deutliche Akzente gesetzt. Dadurch werden die Bildungschancen der Abiturienten, der Studenten und des wissenschaftlichen Nachwuchses verbessert. Ich nenne hier nur beispielhaft
— ich weiß, daß Sie das alles nicht gerne hören, meine Kollegen von der Opposition — die Ausweitung der Mittel für den Hochschulbau auf jährlich 1,2 Milliarden DM. Sie, meine Damen und Herren
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Bundesminister Frau Dr. Wilmsvon der SPD, haben diese Mittel in Ihrer Regierungszeit drastisch gekürzt. Wir hätten heute 2 Milliarden weniger für den Hochschulbau, wenn wir Ihre Finanzplanung fortgeschrieben hätten.Lassen Sie mich auch auf die hohen Zuschüsse meines Hauses etwa für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und für die Begabtenförderungswerke hinweisen. Zirka eine halbe Milliarde D-Mark kommt auf diese Weise vor allem dem wissenschaftlichen Nachwuchs zugute. Wir werden vom nächsten Jahr an ein neues Postdoktorandenprogramm einführen. Auch dies gehört zur Sicherung der Zukunftschancen der jungen Generation.Meine Damen und Herren, mit diesen und anderen Programmen bekennt sich die Bundesregierung gleichzeitig zur Bildung wissenschaftlicher Leistungseliten. Die Bundesregierung sieht nämlich — dies möchte ich sehr betonen — generell zwischen der Breitenausbildung und der Förderung von Leistungseliten keinen Gegensatz. Die ideologische Behauptung, das Gebot der Chancengerechtigkeit verbiete Spitzenförderung, verkennt einfach anthropologische, menschliche Grundtatbestände. Selbstverwirklichung des Menschen vollzieht sich auch durch Leistung.
Dies gilt für die Wissenschaft, für das Handwerk wie auch für den Sport.
Niemand stellt Breitensport und Spitzensport in Frage.
— Das war mir ganz neu! Beim Fußball habe ich das von dieser Seite noch nie gehört.
Deshalb werden wir auch nicht auf die Berücksichtigung von Leistung bei der Rückzahlung von BAföG-Darlehen durch Studenten verzichten.
Es gibt da — lassen Sie mich das hier einfügen — keine nennenswerten Vollzugsprobleme. Ständiges Wiederholen von Unwahrheiten macht die Sache auch nicht richtig.Meine Damen und Herren, Wettbewerb ist ein Mittel zur Leistungssteigerung und zur Heranbildung von Spitzenleistungen in allen Bereichen, auch im wissenschaftlichen Bereich. Ich habe mit den 16 Thesen zur Hochschulpolitik hierzu deutlich Position bezogen. Wir brauchen den Wettbewerb in Forschung und Lehre zwischen den Hochschulen. Nur so können sich auch Elitehochschulen heranbilden.Wer die Tradition der deutschen Hochschule kennt, weiß, daß die deutsche Wissenschaft in Forschung und Lehre in der Vergangenheit nur auf diese Weise Weltruhm erlangt hat. Ich begrüße es sehr, daß in dieser Frage zwischen den Koalitionsparteien vollständige Einigkeit besteht. Politiker und Wissenschaftler wissen: In einer Hochschullandschaft mit Einheitsniveau können sich eben keine Nobelpreisträger entfalten.
Wir brauchen Entfaltungsspielraum für wissenschaftliche Spitzenleistung, wir brauchen Elitefachbereiche, Elitelehrstühle und auch Elitehochschulen. Sie müssen sich aber im Wettbewerb herauskristallisieren. Dekretieren, verordnen, lassen sie sich nicht.Zur Förderung einer differenzierten Hochschullandschaft muß auch das private Engagement beitragen. Es ist deshalb zu ermutigen. Hierzu werden wir bei der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes die entsprechenden Weichen stellen.Wer in diesem Zusammenhang die Gefahr beschwört, daß die Hochschulen in Abhängigkeit zur Wirtschaft geraten, verkennt übrigens völlig die finanziellen Größenordnungen. Er unterschätzt außerdem das Berufsethos der Wissenschaft
und übersieht, daß die ganz selbstverständlichen gegenseitigen Verflechtungen von Wirtschaft und Wissenschaft seit eh und je bestehen. Meine Damen und Herren, die Zeit der ideologischen Berührungsängste sollte nun endgültig der Vergangenheit angehören.
Ich denke, wir sind uns einig in der Feststellung, daß in den nächsten zwei bis drei Jahren vordringlich noch die quantitativen Probleme in der Ausbildung zu bewältigen sind, daß wir den Jugendlichen der geburtenstarken Jahrgänge helfen müssen, ihre Bildungschancen zu realisieren. Wir dürfen aber heute auch nicht die qualitativen und strukturellen Aufgaben aus den Augen verlieren, die in der ganzen Härte vielleicht erst morgen auf uns zukommen. Wenn wir in Bildung und Ausbildung, in Forschung und Lehre in Deutschland nicht wieder Spitze werden, verbauen wir die Zukunft unserer Jugend.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Dr. Jannsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kuhlwein griff das Wort von den Selbstheilungskräften des Marktes auf, das sich im Berufsbildungsbericht findet. Das erinnert mich an ein Wort, das wir vor Jahren immer wieder gehört haben: Es waren die Selbstheilungskräfte der Natur oder der Gewässer. Wir haben festgestellt — das ist in solchen Situationen wie gestern vormittag hier deutlich geworden —, daß da mit Selbstheilung wirklich nichts mehr zu machen ist. Wir werden feststellen, daß die Selbstheilung des Marktes einen ähnlichen Gang geht wie die Selbstheilung
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Dr. Jannsender Natur, daß nämlich geheilt werden muß, und das geschieht nicht von selber.Erinnern wir uns an Feststellungen aus dem Bericht der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" wie etwa diese: „Der Jugendprotest kann nicht als klassischer Generationskonflikt erklärt werden, sondern ist im wesentlichen als Reaktion auf ungelöste gesellschaftliche Probleme zu verstehen."
Angesichts dessen müssen wir uns fragen: Welches ist denn das ungelöste gesellschaftliche Problem, mit dem wir es heute zu tun haben?Der Berufsbildungsbericht und auch die Fragen bezüglich der Elitehochschulen sowie die Situation Jugendlicher am Arbeitsplatz weisen darauf hin, welches Problem hier zu erkennen ist: Das ist die Situation von Jugendlichen, die vorher Schüler waren und dann zu Jugendlichen gemacht worden sind, dann irgendwann zu sogenannten jungen Menschen werden, und dann nach einer gewissen Zeit wieder nach statistischen Größen Erwachsenenlebensalter haben. Das heißt: Sie empfinden sich als Menschen, die in einem bestimmten Lebensabschnitt stecken, der nur statistisch festgelegt ist. Dieser Lebensabschnitt wird deswegen zum Problem für die Gesellschaft und für die Jugendlichen, weil er zwei wesentliche Zäsuren aufweist: Einschnitte wie das Ende der Schulzeit und wie das Ende der Berufsausbildung waren früher keine problematischen Einschnitte, sie sind aber heute für den größten Teil der Jugendlichen äußerst problematische Einschnitte. Wir wissen — das sagt der Berufsbildungsbericht —, daß Tausende, Zehntausende, wahrscheinlich mehr als zweihunderttausend in diesem Jahr die Schule verlassen, verlassen müssen, und keine Ausbildung erhalten werden. Der Berufsbildungsbericht spricht für 1983 von etwa 30 000 Jugendlichen, die ohne einen Ausbildungsplatz existieren müssen. Das sind aber die Jugendlichen, die noch gewagt haben, nach einem Ausbildungsplatz zu fragen. Das Minderheitenvotum der Arbeitnehmer im Bereich des Berufsbildungsberichts spricht allerdings auch für das letzte Jahr, wie das Jahr davor, wiederum von knapp 200 000 Jugendlichen, die in dieser Statistik überhaupt nicht mehr enthalten sind, aber gleichwohl als Menschen existieren.
Wir rechnen für 1984 nach denselben Überlegungen mit etwa 250 000 Jugendlichen, die keine Hoffnung haben und gar nicht erst versuchen, einen Ausbildungsplatz zu erreichen.
Ich spreche nicht für die Hunderttausende, die innerhalb dieses Systems mit kleineren oder größeren Problemen oder gar keinen Problemen noch einen Ausbildungsplatz erhalten haben. Für die wird genug gesprochen, für die wird genug getan. Es ist zu sprechen für und über die Jugendlichen, die in diesen Bereich der Ausbildung nicht hinein-kommen, und die, die, wenn sie ausgebildet sind, bei der zweiten Zäsur, nach der Berufsausbildung, keine Arbeit bekommen.Vielleicht zwei Zahlen: 1981 waren 20 812 Jugendliche nach Abschluß der Ausbildung nicht in einen Arbeitsvertrag, wie lang er auch gewesen sein mag, übernommen worden. 1983 betrug die Zahl derjenigen, die einen Ausbildungsplatz vergeblich absolviert hatten, das Dreifache, nämlich 65 070.
Alle diejenigen, die nicht bis zum Ende der Ausbildung durchhalten konnten oder gar keine anfangen konnten, sind dort natürlich nicht drin. Für die ist dieses zweite Datum auch keine Zäsur. Nicht mitgezählt sind in diesen Zahlen auch die Jugendlichen — oder nach der Statistik und unserer Ordnung: die jungen Menschen —, die die Hochschulen oder andere Ausbildungseinrichtungen verlassen haben und nicht über das duale Berufsbildungssystem gegangen sind. Auch dort haben wir in den letzten Jahren zunehmend Arbeitslosigkeit am Ende der Ausbildung festgestellt. Ich erinnere nur an die Lehrer, über die wir hier schon mehrfach geredet haben.Die Frage ist: Was tut die Bundesregierung? Oder: Kann sie überhaupt etwas tun, was wirksam ist?
Sie tut eine ganze Menge. Sie tut auch eine Menge Dinge, die wirksam sind. Nur habe ich den Eindruck, daß sie sehr wirksam sind in der Sicherheit für die Wirtschaft. Ob sie aber wirksam sind in der Sicherung der Zukunftschancen — wie Frau Wilms das nannte — der Jugendlichen, das wage ich zu bezweifeln.
Einige gesetzliche Vorhaben, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, haben deutlich gemacht, daß dieser Zweifel nur allzu berechtigt ist.Ich nenne als ein Beispiel nur die Veränderung der Bundesausbildungsförderung im Jahre 1982/83, von der viele Sachverständige inzwischen annehmen, daß sie zu einem hohen Anteil neuer Ausbildungswilliger im dualen System geführt hat. Das scheint mir auch sehr wahrscheinlich zu sein. Das wird in diesem Jahr sicherlich nicht anders sein, so daß mit noch höheren Zahlen von Schulabgängern jeden Alters, nicht erst nach dem Abitur, zu rechnen sein wird, weil die Ausbildungsförderung für Schüler nicht mehr, gerade nicht mehr sozialbezogen, geleistet wird. Auch die einzelnen Länderförderungen zeigen nicht, daß hier eine Veränderung eintreten wird.Unser gesellschaftliches System scheint zumindest die „höchste Leistung" auch mit der höchsten sozialen Position zu verbinden. Es hat jedenfalls den Anspruch. In vielen Bereichen ist es auch so. Ob es in dieser Regierung so ist, kann man füglich
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Dr. Jannsenbezweifeln nach dem, was wir heute morgen und zu anderen Zeiten erfahren haben.
Nur, wenn es so ist, daß derjenige, der einen Bildungsgang mit der sogenannten besten Leistung abgeschlossen hat, auch die höchste soziale Position hat, ergibt sich folgendes: Das soziale System, das auf Hierarchien aufgebaut ist und Hierarchien transportiert, wird zu einem anthropologischen Grundmuster menschlicher Existenz gemacht. Und das kann nun wirklich nicht als eine wissenschaftliche Einsicht verkauft werden, die zu begrüßen wäre.
Wenn in der Bundesrepublik Bildungspolitik wirklich in der Form gemacht wird, daß sich derjenige oder diejenige, der bzw. die aus einem besonders günstigen sozialen Milieu kommt, in der Leistungshierarchie am Ende in der vordersten Reihe wieder-findet, dann können wir das vergessen, was in der Bundesrepublik über einige Jahrzehnte versucht worden ist, nämlich auch solche Menschen, die vom Elternhaus nicht bevorrechtigt, begütert sind, in die Lage zu versetzen, im sozialen und ökonomischen System wesentliche Tätigkeiten zu übernehmen. Wenn es so ist, daß die einzig mögliche Existenzform für Menschen die ist, daß sich unterschiedliche Leistungen immer auch hierarchisch entsprechend auswirken, dann werden offensichtlich alle Überlegungen, Leistungsunterschiede nicht zu sozialen Unterschieden werden zu lassen, ohne Wirkung bleiben. Ich meine, daß Unterschiede zwischen Menschen hinsichtlich ihrer Tätigkeiten, die durchaus vorhanden sein können und müssen, nicht gleich zu sozialen Hierarchien führen müssen.Ich denke, daß in dieser Richtung Überlegungen notwendig, unbedingt erforderlich sind, auch im Bereich des Ausbildungssystems. Einer sogenannten schulischen, akademischen Ausbildung einen höheren Stellenwert als einer praktischen Ausbildung, einer beruflich orientierten Ausbildung im Arbeitsleben der Fabriken, des Gewerbes, des Handels beizumessen, scheint mir eine sehr problematische Angelegenheit zu sein. Das, was da jetzt in Angriff genommen wird, sind Versuche, Elite-Universitäten — privat oder staatlich organisiert — zu gründen. Diese sind nichts anderes als Verfestigungen sozialer Hierarchien, wobei völlig unerwiesen ist, ob man dem, was im einzelnen Menschen an unterschiedlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten steckt, in derartigen Formen der sozialen Auslese überhaupt gerecht werden kann. Ich glaube, Elite-Universitäten sind mehr ein Instrument zur Sicherung der wirtschaftlichen Perspektive der Großunternehmen. In den Elite-Universitäten — entsprechendes gilt für alle Hochschulen, Berufsausbildungseinrichtungen und Betriebe — soll auf die Heranbildung von Führungskräften, die sozial angepaßt sind,
politisch hingewirkt werden, um so ein ungestörtesFunktionieren dieser Gesellschaft, dieser Wirtschaft zu gewährleisten. Diejenigen, die zusätzlicheBreitenqualifikationen erwerben sollen, werden über Kurzstudiengänge zu Fachidioten gemacht. Für diese Fachidioten soll oberstes Gesetz, oberster Inhalt ihrer Ausbildung wiederum das Gehorchenlernen sein. Und das wollen wir nicht.
Das Wort hat Frau Professor Wisniewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit die Diskussion darum entbrannt ist, ob wir in der Bundesrepublik private Hochschulen brauchen, wird in den Universitäten und neuerdings auch, wie wir gerade gehört haben, im Parlament mit Fleiß an einem Schauergemälde deutscher Hochschulpolitik gemalt.
Wie seit langem bekannt, wird dazu die Gesellschaftskritik in ihrer ganzen Breite herangezogen.
Private Hochschulen, so heißt es noch ein wenig prononcierter, sind „Kaderschmieden des Kapitalismus". Sie sollen angeblich dazu dienen, Fachidioten für Technik und Management heranzuzüchten, ich zitiere: „unkritische willige Werkzeuge in den Händen der Herrschenden". So die Terminologie, uns allen, glaube ich, wohlbekannt. Die Bundesregierung — so steht es ausdrücklich im SPD-Antrag zu lesen — wolle „das in der Bundesrepublik Deutschland gewachsene System der staatlichen Hochschulen von Grund auf verändern". Die Chancengleichheit beim Zugang zur Hochschule sei, so wird behauptet, „durch die Zulassung privater Hochschulen erheblich beeinträchtigt". Und die Argumentation gipfelt dann oft — nicht hier, aber sonst — in dem Vorwurf, die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien wollten Elitehochschulen für wenige Reiche schaffen, dafür den staatlichen Hochschulen die Mittel entziehen und so für die weniger Finanzkräftigen, aber vielleicht sogar Begabteren die Studienmöglichkeiten einengen. Kurz, wir hörten es schon, Eliteförderung weniger steht angeblich gegen Breitenförderung vieler.
Eine solche Polarisierung ist absolut falsch und unangemessen.
— Die stammt von Ihnen, doch nicht von uns. — Sie macht die hochschulpolitische Analyse ebensowenig wirklichkeitsnah wie das Einpressen in die wohlbekannten Schablonen von den Herrschenden, die ihre Handlanger heranzüchten, und den Unterdrückten, denen Aufstiegschancen verwehrt werden sollen.Niemand denkt daran — die Frau Ministerin hat das schon deutlich gesagt —, das staatliche Hochschulsystem zu beschneiden und auf Leistung als ausschließliches Kriterium für den Aufstieg im so-
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Frau Dr. Wisniewskizialen System zu verzichten. Die Fakten sprechen für sich; es erübrigt sich, das im Moment hier darzustellen.Aber selbst wenn man private Hochschulen nicht nur dulden, sondern sogar fördern wollte, was wäre daran eigentlich verwerflich? Was schlimm ist, ist nicht die Duldung oder Förderung privater Hochschulen, sondern die Art des Denkens, die solche gesellschafts- und hochschulpolitischen Vorstellungen gebiert, wie sie eben jetzt hier vorgetragen wurden bzw. aus dem Antrag der SPD-Fraktion hervorgehen. Wehe uns, kann man nur sagen, wehe uns und unserer Gesellschaft, wenn nicht jeder von uns, jeder Bürger der Bundesrepublik die Großherzigkeit besitzt, nicht nur diejenigen in Sonderschulen zu fördern, die in ihrer Begabung unter dem durchschnittlichen Niveau liegen, sondern auch diejenigen angemessen zu fördern, die darüber liegen, die im Zweifel begabter sind als wir selbst! Chancengerechtigkeit muß auch für Hochbegabte in unserer Gesellschaft selbstverständlich sein. Solche Begabungen zu entfalten, ist nicht nur das Gebot der Verantwortung für diese Menschen, sondern ebenso eine Tat für das soziale Ganze.
Deshalb kann ich die Regierung nur ermutigen zu einer Haltung, wie sie eben in der Rede der Frau Minister zum Ausdruck kam, einer Haltung, die sich darum bemüht, Bestleistungen hochbegabter und besonders einsatzfreudiger Menschen zu unterstützen, wo immer es geht.
Weshalb eigentlich sollen denn nicht ergänzend zu den staatlichen Hochschulen private Hochschulen in der Bundesrepublik bestehen? Das amerikanische Hochschulsystem mit seinen staatlichen und privaten Hochschulen ist Beispiel dafür, wie sehr beide Organisationsformen von ihrer Unterschiedenheit profitieren. Wettbewerb bei der Auswahl und der Ausbildung der Studierenden, Wettbewerb in der Organisation, Wettbewerb bei der Forschung, der Bereitstellung von Forschungsmitteln, aber auch bei der Erziehung im weiteren Sinne: dies alles läßt geistige Spannung entstehen, Lebendigkeit, Beweglichkeit. Das sind notwendigste Voraussetzungen für Bestleistungen in jedem Gebiet. Ich bekenne frei heraus: Ich fände es gut, wenn hier bei uns in der Bundesrepublik mehr Menschen als bisher den Mut aufbrächten, Hochschulen nach ihren Vorstellungen unter den geltenden Niveauvoraussetzungen zu errichten und mit den staatlichen Institutionen zu wetteifern.
Aber das erste Ziel für uns Bildungspolitiker muß es sein, die bestehenden staatlichen Hochschulen wieder besser in den Stand zu setzen, Spitzenleistungen in allen Gebieten hervorzubringen, Spitzenforscher bei sich, und das heißt weitgehend hier in der Bundesrepublik, halten zu können, Spitzenbegabungen entdecken und zur Reife bringen zu können.Ebenso, gleichzeitig und mit demselben Engagement müssen wir die Breitenausbildung erhalten und dafür sorgen, daß sie hohen Ansprüchen genügt. Es gibt kein Entweder-Oder, sondern ein Sowohl-Als-auch in diesem Bereich. Unsere Hochschulen dürfen nicht länger, wie es teilweise und in manchen Fächern immer noch ist, lähmend und nivellierend wirken. Sie müssen beleben und überall geistige Entfaltung ermöglichen.Die Maßnahmen, die dazu führen, sind vielfältig. Der Antrag der Koalitionsfraktionen — der durch ein technisches Versehen entweder noch nicht da ist oder gerade erst gekommen ist, aber jedenfalls gestellt wird —, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, einen Bericht zu geben, wie sie die Verwirklichung ihrer hochschulpolitischen Ziele erreichen will, gibt einen Eindruck von der weiten Verzweigtheit der zu ergreifenden Maßnahmen.Das Wichtigste scheint mir zu sein, den Hochschulen wieder eine wissenschafts- und ausbildungsadäquate Organisationsstruktur zu geben — was nicht die Abschaffung des Prinzips der Gruppenuniversität bedeutet. Wer Woche für Woche tagelang in Gremien sitzt und sich und andere verwalten muß, wer um Mittel und Lehrfreiheit streiten muß, wer Angriffe der verschiedensten Art abwehren muß, dem — sei er Student, sei er Professor — bleibt keine Kraft zu wissenschaftlicher Arbeit. Wer Anträge produzieren muß, um z. B. ein kostbares Gerät zu erhalten, der ist schließlich und endlich, wenn es kommt, vielleicht zu müde geworden, um es effektiv zu nutzen. Bürokratie, geboren aus Mißtrauen und Kontrolliersucht, tötet Wissenschaft und Forschung und verhindert Spitzenleistungen.
Sie fragen gern nach der Definition von Elite. Lassen Sie es mich in nur einem Satz sagen. Die Demokratie insgesamt lebt vom Elite-Gedanken. Wir alle hier sind Elite im weitesten Sinn.
Wir alle sind gewählt. Jede Wahl dient der Auswahl der Besten — sollte jedenfalls dazu dienen — und gibt denen, die gewählt sind, einen Vertrauensvorschuß.Zu den Hochschulen: Haben wir den Mut, besonders Begabte und besonders Einsatzbereite zu fördern, ihnen Raum zu geben, Studiengänge z. B. einzurichten, die mit besonders hohen Anforderungen innerhalb unserer staatlichen Hochschulen Elite heranziehen. Vielleicht trägt das zu jener belebenden Wirkung bei, die entsteht, wenn verschieden Geartetes und unterschiedlich Gefordertes einander begegnet.Ein letzter Satz. Wir müssen aus der verkrampften Hochschulideologie herauskommen, die der SPD-Antrag erkennen läßt. Wir wollen — ich nehme das Wort gern auf — dafür wirken und sollten es alle gemeinsam in allen Fraktionen tun, daß die Bundesrepublik sich als zu einer Kulturnation, wie Sie es nennen, gehörend versteht, und daß die geisteswissenschaftlichen Fächer, die in diesem Bereich Jahrhunderte hindurch Leistungen erbracht haben, genauso wie naturwissenschaftliche Fächer
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Frau Dr. Wisniewskigefördert werden. Wir sollten nicht vergessen: Gerade in der Wirtschaft ist eine Wende im Gange, eine Wende, die sich abkehrt vom nur technizistischen Management und hinfindet zu der Einsicht, daß auch wirtschaftliche Leistungen letztlich nur dann zustande kommen, wenn die kulturellen Werte, Traditionen und Normen nicht vergessen, sondern produktiv gemacht werden.Vielen Dank.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Tagesordnung um den Zusatzpunkt 8:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Hochschulpolitische Zielsetzungen der Bundesregierung
— Drucksache 10/1675 —
erweitert werden. Dieser Punkt soll in die verbundene Beratung der Tagesordnungspunkte 39 bis 42 sowie des Zusatzpunktes 7 einbezogen werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Damit ist auch dieser Zusatzpunkt aufgerufen.
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
— Das schärft den Blick, Herr Kollege Vogelsang. Sie gestatten mir doch bitte, daß ich das so tue; denn ich muß einerseits auf mein Blatt schauen, und andererseits möchte ich Sie auch nicht aus dem Blick verlieren.
— Wenn Sie mich dafür halten, ist das Ihre Sache. Ich weiß, was ich von mir selbst zu halten habe, und versuche, dabei nicht eingebildet zu sein.
Meine verehrten Damen und Herren, gerade im Bereich der Bildungs- und Wissenschaftspolitik ist die Glaubwürdigkeitslücke zwischen den Bürgern und Parteien besonders groß, wie ich fürchte. Das ist nicht einfach auf tatsächliche oder vermeintliche Fehler der Bildungspolitiker zurückzuführen, sondern es liegt sicher auch an der Komplexität vieler Probleme, an der vielfach mangelnden Transparenz der Verantwortlichkeiten, an der zersplitterten Zuständigkeitsverteilung im kooperativen Föderalismus und auch an der Langfristigkeit mancher bildungspolitischen Entwicklung. Durch tagespolitische Polemik kann in der Bildungs- und Wissenschaftspolitik leicht etwas zerstört werden, aber so gut wie nichts aufgebaut werden.Was wir brauchen, ist nicht die kleinliche Besserwisserei, nicht die Beckmesserei, nicht die Polemik, sondern die Bereitschaft zu neuem Konsens und zu neuer Offensive in der Politik: für die Jugend, für die Zukunft.Gestatten Sie mir, daß ich an dieser Stelle ausdrücklich das Bemühen meines Kollegen Norbert Eimer begrüße. Auf Grund seines Einsatzes ist es ihm gelungen, zum Thema Jugendprotest eine gemeinsame Entschließung vorzulegen. Ich halte das für sehr vernünftig und im Blick auf die zukünftige Arbeit für erfolgversprechend.
Aber genausowenig können wir die Probleme der Jugend, können wir die Probleme der Bildungs- und der Wissenschaftspolitik nur mit Programmen oder mit Zahlenfetischismus erschlagen.
Das ist nämlich genau der Punkt, wo uns die Jugend nicht mehr zuhört, weil sie sehen und verstehen will, was wir tun, wie wir handeln und wie wir entscheiden. Jeder weiß, daß sich bis Herbst dieses Jahres rund 730 000 junge Menschen um einen Ausbildungsplatz im dualen System der beruflichen Bildung bewerben werden und daß es ein schwieriges Jahr auf dem Ausbildungsstellenmarkt sein wird. Aber jeder politisch Verantwortliche, der diese Situation verharmlost oder gar den Eindruck erweckt, als sei das Problem schon gelöst, setzt ebenso falsche und, wie ich meine, schädliche Signale wie derjenige, der mit einer unzulässigen Hochrechnung der Monatsergebnisse der Bundesanstalt für Arbeit die junge Generation verunsichert, wohl wissend, daß diese statistischen Zahlen nicht die Wirklichkeit widerspiegeln, aus vielerlei Gründen, die ich hier nicht erörtern kann, nicht widerspiegeln können. Sollten sich von dieser Formulierung gleichzeitig die Kollegen beider großer Fraktionen dieses Hauses angesprochen fühlen, so ist dieses gewollt.
Der Berufsbildungsbericht 1984 macht deutlich, daß es im vergangenen Jahr mit fast 700 000 Ausbildungsplätzen einen Ausbildungsstellenrekord gegeben hat. Dafür ist allen Beteiligten, vor allem in Handwerk, Handel und Industrie, in Gewerkschaften und Schulen und bei den freien Trägern, zu danken. Wir müssen das gleichzeitig mit dem Appell verbinden, in diesem Jahr nicht nur den Ausbildungsstellenrekord zu wiederholen, sondern zu übertreffen, weil sonst nicht allen jungen Menschen eine geeignete berufliche Erstausbildung gesichert werden kann.Auch wenn die Hauptverantwortung für ein ausreichendes Ausbildungsplatzangebot im Bereich der privaten Wirtschaft liegt, kann und muß der Bund durch eine Vielzahl einzelner Maßnahmen dazu beitragen, um das Ziel „Berufsbildung für alle" zu erreichen. Eine Reihe dieser möglichen Maßnahmen sind teilweise übereinstimmend in den Entschließungen sowohl der Opposition als auch der Koalitionsfraktionen zum Berufsbildungsbericht aufgeführt. Ich möchte hier hinzufügen, hier helfen
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Dr.-Ing. Laermannjetzt nicht mehr lange Debatten, sondern hier muß unverzüglich, hier muß schnell gehandelt werden.
In Übereinstimmung stehen die Forderungen nach einer finanziellen Ausweitung des sogenannten Benachteiligtenprogramms, das sich seit Jahren grundsätzlich bewährt hat. Wir danken der Frau Minister, daß sie angekündigt hat, daß dieses ausgebaut wird.Keine Übereinstimmung gibt es aber in der Frage nach einem neuen gesetzlichen Umlageverfahren, das die SPD in ihrem Antrag fordert. Derartige Umlageverfahren, die sich auf tarifvertraglicher Basis durchaus bewährt haben, wären als generelle gesetzliche Regelung, wie wir wissen, äußerst verwaltungsaufwendig und würden auch eine Belastung für die Betriebe bedeuten. Ich darf daran erinnern, daß sich SPD und FDP bereits bei der Verabschiedung des Berufsbildungsförderungsgesetzes im Jahre 1981 darauf verständigt haben, daß ein derartiger Apparat nicht aufgebaut werden sollte. Ich halte es für schlechthin nicht vertretbar, in der gegenwärtig schwierigen Situation die Diskussion um ein Fondssystem neu aufzugreifen, da allein schon die Diskussion darüber kontraproduktiv wirken müßte.Es wird kein neues Sonderprogramm der Bundesregierung wie im vergangenen Jahr geben. Dies sollte schon heute deutlich gesagt werden, damit es hier auch keine falschen Signale gibt, die zu einer Zurückhaltung der Betriebe bei der Ausbildung führen könnten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmude?
Herr Kollege Schmude, ich habe nur wenige Minuten. Ich bitte um Verständnis. Ich kann meine Ausführungen ohnedies nicht zu Ende bringen. Ich bitte um Verständnis.Was es aber geben muß, ist die vor allem vom Handwerk geforderte Fortsetzung der Finanzierung der überbetrieblichen Ausbildungsstätten.
Neue Technologien, neue Verfahren sind ja keineswegs nur etwas, wofür sich Hochschulen zu interessieren haben, sondern sie gehören auch in die berufliche Bildung, und hier müssen sie umgesetzt werden. Wir sind deshalb der Meinung, daß wir uns weiterhin verstärkt und in den überbetrieblichen Ausbildungsstätten engagieren müssen.Meine Damen und Herren, es gehört auch dazu, daß im Rahmen der Diskussion um den Familienlastenausgleich die Frage der Neuordnung der individuellen Ausbildungsförderung wieder auf die Tagesordnung kommt, damit nicht mangelnde Förde- rung dazu führt, daß Erfolge der Wirtschaft auf der einen Seite auf dem Ausbildungsstellenmarkt konterkariert werden. Es ist ein Gebot der Solidarität zwischen den Generationen, daß wir dafür sorgen, daß die jungen Menschen der geburtenstarken Jahrgänge nicht schlechtere Bildungs- und Berufschancen haben als die Angehörigen der Jahrgänge vor ihnen. Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, daß sich die Bundesregierung in ihrem Bericht zu den Zukunftschancen der jungen Generation in Ausbildung und Beruf nachdrücklich für das Offenhalten des Bildungssystems ausgesprochen hat.Meine Damen und Herren, Herr Kuhlwein hat das Wort von den Kaderschmieden in den Raum geworfen. Ich denke, daß im Zusammenhang mit der Sicherung der Zukunftschancen auf die Frage nach der Hochbegabtenförderung gestellt werden muß, daß auch die Frage gestellt werden muß, wie wir in das weitere Bildungssystem, in das Universitätssystem wieder mehr Wettbewerb hineinbringen. Wir haben das im Schulsystem. Warum eigentlich nicht im Hochschulbereich? Denn hier können von privaten Einrichtungen, privaten Universitäten, privaten Stiftungslehrstühlen an den bestehenden Universitäten durchaus positive und kreative und die Entwicklung fördernde Impulse ausgehen, weil das staatliche System durch zuviel Reglementierung in die Erstarrung geraten ist.
— Herr Kuhlwein, ich denke, Sie stimmen dem Beifall zu. Wenn ich das richtig sehe, ist eine der ersten privaten Universitäten in Witten-Herdecke von Herrn Schily ins Leben gerufen worden. Wenn ich das richtig sehe, gehört er der SPD an, und das Projekt ist auch von der SPD gefördert worden. Wir haben es im übrigen auch unterstützt, weil wir für die Vielfalt, für die Pluralität sind. Genau das ist das, was auch Herr Genscher ausdrücken wollte, der so mißinterpretiert worden ist, als ob er das Heil nun nur noch in privaten Elite-Universitäten sieht. Lassen wir dies doch beiseite, gehen wir auf den Sinn der Sache zurück! Es kommt darauf an, daß wir Vielfalt, Wettbewerb und mehr Kreativität in die Hochschullandschaft hineinbringen wollen, daß wir das tun müssen.
— Warten Sie es doch ab, Herr Kuhlwein. Selbst wenn es Leute gibt, die soviel Geld aufbringen, entlasten sie auch das öffentliche System. Lassen Sie uns doch darüber reden.
Wir wollen die Begabten- und Hochbegabtenförderung zur Verwirklichung des Bürgerrechts auf Bildung durchsetzen. Das ist wie die Breitenförderung unverzichtbar. Ich betone hier ausdrücklich, daß es unsere Position ist, daß dies unabhängig vom sozialen Status und von der sozialen Herkunft zu geschehen hat und daß der Staat mit verpflichtet ist, dafür zu sorgen, daß auch die bestehenden Hochschulen in die Lage versetzt werden, sich den Begabten wieder — —
— Wo steht denn das? Das ist doch eine Ihrer Unterstellungen, die in Ihrem Antrag stehen. Das steht
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5750 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
Dr.-Ing. Laermannnur in Ihrem Antrag, und das ist eine Unterstellung.
Wir sind jedenfalls dafür, wir bejahen auch private Hochschulen, wir bejahen auch private Stiftungslehrstühle, wir bejahen den Wettbewerb in den Hochschulen, und wir wollen den Rahmen dafür setzen, die Bedingungen dafür schaffen, daß sich dieses ermöglichen läßt.
Leistungsförderung heißt, den Wettbewerb innerhalb der Hochschulen wie auch der Hochschulen untereinander zu verbessern. Wir wollen die Autonomie der Hochschulen stärken, sie entbürokratisieren, von zu vielen Reglementierungen befreien. Deswegen sind wir auch für eine Novellierung des Hochschulrahmengesetzes.Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weisskirchen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Minister Wilms, Sie haben ein Wort über die Wirtschaft verloren, Sie haben sie ermutigt und aufgefordert, ihrer Verantwortung nachzukommen. Frau Wilms, Sie haben sich gegenüber dem Handwerk bedankt, daß es in den letzten Jahren viele Ausbildungsplätze geschaffen habe.
Das ist alles ganz gut so. Es reicht aber — das wissen wir von den Ausbildungsplatzbilanzen her — nicht aus. Ich hätte allerdings erwartet, daß Sie heute auch ein Wort zu den jungen Menschen sagen, die jetzt von den Schulen abgehen und darauf warten, daß sie einen Ausbildungsplatz bekommen. Auch sie hätten heute von Ihnen ein Wort der Ermutigung hören können.
Da kommen jetzt Zehntausende, Hunderttausende von jungen Menschen und wollen in die Betriebe, wollen einen Ausbildungsplatz haben. Sie haben sich zehn-, zwanzig- und dreißigmal beworben, schreiben Briefe und bekommen leider meistens nicht die Antwort, die sie gern hätten. Wie viele Sorgen haben denn jetzt eigentlich die Eltern, die zusammen mit den jungen Menschen jetzt Angst haben, ob es gelingt, in diesem Jahr einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Daran muß man heute auch appellieren: daß man versucht, diesen jungen Menschen, ihren Eltern, den Vätern und Müttern, eine Perspektive zu geben, ihnen Mut zu machen und zu sagen: Wir wollen ihnen heute vom Bundestag aus ein positives Signal geben, wir stellen Mittel bereit, damit endlich die Zahl derjenigen, die im letzten Jahr keinen Ausbildungsplatz bekommen
haben — es waren an die 100 000, von denen wir heute schon wissen — —
— Lesen Sie doch Ihre eigenen Statistiken; dann stellen Sie fest, daß es mindestens 80 000 sind. Wenn Sie die Dunkelziffer dazunehmen, werden es weitaus mehr sein.
100 000 werden es in diesem Jahr sein,
und im letzten Jahr waren es 80 000. Ihr Programm, daß Sie hier vorlegen, gibt niemandem eine Pespektive. Das ist die Wahrheit.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie zwei Zwischenfragen von zwei Abgeordneten?
Ja. Vizepräsident Stücklen: Bitte, Herr Laermann.
Herr Kollege Weisskirchen, Sie beziehen sich auf Statistiken. Sind Sie denn bereit, wenn Sie sich schon mit Statistiken auseinandersetzen müssen, auch die Grundlagen dieser statistischen Zahlen darzulegen und nach diesen Grundlagen zu differenzieren? Und stimmen Sie mir zu, daß, wie es ein englischer Staatsmann gesagt hat, Statistiken für Politiker wie Laternenpfähle sind, die ihnen weniger zur Erleuchtung als vielmehr dazu dienen, sich daran festzuhalten.
Herr Laermann, Sie wissen genauso gut wie ich, daß die Statistik des letzten Jahres deutlich ausgesagt hat: 30 000 ohne Ausbildungsplatz, 50 000 weitere in berufsvorbereitenden Maßnahmen einschließlich der ähnlichen Maßnahmen, die von den Arbeitsämtern mitfinanziert werden. Das ist Tatsache.
Darüber hinaus gibt es eine hohe Anzahl junger Menschen, die resigniert haben, die sich erst gar nicht mehr in die Lage versetzt fühlen, solche Angebote, die vom Arbeitsamt kommen, wahrzunehmen. Sie gehen anderswohin, sie gehen in Schulen und verlaufen sich auf den Märkten. Aber — das ist das Entscheidende — sie sind nicht zu dem gekommen, was der Bundeskanzler versprochen hat, der gesagt hat: Für jeden ist eine Lehrstelle da. Das war das Versprechen dieser Bundesregierung. Dieses Versprechen haben Sie gebrochen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984 5751
Ich bin mit der Beantwortung der vorigen Zwischenfrage noch nicht ganz fertig. Ich muß noch den zweiten Punkt beantworten.
Herr Laermann, Sie haben vorhin — in Ihrer Frage ist das jetzt wieder enthalten — gleichzeitig darauf hingewiesen, wir mißbrauchten die Mai-Zahlen des Arbeitsamts. Das ist falsch. Wenn Sie den Verlauf der letzten Jahre betrachten und die Mai-Zahlen mit dem wirklichen Ergebnis am 30. September vergleichen, dann können Sie feststellen, daß die Zahlen einen klaren Trend ausweisen. Wenn die Lücke zwischen Angebot auf der einen Seite und Nachfrage auf der anderen Seite klafft, wie es in diesem Jahr festzustellen ist, dann müssen wir schon heute die Sorge haben, daß im September die Zahl derjenigen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, auf jeden Fall um ein Drittel höher liegen wird als im letzten Jahr. Das ist die statistische Wahrheit der letzten fünf Jahre gewesen. Ich sehe keine Grund, daß das Jahr 1984 aus dem Verlauf der letzten Jahre völlig herausfällt. Das heißt: In diesem Jahr werden 100 000 Menschen ohne Ausbildungsplätze dastehen.
— Herr Berger, ich habe noch zwei Minuten. Deswegen kann ich Ihnen Ihre Frage nicht beantworten, sondern kann Sie nur darum bitten, zu verstehen, daß das, was wir Ihnen in diesem Sofortprogramm vorgelegt haben, ein Angebot ist.
— Es sind 1,5 Milliarden DM. Aber Sie werfen in einem Jahr mir nichts, dir nichts, den Bauern einfach 3 Milliarden DM dahin. So einfach machen Sie sich das.
In diesem Sofortprogramm sind eine ganze Reihe praktischer Vorschläge enthalten. Das einzige, was Sie von unseren Forderungen aufgenommen haben und jetzt selber aufstocken, was wir begrüßen, haben Sie, als Sie in der Opposition waren, jahrelang abgelehnt. Das Benachteiligtenprogramm war ein richtiger Ansatzpunkt. Wir begrüßen, daß Sie es ausbauen. Wir bitten Sie: Wenn Ihnen die Sorgen der jungen Menschen wirklich am Herzen liegen, dann sagen Sie ja zu diesem Sofortprogramm, das wir Ihnen hier im Parlament jetzt zum zweitenmal vorgelegt haben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor einigen Monaten habe ich in einem Kommentar im „Handelsblatt" gelesen, daß wir wahrscheinlich, da wir in diesem Jahr keine Bundestags- bzw. Landtagswahlen mehr haben, gute Aussichten hätten, die Fakten in den berufsbildungspolitischen Auseinandersetzungen etwas nüchterner zu betrachten.
— Aber ich muß sagen, lieber Kollege Kuhlwein: Erwartungsgemäß ist das nicht der Fall.
Wer hier Ihren Entschließungsantrag mit milliardenschweren Forderungen und den inzwischen sattsam bekannten ideologischen Pferdefüßen sieht, die Sie an sich nie wegbringen können, dem war natürlich von vornherein klar, daß eine vernünftige, eine sachliche Auseinandersetzung nicht stattfinden kann und von Ihnen, wie wir jetzt wieder deutlich gehört haben, auch gar nicht gewünscht ist. Sie wollen doch Demagogie, Sie wollen die Jugendlichen verunsichern, und Sie wollen auch die Wirtschaft, die ausbildet, noch beschimpfen.
Wenn ich mir den Berufsbildungsbericht 1984 ansehe — ich habe manchmal den Eindruck, daß die, die von Ihnen vor mir gesprochen haben, das nicht getan haben —, bringt mich das dahin, zu sagen, daß es drei grundsätzlich voneinander abweichende Angaben gibt. Gerade weil Sie, Herr Weisskirchen, das angesprochen haben, will ich das ein bißchen erläutern, auch wenn die Zeit sehr, sehr knapp ist.Zunächst bezieht sich die Bundesregierung in ihrem Beschluß zum Berufsbildungsbericht darauf, daß am 30. September 47 000 Jugendliche noch nicht in eine Lehrstelle vermittelt waren. Die Stellungnahme des Hauptausschusses des Bundesinstituts für Berufsbildung spricht demgegenüber schon von 80 000 Jugendlichen, die angeblich keine Lehrstelle erhalten haben. Sie haben das angesprochen. Und in einem besonders ausführlich geratenen Minderheitenvotum einer Mehrheit der Beauftragten der Arbeitnehmer — wohlgemerkt: Es waren nicht einmal alle — ist sogar von fast 200 000 unversorgten Jugendlichen die Rede. Auch Ihre Zahl von 100 000 ist, auch wenn Sie sie fünfmal wiederholt haben, nicht mehr als eine Horrorzahl.Was mich hier wirklich erschreckt und was für mich politisch untragbar ist, ist die Art und Weise, das Pathos, wie hier willkürlich Zahlen herausgegriffen werden, um gegen ein ungeliebtes Berufsbildungssystem, das duale Bildungssystem, Stimmung zu machen.
Wir wissen heute, daß die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze 1983 nicht nur konstant geblieben ist, sondern im letzten Jahr mit 677 000 abgeschlossenen Lehrverträgen sogar ein Rekord in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erzielt werden konnte.
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RossmanithEs ist deshalb richtig, wenn wiederum in einem Minderheitenvotum festgestellt wird, daß mit dieser Steigerung um 42 300 Ausbildungsverhältnisse gegenüber dem Vorjahr selbst die optimistischsten Erwartungen übertroffen wurden. Wir hatten gesagt, wir wollten 30 000 zusätzliche Lehrstellen schaffen.
Es sind noch 50 % mehr geworden.Die Bundesregierung hat damals mit Recht darauf hingewiesen, daß diese 47 000 Jugendlichen in keinster Weise resignieren müßten. Und es hat sich gezeigt, daß bis Ende März dieses Jahres von diesen 47 000 nur noch 18 900 unversorgt geblieben sind, d. h. daß annähernd 30 000 Jugendliche in dieser Zeit in Lehrstellen haben vermittelt werden können.Wenn Sie, Herr Weisskirchen, wieder von einer Lehrstellenkatastrophe sprechen, muß ich sagen: Wie Sie dazu kommen, bleibt tatsächlich Ihr Geheimnis.
— Ich habe durchaus Verständnis dafür, daß Ihnen nicht gefällt, was ich hier sage, und sich Ihre mangelnde Vorbereitung nun in Zwischenrufen äußert. Ihnen ist doch wiederum nichts anderes eingefallen, als Horrorzahlen an die Wand zu malen, eine Ausbildungsumlage, Ausbildungspflichtstellen und Meldepflicht zu fordern. Das sind doch irreale Forderungen. Der Herr Kollege Kuhlwein hat heute sogar wieder von Ausbeutung gesprochen.
Sie sollten sich etwas Zeit lassen, bevor Sie solche Töne anschlagen. Wir leben in einer Demokratie, und da dürfen Sie natürlich Behauptungen aufstellen, wie Sie wollen. Aber damit werden Sie nicht mehr Erfolg, vor allem nicht mehr Erfolg bei den Jugendlichen haben. Das möchte ich Ihnen einmal sehr deutlich sagen.Wir haben — ich verstehe nicht, warum Sie das nicht aus den Worten der Frau Minister herausgehört haben — sehr wohl nicht nur der Wirtschaft, dem Handwerk, der Industrie, den freiberuflich Tätigen, der öffentlichen Hand und den Gewerkschaften, sofern sie in den Verwaltungen ausbilden, gedankt, sondern wir und die Frau Minister haben uns natürlich auch an die Jugendlichen gewandt. Glauben Sie denn, daß uns das nicht auch berührt? Wir wissen doch von diesen Problemfällen, von diesem vielfachen Leid in den Familien. Da sind wir doch ständig tätig. Deshalb haben wir j a eine Politik der hundert Schritte und werden, wenn es sein muß, eine Politik der tausend Schritte einleiten, nicht aber eine Politik, die noch auf eine Beschimpfung derjenigen hinausläuft, die sich um Abhilfe der Probleme bemühen.
Ideologische Daumenschrauben mögen Sie anlegen, wo immer Sie wollen, auf Ihren Parteitagen, nicht aber hier bei uns, nicht in diesem Parlament. Noch sind wir ein frei gewähltes Parlament, und wir handeln auch so.
— Sehen Sie, das ist immer sehr nett, Sie bringen mich immer wieder auf Sachen, die ich nicht so sagen wollte, weil ich kein Partikularist bin. Wir brauchen unser Licht aber nicht unter den Scheffel zu stellen. Sie haben von Nordrhein-Westfalen und ähnlichem mehr gesprochen. Ich kann mit Stolz und mit Recht sagen, daß im Jahre 1983 die Bayerische Staatsregierung die einzige Landesregierung war, die kein staatliches Lehrstellenprogramm aufstellen mußte, und trotzdem konnten wir im Freistaat Bayern von allen Bundesländern die positivste Lehrstellenbilanz vorlegen.
Sie sprechen immer wieder die Abiturienten an, die jetzt vermehrt in das duale System drängen. Dazu gibt es für mich zwei Punkte. Erstens bedeutet das für mich, daß sich dadurch die Qualität des dualen Systems wieder einmal deutlich herausstellt. Zum zweiten bedeutet es für mich aber — und das ist leider, wie ich sagen muß, für Sie sehr peinlich — eine totale Verfehlung Ihrer Bildungspolitik, die Sie in den Jahren 1969 bis 1982 als Regierungspartei betrieben haben, indem Sie jedem das Abitur geben wollten und vergaßen, daß die Menschen, jeder für sich, unterschiedliche Fähigkeiten und Qualifikationen besitzen.
Aus Zeitgründen muß ich leider zum Schluß kommen, sonst könnte ich Ihnen noch einiges mehr sagen.
— Es ist mir schon klar, daß Ihnen das natürlich nicht gefällt.Ich muß mit einer gewissen Freude zur Kenntnis nehmen — und um mit unserem Präsidenten zu sprechen, sollten wir ja nach Möglichkeit fröhlich sein —, daß alle Parteien in diesem Hohen Hause — ich stelle das mit Genugtuung fest — in dem Ziel übereinstimmen, daß auch in diesem Jahr äußerste Anstrengungen aller für die Berufsausbildung Verantwortlichen notwendig sind, um genügend Lehrstellen bereitzustellen. Ich freue mich natürlich, daß wir inzwischen auch weitgehend darin übereinstimmen, daß berufliche Qualifikation am besten und am wirkungsvollsten durch die Verbindung von Theorie und Praxis sprich: Betrieb und Schule zustande kommt.Wir haben deshalb in unserem Entschließungsantrag in besonderer Weise auf den subsidiären Charakter der im Augenblick ganz unbestreitbar notwendigen staatlichen Maßnahmen abgestellt. Deshalb werden wir Ihren Entschließungsantrag zurückweisen; wir haben es schon immer für falsch gehalten — das betone ich noch einmal mit aller Deutlichkeit —, mit politischen Drohgebärden und
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Rossmanithadministrativen Daumenschrauben die Wirtschaft zur Berufsbildung pressen und zwiebeln zu wollen, wie es einmal ein Minister, der Gott sei Dank, wie auch seine Partei, nicht mehr in der Regierungsverantwortung ist, haben wollte.
Ich bedanke mich.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schreiner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
— Wenn Sie es wünschen: Liebe Freundinnen und Freunde! Es ist mir ganz neu, daß jetzt die CDU-Kollegen auf dieser Anrede bestehen, aber ich bin gerne bereit, Ihrem Wunsch zu folgen.
Was mir ein bißchen schwerfällt, ist, dem Wunsch des Vorredners zu folgen und fröhlich zu sein in einer Debatte, in der es um Hunderttausende von jungen Menschen geht, die ohne Ausbildung und ohne Arbeitsplatz sind.Vorweg möchte ich klarstellen: Wenn der sehr verehrte Herr Vorredner davon spricht, den jungen Leuten seien 30 000 zusätzliche Ausbildungsplätze zugesagt worden, muß das korrigiert werden. Den jungen Leuten ist im vergangenen Bundestagswahlkampf von der obersten Autorität dieses Staates,
von dem gelegentlich amtierenden Bundeskanzler. zugesagt worden: Jeder bekommt eine Ausbildungsstelle. Wenn man die Zahlen kennt, die Ende des Jahres 1983 signalisiert worden sind, wenn man weiß, daß Zehntausende von jungen Leuten ohne Ausbildungsplatz geblieben sind,
muß man als Fazit sagen: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat Millionen von deutschen Jugendlichen im Wahlkampf betrogen und belogen. Das ist die Lage, und daran können Sie nicht vorbeireden.
Ein zweiter Punkt: Der Vorredner hat gesagt, die Sozialdemokraten versuchten mit milliardenschweren Forderungen, sich der Situation der jungen Leute anzunehmen. Sie haben versucht, uns mit dem Begriff „milliardenschwere Forderungen" zu denunzieren. Ich darf Sie daran erinnern: Milliardenschwere Ausgaben sind ja nun von der amtierenden Regierungskoalition für Großagrarier getätigt worden, nicht für den kleinen Bauern, der das nötig gehabt hätte.
Sie sind auch durch die Absenkung der Vermögensteuer getätigt worden. Die eh schon solvente Großindustrie, das große Kapital, hat von dieser Regierung Milliarden zusätzlich geschenkt bekommen.
— Wenn Sie das Stichwort „Klassenkampf" geben,sage ich Ihnen: Das, was Sie betreiben, ist brutalerKlassenkampf gegen eine ganze junge Generation!
Wenn Sie nämlich unsere Forderung nach einem Milliardenprogramm — und das, was wir vorgeschlagen haben, schließt j a an das von uns bereits im letzten Herbst vorgelegte Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit an — als Klassenkampf denunzieren wollen, kann ich Ihnen, Herr Kollege, nur sagen, Sie haben ein absolut zynisches Verhältnis zu der trostlosen Lage von Hunderttausenden von jungen Menschen,
ein absolut zynisches Verhältnis zu der Situation von — nach den Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit — inzwischen 610 000 arbeitslosen jungen Menschen unter 25 Jahren.Ich kann mich sehr gut an den letzten Bundestagswahlkampf erinnern. Da ist von Herrn Kohl gesagt worden: Oberste Priorität der von mir geführten Regierung im innenpolitischen Bereich ist die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit.
Das waren reine Sonntagsreden! Es war nichts anderes, als die trostlose Lage von Hunderttausenden von jungen Menschen in einer eiskalten Weise zum Gegenstand einer Bundestagswahlkampfführung zu machen. Als die Wahlen vorbei waren, sind die Leute sehr schnell vergessen worden.Uns wird gesagt: Ihr macht milliardenschwere Programme. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, für wen sollen wir das denn sonst machen, wenn nicht für die jungen Leute, die ohne Arbeit und Ausbildung sind? Sind das nicht diejenigen, die es am ehesten verdienen, daß der Deutsche Bundestag auch bereit ist, Geld auszugeben? Für wen denn sonst?
Können Sie sich eigentlich noch in die Situation einer Familie hineinversetzen,
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Schreinerin der ein oder zwei Kinder arbeitslos sind? Können Sie sich noch in die Situation eines Jugendlichen hineinversetzen, der arbeitslos ist, der mit 16 Jahren vor verschlossenen Türen steht, der mit 16 das Gefühl bekommt, diese Gesellschaft braucht ihn nicht?
Können Sie sich vorstellen, daß es Zusammenhänge zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Jugendkriminalität gibt,
das es Zusammenhänge zwischen Jugendarbeitslosigkeit und gestiegenem Alkoholkonsum gibt,
daß es Zusammenhänge zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Drogenkonsum gibt?
Können Sie sich eigentlich in die psychische Lage eines 17jährigen hineindenken, dem diese Gesellschaft signalisiert — —
— Mir wird rot signalisiert; ich kann keine Zwischenfrage zulassen.
Können Sie sich in die Lage des Jugendlichen hineindenken, dem diese Gesellschaft signalisiert, seine Zukunft liege bereits hinter ihm?
Herr Abgeordneter, dieses „Rot" war nicht gegen die Zwischenfrage gerichtet, sondern Ihre Redezeit ist zu Ende.
Herr Präsident, wenn ich richtig verstanden habe, daß meine Redezeit zu Ende geht, könnte ich auch keine Zwischenfrage mehr zulassen.
Eben. Genau das war es.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme zum Schluß.
— Davon könnten Sie einige gebrauchen. Einige kluge Köpfchen könnten Ihrer Fraktion ganz guttun. Aber das nur am Rande.
Ich komme zum Schluß.
Wir haben in unserem Programm spezielle Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für junge Menschen vorgeschlagen. Ich möchte hinzufügen: Es war die
CDU/CSU — von der FDP einmal ganz zu schweigen; soweit sie noch vorhanden ist — —
Herr Abgeordneter Schreiner, ich muß Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
Ich bin im letzten Satz und war beim Komma, Herr Präsident.
Sie haben in den vergangenen Monaten die Bemühungen der deutschen Gewerkschaftsbewegung, die Arbeitszeit so zu verkürzen, daß Arbeitsplätze neu geschaffen werden könnten, in einem unerträglichen Maße denunziert — Komma! —, ohne zu wissen, daß die IG Metall wie andere Gewerkschaften mit ihrem Kampf um die Reduzierung der Arbeitszeit gerade auch für solche Familien die Köpfe hingehalten haben,
die jetzt 13- oder 14jährige Kinder haben, weil deren Zukunft ohne eine erhebliche Arbeitszeitverkürzung in der Tat schwarz in schwarz zu sehen ist; das heißt — —
Herr Abgeordneter, jetzt mache ich den Punkt!
Vielen Dank, Herr Präsident.
Bitte sehr.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. HammBrücher.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Damit ich nicht auch einen schlechten Punkt bekomme, möchte ich ausschließlich und kurz zu dem SPDAntrag „Pläne der Bundesregierung zur Förderung von ,Elite-Universitäten" sprechen, der mir, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, beim besten Willen weder ein hochschulpolitisches noch ein oppositionspolitisches Ruhmesblatt zu sein scheint.
Diese doch unausgewogene Mischung aus Antrag, Großer Anfrage, Aktueller Stunde, Entschließung und Eigenprogramm ist ja in sich widersprüchlich, wenn Sie das vielleicht noch einmal nachlesen würden. Er bringt hochschulpolitisch wenig Konkretes und geht von der unrichtigen, ja von der falschen Behauptung aus, die Bundesregierung fordere oder plane auf Kosten des öffentlichen Hochschulsystems nun private Elitehochschulen.Diese Methode, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, verdient meiner Ansicht nach das
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Frau Dr. Hamm-BrücherPrädikat unseriös und ist zudem meines Erachtens auch in der wichtigen Sache wenig hilfreich.
— Ich habe keine Zeit. Nein, ich will keinen Punkt kriegen.
Als ob die Initiatoren des Antrages nicht genau wüßten, daß nicht nur jene möglicherweise anstoßerregenden, aber auch wichtige und nötige Anstöße gebenden Passagen
in der Rede von Herrn Genscher am 13. Dezember 1983 zwischenzeitlich wiederholt erläutert worden sind, sondern auch eventuell mißverständliche Passagen zwischenzeitlich längst geklärt, von den zuständigen Gremien der FDP präzisiert und in Programmentwürfen zur Diskussion gestellt worden sind.
— Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich nicht aufzuregen; wir müssen auch manchmal etwas von Ihnen einstecken. — Das Reizwort „EliteHochschulen" kommt darin nicht vor. Es gibt also weder eine Forderung der FDP noch eine der Bundesregierung, wie Sie in Ihrem Antrag behaupten, die auf die Errichtung privater Elite-Universitäten abzielt.
— Ich komme gleich darauf zu sprechen. Wenn Herr Genscher etwas sagt, dann ist das noch lange nicht die Bundesregierung,
vor allem wenn er etwas in einem Bereich sagt, für den er gar nicht zuständig ist.Schon deshalb geht die Stoßrichtung Ihres Antrags ins hochschulpolitische Abseits. So gesehen wirkt auch das aus dem Zusammenhang gerissene Zitat von mir in einem offiziellen Parlamentsantrag eher als Wahlkampfmunition
denn als seriöser Nachweis zur Begründung Ihrer Besorgnisse.
Was es aber gibt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen — und das ist wirklich wichtig —, ist eine von Herrn Genscher angestoßene und in der Öffentlichkeit aufgenommene Diskussion darüber, ob und wie Hochschulen, Wissenschaft und Forschung den Herausforderungen des raschen technischen und technologischen Wandels gerecht werden können. So gesehen vermag ich der SPD — wir haben hier j a jahrelang sehr gut zusammengearbeitet — nur den Rat zu geben, sich aus dieser Diskussion nicht durch Polemik auszuklinken, sondern so sachkundig wie möglich — und das sind Sie ja auch — wieder einzusteigen.
Denn immerhin, meine Damen und Herren hier alle zusammen, geht es dabei auch und vor allem um unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und damit um Arbeitsplätze und soziale Sicherheit.Ich definiere: Es ist — nach Ansicht der FDP — eine Debatte darüber zu führen, wie es gelingen kann, daß ein demokratisches und chancengleiches Bildungssystem, das allen hierfür qualifizierten jungen Menschen offensteht, zugleich auch funktionsfähig ist, wissenschaftlich Begabte zu fördern und wissenschaftliche Spitzenleistungen hervorzubringen.
Darüber kann es doch gar keinen Dissens geben.
Das erstere, nämlich die Chancengleichheit, darf nicht neuerlich in Frage gestellt werden, und letzteres darf doch einfach nicht ignoriert werden.
Ob und in welchem Umfang private Einrichtungen zur Erfüllung dieser doppelten Aufgabe beitragen, j a, stimulierend wirken können, ist dabei eine Frage unter vielen anderen, die durchaus kontrovers diskutiert werden kann. Hier bin ich wieder mit dabei. Sie wird jedenfalls gemäß der liberalen Prinzipien von der FDP nachdrücklich bejaht — wie Wettbewerb und Konkurrenz immer das Geschäft und das Ergebnis fördern.Für meine Fraktion jedenfalls möchte ich ausdrücklich feststellen: Nicht die gesellschaftspolitisch gewollte und notwendige quantitative Expansion unserer Bildungseinrichtungen darf in Frage gestellt werden, wohl aber müssen die offenkundig gewordenen Unfähigkeiten erkannt werden, mit den damit entstandenen Problemen fertigzuwerden. Hier muß die Hochschulpolitik der 80er Jahre ansetzen.Unser Hochschulsystem, unsere wissenschaftlichen Leistungen und unsere Forschungskapazitäten haben nach wie vor Weltgeltung. Um unsere Hochbegabtenförderung, um unsere wissenschaftlichen Einrichtungen wie Max-Planck-Gesellschaft, wie Großforschungseinrichtungen, Fraunhofergesellschaft etc. werden wir in der Welt beneidet. Mit unseren finanziellen Leistungen stehen wir an der Spitze aller vergleichbaren Länder.Wenn unsere Leistungsfähigkeit dennoch beeinträchtigt oder gar bedroht scheint, dann ganz gewiß nicht durch die quantitative Expansion an sich —, denn diese war in den USA und in Japan wesentlich stärker; das sage ich einmal meinen Freunden von der Regierungskoalition und -fraktion —, wohl aber wird sie bedroht durch eine unflexible Gliederung des Hochschulbereichs, durch seine unerträgliche Verbürokratisierung, durch die Zwangsbewirt-
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5756 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
Frau Dr. Hamm-Brücherschaftung von Studienplätzen, durch Reglementierung von Details, deren Absurdität nur noch von EG-Vorschriften übertroffen wird, durch die gerichtliche Einklagbarkeit von Noten und last not least durch die Verkoppelung von Bildungsabschlüssen mit Besoldungs- und Laufbahnansprüchen. Vor allem aber fehlt der Wettbewerb zwischen Modellen und Ideen, der sich innerhalb eines staatlichen Bildungsmonopols ebenso wenig entfalten kann wie in einer dirigistisch geführten Wirtschaft. Und es fehlt auch an der notwendigen Selbstverantwortung der Hochschulen.Ich komme zum Schluß: In der Verbindung eines chancengleichen, leistungsfähigen und leistungsfördernden Systems liegt die umfassende hochschul-und wissenschaftspolitische Aufgabe, die von allen Verantwortlichen gemeinsam angepackt werden muß. Private Hochschuleinrichtungen sind hierfür ganz sicher keine Zauberformel, wohl aber eine Herausforderung — unter anderem. Das Reizwort „Elite" in diesem Zusammenhang mag ich nicht. Denn Eliten lassen sich meist erst post festum oder gar erst posthum feststellen.
Die FDP, meine Damen und Herren, ist jedenfalls — wie schon in den 60er Jahren — entschlossen, zur Lösung dieser doppelten Aufgabe einen bahnbrechenden und zukunftweisenden Beitrag zu leisten.Vielen Dank, Herr Präsident.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu dem Antrag der SPD-Fraktion betreffend die weitere Behandlung des Schlußberichts der Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" sprechen.Der Deutsche Bundestag hat die Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" am 26. Mai 1981 eingesetzt. Sie hat dem Bundestag Anfang Januar 1983 ihren Abschlußbericht vorgelegt. Dieser Bericht, meine Damen und Herren, hat in der Öffentlichkeit beachtliche Resonanz gefunden.Er erhebt den Anspruch, für alle Probleme und Meinungen offen zu sein und — was besonders wichtig ist, besonders auch für die zukünftige Diskussion — eigenes politisches Verhalten kritisch zu überprüfen. Doch schon während der Arbeiten wurden die Kommissionsmitglieder häufig mit der Vermutung konfrontiert — und da insbesondere von engagierten Jugendgruppen —, daß die Arbeit folgenlos bliebe.Ich glaube, wir müssen heute sehen, daß diese Befürchtungen leider bestätigt worden sind. Wir alle im Bundestag sollten darüber unzufrieden sein, daß dieses wichtige Thema von den Fraktionen nicht mit der notwendigen Intensität weiterbehandelt wurde. Noch schlimmer: Es hat ja nicht nur keine Weiterbehandlung gegeben, sondern über viele der — meist sogar einstimmig — gegebenen Empfehlungen ist kommentarlos hinweggegangen und eine andere Politik eingeleitet worden.Die intellektuelle Redlichkeit und die politische Glaubwürdigkeit aller im Bundestag vertretenen Fraktionen gebieten es, daß wir den Enquete-Bericht nicht beiseite legen. Dabei können wir in der politischen Bewertung zwar zweifellos zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen kommen, aber wir stehen — und das ist wichtig — mit diesem Bericht unter einem Begründungszwang für unser Verhalten.Meine Damen und Herren, für die SPD ist besonders wichtig die Auseinandersetzung mit dem Teil I des Berichts, mit den dargelegten Gründen und Hintergründen des Jugendprotestes, die in ihrer kritischen Selbstsicht unserer Auffassung nach in einem fast eklatanten Widerspruch zur politischen Kultur in der Bundesrepublik stehen. Gerade die vielen Jugendorganisationen, Initiativen und Gruppierungen sehen in dieser Bestandsaufnahme eine geeignete Grundlage, um den vielbeschworenen „Dialog mit der Jugend" angehen zu können. Doch es drängt sich der Eindruck auf, daß die festgehaltenen Erkenntnisse keine praktischen Konsequenzen haben, obwohl Teil I einstimmig verabschiedet wurde. Auch wenn wir aktuell keine spektakulären Aktionen protestierender Jugendlicher wie zu Beginn der 80er Jahre, z. B. in Zürich, Berlin, Freiburg oder Nürnberg, erleben, die Ursachen und Hintergründe für den damaligen Protest sind auch heute nicht vom Tisch.Die Kommission war sich darin einig, daß es sich nicht um jugendspezifische Probleme, sondern um gesamtgesellschaftliche Vorgänge handelt. Jugendliche aber nehmen gesellschaftliche Konflikte und Bedrohungen schärfer wahr, empfinden sie intensiver und beantworten sie meist radikaler.Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der 80er Jahre dokumentiert in fast allen hochindustrialisierten Ländern die Krise des politischen Orientierungssystems. Wir müssen dies aber gerade bei uns in der Bundesrepublik sehr ernst nehmen, weil es nämlich bei uns einen Mangel an geschichtlich gefestigter politischer Kultur gibt.Es ist folgerichtig, daß die Entwicklung der letzten Jahre mit einem weitreichenden Wandel im kulturellen Verständnis verbunden ist. Daraus ergeben sich viele Chancen, aber es ergeben sich auch Gefahren. Wir, die SPD, begrüßen ausdrücklich das breite Bürgerengagement zu zentralen gesellschaftspolitischen Fragen. Dieses ist gut, denn es hat dazu beigetragen, daß das politische Klima heute in weiten Bereichen von Nachdenklichkeit und nicht mehr von starrer Rechthaberei geprägt ist.In den Einstellungs- und Verhaltensänderungen kommt eine gewachsene Ablehnung gegenüber wichtigen Aspekten in der Entwicklung der Industriegesellschaft zum Ausdruck. Dies gilt beispielsweise auch im Verhältnis zu den großen wirtschaftlichen ùnd staatlichen Institutionen. Wir müssen uns die Frage gefallen lassen, ob wir wirklich zu-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984 5757
Müller
kunftsentscheidende Probleme dauerhaft und im allgemeinen Interesse zufriedenstellend lösen können.Zu diesen Problemen gehören beispielsweise die harte Produktionsausrichtung, die die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zur Folge hat, und die Vernichtung wertvoller Rohstoffe auf Kosten zukünftiger Generationen. Dazu gehört auch die wachsende Sinnentleerung von Arbeit, der Verlust von Kommunikation und ein immer wieder zu beobachtendes ausgrenzendes Konkurrenzverhalten in unserer Gesellschaft.Wir sind dafür, die Frage zu stellen, wie Erlebnisräume und soziale Netze gesichert oder wiederhergestellt werden können. Wir sind ebenfalls dafür, daß man über das Irrenhaus des weltweiten Rüstungswettlaufs weiter nachdenkt und zu intellektuell redlichen Schlußfolgerungen kommt und nicht nach der Diskussion des letzten Jahres das Thema ad acta legt.Wir sind bei diesen Fragestellungen alle herausgefordert. Denn es besteht die Gefahr, daß das politische System in eine wachsende Kluft zur erfahrbaren Lebenswelt der Menschen, insbesondere der jungen Menschen, gerät. Die Dimension der Probleme macht eine neue Verantwortungsethik bei uns allen erforderlich. Dazu gehört ganz besonders eine Einheit von Reden und Handeln.Die SPD will mit diesen Antrag klären, was die Geschäftsgrundlage ist, und wir sind froh, daß wir in der Zwischenzeit zu einer gemeinsamen Position gekommen sind. Denn es wäre zu vordergründig, uns zuerst parteipolitisch darüber zu streiten, ob wir überhaupt diskutieren. Deshalb: Wir sollten die Diskussion nutzen und sie vor allem als eine Chance für die Wiederaufnahme einer wichtigen Grundsatzdiskussion sehen, der wir uns im Interesse letztlich des inneren Friedens unserer Gesellschaft nicht entziehen dürfen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Breuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beschluß vom 26. Mai 1981, die Enquete-Kommission „Jugendprotest im demokratischen Staat" einzusetzen, war sicher ein Beschluß, der dieses Parlament, uns alle, in die Pflicht gebracht hat. Diese Debatte heute findet ja nur deshalb statt, weil wir uns damals selbst in Pflicht genommen haben. Wir haben damals formuliert: „Ursachen, Formen und Ziele der Proteste junger Menschen, die sich beispielsweise in Demonstrationen, Gewaltanwendung, bewußter Hinwendung zu alternativen Lebensformen oder teilweise auch in der resignativen Abwendung von der Gesellschaft äußerten", sollen untersucht werden.Wir waren uns damals einig, meine Damen und Herren, daß wir damit nicht nur die Hausbesetzer meinten. Wir waren uns einig, daß wir damit nicht nur die Jugendlichen meinten, die in Nürnberg im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um das „KOMM" standen. Wir meinten z. B. auch dieJugendlichen, die in den Bundesligastadien gewalttätig werden.Wenn ich mir die Frage stelle, wo denn der eigentliche Auftrag unserer Beratung liegt, dann schwebt mir immer ein Beispiel vor, das ich erlebt habe, als wir mit der Enquete-Kommission im Ruhrgebiet einen Besuch machten.Ich kam in eine Kneipe in Gelsenkirchen, in der ein Fanclub von Schalke 04 verkehrte. Wir saßen mit etwa 20, 25 Leuten beisammen. Ich fragte jeden einzelnen: Was machst du beruflich? Der erste sagte: Arbeitslos. Der zweite: Arbeitslos. Der dritte: Arbeitslos.Da liegt, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Problem. Und da gibt es keinen Sinn — hier möchte ich speziell die Kollegen der SPD ansprechen, die eben gesprochen haben —, sich gegenseitig vorzuwerfen, für solche Jugendliche nicht gleichermaßen engagiert zu sein.
Es ist doch sicher nicht richtig, wenn wir an dieses Rednerpult treten und uns einander vorwerfen, wir seien für Jugendliche unterschiedlich stark engagiert.
Sagen wir doch ehrlich, liebe Kollegen von der SPD: Wir haben unterschiedliche Lösungsansätze,
und wir streiten darüber, welcher Lösungsansatz den meisten Erfolg bringen wird, aber nicht darüber,
wer mehr engagiert ist.
Jedes Ergebnis einer Enquete-Kommission ist in der Gefahr — das ist eine Gefahr für politisches Handeln insgesamt —, zu versanden. Natürlich besteht die Gefahr, daß auch das Ergebnis der Enquete-Kommission Jugendprotest in der Schublade verschwindet. Deswegen bin ich froh darüber, daß wir heute diese Diskussion führen können.Wir sollten zur Kenntnis nehmen, daß seit dem Schlußbericht einiges auf den Weg gebracht worden ist.
Wir haben die KDV-Neuregelung — Herr Kollege Gilges, wenn Sie fragen: Was denn? —, und diese KDV-Neuregelung — daran kommen mittlerweile auch Sie nicht mehr vorbei — ist sehr erfolgreich.
Es zeigt sich sehr deutlich, daß die Vorbehalte, die gegen sie geäußert wurden, von der Realität korrigiert werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die Beratung heute dazu nutzen, uns vor allem im Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, aber
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Breuerauch in den mitberatenden Ausschüssen einen Ruck zu geben, um nach vorn zu kommen und um Lösungen zu beraten. Wir wollen dabei — und deshalb bin ich froh, daß wir einen gemeinsamen Antrag der Koalitionsfraktionen und der SPD haben und verabschieden können — auch die Regierung in die Pflicht nehmen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser verbundenen Debatte diskutieren wir über vier unterschiedliche Punkte, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Dieses Verfahren wird keinem der Punkte gerecht.Ich will mich auf die Enquete-Kommission beschränken. Ich gestehe, daß ich zunächst etwas irritiert war, daß die SPD die Bundesregierung auffordert, zu berichten, ob und wo sie gesetzgeberische Maßnahmen vorsehen wolle. Es ist doch eigentlich unsere Aufgabe als Parlamentarier, Gesetze zu verabschieden. Wir sind das Parlament. Wir verabschieden die Gesetze. Wir haben ein Initiativrecht. Wir sind im politischen Bereich stilbildend — im guten oder im schlechten. Also sind wir auch für diesen Bereich verantwortlich. Wir sollten nicht danach schielen, ob andere da sind, die mit uns Verantwortung tragen können.Und wir, das Parlament, sind tätig geworden: in Gesetzen, in Aufträgen des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit an die Ausschüsse, die im Bericht der Enquete-Kommission angesprochen wurden. Die Antworten sind zum Teil schon da. Machen wir uns also nicht schlechter, als wir sind!Der SPD-Antrag enthält eine Aufzählung der Kernsätze. Diese Aufzählung ist unbestritten. Er enthält aber auch eine Auflistung der Probleme in Form von Fragen, Forderungen, ja Zustimmungen. Dazu werden Antworten verlangt. Aber diese Liste ist natürlich nicht vollständig.
Die Regierung soll jedoch zu allen Punkten antworten, die dort angesprochen worden sind. Eine solche Liste kann nicht vollständig sein. Deswegen gilt mein Dank der SPD, daß sie sich bereit erklärt hat, hier einen gemeinsamen Antrag zu verabschieden. Aus einer solchen Liste könnte nämlich auch eine etwas mechanistische Vorstellung abgeleitet werden, so etwa wie bei einem Automaten: Jugend protestiert, Gesetz oben rein, zufriedene Jugend unten raus. Nein, so einfach ist es nicht.Haben wir denn nicht gelernt, daß alle diese Protestursachen nur Stolpersteine sind, daß die Ursachen tiefer liegen als Rüstung, Arbeitslosigkeit, Waldsterben? Jedes andere Problem — und Probleme werden wir immer haben — eignet sich als ein solcher Stolperstein, kann als Ursache für Protest angesehen werden. Der Bericht hat doch gezeigt: Es sind Orientierungslosigkeit, Zukunftsangst, eine undurchsichtige Gesellschaft, der Stil, wie wir debattieren, wie wir miteinander umgehen, der Parlamentarismus insgesamt. Das sind Ursachen. Sie sind durch Gesetze allein nicht zu beseitigen.Ich habe bei der Beratung des Antrags zur Einsetzung der Kommission am 10. April 1981 gesagt: Wenn sich Politiker gegenseitig unterstellen, daß der andere böse, unfähig oder dumm ist, dürfen wir uns nicht wundern, wenn Jugendliche, die anderer Meinung sind als wir, uns ebenfalls als dumm oder böse hinstellen.
Wir machen heute leider immer noch das gleiche Spiel. Ich habe die Angst, daß wir nichts hinzugelernt haben. Meine Bitte an Herrn Schreiner: Lesen Sie bitte Ihre Rede doch noch einmal durch. Das war der Stil, den uns Jugendliche in der Öffentlichkeit sozusagen immer um die Ohren schlagen.
Unsere Jugend hat Zukunftsangst — und nicht nur sie. Wer heute diese Grundstimmung anspricht, ist sich des Beifalls sicher. Diese Grundstimmung wird verstärkt. Ich weigere mich aber, der Jugend wider besseres Wissen Angst zu machen, nur weil es Stimmung machen und Stimmen bringen könnte.
Vor zehn Jahren hatten wir zwei Meter hohe Schaumwände an den Wehren unserer Flüsse. Das Detergentiengesetz des damaligen Innenministers Genscher hat sie beseitigt. Vor zirka zehn Jahren konnte das Gras an den Autobahnen wegen Bleihaltigkeit nicht verfüttert werden. Das Benzinbleigesetz des damaligen Innenministers Genscher hat den Bleigehalt drastisch verringert. Vor zirka acht Jahren verging kein Monat ohne Sendung im Fernsehen, daß der Bodensee umkippen werde. Heute spricht keiner mehr davon. Nein, es ist nicht alles schlechter geworden. Nein, ich sehe durchaus Tendenzen zur Besserung.Im Herbst wollen wir über uns selbst debattieren, über die Stellung des Parlaments, über die Aufgabe, die wir haben. Meine Kollegin Frau Dr. Hamm-Brücher ist in dieser Frage außerordentlich stark engagiert. Diese Debatte, Frau Dr. Hamm-Brücher, sehe ich im Zusammenhang mit der Unzufriedenheit der Jugend. Hier können wir auch Protestpotential abbauen und im Sinne der Enquete-Kommission tätig werden.
Die Parteien müssen stärker als bisher den Hintergrund ihres Handelns, die zugrundeliegende Wertordnung deutlich machen. Das alles zusammen ist nötig, wenn Ursachen des Protests abgebaut werden sollen; nicht nur die Änderung einiger Gesetze.Ich will nicht, daß Jugendprotest und dessen Ursachen so verengt gesehen werden. Nur in dem Zusammenhang ist diese — Gott sei Dank gemeinsam zustande gekommene — Aufforderung an die Bundesregierung sinnvoll. Die letzte Verantwortung,
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Eimer
auch für entsprechende Initiativen, tragen wir, nicht die Regierung, nicht die Koalition, nein, wir Abgeordneten, wir als Parlament.
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Herr Kollege Eimer, sicherlich wird es immer wieder Kritik in der Öffentlichkeit insgesamt an dem Ablauf mancher Debatten geben, und zwar nicht nur bei jungen Menschen, sondern auch bei mittelalterlichen und bei älteren. Aber wir müssen uns ebenso den Vorwurf gefallen lassen, unserer Arbeit nicht richtig nachzugehen, wenn wir hier Interessengegensätze verkleistern wollten.
Hier muß klar herausgearbeitet werden, wo die unterschiedlichen Positionen liegen. In der Gemeinsamkeit alleine liegt noch kein Wert, Herr Kollege Eimer.Ich muß mich doch ernsthaft fragen, warum Sie denn ursprünglich Bauchschmerzen hatten, unseren Antrag mitzutragen, die Bundesregierung aufzufordern, zu den Forderungen der Enquete-Kommission nun endlich einmal Stellung zu nehmen. Sie können mit dem, was Sie dem Hause gestern als eigenständigen Antrag vorgelegt haben — ich will in keine Bewertung eintreten —, nicht den Anspruch erheben, wie wir das können; denn wir haben unseren Antrag entsprechend den Aussagen der Enquete-Kommission formuliert.
Wir haben die dort geforderten Positionen zum Inhalt des Antrages gemacht, und zwar nicht, um von der Verantwortung des Parlamentes abzulenken. Aber es ist doch wohl legitim, wenn wir fordern, die Bundesregierung möge endlich mal aus der Dekkung herauskommen, möge endlich mal sagen, was sie davon übernehmen will und in gesetzgeberisches Handeln einbringt. Sie wissen doch ganz genau, Herr Kollege Eimer und Herr Kollege Breuer, wieviel Prozent an Gesetzesinitiativen vom Parlament ausgeht und wieviel von der Bundesregierung. Wenn wir im übrigen fordern, daß man bei Gesetzesmaßnahmen auch der Frage nachgeht — —
— Ich habe nur noch drei Minuten Zeit, es tut mir leid. — Wenn man fordert, zu berücksichtigen und auszudrücken, daß man damit auf Forderungen des Enquete-Berichts oder der Kommission Bezug genommen hat, dann, meine ich -- und das steht ja jetzt in dem gemeinsamen Antrag drin —, ist das in Ordnung. Aber hier ist eine Gemeinsamkeit erzielt worden, die auch auf der Basis unseres Antrages hätte erzielt werden können.
Ich will nun in den wenigen Minuten noch zu einem anderen Punkt Stellung nehmen, nämlich zu unserem Antrag auf Wiederverbesserung des Krankenversicherungsschutzes arbeitsloser Jugendlicher. Es dürfte Ihnen hoffentlich nicht schwerfallen, diesem Antrag Ihre Zustimmung zu geben. Er wird zunächst überwiesen, aber unmittelbar nach der Sommerpause werden wir ihn hier im Parlament zur Abstimmung stellen. Ich will jetzt nicht streiten über die Anzahl, ob es hunderttausend oder über hunderttausend junge Menschen sein werden, die keinen Ausbildungsplatz bekommen, aber für jene sind die Folgen auf dem Sektor der Krankenversicherung evident. Dies wollen wir dadurch verhindern, daß wir sie vom 1. Oktober an wieder in den Schutz der Familienkrankenversicherung einbeziehen.
— Der Ausschuß kann doch keinen Gesetzesbeschluß fassen, Herr Kollege Kroll-Schlüter.
Diesen Antrag hatten wir zusammen bereits im Haushalt 1984 vorgelegt. Da haben Sie ihn abgebügelt. Am 1. Oktober beginnt ein neues Jahr,
wo Menschen, die nicht in den Beruf kommen, vor der Notwendigkeit stehen, sich für das Risiko der Krankheit selbst versichern zu müssen. Deswegen können wir hier nicht so tun, als wäre das ein Problem, das wir schieben könnten. Wir können es auch nicht bei Ihren Ankündigungen, auf das Jahr 1986 bezogen, bewenden lassen.
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit hat gestern der Öffentlichkeit und zum Teil j a auch dem Parlament neue Ankündigungen übergeben, die Familienpolitik betreffend. Wenn man versucht, das zu begreifen — er hat sich dann auf den Artikel 6 des Grundgesetzes bezogen —, dann kommt man zu dem Schluß, das Grundgesetz wäre nicht am 23. Mai 1949 verkündet, sondern würde erst am 1. Januar 1986 in Kraft gesetzt. Die Familie zu schützen ist eine Aufgabe, die wir auch heute haben. Da können wir also nicht auf 1986 vertagen.
Sie haben die Familien in Milliardenhöhe belastet. Es ist jetzt an der Zeit, wenigstens die kleinsten Schritte zu unternehmen. Deswegen kündige ich an, daß wir darauf bestehen werden, daß unverzüglich nach der Sommerpause in den zuständigen Ausschüssen über diesen Antrag befunden wird,
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Jaunichdamit das Plenum zum frühestmöglichen Zeitpunkt darüber befinden kann.
Das Wort hat die Frau Parlamentarischer Staatssekretär Karwatzki.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Debatte am 19. Mai 1983, also vor mehr als einem Jahr, habe ich darauf hingewiesen, daß dem Schlußbereicht der Enquete-Kommission nicht nur ein großes politisches Gewicht zukommt, sondern daß dieser Bericht eine ganz entscheidende Grundlage für die Arbeit der Bundesregierung sein wird. Zur Behandlung des Schlußberichtes möchte ich allerdings eine Bemerkung machen.
Es handelt sich bei der Einsetzung der Enquete-Kommission um eine Initiative des Parlaments zur Fundierung seiner eigenen Urteilsbildung. Das wollten wir seinerzeit. Daß die Bundesregierung so oder so zum Verlauf der Debatte und ihren Ergebnissen würde Stellung nehmen müssen, ist die andere Seite der Medaille, deren Erscheinen sie vorhergesehen hat und auf die sie gut vorbereitet ist. Der Respekt vor einer eigenen Initiative des Parlaments gebot zunächst eine gewisse Zurückhaltung unsererseits. Jetzt haben wir keinen Anlaß mehr dazu. Eben weil die Bundesregierung den Schlußbericht der Enquete-Kommission für ein wichtiges jugendpolitisches Dokument hält, hat sie sich natürlich damit auseinandergesetzt und ihre eigene Position zu den Forderungen des Enquete-Berichts in der Zwischenzeit erarbeitet.
Wir begrüßen es, daß wir zum Enquete-Bericht „Jugendprotest im demokratischen Staat" eine auf spezifische Forderungen dieses Berichtes bezogene Stellungnahme abgeben können. Es ist das gute Recht der Opposition, von der Bundesregierung zu verlangen, daß sie jugendpolitisch Farbe bekennt. Dies wollen wir im Interesse der Jugend gern tun.
— Natürlich, wir tun das gern.
Die Bundesregierung kündet hiermit ihre Stellungnahme zum Schlußbericht der Enquete-Kommission noch vor Ablauf der im Antrag der SPD enthaltenen Frist an, und dann wünsche ich mir eine lebhafte Debatte. — Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt.Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 39, 41 und 42 auf den Drucksachen 10/1337, 10/1135, 10/1574 an die Ausschüsse vor. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates ersehen Sie aus der Tagesordnung. Für die beiden Entschließungsanträge auf den Drucksachen 10/1639 und 10/1673 ist Ausschußüberweisung beantragt, und zwar zur federführendenBeratung an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft, zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit und an den Haushaltsausschuß. — Ich sehe keinen Widerspruch.Für den Zusatzpunkt 8, Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, hochschulpolitische Zielsetzung der Bundesregierung, Drucksache 10/1675, ist ebenfalls Ausschußüberweisung beantragt, und zwar federführend an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft, zur Mitberatung an den Innenausschuß, an den Ausschuß für Forschung und Technologie und den Haushaltsausschuß. Gibt es weitergehende Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 40 und über den Zusatzpunkt 7. Hierzu liegt Ihnen auf Drucksache 10/1695 ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP vor. Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag ab. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist der Änderungsantrag angenommen. Die Abstimmung über die Ursprungsvorlagen auf den Drucksachen 10/1155 und 10/1692 erübrigt sich durch die soeben beschlossene Neufassung.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung dienstrechtlicher Vorschriften— Drucksache 10/930 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses
— Drucksache 10/1619 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Olderog Bernrathb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 10/1681 —Berichterstatter:Abgeordnete Gerster KühbacherFrau Seiler-Albring
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat hat für die Aussprache einen Beitrag von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart. Ich sehe keinen Widerspruch. — Es ist so beschlossen.Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
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Präsident Dr. BarzelIch eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Broll.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst darf ich im Namen der beiden Berichterstatter diese kleine Korrektur, Herr Präsident, übergeben, die bei der Beschlußfassung berücksichtigt werden muß *). Es sind nur redaktionelle Änderungen.
Zur Debatte selbst: Wir erweitern durch das vorliegende Gesetz vorhandene Möglichkeiten, aus familienpolitischen Gründen und aus arbeitsmarktpolitischen Gründen Beamten entweder ganz ohne Bezüge Urlaub zu gewähren oder bei entsprechenden Abzügen von den Bezügen Teilzeitbeschäftigung zu gewähren, teils schaffen wir auch neue Möglichkeiten in diesem Bereich, obwohl wir wissen, daß es vom Beamtenrecht her Bedenken gegen eine so weite Ausdehnung dieser Möglichkeiten gibt.
Wir sahen uns gezwungen, aus personalwirtschaftlichen Gründen, angesichts eines Tages kleiner werdender Jahrgänge, die Möglichkeiten, solche Erlaubnisse zu geben, bis auf das Jahr 1990 zu beschränken, und wir haben uns andererseits gezwungen gesehen, Abzüge von den Versorgungsbezügen vorzunehmen, wenn ein Beamter oder eine Beamtin in einem größeren Umfang Urlaub oder Teilzeit beansprucht hat.
Wir haben es in der Hoffnung getan, daß wir im öffentlichen Dienst einen kleinen Beitrag zur Behebung der Arbeitslosigkeit jener jungen Männer und Frauen leisten können, die für einen Beruf ausgebildet worden sind oder sich ausbilden lassen wollen, aber keine Lehrstelle oder keinen Arbeitsplatz finden.
Wir fordern die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Gemeinden auf, auf diesem Wege freiwerdende Stellen so schnell wie möglich mit neuen Kräften zu besetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit bin ich — womit ich sicher nicht Ihren Unwillen errege — bereits am Ende meiner Ausführungen angekommen, auf das ich von Anfang an unermüdlich hingearbeitet habe.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bernrath.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Arbeitszeitverkürzungen wird es zur Bewältigung der Massenarbeitslosigkeit sicher auch im öffentlichen Dienst geben müssen. Dabei wird der Verkürzung der Wochenarbeitszeit besondere Bedeutung zukommen. Aber auch die anderen Formen des Personaleinsatzes, der Arbeitszeitverkürzung — hier also der Teilzeitarbeit und der Beurlaubung sowohl aus familienpolitischen wie aus arbeitsmarktpolitischen Gründen — werden dabei eine große Rolle spielen.
*) Anlage 3
Insofern wird das Gesetz auch unsererseits begrüßt. Auch wir gehen davon aus — ich möchte hier Herrn Broll ausdrücklich zustimmen —, daß es im Ergebnis dann zu Neueinstellungen für diejenigen, die befristet oder auch für längere Zeit aus dem Arbeitsprozeß ganz oder teilweise ausscheiden, kommen muß.
Ich begrüße besonders das arbeitsmarktpolitische Merkmal dieser Entscheidungen, obwohl Sie, Herr Broll — das muß ich noch einmal ganz deutlich sagen — dieses Merkmal beim Nebentätigkeitsrecht nicht gelten lassen wollen. Aber vielleicht werden wir uns darüber nach der Sommerpause noch einmal unterhalten können.
Bedenken begegnet an verschiedenen Stellen die Regelung zum Versorgungsabschlag. Wir kennen die einstimmige Entschließung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. Wir haben das ausgiebig erörtert. Es ist nicht eindeutig zu beurteilen. Es spricht vieles auch dafür, im System zu bleiben. Aber wir werden uns überlegen müssen, ob diese Abschläge auf Dauer nicht an ähnlichen Regelungen in den übrigen Arbeitsverhältnissen, also außerhalb des öffentlichen Dienstes, gemessen werden müssen. Insofern sollte der Bericht der Bundesregierung, der über die Entschließung angefordert wird, auf diese Frage der Angemessenheit der Abschläge und der Vergleichbarkeit mit Versorgungsabschlägen in anderen Versorgungssystemen eingehen. Wir sollten uns dabei auch nicht zu sehr durch das, was die Ideologen althergebrachte Grundsätze für das Berufsbeamtentum nennen, schrecken lassen. Sie sind meist weit hergeholt. Das einzige, was althergebracht und modern ist, ist die Gemeinwohlbindung des Beamten. Sie sollte Maßstab für unsere Entscheidungen sein.
Wir werden der Entschließung und dem Gesetzentwurf zustimmen.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Inhalt dieses Gesetzes ist hinreichend dargestellt worden. Es ist eine Hoffnung, daß er zur Entlastung des Arbeitsmarktes beiträgt, und es ist eine Hoffnung, daß die Regelungen, die wir gefunden haben, kostenneutral sind. Ob das der Fall ist, ob es eine Entlastung am Arbeitsmarkt gibt oder nicht, ist eine Frage der Praxis, wie dieses Gesetz verwirklicht wird, ob also die freiwerdenden Stellen auch sofort und unverzüglich besetzt werden. Darum ist es ein wichtiger Gedanke, daß die Bundesregierung innerhalb absehbarer Zeit einen Bericht darüber vorlegt, in welchem Umfang von den Möglichkeiten des Gesetzes Gebrauch gemacht wird und in welchem Umfang eine Arbeitsmarktentlastung tatsächlich eintritt.Die Sorge um die althergebrachten Grundsätze des Beamtentums ist nicht gänzlich überflüssig, Herr Kollege Bernrath, weil wir in der Tat wenigstens vorgesehen haben, daß die Hälfte der Lebens-
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Dr. Hirscharbeitszeit nicht überschritten wird durch Sonderurlaub und Teilzeitarbeit. Daran sollten wir wenigstens festhalten, wenn wir von den Beamten fordern, daß sie ihre gesamte Arbeitskraft ihrem Dienstherren widmen sollen.Wir hoffen also, den erstrebten Erfolg mit diesem Gesetz zu erreichen, und werden dem Entwurf daher zustimmen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 12, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung mit den in Anlage 3 niedergegebenen Korrekturen auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen ? — Bei einigen Enthaltungen ist der Gesetzentwurf angenommen.
Meine Damen und Herren, es ist noch über eine Beschlußempfehlung des Innenausschusses abzustimmen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 10/1619 unter Buchstabe b) die Annahme einer Entschließung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist die Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.
Ich rufe Punkt 44 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Änderung des Atomgesetzes
— Drucksache 10/1117 —
Im Ältestenrat ist auch hierzu ein Beitrag von bis zu zehn Minuten Dauer für jede Fraktion vereinbart worden. — Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wird zur Begründung das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir treten in die Aussprache ein. Meine Damen, meine Herren, als erster hat der Abgeordnete Warrikoff das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD steigt aus der Kernenergie aus.
— Gar kein Zweifel daran.
Das wurde beim Bundesparteitag in Essen vor wenigen Wochen mit überwältigender Mehrheit so beschlossen.
Und folgerichtig sucht sie jede Gelegenheit, die Abkehr von dieser Energietechnik, die umweltfreundlich ist, Frau Professor Hickel,
und die Arbeitsplätze schafft, praktisch zu vollziehen.Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die atomrechtliche Novelle der SPD zur Änderung der Atomhaftung. Wenn man etwas bekämpfen will, meine Damen und Herren, so muß man die Erfüllung sinnloser oder, besser noch: unmöglicher Voraussetzungen verlangen, ein Rezept übrigens, mein Kompliment, das die GRÜNEN zur Perfektion entwickelt haben.
Man sollte der SPD nicht vorwerfen, daß sie in diesem Punkt nicht lernfähig ist.
— Ich bin in keinem Aufsichtsrat und werde deshalb auch keinen verlassen und schon überhaupt nicht zu Ihrer Freude. Wenn ich Sie irgendwo irgendwie irritieren kann, werde ich das immer mit Vergnügen tun.Eine auf dem Versicherungsmarkt zu beschaffende Deckungsvorsorge von 3 Milliarden DM ist schlicht unmöglich. Alles hat seine Grenzen. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der SPD und den GRÜNEN, daß es Grenzen für die Irrationalität in Technik und Politik gibt. Auf alle Fälle gibt es Grenzen auf dem Versicherungsmarkt.
Diese Grenzen sind, was den deutschen Versicherungsmarkt betrifft, bei 500 Millionen DM erreicht. Mehr geht nicht. Der SPD-Antrag ist in diesem Punkt unmöglich.Der weitere Vorschlag, zusätzlich 7 Milliarden DM staatliche Versicherung bereitzustellen, hat nur einen Grund, meine Damen und Herren: Die SPD will der Öffentlichkeit suggerieren, daß Schäden in dieser Höhe denkbar sind. Wenn dies zuträfe, sollten wir nicht über Versicherungsfragen debattieren, sondern darüber, daß diese Technik eingestellt wird. Das müßte sie dann nämlich. — Aber es trifft nicht zu.Im Gegenteil, praktische Erfahrungen mit jetzt über 300 Kernkraftwerken in aller Welt, aber auch wissenschaftliche Forschungen, insbesondere das Reaktorsicherheitsprogramm in Karlsruhe, zeigen, daß die Kerntechnik ganz besonders sicher ist. Ich kann jedem, der sich vor Kernenergie fürchtet, nur empfehlen, wenn möglich, einmal in einer kerntechnischen Anlage zu arbeiten. Im allgemeinen sind
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Dr. Warrikoffdas dort krisensichere Arbeitsplätze, solange wir die Regierungsverantwortung tragen, und das wird sehr lange dauern.
Vielleicht verschwindet dann diese unheilvolle Wechselbeziehung zwischen Unkenntnis und Angst.
— Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie reden. Gehen Sie doch einmal hin. — Für Tausende von Mitarbeitern solcher Anlagen gibt es gar kein Problem.Die SPD muß sich auch hier die Frage gefallen lassen, angenommen, sie glaubt das, was sie hier beantragt — und davon darf man doch ausgehen —, warum sie erst jetzt mit dem Antrag kommt. Was hat sich nach dem Übergang der Regierungsverantwortung im Herbst 1982 an neuen Erkenntnissen ergeben, das einen so dramatischen Antrag rechtfertigte? Die Antwort ist einfach: Es hat sich überhaupt nichts ergeben. Im Gegenteil, wir haben fast zwei Jahre zusätzlicher positiver Erfahrung. Unsere Mitbürger haben dies längst begriffen. Die Kontroverse ist der wachsenden Akzeptanz gewichen — beim Bürger wohlgemerkt, nicht aber bei der SPD. Man kann die Kernenergie natürlich aus weltanschaulichen Gründen ablehnen, z. B. weil sie von Windmühlen und Biogas ablenkt, was sie in der Tat tut, oder den ersehnten Weg in die Welt der Sammler und Jäger aufhält, was sie auch tut. Dann sollte man dies aber sagen und sollte nicht den komplizierten Umweg über atomrechtliche Haftungsmodalitäten wählen.Es gibt aber auch einen Punkt, meine Damen und Herren von der SPD — ich freue mich, dies feststellen zu können —, wo wir mit Ihnen übereinstimmen. Es handelt sich um die Aufhebung der Haftungshöchstgrenze. Nach heutigem Recht haften die Betreiber über einer Milliarde DM nicht mehr. Die Betreiber kerntechnischer Anlagen haben uns immer wieder versichert, daß diese Anlagen sicher sind. Dies ist bestätigt worden von Gerichten und ist bestätigt worden in den entsprechenden Genehmigungsverfahren.
— Harrisburg ist ein hervorragendes Beispiel. Nicht bei einem einzigen Menschen sind die Grenzwerte für den Normalbetrieb überschritten worden. Von Unfallwerten kann überhaupt nicht geredet werden.Die Betreiber haben uns also versichert, daß solche Unfälle nicht vorkommen können. Wir sind bereit, diesem Vortrag, der wohlfundiert ist, zu glauben, verlangen aber, daß es nicht beim bloßen Wort bleibt. Die Betreiber sollen ihre Überzeugung von der Sicherheit ihrer Anlagen dadurch dokumentieren, daß sie über eine Milliarde hinaus selbst haften, und zwar mit ihrem gesamten Vermögen. Einen solchen Antrag werden wir einbringen, und der wird Gesetz werden. Übrigens ist er mehrfach vom Bundesinnenminister angekündigt worden, und zwar lange vor dem Antrag der SPD.Im übrigen würde die Sache mit der Staatsversicherung von 3 bis 7 Milliarden DM, wie die SPD will, die Verbraucher mit etwa 100 Millionen DM zusätzlichen Kosten belasten, was angesichts der Verteuerung des Stromes aus vielen anderen Gesichtspunkten nicht vertretbar ist.Ich muß noch darauf hinweisen, wie die Sache im internationalen Vergleich aussieht. Da ist das, was Sie verlangen, nämlich eine in ungewöhnlicher Weise herausragende Monstrosität, wenn Sie die Haftungssummen in sämtlichen Ländern vergleichen, z. B. die europäische Haftungskonvention, das sogenannte Pariser Übereinkommen mit 120 Millionen Rechnungseinheiten.
— Es gilt heute. Die Schweizer sind die einzigen in Europa, die in vergleichbarer Höhe sind, aber auch nur mit einer Milliarde. Wenn Sie sich erinnern, Herr Schäfer: Ihr Antrag lautet auf 10 Milliarden, nicht auf eine Milliarde. Die Amerikaner haben 560 Millionen Dollar.
— Das ist nicht zuwenig, im Gegenteil. Aber Ihre Vorurteile sind überhaupt nicht abbaubar, Herr Ehmke, das weiß ich schon.
Ich verlasse jetzt das Thema der Haftung und komme zu dem Vorschlag,
— ich weiß, vier Minuten habe ich hier — die Förderung aus § 1 des Atomgesetzes zu streichen. Dieser Antrag hat nur dann einen Sinn, wenn tatsächlich beabsichtigt ist, die Kernenergie nicht weiter zu fördern. Wenn Sie sie weiter fördern wollen, wäre dieser Antrag sinnlos. Wenn das so ist, müssen Sie sich folgende Fragen gefallen lassen: Erste Frage: Ist etwa beabsichtigt, die großen Kernforschungszentren, die ganz überwiegend kerntechnische Forschung betreiben, aufzugeben? Sollen alle staatlich geförderten Forschungen zur Entsorgung eingestellt werden?
— Ich frage jetzt ausnahmsweise die SPD. Ihre Antwort ist mir bestens bekannt. Sie sind auf dem schnellsten Wege in eine ganz, ganz dumme Vergangenheit.
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Dr. Warrikoff— Jawohl, die Vergangenheit auf Bäumen und in Feldern als Sammler und als Jäger.
— Ja, er ist übrigens ein liebenswürdiger Mensch. Er sollte den hohen Verstand, den er hat, endlich einmal dazu benutzen, seine Vorurteile abzubauen und nicht dauernd wieder zu bestätigen.
Wollen Sie, daß der Staat sein Engagement bei der Endlagerung bestrahlter Elemente, also bei der Entsorgung, aufgibt? Hier besteht ein besonders hoher Nachholbedarf. Wie sieht es mit den fortgeschrittenen Reaktoren aus? Daß Sie sich von dem Schnellen Brüter verabschieden wollen, ist bekannt.
— Ich habe leider keine Zeit. — Obwohl sozialdemokratische Minister den Schnellen Brüter jahrelang mit Milliardenbeträgen gefördert haben — ich nehme an, auch mit Ihrer Zustimmung —, wollen Sie sich davon verabschieden. Wollen Sie sich auch vom Hochtemperaturreaktor verabschieden?
Wollen Sie das auch tun? Ich erinnere daran, daß die sozialdemokratische Regierung in Nordrhein-Westfalen in bezug auf die Kohleveredlung durchaus an diesem System interessiert ist. Das wollen Sie aber nicht.Das Allerschönste ist: Der Vorschlag, den Sie mit der Übernahme von Versicherungsrisiken durch den Staat im ersten Teil Ihres Antrages machen, ist präzise auch eine Form von Förderung. Wie können Sie im ersten Teil beantragen, Sie wollen die Übernahme von Risiken der Kernenergie durch den Staat, und im zweiten Teil beantragen, daß die Förderung dieser Dinge durch den Staat gestrichen werden soll? All das macht nicht sehr viel Sinn.Was mich betroffen macht, ist im übrigen, mit welcher Leichtfertigkeit Sie, wenn Sie jetzt die Förderung zurücknehmen oder beseitigen wollen, über jahrzehntelange intensive Arbeit vieler Menschen— nicht nur in den Zentren, sondern auch in der Wirtschaft, in der Industrie — hinweggehen, über eine Arbeit, die zum Aufbau dieses Zweiges von Wissenschaft und Technik geführt hat. Was Sie wollen, ist ja
— nicht so bösartig; lächeln, lächeln, lächeln! —, daß diese jahrzehntelange Arbeit vieler Menschen in den Papierkorb geworfen wird.
Ihr Antrag ist außerordentlich beeindruckend, allerdings nur im negativen Sinne.Meine Damen und Herren, noch eine Minute: Die CDU/CSU-Fraktion steht zur weiteren kerntechnischen Entwicklung. Kerntechnik muß sicher und zuverlässig sein. Hier dürfen keine Anstrengungen gescheut werden. Für einen Verzicht auf Förderung dort, wo sie notwendig ist — z. B. in den genannten Fällen —, gibt es keinen vernünftigen Anlaß. Ebenso wenig gibt es einen Anlaß für ein Haftungsrecht mit unmöglichen und unverständlichen Forderungen. Der SPD-Antrag ist auch im internationalen Vergleich eine Solonummer. Sorgen wir dafür, daß sie bald vergessen wird!
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Warrikoff, ich darf aus dem Handbuch des Deutschen Bundestages zitieren:
WARRIKOFF, Dr. Alexander
Geschäftsführer
Ende 1961 Jurist bei Nukem GmbH in Hanau,
ab 1969 Geschäftsführer der Reaktor-Brennelement Union GmbH und der Alkem GmbH
in Hanau;
Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Wirtschaftsverbandes Kernbrennstoff-Kreislauf e. V. in Bonn
und Vorsitzender des Verwaltungsrates der NVD-Nuklearer Versicherungsdienst GmbH, Hanau.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Warrikoff, in dieser Eigenschaft haben Sie hier eine gute Rede gehalten!
Das wollte ich Ihnen nur bescheinigen.
Herr Kollege, es gibt inzwischen drei Meldungen zu Zwischenfragen.
Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfrage zu.
Sie haben hier — —
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984 5765
Schäfer
— Wenn Sie bei Ihren Zwischenrufen mehr den Kopf und weniger den Kehlkopf benutzen, kann ich Sie auch verstehen!Herr Warrikoff, Sie haben jetzt mehr oder weniger das Hohelied der Kernenergie gesungen. Sie haben sich für die fortgeschrittenen Reaktorlinien ausgesprochen, für den Schnellen Brutreaktor, für den Hochtemperaturreaktor.Dies ist nur bedingt unser heutiges Thema. Ich habe nur eine Bitte an Sie: Nutzen Sie die Sommerpause und lesen Sie das gerade jetzt zur Veröffentlichung freigegebene Gutachten der Prognos AG, vom Bundeswirtschaftsministerium angefordert, über den bis zum Jahr 2000 zu erwartenden Energieverbrauch. Da werden Sie zwei Dinge feststellen können: erstens daß der Endenergieverbrauch bis zum Jahre 2000 in allen drei dort aufgeführten Varianten etwa auf dem Level der Jahre 1978 oder 1982 bleibt. Zweitens — das ist das, was uns Sozialdemokraten mehr Sorgen macht — wird auf Grund der in den 80er Jahren zu erwartenden Kapazitäten der Kernenergie die Steinkohle mit Sicherheit verdrängt.
Hinzu kommt, daß auch auf Grund von Überkapazitäten mit jährlichen Energiepreissteigerungsraten von 2 bis 3 % zu rechnen ist. Dies nur zur Einordnung dessen, was wir gesamtenergiepolitisch zu betrachten und zu diskutieren haben, wenn wir über Kernenergie reden.
— Ich kann Ihnen die Unterlage herübergeben. — Über die Haftungsobergrenze von 10 Milliarden DM gab es unter Innenminister Baum keine exakten Vorstellungen, aber das Prinzip — Erhöhung der Haftungsgrenze, genereller Wegfall der Haftungsgrenze, Anhebung der Deckungsvorsorge durch die Betreiber — geht exakt auf die Vorarbeiten zurück; das ist auch sinnvoll.Sie sagen ja selbst — jedenfalls Herr Zimmermann in der Rede vor der Kerntechnischen Gesellschaft —, daß die Aufhebung der Haftungsgrenze generell sinnvoll ist. Darin folgen Sie uns. Was die Deckungsverpflichtung anlangt, haben Sie soeben Ihren Minister zitiert; unseren Vorschlag von 10 Millarden DM haben Sie für unnötig, ja unsinnig erklärt.Dann wollen wir einmal klarstellen, worüber wir reden. Übrigens: Ähnlich wie von Ihnen eben ist in den Vereinigten Staaten vor dem Unfall in Harrisburg argumentiert worden. Ich würde Ihnen empfehlen, sich einmal die Kosten für die Evakuierung— darum geht es ja — nach dem Unfall in Harrisburg und zusätzlich, was nicht Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes ist, die Kosten für die Dekontamination anzugucken.
— 1977.
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5766 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
Schäfer
— Ich zitiere ja aus der Studie, Herr Kollege Laufs. — 104 000 Todesfälle, 42 000 zu evakuierende Personen,
2,9 Millionen umzusiedelnde Personen.
— Ich sage noch einmal: Sicher sind diese Schäden sehr unwahrscheinlich, aber sie sind nicht völlig, nicht mit letzter Gewißheit auszuschließen. Es sind Schäden, die sicher über 10 Milliarden DM Opferschutz hinausgehen würden. Andere Länder — beispielsweise die Schweiz — sind ja im Kern unseren Überlegungen vorausgegangen.Ich unterstreiche noch einmal, daß unsere Kernkraftwerke im internationalen Maßstab einen vergleichsweise hohen Sicherheitsstandard haben. Aber das, was ich soeben als sehr unwahrscheinlich, aber als nicht auszuschließend dargestellt habe, macht deutlich, meine Damen und Herren, daß die 10 Milliarden DM alles andere, bloß nicht unsinnig sind.Eine vorletzte Bemerkung. Sie wissen, daß der Risikobegriff — den wir übrigens auch in der Technik, in kerntechnischen Anlagen oder in Chemieanlagen, benutzen — der Versicherungswirtschaft entlehnt ist: Eintrittswahrscheinlichkeit mal Schadensfolge. Wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit tatsächlich so gering ist, wie Sie es hier darstellen, dann werden die entsprechenden Prämien, die die Betreiber an die Versicherer zu zahlen haben, auch tatsächlich gering sein. Das heißt, wer unserem Antrag zustimmt, der kann das auch guten Herzens tun, weil die Prämien — da j a die Schäden angeblich so unwahrscheinlich sind — entsprechend geringer sind.Meine Damen und Herren, wir meinen, daß Ihr Argument — 100 Millionen DM mehr an Kosten pro Jahr für die Betreiber — kein durchschlagendes Argument sein kann, wenn es darum geht, einen optimalen Opferschutz — das ist der Terminus technicus; ich weiß, es ist ein schlechtes Wort — auch über den Weg einer Änderung des Nuklearhaftungsrechts zu erreichen.Wir werden nachher unseren Antrag dem Innenausschuß überweisen. Wir werden dabei auch Gelegenheit haben, über weitere mögliche — aus meiner Sicht notwendige — Änderungen des Atomgesetzes zu beraten. Einstweilen bedanke ich mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche besonders Ihnen, Herr Warrikoff, angenehme Sommerpause.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schäfer, ich habe den Eindruck, daß Sie für ein richtig erkanntes Problem eine falsche Lösung vorschlagen.
Ich möchte einmal den ganzen ideologischen Ballast weglassen, weil über die Frage, in welchem Umfang man Kernenergie braucht, haben sollte, vermeiden kann, ohnehin nur zu einem Teil in diesem Hause entschieden wird.Worum geht es eigentlich? Nach dem Atomgesetz ist die atomrechtliche Haftung — das gibt es bei keinem anderen Industriezweig — auf 1 Milliarde DM der Höhe nach begrenzt, als reine Gefährdungshaftung. Davon müssen die Betreiber 500 Millionen DM decken. Die anderen 500 Millionen DM Haftung übernimmt der Staat gratis und franko. Von diesen 500 Millionen DM, die die Betreiber dekken müssen, müssen sie 200 Millionen DM bei den Versicherungsgesellschaften unterbringen, also prämienwirksam und 300 Millionen DM werden dadurch erbracht, daß sie sich gegenseitig Deckung versprechen. Das ist der gegenwärtige Zustand. Diese Regelung ist in der Tat überholt. Sie stammt aus der Zeit, in der man die hoch veranschlagten Risiken der Kernenergie abdecken wollte und die Einführung dieser Energieform durch staatliche Beteiligung und auch durch staatliche Subvention — so sage ich einmal — erleichtern und fördern wollte.Ich habe schon vor Jahren in diesem Hause, 1981, in einer Rede vorgeschlagen, daß dann, wenn der Sicherheitsgrad der Kernkraftwerke so hoch ist, wie er j a dargestellt wird, man in der Tat auf eine Haftungshöchstgrenze verzichten kann, und zwar ersatzlos, und daß ein solcher Schritt die Akzeptanz dieser Energieform erleichtern würde. Denn wie kann man sonst erwarten, daß mehr für die eigene Sicherheit eines Unternehmens getan und investiert wird, als wenn man für einen Fehler mit der gesamten wirtschaftlichen Existenz haftet? — Also: Wegfall der Haftungshöchstgrenze.Wir müssen die Kernenergieindustrie in die Normalität überführen und nicht mehr notwendige Subventionen abbauen. Das ist der Punkt. Wir werden noch aus einer anderen Entwicklung heraus dazu gebracht, an dieser Regelung etwas zu ändern, nämlich der, die Sie dargestellt haben: daß durch ein Herausrechnen der Geldentwertungsentwicklung in der Tat die heutige Haftungsgrenze von 1 Milliarde DM unterdimensional ist. Man müßte sie, wenn man den Zustand bei der Einführung des Atomgesetzes auch nur erhalten will, wesentlich anheben.Nun zu Ihrem Entwurf, Herr Kollege Schäfer. Sie wissen ja, daß wir an einer Novellierung des Gesetzes arbeiten. Es ist begrüßenswert, daß Sie sich eigene Gedanken gemacht haben, um uns zuvorzukommen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984 5767
Dr. HirschAber den Vorschlag, den Sie machen, finde ich einfach nicht gut. Sie schlagen vor, daß es bei einer Haftungshöchstgrenze bleiben soll,
nämlich 10 Milliarden DM, und sagen, daß der Staat praktisch für 9 Milliarden DM eintreten sollte.
Sie überschätzen die Möglichkeiten, ein Risiko dieser Größe am Versicherungsmarkt unterzubringen. Bei Ihrem Vorschlag würde der Staat nach sachkundiger Auskunft der Versicherungswirtschaft, die ja nicht uninteressiert wäre, die Prämie hereinzuholen, für 9 Milliarden DM eintreten müssen, würde ein großer Versicherer werden. Hier taucht die erste Frage auf: Warum eigentlich nur bei der Kernenergie? Wenn man diesen Weg geht, müßte man für viel mehr Risiken, die wir haben — bei der chemischen Industrie und bei anderen —, überall sagen: Da muß der Staat eintreten und anfangen, eine Versicherung hereinzunehmen.Die Kosten, die bei einer Deckung von 10 Milliarden DM erwartet werden müssen, auch wenn Sie den staatlichen Anteil fair berechnen, werden uns etwa mit 100 Millionen DM im Jahr angegeben. Ich bin der Überzeugung, daß man diese 100 Millionen DM sinnvoller ausgeben kann,
indem man sie nämlich — das hoffen wir — in Sicherheit investiert. Dazu muß der Anreiz geschaffen werden, und zwar eben dadurch — ich wiederhole es —, daß man — unabhängig von der Dekkungshöhe einer Versicherung — demjenigen, der ein Unternehmen betreibt, sagt: Für die Schäden, die entstehen können, haftest du mit deiner ganzen Existenz; das ist der Punkt. Das bedeutet die Aufhebung der Haftungshöchstgrenze und damit auch die Aufhebung der Kongruenz von Deckung und Haftung und die fortlaufende Anpassung der Dekkungspflicht, die in einer bestimmten Höhe bestehen bleiben muß, an die Geldwertentwicklung.Die Koalitionsfraktionen haben sich auf Grundsätze dieser Art verständigt. Ich hoffe, daß wir Ihnen in absehbarer Zeit, also kurz nach der Sommerpause, einen Gesetzentwurf vorlegen werden, der diesen Grundsätzen entspricht, und dann werden wir im Ausschuß gemeinsam darüber beraten. Ich hoffe, daß wir dann eine Lösung finden, mit der wir die Kernenergie in die Normalität zurückführen
und das anliegende Problem nicht nur für ein, zwei oder fünf Jahre, sondern auf Dauer, endgültig entscheiden.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke .
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen undFreunde! Der uns vorliegende Antrag zur Änderung des Atomgesetzes macht deutlich, daß die SPD der Atomenergie nach wie vor die Stange hält und lediglich die Frage der Haftung bei Atomunfällen zur Disposition stellt. Wir, die GRÜNEN, gehen jedoch davon aus, daß die Stromerzeugung durch Kernspaltung auch als Übergangstechnologie untragbar ist und grundsätzlich abgelehnt werden muß.
Erlauben Sie mir eine Bemerkung vorweg. § 9 a Abs. 1 und 2 des Atomgesetzes wurde von der Bundesregierung wiederholt dahin gehend interpretiert, daß die Wiederaufarbeitungstechnologie rechtlich zwingend geboten sei. Auf Ihrem letzten Parteitag faßten Sie von der SPD, Herr Kollege Schäfer, den begrüßenswerten Beschluß, die Wiederaufarbeitung nicht weiter zu verfolgen. In Niedersachsen hat die SPD-Landtagsfraktion inzwischen die Konsequenz gezogen und den Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage abgelehnt. Laut Beschlußlage der bayerischen SPD wird die Wiederaufarbeitungsanlage dort grundsätzlich noch be-j aht.
Wir hoffen aber, daß die Einsicht auch dort siegen wird.
Ihre Änderungsanträge lassen jedoch den umstrittenen § 9 a Abs. 1 und 2 des Atomgesetzes hier und heute gänzlich ungeschoren. Wie ist das zu interpretieren, Herr Kollege Schäfer? Heißt das, daß Sie entgegen der Beschlußlage Ihrer Partei an der Wiederaufarbeitungstechnologie festhalten?
— Wir werden uns im Ausschuß darüber noch einmal unterhalten können. — Dazu hätte ich von Ihnen gern ein klärendes Wort gehört. — So viel vorweg.Betrachten wir nun die vorgelegten Änderungsanträge im einzelnen.Die Förderung der Atomenergie als Zweckbestimmung des Atomgesetzes soll wegfallen. Das klingt ganz gut. Damit wird aber nicht mehr gefordert, als daß das Atomgesetz unparteiisch sein soll, was eine weitere direkte und indirekte Förderung der Atomwirtschaft überhaupt nicht ausschließt. In Hessen beispielsweise ist es Ihre Partei, die den Ausbau der Plutoniumbunker in Hanau betreibt. Dies aber sind Anlagen, für die auch in Zukunft eine jährliche Finanzspritze von 100 Millionen DM aus Bundesmitteln vorgesehen ist.Unter Punkt 2 fordern Sie die ersatzlose Streichung einer Haftungsobergrenze bei Atomunfällen. Die generelle Aufhebung der Höchstgrenze wurde im Mai dieses Jahres auf der Jahrestagung Kerntechnik auch von Innenminister Zimmermann befürwortet. Damit wird von der Bundesregierung
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5768 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
Dr. Ehmke
auch offiziell eingestanden, daß die möglichen Folgen eines Atomunfalls gar nicht abzusehen sind.
Das war für uns eine interessante Feststellung.Mit dem letzten Punkt Ihres Antrages sollen die Deckungshöchstbeträge zur Erfüllung der Schadensersatzverpflichtung bei Atomunfällen auf den aktuellen Stand gebracht und somit erhöht werden. Zusätzlich soll der Geldbetrag, der bei Atomunfällen staatlicherseits zu erstatten ist, von 1 Milliarde DM auf 10 Milliarden DM heraufgesetzt werden, wobei dieser Erstattungsservice für die Atomwirtschaft nicht mehr — wie jetzt -- kostenlos, sondern nur noch gegen Gebühren erfolgen soll.Meine Damen und Herren von der SPD, in Ihrer Begründung schreiben Sie, daß die Schadensgrenze von 10 Milliarden DM bei Nuklearunfällen eine untere Grenze sei. Dies allein ist schon eine deutliche Aussage über die Sozialverträglichkeit der Atomenergie.Besonders fragwürdig erscheint mir jedoch der Grundansatz, der Ihrem Änderungsantrag zugrunde liegt. Was kosten denn die mißgebildeten oder die totgeborenen Kinder, die einige Monate nach dem Harrisburg-Unfall in der Umgebung dieses Reaktors zur Welt kamen? Können Sie sich ernsthaft damit zufrieden geben, einige Milliarden draufzusatteln, um zukünftige mögliche Katastrophen statt verhindern besser verwalten zu können?Die grüne Opposition hat demgegenüber eine überzeugende Alternative anzubieten, die das Problem an der Wurzel packt.
Und da sind wir konsequent, Herr Kollege Warrikoff: Sofortiger Ausstieg aus einer Technologie, die eine Schadensersatzrücklage von 10 Milliarden DM oder mehr nötig macht! Eine diesbezügliche Gesetzesinitiative zur Stillegung aller Atomkraftwerke werden wir schon im kommenden Monat einbringen.Herr Warrikoff, wir wollen uns nicht aus unserer Gesellschaft insgesamt verabschieden und zurück zu den Jägern und Sammlern, sondern wir wollen uns aus der Atomtechnologie verabschieden. Das ist ein Unterschied.
Atomanlagen stillzulegen bedeutet den Ausstieg aus einer Technologie, die erstens angesichts des Stromüberschusses energiewirtschaftlich überflüssig ist, die zweitens als besonders kapitalintensive Technik Arbeitsplätze vernichtet, die drittens bei Berücksichtigung der mit einer halbwegs sicheren Entsorgung verbundenen Kosten nicht wirtschaftlich betrieben werden kann, sondern Milliardenbeträge bindet, die viertens die Grundlage schafft für eine mögliche militärische Verwendung der Spaltstoffe und die schließlich unter ökologischen Gesichtspunkten — ich erinnere an das ungelöste Problem der Entsorgung —
unverantwortlich ist.
Anerkannte Wissenschaftler wie Professor Herrmann aus Göttingen und Professor Grimmel aus Hamburg haben vergangene Woche vor dem Innenausschuß ganz entschieden davor gewarnt, Atommüll im Salzstock Gorleben einzulagern, da dieser unsicher sei. Von dem Nachweis einer geordneten Beseitigung aller radioaktiven Abfälle kann spätestens nach den neuesten Befunden über den Salzstock Gorleben keine Rede mehr sein.Wie Sie alle wissen, ist nach dem Atomgesetz die Nutzung der Atomenergie jedoch nur gestattet, wenn dieser Nachweis vorliegt.
— Das gehört genau zum Thema. — Insofern gibt es auch unter diesen Gesichtspunkten nur einen Ausweg aus dem nuklearen Dilemma: die unverzügliche Einstellung jeglicher Atommüllproduktion.
— Tut mir leid, Herr Kollege; ich bin gleich am Ende.Welchen Irrweg die Unionsparteien und auch die Atomlobby mit dem weiteren Ausbau der Atomenergie eingeschlagen haben, wird heute besonders deutlich im Ursprungsland der Atomkraftwerke, in den USA. Dort befindet sich die Atomwirtschaft wegen sinkender Stromverbrauchsraten und explosionsartig ansteigender Baukosten in einer schweren Krise. Viele der in diesem Gebiet engagierten Energieversorgungsunternehmen sehen sich konfrontiert mit existenzgefährdenden Finanzproblemen. Über hundert Atomkraftwerke wurden dort in den letzten zehn Jahren aus den Auftragsbüchern gestrichen. Von den 48 in den USA noch in Bau befindlichen Atomkraftwerken werden nach seriösen Schätzungen 50 % voraussichtlich nie in Betrieb gehen.
Erst kürzlich wurde im Bundesstaat Indiana der Bau eines Atommeilers eingestellt und wurden 2,5 Milliarden Dollar abgeschrieben. Im Bundesstaat Ohio sah man sich genötigt, ein bereits zu 97 % fertiggestelltes Atomkraftwerk in ein Kohlekraftwerk umzuwandeln.Daß auch bei uns die Atomenergie auf der Kippe steht, zeigt die vorgestern in Bonn vorgestellte und bereits zitierte Prognos-Studie, die im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstellt worden ist, über die zukünftige Entwicklung des Energieverbrauchs. Betont wird darin, daß der Kernkraft-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984 5769
Dr. Ehmke
werksausbau gegenüber den ursprünglichen Planungen kräftig zurückgenommen werden müsse.
Eine Ablehnung des vorgelegten Gesetzentwurfs durch die Regierungskoalition würde auch bedeuten, daß man sich selbst noch bei der Zweckbestimmung dieses Gesetzes, des Atomgesetzes, an die Förderung einer ökologisch verheerenden und ökonomisch kaum noch haltbaren Technologie klammert. Meine Damen und Herren, wann lösen Sie sich aus dieser für uns alle unglückseligen Verklammerung? Ich kann nur sagen: Je früher, desto besser!
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 10/1117 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Innenausschuß, zur Mitberatung an den Ausschuß für Wirtschaft, den Ausschuß für Forschung und Technologie und den Haushaltsausschuß. Gibt es weitere Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 45 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Forschung und Technologie zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Steger, Catenhusen, Roth, Fischer (Homburg), Grunenberg, Nagel, Stahl (Kempen), Stockleben, Vahlberg, Vosen, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Einsetzung einer Enquete- Kommission „Gen-Technologie" zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Hickel und der Fraktion DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Gen-Technik"
— Drucksachen 10/1353, 10/1388, 10/1581 — Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Dr. Neumeister Catenhusen
Kohn
Frau Dr. Hickel
Hierzu liegt Ihnen ein interfraktioneller Änderungsantrag auf Drucksache 10/1693 vor.
Der Ältestenrat hat einen Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion verabredet. — Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Catenhusen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was viele Menschen an den Entscheidungsprozessen auch dieses Parlaments bedrückt, ist das häufig zu kurzfristige, häufig auch zu kurzsichtige Denken, das längerfristige Prozesse in dieser Gesellschaft aus dem Blick verliert. Es wird zunehmend eine Ohnmacht der Politik gegenüber grundlegenden technischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen registriert — ich persönlich denke, nicht immer zu Unrecht. Das Wort der Technikfeindlichkeit, das in diesem Hause auch von dieser Seite so gern benutzt wird, versperrt uns häufig den Blick auf das Gefühl vieler Bürger, Politik stehe ohnmächtig der Entwicklung und Einführung neuer Techniken gegenüber. Beschränken wir uns nicht tatsächlich zu sehr darauf, an den durch neue Techniken geschaffenen Sachzwängen nur herumzukurieren und herumzureparieren?Daß wir unsere Hilflosigkeit gegenüber der Entstehung technischer Innovationen und gegenüber ihrer von ökonomischen Interessen diktierten Durchsetzung überwinden müssen, zeigt ganz nüchtern die Tatsache, daß eine bloße Fortschreibung der Trends unserer Industriegesellschaft zu einer Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen führen muß. Der Mensch kann mit Hilfe der Technik Natur in solchem Umfang zerstören, daß er damit das Leben der Gattung Mensch aufs Spiel setzt.
Ohne sinnvollen Gebrauch von Technik — das füge ich allerdings hinzu — können wir dieser Gefahren nicht Herr werden. Ohne Technik kein Weg aus diesen Gefahren!Die Gen-Technologie als Methode, Erbinformationen unter allen Lebewesen, Bakterien, Hefen, Pilzen, Pflanzen, Tieren oder Menschen auszutauschen, wird in Zukunft wie keine andere Technik in das Verhältnis des Menschen zur Natur und zu sich selbst eingreifen. Der Mensch kann sich — das können wir heute nicht ausschließen — zum Schöpfer der Natur und seiner selbst erheben. Sind wir eigentlich dieser Verantwortung gewachsen? Darf sich der Mensch — um es mit den Worten von Erhard Eppler auszudrücken — zum lenkenden Subjekt der Evolution machen, die ihn selbst hervorgebracht hat?Wir brauchen den Frieden mit der Natur in unserem eigenen Interesse. Wir müssen unsere Zukunft so gestalten, daß wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen nicht weiter ausbeuten und zerstören. Michael Meyer-Abich drückt diese Aufgabe so aus: „Der Frieden mit der Natur kann nur gefunden werden, wenn sie nicht mehr nur als Objekt und Ressource, sondern auch im Sinne einer Verantwortung — ,unserer Verantwortung' — wahrgenommen wird." Wir dürfen auch im genetischen Erbe dieser Erde nicht nur Objekt und Ressource sehen, die zu Erträgen und Profiten führen kann. Gerade hier stellt sich die Frage nach unserer Verantwortung für die Natur, von der wir nur ein kleiner Teil sind.Die Gen-Technologie und die damit zusammenhängenden neuen Bio-Techniken stehen in Deutschland an der Schwelle zur kommerziellen Nutzung, in vielen Bereich befinden wir uns noch im Stadium der Grundlagenforschung. Wir überse-
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5770 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
Catenhusenhen heute nur einen schmalen Bereich möglicher Anwendungen. Ich sehe heute schon durchaus auch positive Anwendungsmöglichkeiten für die Lösung von Gesundheitsproblemen, für die Rohstoffsicherung, für die Lösung von Umweltproblemen. Ich warne nur schon heute vor zu hoch gespannten Erwartungen an die ökonomische Bedeutung der GenTechnologie. Sie ist für mich in absehbarer Zeit kein entscheidender Beitrag zur Lösung unserer ökonomischen Probleme.Doch schon heute stellt sich eine Fülle von Fragen, die nach einer Abwägung von Chancen und Risiken, von Hoffnungen und Sorgen drängen. Wir, das Parlament, wollen uns diesem Abwägungsprozeß nicht entziehen. Das kann ich wohl für alle Fraktionen feststellen. Die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gen-Technologie" wird diese Abwägung unter ökonomischen, ökologischen, ethischen, rechtlichen und Sicherheitsgesichtspunkten vornehmen. So heißt es im Einsetzungsbeschluß. Wir wollen gemeinsam in einem offenen Lernprozeß unterschiedliche Ausgangspositionen und den Sachverstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen einbringen. Unser Ja oder Nein zu den verschiedenen erkennbaren Anwendungsmöglichkeiten der Gen-Technologie kann und sollte an dieser Stelle nicht vorweggenommen werden.Aufgabe dieser Enquete-Kommission ist der Versuch einer Abschätzung von Folgen der Gen-Technologie. Wir werden uns bei unserer Arbeit die Frage stellen müssen, welche Möglichkeiten, die uns die Gen-Technologie bietet, wir nutzen und fördern wollen und wo wir der Anwendung in einer Abwägung von Chancen und Risiken auch Grenzen setzen müssen. Diese Frage nach den Grenzen stellt sich für uns als Sozialdemokraten in besonderer Dringlichkeit bei der Anwendung gen-technischer Verfahren am Menschen und bei der gezielten Freisetzung gen-technisch manipulierter Lebewesen in unsere Umwelt.Ich denke, daß die Akzeptanz der Gen-Technologie in unserer Gesellschaft davon abhängt, ob wir die erkennbaren Risiken und negativen Folgen weitestgehend ausschließen können. Man kann zu Recht die Frage stellen: Können wir es heute eigentlich schon verantworten, die ganze Breite möglicher Anwendungsbereiche und möglicher Risiken der Gen-Technologie zu bewerten, da wir das auch angesichts der in rasendem Tempo weitergehenden Entwicklung und der ständig neuen Erkenntnisfortschritte der Grundlagenforschung noch gar nicht überblicken? Müssen wir mit unserer Diskussion nicht noch warten, weil vieles von dem, was uns Sorgen macht, heute technisch noch nicht möglich ist?Der Ingenieur Kurt Detzer hat in dieser Woche in einem lesenswerten Beitrag für die „VDI-Nachrichten" festgestellt, daß wir bei der Anwendung von Technik, ob wir Ingenieure, Wirtschaftler oder Politiker sind, immer, in jedem Zeitpunkt, auf unzureichender Informationsbasis entscheiden müßten. Für mich steht fest: Ist eine Technologie erst ausgereift und in breitem Umfang vermarktet, ist die Chance gesellschaftlicher Einflußnahme auf technische Entwicklungen und ihre Anwendung schon vertan. Dann wird uns auch die Gen-Technologie nur noch als Sachzwang gegenübertreten.Hans Jonas hat in seiner Rede bei der Firma Hoechst in diesen Tagen die Eigengesetzlichkeit technischer Entwicklungen so umschrieben: „Ist diese oder jene neue Möglichkeit erst einmal — meist durch die Wissenschaftler — eröffnet und durch Tun im kleinen entwickelt worden, so hat sie es an sich, ihre Anwendung im großen und immer größeren zu erzwingen und diese Anwendung zu einem dauernden Lebensbedürfnis zu machen." Das Argument, man könne und dürfe sich einer technologischen Innovation grundsätzlich nicht in den Weg stellen, müssen wir für die Zukunft überprüfen. Es muß, so denke ich, die Aufgabe der Politik werden, zu entscheiden, was wir von dem, was wir technisch können, auch dürfen und wollen.Politik, die auf die Einflußnahme darauf verzichtet, was an technischen Möglichkeiten realisiert wird, kapituliert ohne Not vor Sachzwängen. Diese Sachzwänge werden durch Entscheidungen gesetzt, die nur unter rein ökonomischen Gesichtspunkten getroffen werden, wenn sich die Industrie der neuen Technik annimmt und unter Vermarktungsgesichtspunkten entscheidet, welche Richtung diese Technikentwicklung nehmen muß.Es stimmt mich für die Arbeit der Enquete-Kommission, die nach der Sommerpause mit ihrer Tätigkeit beginnen wird, sehr optimistisch, daß wir einen so breiten Konsens über die Aufgabenstellung und die personelle Zusammensetzung dieser Kommission erzielt haben. Ich möchte mich bei den anderen Fraktionen des Hauses für diese konstruktive Zusammenarbeit bedanken.Die Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gen-Technologie" wird Empfehlungen für die Arbeit des Deutschen Bundestages erarbeiten. Ich sehe in der Arbeit dieser Kommission aber auch eine Chance für das ganze Parlament, eine gestaltende Rolle in dem beginnenden breiten öffentlichen Diskussionsprozeß um die Einführung und den Gebrauch der Gen-Technologie zu übernehmen. Wir setzen heute als Parlament ein Zeichen dafür, daß diese Diskussion nicht den Forschern und der interessierten Industrie allein überlassen bleiben wird.Daß diese Diskussion an Breite und an Gewicht zunimmt, zeigen etwa der Beschluß des Deutschen Ärztetages zur In-vitro-Fertilisation, der Vortrag von Hans Jonas beim Jubiläum der Firma Hoechst, verstärkte Aktivitäten der Industriegewerkschaft Chemie und vieler kirchlicher Bildungsstätten sowie Artikelserien in Wissenschaftsmagazinen. Wir Sozialdemokraten möchten die Öffentlichkeit, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Wissenschaftler und Wissenschaftsorganisationen ausdrücklich ermuntern, in die Arbeit der Enquete-Kommission mit Stellungnahmen und kritischen Fragen einzugreifen und so den Prozeß politischer Willensbildung aktiv zu beeinflussen.Ich hoffe, daß die Arbeit der Enquete-Kommission zu gemeinsamen, breit getragenen Ergebnis-
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984 5771
Catenhusensen führt. Mir ist aber bewußt, daß es bei der Abwägung der Chancen und Risiken der Gen-Technologie keine konfliktfreien Antworten geben wird. Hans Jonas fordert alle Verantwortlichen zu einer zukunftsbezogenen Wahrnehmung unserer Verantwortung auf. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß wir durch die bevorstehende Arbeit dieser Enquete-Kommission dieser Verantwortung gemeinsam gerecht werden.Schönen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Neumeister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Technischer Fortschritt, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und daraus entwickelte neue Technologien werden bei uns heute nicht mehr, wie es noch vor gar nicht allzu langer Zeit geschah, in der öffentlichen Meinung als Wohltat, als Entlastung von schwerster körperlicher Arbeit, als Hilfe gegenüber bisher unangreifbaren Krankheiten, nicht einmal mehr als Sieger über Hunger und Elend — z. B. in der Dritten Welt — erkannt oder gar begrüßt.
Sie werden auch nicht mehr mit der Begeisterung und dem Elan vorangetrieben, wie es für die Sicherung der Lebensgrundlage einer Industrienation notwendig wäre.
Vielleicht war die Wissenschaft zu schnell,
die Themen zu bekannt, die Forschung zu erfolgreich und die Forscher zu wenig erfahren oder zu wenig bemüht, um eine verständliche Darstellung ihrer neuen Erkenntnisse überhaupt in die Öffentlichkeit zu bringen.
Vielleicht war auch unsere Bildungspolitik zu schwerfällig, um Naturwissenschaft und exaktes Wissen zu vermitteln und junge Menschen zu einer rationalen Denkweise zu befähigen. Statt dessen machte sich Desinteresse breit, wurden Ängste und Abwehr gegen neue Technologien erzeugt.
Das haben wir gerade bei dem vorigen Tagesordnungspunkt noch einmal in voller Breite erlebt.
Die schwierigsten Probleme im Zusammenhang mit neuen Technologien entstehen aus der Angst vor Unbekanntem und Unverständlichem sowie aus dem Mangel an Vertrauen in all diejenigen, die Verantwortung dafür tragen. Das wirliche Defizit aber liegt in der mangelnden Verbindung der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung einerseits und der geistig-politischen Beherrschung dieserEntwicklung andererseits. Technik verursacht nun einmal immer Veränderungen. Wenn diese Veränderungen aber schneller vor sich gehen als die Geschwindigkeit des Lernens und der Akzeptanz, dann entsteht ein für neue Technologien ungünstiges Klima, wie wir es z. B. bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie und ebenso bei der Mikroelektronik erlebt haben und wie es sich heute wieder bei der Gen-Technologie abzuzeichnen beginnt.Sind nun aber die Wissenschaftler an dieser Entwicklung schuld? Ist nicht die Herstellung einer gesellschaftlichen Akzeptanz technischer Entwicklung für die Politik eine neue Herausforderung? Sie muß Lernprozesse beschleunigen, um die Bürger besser zu informieren
und in die Lage zu versetzen, unvoreingenommen Nutzen und Risiken des Neuen beurteilen zu können.
Von den Politikern wird nicht nur die Fähigkeit verlangt, naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten auf Grund eigenen Wissens zu beurteilen; eine gute Politik verlangt auch die Fähigkeit von ihnen, das, was dem Bürger an Einsicht in die Nützlichkeit technischer Entwicklungen angesichts ihrer Kompliziertheit fehlt,
durch Vertrauen zu ersetzen.
Erst das Ersetzen dieser fehlenden Einsicht durch Information und Vertrauen schafft die nötige Voraussetzung der Akzeptanz der Technik auch in Zukunft.
Wissenschaft ist politisch geworden. Sie darf sich in einer Demokratie nicht im Verborgenen abspielen. Naturwissenschaftliche Ergebnisse und Erkenntnisse — z. B. in der Gen-Technologie — dürfen nicht in der Exklusivität der Wissenden verbleiben.
Sie müssen offen dargelegt werden, damit der Öffentlichkeit die Möglichkeit gegeben ist, die Forschungsergebnisse zu reflektieren. Hierzu allerdings bedarf es bei denen, die die Öffentlichkeit informieren, der Kenntnisse über naturwissenschafliche Zusammenhänge und ihre Rückkoppelung auf die Wertvorstellungen unserer Zeit, auch über Chancen und Risiken.
Um dies aber verstehen zu können, müssen Hilfen angeboten werden.Unser Forschungsminister Heinz Riesenhuber antwortete vor kurzem auf die Frage, wer denn nun
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5772 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984
Frau Dr. Neumeisterdie Risiken der Gen-Technologie beurteilen solle, daß es die fachlichen Autoritäten nicht allein können, auch nicht allein die moralischen Autoritäten. Die Politik aber hat seiner Meinung nach in der ganzen Komplexität dieser Auseinandersetzung vor allem die Rolle, unter denen, die zu der anstehenden Entscheidung Position bezogen haben, ein Gespräch zu vermitteln, und dies so frühzeitig, daß es nicht von Emotionen erschlagen wird, zu einem Zeitpunkt, an dem diese Technik sich selbst noch gestaltet, wo ihre Möglichkeiten noch beeinflußbar sind, ihre Risiken erkennbar geworden sind, aber wo diese Technik noch nicht durch massenhaften Einsatz zu einem Grundsatzproblem geworden ist.Meine Damen und Herren, aus diesem Grunde haben wir in der CDU/CSU-Fraktion den Antrag der SPD auf Einsetzung einer Enquete-Kommission sofort mit aufgegriffen und sind erfreut, daß die Überschrift, die über dieser nunmehr gemeinsamen Arbeit des Parlaments stehen wird, „Chancen und Risiken der Gen-Technologie" heißt und damit auf breiterer Basis als auf dem ersten Entwurf aufgebaut ist, der sich allein auf die gesellschaftlichen Folgen der Gen-Technologie berufen wollte.
Bei den vorangegangenen Beratungen sind bereits weitere Präzisierungen des Aufgabenspektrums vorgenommen worden, und ich muß sagen, diese Zusammenarbeit läßt wirklich hoffen. Herr Catenhusen, da sind wir uns vollkommen einig: Diese Zusammenarbeit zeigt, daß in der Kommission durchaus ein Konsens gefunden werden kann und wir sehr hoffnungsfreudig in diese Arbeit hineingehen können.In unserer Beschlußfassung, die j a vorliegt, haben wir ebenfalls auf die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Forschung hingewiesen, zugleich aber auch auf Konflikte, die eine falsch verstandene Freiheit gegenüber anderen Grundrechten, vor allem der Würde des Menschen, wozu auch das Recht des Menschen auf ein unmanipuliertes Erbgut gehört, heraufbeschwören könnte.
Ich zitiere in diesem Zusammenhang Eibach, der da sagt:Weil wir Menschen auch für die unbeabsichtigten negativen Nebenfolgen unseres Handelns verantwortlich sind, bedarf es der ständigen Kontrolle der Auswirkungen der Forschung auf die Gesamtheit des menschlichen Lebens und seiner Umwelt und eines immer neuen Bedenkens der Ziele der Forschung.Alle neuen Forschungsgebiete und die daraus entwickelten Technologien stellen uns vor Probleme, die die ethische Betrachtung verstärkt notwendig machen. Hierbei gilt nach wie vor Platons Definition der Ethik, die ich uns allen einmal wieder ins Gedächtnis zurückrufen möchte, nämlich als einer „Lehre von den unüberschreitbaren Grenzen des Handelns und zugleich einer Lehre von der Endlichkeit des menschlichen Wissens", die die Aufgabe hat, „zu zeigen, warum der Mensch sich selbst den Untergang bereitet, wenn er die Grenzen seines Wissens nicht sieht oder nicht anerkennen will".
Es ist nun aber nicht Aufgabe der Forschung allein festzustellen, was gut für die Menschheit ist. Diese Abgrenzung kann nur in einem kritischen Dialog möglichst vieler kompetenter Vertreter aus allen Bereichen des Lebens ermittelt werden. Wir sind daher sehr dankbar, daß die von uns angesprochenen Persönlichkeiten, die wir zu diesem Kreis zählen, ihre Bereitschaft erklärt haben, mit uns gemeinsam die Grundlage für künftige Entscheidungen des Deutschen Bundestages im Zusammenhang mit der Entwicklung der Gen-Technologie zu erarbeiten.
Ich bitte Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, der Beschlußvorlage und ebenso dem Änderungsantrag auf Drucksache 10/1693 zuzustimmen, so daß unverzüglich die Enquete-Kommission berufen werden kann. Denn die Frage nach der gesellschaftlichen Legitimation technischen Fortschritts und damit nach der Nutzanwendung naturwissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse muß politisch entschieden werden. Nur wenn der politische Charakter dieser Entscheidung allgemein akzeptiert wird und das Verfahren der Entscheidungen ihrem politischen Charakter entsprechend gestaltet wird, läßt sich der Widerstand zwischen technischer Neuerung und ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz überwinden.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hickel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wurde hier ja jetzt sehr bemüht philosophiert. Ich möchte jetzt zur Politik zurückkommen.Eigentlich müßte für uns GRÜNE hier heute aller Anlaß zu großer Befriedigung sein; denn endlich haben wir im Bundestag das Erlebnis, daß eine Anregung von uns aufgegriffen wird, die wir bereits im Herbst 1983 gegeben haben und mit der wir zunächst auf taube Ohren gestoßen sind.
Im März 1984 hat sich dann aber die SPD-Fraktion ebenfalls dazu durchgerungen, eine solche EnqueteKommission zu diesem problematischen Gebiet der Gen-Technik zu fordern, was wir sehr begrüßt haben, weil wir allein j a nicht genügend Abgeordnete dazu hätten.Heute nun wird diese Enquete-Kommission eingesetzt. Aber was ist daraus geworden?
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Frau Dr. HickelDie in der Politik allgegenwärtige Gefahr, daß man Kommissionen einsetzt, wenn man in Wirklichkeit nicht handeln will, aber der Öffentlichkeit vortäuschen möchte, daß gehandelt werde, diese Gefahr des Vortäuschens von Maßnahmen wird auch mit dieser Enquete-Kommission bis jetzt nicht ausgeräumt.
Ich kann nur hoffen, daß sich das noch ändert.Vor uns haben wir die Formulierung der Aufgaben. Die überzeugt mich aber nicht.
Es sieht so aus, als sollte diese Enquete-Kommission arbeiten, um in Wirklichkeit erst einmal alles beim alten zu lassen.
— Vergleichen Sie die ursprünglichen Anträge mit dem jetzt vorliegenden. Wenn Sie genau lesen können, dann wird Sie das nachdenklich machen.Der Antrag der GRÜNEN, einen Stopp gen-technischer Manipulationen anzustreben und so lange wirken zu lassen, bis die Folgen dieser Manipulationen in den Laboratorien von Forschung und Industrie einigermaßen überschaubar sind, wurde im Ausschuß abgeschmettert. Die Erstellung einer positiven Liste von überschaubaren und daher verantwortbaren gen-technischen Manipulationen wurde als Aufgabe für die zukünftige Enquete-Kommission ebenfalls abgelehnt, obwohl es sich hierbei endlich einmal um eine neue und längst überfällige Art des Umgangs mit gefährlichen neuen Technologien gehandelt haben würde.Die SPD-Fraktion war sich in dieser Ablehnung mit der CDU/CSU völlig einig. Was aus den Beratungen des Ausschusses für Forschung und Technologie in Form der Ihnen nun vorliegenden Beschlußempfehlung herausgekommen ist, ist ein Antrag von CDU/CSU und SPD und nicht mehr das, was zumindest Teile der SPD ursprünglich gewollt hatten, nämlich einen eigenständigen SPD-Antrag, der neue Maßstäbe in der Technologiefolgenabschätzung gesetzt hätte. Der jetzige Antrag setzt keine neuen Maßstäbe in der Technologiefolgenabschätzung.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Catenhusen?
Am Schluß meiner Rede, Herr Catenhusen. Ich komme auf Ihre Argumente noch zu sprechen.Wird hier, so frage ich mich, die große Koalition für Nordrhein-Westfalen vorbereitet? Geht hier die Planung politischer Zusammenarbeit womöglich, was ich nicht hoffen möchte, auf Kosten der biologischen Sicherheit von Mensch und Natur?
— Nein, ich bin wirklich sehr nachdenklich geworden, als Sie mit ungeheuerem Eifer und ungeheuerer Geschwindigkeit auf Vorschläge der CDU eingegangen sind,
die Ihren ursprünglichen Vorschlägen in meinen Augen entgegengesetzt waren.
Der vorliegende gemeinsame Antrag von CDU/ CSU und SPD auf Einsetzung einer Enquete-Kommission Gen-Technik läuft jetzt darauf hinaus, daß bis zum Abschluß der Kommissionsarbeit, also Ende 1986, erst einmal alles beim alten bleibt, d. h. daß sich gen-technische Manipulationen in den Forschungsinstituten und der Industrie wildwüchsig wie bisher entwickeln werden, und zwar unter den Sicherheitsbestimmungen lediglich der Zentralen Kommission für Biologische Sicherheit. Diese Sicherheit ist, wie wir im Ausschuß im März hören konnten, völlig unzureichend. Ich kann nur hoffen, daß der Druck der Öffentlichkeit während der Arbeit der Kommission dazu führen wird, daß diese Sicherheitsbestimmungen noch vor Abschluß unserer Arbeiten verschärft werden.Schwerpunkt der Kommissionsarbeit sollen sein, „Chancen und Risiken," wie auch Frau Neumeister gesagt hat, der Gen-Technik zu erörtern und „die Förderung sinnvoller Forschung" auf diesem Gebiet zu bedenken. Chancen und Risiken zu erörtern, heißt aber, sich der Illusion der Beherrschbarkeit der neuen Technologie hinzugeben. Risiken sind doch etwas, das man bei einigermaßen sorgfältigem Umgang eingrenzen, verhindern und beherrschen kann. Gerade dies ist aber angesichts der Gen-Technik außerordentlich in Frage zu stellen. Allein das, was bis jetzt bereits bekanntgeworden ist über die Entstehung von krebserregenden neuen Genen durch die Fusion von Zellen oder durch die Neukombination von DNA und was wir hören und lesen konnten über die Entstehung oder Aktivierung von latent vorhandenen, neu entstehenden, krank machenden Viren als Folge gen-technischer Manipulationen zeigt uns, daß diese Technik potentiell unbeherrschbar ist und der Begriff „Chancen und Risiken" bei weitem nicht abdeckt, was uns hier bevorsteht.
— Das ist doch die Frage der Methode in der Technikfolgenbewertung, in der hier jetzt eben keine neuen Maßstäbe gesetzt werden, wie ich es mir gewünscht hätte.
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Frau Dr. HickelDer Ausdruck „Förderung sinnvoller Forschungen", der sich jetzt in dem Antrag findet, nährt fernerhin die Illusion, daß es sinnvolle Aufgaben für die Gen-Technik geben könnte.
Anscheinend will man von Anfang an Erkenntnisse ignorieren, die besagen, daß die Anwendung gentechnischer Forschungen sinnvoll nur für die Profitrate der industriellen Produktion sein kann.
und daß die Behauptung, mit dieser Technik könnten die Menschheitsprobleme Hunger und Krankheit beherrscht oder bekämpft werden, absolut illusionär ist.
Der Hunger kann nur durch die Umverteilung von Nahrungsmitteln bekämpft werden. Gerade die ehemals hochgejubelte Grüne Revolution hat uns doch gezeigt, daß Hochleistungssorten in der Landwirtschaft nur die Abhängigkeit der Kleinbauern von den internationalen Großkonzernen vergrößern, ihre Selbständigkeit vernichten.
— Aber .sicher doch. Kennen Sie nicht die Dritte Welt und die Kleinbauern, die jetzt arbeitslos in den Suburbs der Großstädte leben?
Und sie hat auch gezeigt, daß diese Kleinbauern in die Arbeitslosigkeit getrieben werden, weil sie die teuren Produkte der Pflanzen- und Tierzüchter am Ende gar nicht bezahlen können, vor allem in der Dritten Welt, von der Sie immer sagen, daß ihre Probleme durch Gen-Technik lösbar wären.
Wenn Krankheiten durch gen-technische Methoden bekämpft werden sollen, wie man das bisher allerdings vergeblich im Hinblick auf einige Erbkrankheiten erhofft hat, kann dies allenfalls dadurch geschehen, daß die alte Krankheit zwar bekämpft wird, aber neue Krankheiten entstehen, die erst durch die Behandlung mit gen-technischen Methoden auftreten werden.
Nach der hier in der neuen Beschlußempfehlung für die Enquete-Kommission vorliegenden Aufgabenbeschreibung bleibt in deren Arbeit nach meiner Befürchtung überhaupt kein Raum für die Ein sicht, daß die Gen-Technik weder beherrschbar noch sinnvoll sein könnte.
Ich wünsche uns, daß uns diese Einsicht vielleicht doch noch kommt — oder wir wenigstens darüber diskutieren.Wenn diese Kommission nicht bloß eine Verschwendung von Steuergeldern und ein Forum für die Profilierung einzelner Fachleute sein soll — und diese Gefahr besteht doch —, wäre es unerläßlich, daß auch folgende, bisher noch ignorierte Fragen in dieser Gen-Technik-Kommission geklärt und beantwortet würden. Vor allem sind das zwei Fragen.Erstens. Welche Befunde deuten darauf hin, daß es in gen-technischen Laboratorien zum Entstehen von Krebsgenen und von neuartigen krankheitserregenden Viren kommen kann, womöglich auch schon gekommen ist? Gibt es eine Sicherheit dafür, daß eine solche Entstehung von neuen Keimen ausgeschaltet werden kann? — Ich fürchte, diese Sicherheit werden wir nicht erarbeiten können.Zweitens: Welches sind die Vorteile der konventionellen Pflanzen- und Tierzüchtung gegenüber der gen-technischen Methode, gerade auch im Hinblick auf die Ernährung der Bevölkerung in der Dritten Welt? Für diese Frage ist bisher niemand in der Kommission zuständig, selbst nicht nach der Erhöhung auf acht Experten. Ich kann nur dringend fordern, diesen Mangel durch auswärtige Gutachter auszugleichen. Das sollte möglich sein.Wenn wir den Blick für die Alternativen verlieren und die Gen-Technik von vornherein als unvermeidlich hinstellen, ist die Kommission überflüssig, und wir werden in 20 Jahren vor einem biologischen Fiasko stehen, so wie wir heute vor dem atomaren stehen, mit dem uns unsere Atomkraftwerke und Atomraketen bedrohen. — Bitte schön!
Verzeihen Sie, Frau Kollegin, ich muß Sie bitten, zum Ende zu kommen.
Ich bin zu Ende. Geht die Frage noch?
Herr Catenhusen, bitte schön.
Frau Dr. Hickel, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß eine Abwägung von Chancen und Risiken sicherlich nicht nur für mich, sondern für viele andere Kollegen in diesem Hause einen offenen Abwägungsprozeß bedeutet, an dessen Ende auch eine Erkenntnis stehen kann, daß wegen prinzipieller Nichtbeherrschbarkeit eine oder mehrere Anwendungsmöglichkeiten dieser Technik auszuschließen sind? Sind Sie ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß eine Enquete-Kommission nur dann sinnvoll ist, wenn die erkennbar vorhandenen unterschiedlichen Positionen in der Gesellschaft in einem offenen Dialog miteinander abgewogen werden können? Ich möchte als letztes die Frage stellen: Frau Hickel, sind Sie nicht
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Catenhuseneigentlich nach dieser Rede der Meinung, daß Sie auf Ihre Teilnahme an der Enquete-Kommission verzichten und bei Ihrer ursprünglichen Position bleiben sollten, die Sie in den Haushaltsberatungen im Forschungsausschuß vertreten haben in der Form, daß Sie dort gefordert haben, daß die gentechnologische Forschung grundsätzlich gestoppt werden soll?
Herr Kollege, die Fragen sollen kurz und präzise sein. Es ist der Rednerin kaum möglich, auf diese Fragen in der einen Minute, die sie höchstens noch hat, zu antworten.
— Hervorragend.
— Eine Minute.
Zu dem zweiten und dritten Punkt möchte ich sagen, daß ich diese Enquete-Kommission im Sinne des Ausgleichs der Meinungen und der offenen Diskussion begrüße und deswegen daran teilnehmen möchte. Zu dem ersten Punkt muß ich sagen, wenn das wirklich Ihre Meinung und die Meinung Ihrer Fraktion oder auch der ganzen Enquete-Kommission ist, daß diese Möglichkeit offen sein sollte, dann nehme ich das hier gerne zur Kenntnis und zu Protokoll.
Das Wort hat der Abgeordnete Kohn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen Partei begrüßt und unterstützt nachdrücklich die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages über Chancen und Risiken der Gen-Technologie. Wir tun dies in der Überzeugung, daß eine breit angelegte ergebnisoffene Diskussion mit allen interessierten Bürgern einsetzen muß, denn mit kaum einer anderen technologischen Entwicklung verbinden sich in gleicher Weise Erwartungen und Befürchtungen, aber auch Hoffnungen und Ängste unserer Mitbürger. Ich spreche mit Absicht von einer ergebnisoffenen Diskussion, denn wir haben leider auch gerade eben wieder in diesem Hause Versuche registrieren müssen, die Ergebnisse der Untersuchung durch einschränkende Formulierungen der Aufgabe der Enquete-Kommission vorwegzunehmen.Jede Epoche wird maßgeblich charakterisiert durch ihre Schlüsseltechnologien. Die Gen-Technologie ist zweifellos eine solche Schlüsseltechnologie, die allergrößte Bedeutung für unser Leben erlangen wird. Das gilt für die Bereiche der Ernährung der Weltbevölkerung, es gilt für den Umweltschutz, für die Medizin, für die Gewinnung von Rohstoffen und Energie, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Anwendungsfelder mögen einen Eindruck vermitteln von den Chancen, die in dieser Technologie liegen.Um so schwerwiegender ist es, daß wir Europäer nach Aussage eines führenden amerikanischen Wissenschaftlers, Professor Robert Tjian, fünf Jahre hinter den Vereinigten Staaten zurückliegen, auch mit all den ökonomischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben können. Die Kommission hat deshalb die Aufgabe, Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung gen-technologischer Forschung aufzuzeigen. Wir dürfen aber auch nicht die Augen verschließen vor den Gefährdungen, die mit der Gen-Technologie einhergehen können.Ein wichtiges Ergebnis der Werturteilsdebatte ist die Einsicht, daß wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt an sich weder gut noch böse ist. Das moralisch-ethische Problem ergibt sich allein aus dem Gebrauch, den wir Menschen von unserem neuen, erweiterten Wissen machen. Die Möglichkeiten der Genmanipulation sind besonders eindringliche Beispiele für diesen Sachverhalt, denn hier stoßen wir an Kernfragen menschlicher Existenz und menschlicher Würde.Aus diesem Grunde habe ich bei den Beratungen über den Arbeitsauftrag der Enquete-Kommission darauf gedrängt, dem Grenzbereich der gen-technologischen Anwendung beim Menschen unter ethischen Aspekten besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Auf den Erkenntnisfortschritt mit Technikfeindlichkeit, mit der Haltung moderner Maschinenstürmerei zu reagieren, wäre falsch, aber ebenso falsch wäre es, blindlings und unreflektiert die Dinge einfach treiben zu lassen. Wir wollen die Freiheit von Wissenschaft und Forschung nicht in Frage stellen, aber in einem demokratisch verfaßten Gemeinwesen ist die Akzeptanz neuer Technologien von besonderer Bedeutung. Zu Recht hat deshalb Professor Laermann bei der ersten Beratung von dieser Stelle aus gesagt — ich zitiere —:Behinderung der freien Entfaltung wissenschaftlicher Kreativität muß um so eher zu befürchten sein, je weniger es denen, die politische und wissenschaftliche Verantwortung tragen, gelingt, rechtzeitig und glaubhaft darzustellen, daß die drängenden Fragen der Menschen aufgenommen und beantwortet werden müssen.Die Kommission soll deshalb nach unserer Auffassung mögliche Zielkonflikte zwischen der grundgesetzlich garantierten Freiheit der Forschung und anderen Grundrechten untersuchen, Kriterien für die Grenzen der Anwendung neuer biologischer Methoden auf menschliche Zellen und den Menschen insgesamt erarbeiten sowie Kriterien für Richtlinien und Sicherheitsstandards beim industriellen Einsatz gen-technologischer Verfahren aufzeigen.Uns Liberalen geht es darum, die Balance zwischen der Notwendigkeit der Erhaltung unserer wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungs-
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Kohnfähigkeit einerseits und dem Erfordernis der ethischen Verantwortbarkeit unseres Handelns andererseits zu finden. Einfache Lösungen dieser Aufgabe sind wohlfeil, aber sie führen nicht weiter. Machen wir uns deshalb an die Arbeit, einen aufklärenden und konstruktiven Diskussionsprozeß in Gang zu setzen. Machen wir uns an die Arbeit, ein Stück Zukunft zu gewinnen.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Zuerst stimmen wir über den interfraktionellen Änderungsantrag auf Drucksache 10/1693 ab. Wer diesem Antrag zustimmen will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Der Antrag ist bei einigen Enthaltungen angenommen.
Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Forschung und Technologie auf Drucksache 10/1581 mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. . Enthaltungen? — Die Beschlußempfehlung des Ausschusses mit der Änderung ist bei wenigen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe Punkt 46 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Bedarfgegenständegesetzes
— Drucksache 10/1361 —
Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit
— Drucksache 10/1684 —
Berichtstatter:
Abgeordneter Kroll-Schlüter
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Aussprache gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die §§ 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Ich sehe weder Gegenstimmen noch Enthaltungen. Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Offenbar niemand. Wer möchte sich der Stimme enthalten? — Auch niemand. Das Gesetz ist damit angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft zu der Verordnung der Bundesregierung
Aufhebbare Zweiundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste
— Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung —
— Drucksachen 10/1446, 10/1677 —
Berichterstatter: Abgeordneter Reuschenbach
Der Ausschuß empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung nicht zu verlangen. Wird dazu das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 10/1677 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Niemand. Enthaltungen? — Bei einigen Enthaltungen ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Meine Damen, meine Herren, wir sind damit am Schluß der Tagesordnung, aber nicht ganz am Schluß der Sitzung. Der Deutsche Bundestag tagt am kommenden Sonntag, dem 1. Juli, um 11.00 Uhr zusammen mit dem Bundesrat. Die vorgesehene Sitzung findet gemäß Art. 56 des Grundgesetzes statt.
Ich möchte wegen sehr zahlreicher Anfragen aus der Bevölkerung darauf hinweisen, daß wir nicht die Absicht haben, künftig sonntags zu arbeiten, sondern daß eine gesetzliche Vorschrift uns zwingt, am 1. Juli, dem Tag des Amtsantritts des neuen Bundespräsidenten, die Vereidigung vorzunehmen. Das ist zwingenden Rechts. Nur aus diesem Grunde wird der Deutsche Bundestag zusammen mit dem Bundesrat hier arbeiten.
Sie sind darüber unterrichtet, daß besondere Transportmöglichkeiten für diese Sonntagssitzung geschaffen worden sind.
Wir sind am Ende mit unserer Arbeit eines etwas turbulenten und manchmal auch hektischen Halbjahres. Ich hoffe, daß wir soviel Kraft schöpfen, daß wir hier im nächsten Halbjahr wieder mit Wort und Widerwort ringen können.
Die Sitzung ist geschlossen.