Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 22 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Initiative des Europäischen Parlaments zur Gründung der Europäischen Union
— Drucksache 10/1247 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. — Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Begründung wird nicht erbeten. Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hellwig.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag, den wir jetzt beraten, ist einer der ganz wenigen in diesem Parlament, die — insbesondere seit den Neuwahlen im letzten Jahr — tatsächlich von allen Fraktionen einschließlich der GRÜNEN einstimmig eingebracht werden.
— Sehr gut; ich sagte ja: Es ist einer der ganz wenigen Anträge. Wenn heute noch ein zweiter Antrag gemeinsam eingebracht wird, ist heute der Tag der großen Einigkeit.Worum geht es in diesem Antrag? Das Straßburger Parlament, also das Parlament der Europäischen Gemeinschaft — es wurde, wie Sie alle wissen, 1979 zum erstenmal in direkter Wahl von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählt und steht jetzt am 17. Juni zur Wiederwahl an —, hat erst vor sehr kurzer Zeit, nämlich am 14. Februar 1984, einen neuen Verfassungsentwurf — es nennt ihn ein wenig bescheidener einen Vertrag zur Gründung der Europäischen Union — mit großer Mehrheit verabschiedet und gleichzeitig mit der Verabschiedung dieses Entwurfs die Bitte an die nationalenParlamente ausgesprochen, sie mögen sich mit diesem Entwurf doch befassen und ihrerseits Stellung dazu nehmen.In der letzten Woche hat sich die Europakommission des Bundestages — je zur Hälfte zusammengesetzt aus Bundestagsabgeordneten und Europaabgeordneten aller Parteien — bereits in einer ersten Sitzung mit diesem Entwurf befaßt. Sie ist dabei zu einer verfahrensmäßigen Empfehlung an den Bundestag gekommen, nämlich die Stellungnahme, die das Europäische Parlament erbeten hat, doch möglichst binnen eines Jahres abzugeben, d. h. sich nicht allzuviel Zeit damit zu lassen.Die Europakommission macht dem Parlament gleichzeitig einen Vorschlag. Sie ist bereit, nach den Wahlen am 17. Juni einzuladen. Unsere Bitte geht an alle Ausschüsse — denn wir vermuten, daß sich alle Ausschüsse mit diesem Entwurf zu befassen haben —, doch möglichst bald Berichterstatter zu benennen. Wir möchten eine Informationssitzung durchführen, in der die deutschen Abgeordneten aller Parteien des Europäischen Parlaments diesen Verfassungsentwurf im einzelnen erläutern und gleichzeitig auch sein mühseliges Zustandekommen im Europäischen Parlament darstellen, um uns, den Bundestagsabgeordneten, die nötige Achtung vor der Leistung des Europäischen Parlaments abzuringen. Dies sage ich zu Recht.Meine Damen und Herren, auch wenn die Präsenz im Plenum nicht darauf schließen läßt, so glaube ich doch, daß dies ein Markstein in der Geschichte der europäischen Einigung ist. Es wird sich in einem Jahr herausstellen, ob dies wirklich ein Markstein war, ob es ein Schritt nach vorn oder ein Schritt zurück in der Frage der politischen Einigung war. Obwohl wir als die Volksvertreter im Bundestag eigentlich gewöhnt sind, uns nur mit Bundesangelegenheiten zu befassen, und auch zu diesem Zweck gewählt sind, sollen und müssen wir hier einmal über uns hinausschauen. Wir sind seit Einbringung dieses Vertrages nicht mehr nur Zuschauer der europäischen Szene, die mehr oder weniger belustigt feststellen können, wie mühselig Einigungen auf europäischer Ebene sind, sondern wir haben jetzt eine große Verantwortung. Das deutsche Volk gilt zu Recht als eines der europafreund-
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4784 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Frau Dr. Hellwiglichsten. Dieses deutsche Volk ist aber genauso wie wahrscheinlich alle anderen Völker unmutig darüber, daß der Entscheidungsprozeß auf europäischer Ebene überhaupt nicht vorankommt.
— Natürlich mit Recht. Aber den Schlüssel zu Verbesserungen haben wir ab heute in der Hand. Deswegen möchte ich nicht zuletzt Ihnen, aber auch den Zuhörern in unserem Volk sagen, warum es eigentlich gar kein Wunder ist, daß europäische Entscheidungen nicht vorankommen.
Ich nehme eine Parallele aus unserem Bereich. Stellen Sie sich einmal vor, das Gesetzgebungsverfahren hier, auf Bundesebene, wäre so wie auf Europaebene organisiert. Was würde das bedeuten? Wir als Bundestag wären ein mehr oder weniger unbedeutendes Beratungsgremium, auf dessen Vorschläge man nicht hören muß. Das ist das traurige Schicksal, das das Europäische Parlament bis heute noch hat. Der Bundesrat wäre allein das Gesetzgebungsorgan, und Gesetze kämen überhaupt nur zustande, wenn sie der Bundesrat einstimmig beschließen würde. Ich denke an meine Schwaben, an das Land Baden-Württemberg, die sich sofort als Nettozahler empfinden und ihren Ministerpräsidenten Späth geradezu mit dem Auftrag in den Bundesrat schicken würden, j a nicht einem Gesetz zuzustimmen, das das Land Baden-Württemberg zu teuer kommt. Herr Kollege, ich glaube, die Bayern wären sehr oft in der gleichen Lage. Dann hätten wir genau diesen entsetzlichen Entscheidungsprozeß wie auf europäischer Ebene, daß die Ministerpräsidenten nach Bonn anreisen, hier große Presseerklärungen abgeben würden, warum sie leider, obwohl sie es doch gern getan hätten, diesem Bundesgesetz nicht zustimmen könnten, weil es unbedingt noch einer weiteren Abklärung der Finanzierungsfrage bedürfe. Wenn sie dann nach Hause gefahren sind, würden wir hier im Bundestag beklagen, daß es mit den Bundesgesetzen nicht vorangeht.Das ist genau die Situation, in der sich Europa heute befindet. Die Kommission kann man in etwa mit der Bundesregierung vergleichen. Schon vor vielen Jahren, 1968, habe ich ein Jahr lang in dieser Kommission mitgearbeitet. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie frustrierend es ist, nur für den Papierkorb zu arbeiten. Wenn Sie Gesetzesvorlagen, Entscheidungsentwürfe machen, die dann jedesmal vom Ministerrat — das wäre in meinem Beispiel der Bundesrat — nicht gebilligt werden, dann landen sie früher oder später im Papierkorb.Ich erlebe jetzt im Finanzausschuß des Bundestages Richtlinienvorschläge zu Finanzierungsfragen, die zehn Jahre alt sind, die seit sage und schreibe zehn Jahren über den Tisch hin- und hergeschoben werden, ohne daß darüber entschieden wird. Ich bin überzeugt davon, daß auch wir hier im Bundestag verzweifeln würden, wenn das hier so wäre.Warum erzähle ich Ihnen das so ausführlich? Ich tue das, weil ich um das Mitgefühl unserer Bundestagsabgeordneten für unsere Kollegen im Europäischen Parlament werbe; denn nur wenn wir ein entsprechendes Mitgefühl aufbringen, werden wir in der Lage sein, diesen Verfassungsentwurf angemessen zu behandeln.Die ersten Stellungnahmen, die ich dazu lese, lassen mich etwas unruhig werden. In diesen Stellungnahmen steht nämlich: Soweit in diesem Entwurf deutsches Recht nicht berücksichtigt ist, handelt es sich um Fremdkörper, die entfernt werden müssen. Wenn unsere Stellungnahme am Schluß so aussieht, daß wir zu allem ja sagen, was genau deutschem Recht entspricht, und zu allem nein sagen, was italienischem, französischem oder englischem Recht enspricht, müssen wir davon ausgehen, daß das auch die anderen Parlamente so machen werden, und dann bekommt das Europäische Parlament nach einem Jahr einen zerfetzten Entwurf zurück, und der heutige Tag war nicht ein Markstein pro europäische Einigung, sondern er war ein Markstein kontra europäische Einigung. Ich glaube, daß wir uns das nicht leisten können, nicht leisten sollten.Deswegen geht unsere Empfehlung noch einen Schritt weiter. Wir empfehlen, daß konstruktive Stellungnahmen, bevor sie endgültig abgegeben werden, daraufhin abgeklopft werden, wie die anderen nationalen Parlamente darüber denken. Wir als Europakommission sind bereit, diese ständige Verbindung zu den anderen Parlamenten — zum englischen, zum französischen, zum italienischen Parlament, zu den Benelux-Parlamenten — aufrechtzuerhalten und in die Ausschüsse hinein die Nachricht zu geben, was diese von unseren Änderungsvorschlägen halten, damit konstruktive Vorschläge erarbeitet werden.Ich möchte in einem weiteren wichtigen Punkt Ihren Ehrgeiz anstacheln, meine Damen und Herren. Die Regierungschefs haben vor, noch in diesem Jahr nach dem Beispiel der Konferenz von Messina, die damals die Römischen Verträge erarbeitet hat, eine Konferenz aus Sachverständigen, aus hohen Regierungsbeamten, zusammenzurufen, die einen neuen Verfassungsentwurf erarbeiten soll. Meine Damen und Herren, in dieser Konferenz werden sich vielleicht auch Abgeordnete, aber nur wenige, befinden. Dann werden wir nach einem Jahr von Sachverständigen gesagt bekommen, wofür wir noch zuständig sein sollen und wofür in Zukunft das Europäische Parlament zuständig sein soll. Bevor wir das anderen überlassen, müßte unser Stolz eigentlich darauf gerichtet sein, diese Abgrenzungsarbeit in diesem Bundestag selber zu leisten.Ich weiß, meine Damen und Herren, was ich Ihnen damit zumute; denn ich weiß, die Alltagsarbeit belastet uns genug.Ein Kollege sagte mir vor einiger Zeit hier in den Wandelgängen: Theoretisch bin ich für Europa, aber praktisch habe ich leider keine Zeit dazu. Ich hoffe nicht, daß dies das Prinzip bei den Beratungen dieses Verfassungsentwurfs sein wird. Ich hof-
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Frau Dr. Hellwigfe, daß wir nicht nur theoretisch für Europa sind, sondern auch praktisch erkennen, daß uns hier der Windhauch der Geschichte streift. Nur dann, wenn wir der Aufgabe, die uns hier gestellt wird, angemessen gerecht werden, werden wir auch vor unseren Nachfahren bestehen können. Sie werden uns nämlich für schreckliche Spießbürger halten, wenn wir sagen: Für Europa hatten wir keine Zeit, wir konnten uns nur mit unseren nationalen Problemen beschäftigen.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Meine Damen und Herren, auf der Diplomatentribüne haben mit einer Delegation der Demokratischen Partei Kollegen der Nationalversammlung der Republik Uganda Platz genommen. Wir begrüßen Sie sehr herzlich und wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt in unserem Land.
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Antretter.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mancher wird sich heute fragen, ob denn die Debatte über einen Vertrag, der die Vereinigten Staaten von Europa vorsieht, in die gegenwärtige Landschaft paßt und ob nach dem jüngsten Brüsseler Debakel für Europa überhaupt noch etwas zu bewirken ist.In der Tat bewegen sich die europäischen Nationen gegenwärtig leider nicht gerade aufeinander zu. Es wird gewiß schwer sein, jene Europabegeisterung wieder zu wecken, die in den zehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg spürbar wurde und die in jenem Ereignis Ausdruck gefunden hat, das Carlo Schmid in seinen Erinnerungen anläßlich der ersten Reise einer deutschen Delegation zum Europarat nach Straßburg beschreibt: Viele Jugendverbände der Europa-Union und auch sonstige politisch interessierte Gruppen aus Deutschland hatten sich auf den Weg nach Straßburg gemacht, um begeisterte Zeugen eines großen Augenblicks der Weltgeschichte zu werden. So Carlo Schmid.Mit einer spektakulären Aktion wollten sie den Alten zeigen, wie man es anstellt, eine neue Zeit heraufzuführen. Junge Deutsche, Franzosen, Belgier und Holländer rissen an der deutsch-französischen Grenze Schlagbäume ein und verbrannten sie. Weder Polizei noch Gendarmerie oder Zöllner haben sie daran gehindert.Wir wissen, meine Damen und Herren, wie es weitergegangen ist: Am nächsten Tag standen die Schlagbäume wieder an der alten Stelle.Europa ist dennoch vorangekommen. Was ein vereinigtes Europa vor allem verhindern sollte, nämlich die weitere Selbstzerfleischung der Völker unseres Kontinents, ist gelungen.Was die Gemeinschaft ökonomisch ereichen sollte, hat sie zu einem beträchtlichen Teil zuwege gebracht: einen großen Gemeinsamen Markt für über 250 Millionen Menschen, einen bis dahin ungekannten Austausch von Dienstleistungen, Waren, Kapitalien, der allen Völkern zugute gekommen ist.Aber die politische Stärke, die sich aus dieser wirtschaftlichen Macht ergeben könnte, ist nach wie vor unterentwickelt. Heute brauchen wir deshalb dringender denn je als Ergänzung zur Wirtschaftsgemeinschaft auch die politische Gemeinschaft der Europäer. Die Selbstbehauptung Europas als Kulturgemeinschaft, als Kontinent der Freiheit und Demokratie und als Friedensmacht verlangt diese politische Einigung. Wir brauchen sie aber auch, weil die Bürger angesichts der jüngsten Gipfeltragödien allmählich lustlos werden und sich in den Ländern der Gemeinschaft Europamüdigkeit breitmacht.Ich glaube, noch ist es nicht zu spät. Umfragen versichern, daß die Mehrheit der Europäer nach wie vor die politische Einigung will. Insoweit ist das europäische Bewußtsein des Bürgers dem Handeln der Politiker um einiges voraus. Ich füge hinzu: Die Politiker werden ihrer geschichtlichen Verantwortung nicht gerecht werden, wenn sie es nicht schaffen, aus dieser Bejahung der politischen Einigung Europas durch die Bürger auch politische Wirklichkeit werden zu lassen. Wir dürfen diesen Kredit nicht verspielen, zumal viele Hoffnungen auf den Alltagsfeldern der Politik enttäuscht wurden.Nehmen wir z. B. das Kernstück, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Wie sieht denn der europäische Arbeitsmarkt aus? Über 12 Millionen arbeitslose Menschen im Januar 1984 und eine beängstigend ansteigende Jugendarbeitslosigkeit. In Italien liegt sie derzeit bereits über 50 %. Das Statistische Amt der EG schätzt, daß jeder dritte arbeitlose Mann und jede zweite arbeitslose Frau unter 25 Jahre alt sind.Oder eine europäische Verkehrspolitik: Gibt es sie denn überhaupt? Man weiß doch, daß unsere Autobahnen für jedermann gebührenfrei sind, während umgekehrt deutsche Touristen von unseren Nachbarn durchaus zur Kasse gebeten werden.Oder eine europäische Umweltschutzpolitik: Wer glaubt eigentlich noch an die oft genug versprochene Initiative gegen den sauren Regen, die unsere Wälder retten soll? Was sich die Kommission vorgestern geleistet hat, ist an Trostlosigkeit fast nicht mehr zu überbieten. Während das Europäische Parlament im vergangenen Jahr die Einführung des bleifreien Benzins ab 1. Januar 1986 und eine drastische Senkung der Abgasgrenzwerte beschlossen hat, konnte sich die Kommission auch in dieser wichtigen Frage vor dem Hintergrund eines katastrophalen Zustands unserer Wälder nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag einigen.Das zeigt, meine ich, sehr deutlich, daß weder Ministerrat noch Kommission zu vorwärtsweisenden Entscheidungen fähig sind und daß jetzt der Moment gekommen ist, die Gemeinschaft durch eine Demokratisierung, also durch mehr Kompe-
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Antrettertenzen für das Parlament, wieder entscheidungsfähig zu machen.
Da es sich um einen gemeinsamen Antrag handelt, darf ich das, was ich kritisch in Richtung Bundesregierung zu sagen habe, mit sanfter Stimme sagen. Da reicht es auch nicht aus, in Sonntagsreden für die Erweiterung der Rechte des Parlaments einzutreten und am Montag beim politischen Handeln diese Postulate gleich selbst wieder der Lächerlichkeit preiszugeben, indem man in Brüssel eher für die Aushöhlung der Rechte stimmt, indem man sich z. B. an Beschlüssen beteiligt wie dem zur Haushaltsdisziplin, der eher zu einer Verschlechterung der Möglichkeiten des Parlaments als zu einer Verbesserung führt. Und dann hören wir aus Europa auch noch, hier sei die Bundesregierung eher Schrittmacher gewesen.Der vorliegende Entwurf will die Rechte des Parlaments bei Gesetzgebung und Verwaltungskontrolle verstärken. Daß das notwendig ist, haben auch die zurückliegenden Gipfel deutlich gemacht. Sie sind ja nicht deswegen gescheitert, weil es am guten Willen der Staats- und Regierungschefs gefehlt hätte, sondern deshalb, weil sie einfach überfordert waren, gleichzeitig nationale und Gemeinschaftsinteressen zu vertreten. Dieser Widerspruch ist doch das Hauptelement für die Entscheidungsunfähigkeit des Rates. Man kann von den Ministern j a kaum verlangen, daß sie ihre nationale Bindung aufgeben und plötzlich ein internationales, ein gemeinschaftliches Gewand anlegen, zumal sie auch nicht international, sondern innerhalb ihrer nationalen Grenzen gewählt werden. Weil man das nicht verlangen kann, sind Verträge und Strukturen notwendig, die das gemeinschaftliche europäische Interesse auch institutionell verankern.Meine Damen und Herren, der Vertragsentwurf macht auch deutlich, daß Europa einen Beitrag zu Frieden und Entspannung in der Welt zu leisten hat, und dies ist gut so. Denn die Bürger wollen wissen, wohin die Reise geht. Vor allem die jungen Menschen fasziniert nicht die Debatte darüber, welche Budgetregelung am zweckmäßigsten ist. Sie wollen vielmehr wissen, wie die europäischen Interessen hinsichtlich Sicherheit, Entspannung und Abrüstung beim atomaren Schach der Supermächte vertreten werden. Sie engagieren sich — wir registrieren dies dankbar — für Frieden, Umweltschutz und Gerechtigkeit — hier und in der Dritten Welt. Sie wollen mitbestimmen und begreifen von daher eben am ehesten, daß der politische Zusammenschluß überlebensnotwendig ist.Wir Sozialdemokraten sagen zum Ziel der Europäischen Union ja. Wir sind für die Kompetenzerweiterung des Parlaments, damit es die Chance erhält, aus dem Europa der Ministerialbürokratie ein Europa der Bürger zu machen.
Gewiß werden wir noch einige Positionen zu klären haben. Vieles von dem z. B., was in der Gemeinschaft heute krankt, hängt mit institutionellenMängeln zusammen. Dazu gehört das im Ministerrat praktizierte Einstimmigkeitsprinzip, das den Rat in den meisten Fragen handlungsunfähig macht und ihn als Bremsklotz der europäischen Einigung erscheinen läßt. Wir finden es deshalb nicht gut, daß das aus dem Luxemburger Kompromiß erwachsene Vetorecht der Mitgliedstaaten im Vertrag erstmals sozusagen fast Vertragsrang erhalten soll.Aber, meine Damen und Herren, dies kann man alles ändern. Wichtig ist: Nach all den Jahren des Überdrusses an der Überflußdebatte über Milch, Butter, Wein und Oliven ist dieser Vertragsentwurf ein ermutigender Schritt in eine gute Richtung.
Denn wir alle, meine Damen und Herren, wollen doch Europa, wollen die Vereinigten Staaten von Europa. Ob wir sie bekommen, hängt allerdings auch davon ab, ob wir die politische Kraft und den Mut aufbringen, den diese historische Leistung von uns verlangt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ertl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! — Guten Morgen, Herr Vorsitzender. Ich freue mich, Sie so glücklich zu sehen,
einen Landsmann. Die Niederbayern werden sich freuen, ihn wiederzusehen — ihren Vogel.
— Das gehört zu Niederbayern.
— Da wird sich der Franz Josef recht freuen.
— Ja, Herr Vorsitzender, wir wollen jetzt über Niederbayern zu Europa kommen.
Das tut auch dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion ganz gut. —Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es soll keine kritische Bemerkung sein, wenn ich am Anfang sage: Der Entwurf — spät kam er, aber er kam noch nicht zu spät. Ich sage ganz freimütig: Ich hätte mir gewünscht, daß die vor vier Jahren direkt gewählten Vertreter unverzüglich an das Werk einer europäischen Verfassung herangegangen wären. Aber das soll keine Kritik sein. Im Leben ist es
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984 4787
Ertlimmer so: Das, was noch nicht erreicht ist, kann noch erreicht werden.Mein Herr Vorredner hat einige Bemerkungen zur Bundesregierung gemacht. Nun, die Bundesregierung hat mit ihrer Deklaration zur Europäischen Union — ich habe sie extra mitgebracht —, veröffentlicht im Bulletin vom 21. Juni 1983, zumindest einen, wie ich meine, sehr konstruktiven und nützlichen Beitrag geleistet. Wenn sich das in der Verfassungswirklichkeit so ungefähr niederschlagen würde, wären wir einen Schritt weiter.Mein verehrter Vorredner, Herr Antretter, hat die übliche Europa-Rede gehalten: das große Bekenntnis zu Europa. Und die Rede endete natürlich mit dem Fluch der Welt: des Milchsees, des Weinsees, der Butterberge. Ich sage ganz provozierend: Ich wünsche Ihnen immer, daß Sie mit Überschüssen leben und niemals mehr eine andere Situation Wiedererleben.
Es war scheinheilig, sehr scheinheilig, wie hier gestern abend zu später Stunde in der Debatte über die deutsche humanitäre Hilfe im Ausland über dieses Problem diskutiert wurde.
Es ist nicht nur scheinheilig, es ist sogar moralisch verwerflich. Lassen Sie mich etwas zu der Sache sagen. Sie werden sich nämlich täuschen, verehrter Freund. Es tut mir leid, ich muß noch etwas zu der Agrarsache sagen. Das wollte ich gar nicht. Sie werden in subtropischen Gebieten nicht dieselben Produkte landwirtschaftlicher Art produzieren können wie in gemäßigtem Klima. Aber selbst über solche, eigentlich normale Volksschulgeographiekenntnisse muß man offensichtlich im Deutschen Bundestag diskutieren.Nun, meine Freunde, ich will ein Zweites hinzufügen. Vielleicht wäre das auch der Zeitpunkt einer Bestandsaufnahme: Was haben wir erreicht? Was wollen wir erreichen, wie können wir es erreichen? Das gilt für alle Bereiche, die die europäische Politik umfassen.Ich habe mir die Geschichte noch einmal durchgeschaut und konnte dabei feststellen, das Motto der 50er Jahre war: Frieden, Sicherheit, Wohlstand. Ich stelle fest: Frieden, Sicherheit und Wohlstand sind durch diese Gemeinschaft gestärkt, verbessert worden. Der Frieden in Europa ist sicherer geworden.
Eine Entspannungspolitik wäre in Europa ohne die Europäische Gemeinschaft nicht möglich.
Die Sicherheit ist größer geworden, weil die Solidarität von 270 Millionen Menschen in einer demokratischen Gemeinschaft — wie wir hoffen, demnächst von 300 Millionen — erheblich zur Stabilität in Europa und darüber hinaus in der gesamten Welt beiträgt. Eine friedliche Lösung im Nahen Osten, einelangfristige Lösung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Afrika ist ohne Aktivität der Europäischen Gemeinschaft nicht möglich. Der Wohlstand ist für alle größer geworden.Es wurde zuvor mit Recht von Herrn Antretter beklagt: 12 Millionen Arbeitslose. Wir bezahlen das alles. Ich sage, ohne die Europäische Gemeinschaft wäre es ein Vielfaches. In unserem Land wären es 3 Millionen. Das sage ich auch im Hinblick darauf, daß unsere Diskussion hier in Deutschland vom Stichwort „Zahlmeisterrolle" beherrscht wird. Dabei vergessen wir, welches Geschäft wir seit Jahrzehnten machen und daß wir durch diese Europäische Gemeinschaft mindestens 500 000 zusätzliche Arbeitsplätze gesichert haben.
— Ich bin ein vorsichtiger Mann. Ich sage: Ohne die Gemeinschaft hätten wir 3 Millionen Arbeitslose. Ich habe erst kürzlich im Ausschuß Herrn Voigt darauf aufmerksam gemacht, es könnte in dieser Europäischen Gemeinschaft ein Partnerland auf die Idee kommen und sagen: Wir wollen auch eine andere Industriepolitik. Dann würde es bei uns wirklich ernst, denn dann wären bei uns nicht nur Unternehmen, sondern mit den Unternehmen Hunderttausende, wenn nicht gar mehr, Arbeitsplätze gefährdet.Ich glaube, dies alles sollten wir rückschauend sehen. Nichtsdestoweniger muß für die Gemeinschaft gelten: Leben und leben lassen. Für uns Bayern ist das sowieso eine Selbstverständlichkeit, für andere ist das immer ein Lernsatz, für Briten ein besonders notwendiger Lernsatz. Ich habe mir gestern noch einmal die Mühe gemacht — ich würde auch die Bundesregierung bitten, das zu tun —, die Römischen Verträge bezüglich der Vertragsnormen bei der Finanzierung durchzusehen. Die Briten sind beim Beitritt privilegiert behandelt worden und haben im Verhältnis zu Italien einen stark ermäßigten Schlüsselsatz. Ich glaube, auch das muß hier einmal gesagt werden. Ich kann im Moment nicht beurteilen, wie die Relation zum Bruttosozialprodukt ist. Da fehlen mir die Zahlen, aber es wäre gut, wenn wir das einmal im Ausschuß behandeln würden. Dieses Europa wird nur leben und zu einer politischen Union zusammenwachsen können, wenn jeder bereit ist, seinen Anteil entsprechend zu geben, und zum Geben gehört auch, daß er entsprechend etwas zurückbekommt. Dies muß für alle gelten.Lassen Sie mich zusammenfassend folgendes feststellen: Ich glaube, wir sollten ganz nüchtern Bilanz ziehen, im positiven wie im negativen. Wir sollten dabei eine Lösung finden, wie die zurückgebliebenen Gebiete Anschluß finden. Wir sollten vor allem eine Verfassungsform finden, in der es neben Ministerrat und Kommission ein voll funktionsfähiges und beschlußfähiges Parlament gibt, und zwar mit allen Konsequenzen, d. h. auch mit einem Souveränitätsverzicht von nationalen Regierungen und nationalen Parlamenten.
Das ist die ganz klare Konsequenz!
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4788 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
ErtlDazu wiederum sage ich Ihnen aus unserer Sicht, aus der Sicht der Freien Demokraten: Unserer Meinung nach kann das nur ein demokratisch-liberales Europa sein.
— Nein, ein sozialistisches kann es gar nicht sein, weil der Sozialismus nicht der Vielfalt der Menschheit gerecht wird, weil er nur ein ideologisch geprägtes Gesicht trägt.
Nein, es müssen alle Platz haben, es müssen Leute Platz haben, die als Sozialisten ihre Ideologie heiß verteidigen, aber ebenso auch Leute, die wissen, daß Ideologie immer ein Irrweg ist, schon deshalb, weil sie beinahe ein Glaubenssatz ist.
— Bitte? Was hast du mit meinem Freund Lambsdorff, Horst?
— Ich muß schon sagen , im Sinne der Menschheit ist seine Ideologie ganz nützlich!
— Das ist anders als beim Sozialismus. Der Sozialismus ist nämlich eine Ideologie für Funktionäre, und die mag ich nicht.
— Ja, fahren Sie doch hinüber! Sie sind doch so gerne in Ost-Berlin. Schauen Sie sich doch da die Verhältnisse an, Volk und Führung!
Aber das geht jetzt zu sehr von meiner Zeit ab.
Sie haben noch eine halbe Minute.
Zwar bin ich jetzt unterbrochen worden, aber wegen des Zurufs Ihres kommenden stellvertretenden Parteivorsitzenden kann ich diese Bemerkung natürlich nicht auslassen: Ich bin sehr erfreut darüber, daß Franz Josef Strauß inzwischen seinen christlichen Segen auch Honecker erteilt hat; das ist natürlich ein hervorragender Bildungsprozeß gewesen, den wir alle nur begrüßen können.
Da sehen Sie, was eine Wende alles möglich macht!
Verehrte Frau Präsidentin, drei Schlußbemerkungen: Ich sage noch einmal, es kann nur ein liberales und demokratisches Europa sein, das die Vielfalt und die Pluralität sowohl in der Kultur und der Sprache als auch in der Tradition erhält. Das heißt, es kann nur eine Föderation der Völker und Staaten, niemals kann es eine Staatenlösung oder eine Unionslösung sein, die diese Vielfalt von Sprache und Kultur hinwegfegt.
Die Verfassung muß natürlich auch neuen Politiken Rechnung tragen, von der Außen- über die Sicherheits- bis zur Technologiepolitik. Zur Erinnerung — weil das immer vergessen wird — sage ich: Obligatorisch sind bis jetzt nur Landwirtschaft und Soziales und die Entwicklungshilfe für assoziierte Gebiete. Alles andere ist freiwillige Politik; es bedarf sogar des einstimmigen Beschlusses. Das sage ich nur im Hinblick auf die Entwicklung.
Ich meine, es muß eine Verfassung sein, die diesem Europa entsprechend seiner kulturellen Vergangenheit, entsprechend der Geschichte seines geistigen Potentials die nötige Eigenständigkeit und Selbständigkeit in der Welt einräumt und die Europa zu einem starken Glied einer dynamischen demokratischen Völkergemeinschaft macht.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vogt .
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind aufgerufen, zu einem Verfassungsentwurf im Gewande eines Staatsvertrages Stellung zu beziehen, der mit dem hohen Anspruch daherkommt, die von Krisen geschüttelte EG neu zu beleben und in einen vorgeblich besseren Zustand zu überführen.Die GRÜNEN begrüßen diese Debatte, weil sie Gelegenheit gibt, öffentlich Alarm zu schlagen, denn der vorliegende Vertragsentwurf will die Parlamentarier und die Wähler in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft dazu verleiten, mit einem der wenigen Gestaltungsprinzipien zu brechen, die an der EG noch positiv zu bewerten sind, nämlich mit ihrer bisher zivilen, nichtmilitärischen Verfassung. Wenn wir dem Entwurf in der vom Europaparlament vorgelegten Version zustimmen würden, würden wir alle daran mitwirken, die bisher zivil-ökonomisch verfaßte EG in einen hochgerüsteten Militär-Leviathan zu verwandeln. Wir würden helfen, eine neue militärische Supermacht aus der Taufe zu heben, die möglicherweise ein Abklatsch der Vereinigten Staaten von Amerika wäre.
Denn unter dem harmlos klingenden Titel „Erweiterung des Bereichs der Zusammenarbeit und Übergang von der Zusammenarbeit in die gemeinsame Aktion" bestimmt Art. 68 Ziffer 1 des Entwurfs:
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984 4789
Vogt
Der Europäische Rat kann den Bereich der Zusammenarbeit insbesondere auch auf Fragen der Rüstung, des Verkaufs von Waffen an Drittländer, der Verteidigungspolitik und der Abrüstung ausdehnen.
Wer dem in Gänze zustimmt, hilft, die Weichen von der Zivilmacht EG in Richtung auf die Militärunion der „Vereinigten Staaten von Westeuropa" umzustellen. Die Anhäufung militärischer Gewalt in der zentralen Instanz der Europäischen Union würde den Übergang von der — noch — zivilen Gemeinschaft zu einem sich wesentlich auf Gewalt gründenden Staat im herkömmlichen Sinne markieren. Mit der Preisgabe der zivilen Identität der EG wird der friedenspolitische Impuls ihrer Gründung ins Gegenteil verkehrt.Erinnern wir uns: Die „List" des Robert-Schuman-Plans, einen Pool für deutsche und französische Kohleförderung und Stahlproduktion zu schaffen, lag bekanntlich darin, von der für die Rüstung als wichtig erachteten Grundstoffindustrie der beiden Länder her einen weiteren deutsch-französischen Krieg unmöglich zu machen.Anders als beispielsweise das Bismarck-Reich ist die EG ein wesensmäßig ziviler, kein militärisch erzwungener Zusammenschluß, wie Johan Galtung sagt: nach einer völlig neuen, nichtmilitärischen Reichsgründungsformel in Brüssel ausgebrütet. Wenn früher gesagt worden ist, der Krieg sei der Vater aller Dinge, so kann man, abgewandelt auf die „Gründerzeit" der europäischen Institutionen, feststellen, daß die Sehnsucht der ausgebluteten Völker Westeuropas nach einem stabilen Frieden zur „Mutter" der zivil-ökonomischen Integration wurde. Die Machtquellen der EG selbst in ihrer gegenwärtigen Gestalt sind ausschließlich ziviler Natur. Hierauf gründet sich die Hoffnung, die Europäische Gemeinschaft könnte zu einer echten Alternative zu herkömmlichen Staaten, nämlich zu einer Zivilmacht entwickelt werden.Anders als kriegerisch begründete Staaten, die das Instrument ihrer Entstehung zu verherrlichen wußten — man denke etwa an die Militarisierung der deutschen Seele im nach der Reichsgründungsformel „Blut und Eisen" preußifizierten Deutschland —, anders also als das Bismarck-Reich hat die EG mit ihrer besonderen zivilen Identität und ihrer an den Begriff „Frieden" gebundenen Entstehung nicht viel anzufangen gewußt. So wie die USA als das Reich der Freiheit und die Sowjetunion als das Reich der Gleichheit konzipiert waren, hätte es nahegelegen, den Begriff des Friedens als Leitwert in Anspruch zu nehmen oder die EG als erste regionale Ausprägung des, wie Egbert Jahn sagt, Zivilismus, also der Militärfreiheit zu propagieren, zu füllen und auszugestalten.Die Chance, aus ihrem tatsächlichen Zustand ein Konzept zu erarbeiten, bietet sich der Europäischen Gemeinschaft als einer den herkömmlichen Nationalstaat durchdringenden Kraft nur so lange, wie die strikte Arbeitsteilung zwischen EG und NATO weiterbesteht. Es handelt sich hierbei um eine historisch einzigartige Phase, in der versucht werden könnte, für die Zukunft die Abkoppelung der Politik von militärischer Gewalt zu organisieren. Diese Möglichkeit ist aber gegenwärtig nicht allein durch den vorliegenden Entwurf, sondern auch durch Pläne wie den der SPD zur militärischen Selbstbehauptung Europas über die sicherheitspolitische Verstärkung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit oder auch die Wiederbelebung der Westeuropäischen Union bedroht, Entwürfe, die sich an alte Konzepte von Strauß und Dregger anlehnen, die unter Mitterrand und Mauroy in Frankreich Konjunktur haben und die sich auf der Suche nach einem neuen Konsens in der Verteidigungsfrage als vordergründig populär, j a unter Umständen massenwirksam anbieten. Der Hinweis auf einen lukrativen europäischen Waffenmarkt, die industriepolitischen und technologischen Impulse, die angeblich „segensreichen" Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wird bei den ökonomisch bestimmenden Kreisen seine Wirkung nicht verfehlen. Mr. Prag, der Berichterstatter im Europaparlament, konnte sich den triumphierenden Zusatz nicht verkneifen, mit der Annahme des Abschnitts über die Sicherheitspolitik sei — ich zitiere wörtlich — „den lächerlichen Auseinandersetzungen im Europäischen Parlament, ob man Sicherheitsfragen erörtern könne oder nicht", ein Ende bereitet worden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die langjährigen Skrupel vieler EG-Parlamentarier, das heiße Eisen einer sogenannten „Europäischen Sicherheitspolitik" anzufassen, waren alles andere als lächerlich. Es ist vielmehr bestürzend, wie schnell auch kritische Kräfte ihren einst so instinktsicheren Widerstand gegen eine Militarisierung der EG aufgegeben haben. Im Rückblick erscheint die These des Friedensforschers Johan Galtung aus dem Jahre 1972 wie eine Wahrsagung. In seinem Buch „The European Community — A Superpower in the Making", also: Die Europäische Gemeinschaft — Eine Supermacht in der Mache, sozusagen, hatte der Norweger ausgeführt, Krisen könnten dazu beitragen das Entstehen einer „wirklich separaten militärischen Gemeinschaft in Westeuropa zu begünstigen". Oder war es etwa ein Zufall, daß die Diskussion um eine EG-Rüstungsagentur 1974, beginnend mit dem Tindemans-Report, also nach der ersten Ölkrise 1973, entfesselt wurde, daß sie 1979, nach der zweiten Ölkrise, verstärkt wiederaufgenommen wurde? Ich behaupte: Im Windschatten der „Bedrohung aus dem Osten" und der „Emanzipation von den USA" schickt sich die Europäische Gemeinschaft an, eine eigenständige Interventionskapazität gegen Rohstofflieferländer vorzubereiten. Sie wird eine neue Rüstungsdynamik in der Welt schaffen, laufende Rüstungskontrollverhandlungen beeinträchtigen und eine weitere Bedrohung der rohstoffproduzierenden Länder darstellen.
Im Augenblick, meine Damen und Herren, gibt es im Europäischen Parlament keine starke in sich geschlossen argumentierende Opposition gegen die Pervertierung der zivilen Europäischen Gemein-
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4790 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Vogt
schaft zu einer Militärunion. Die Kräfte, die Widerstand geleistet und konsistent argumentiert hätten, sind 1979 aus dem Europäischen Parlament herausgehalten worden, u. a. die GRÜNEN, ihre Schwesterparteien und autonome Wahllisten.
5 Millionen Wähler sind so ohne parlamentarische Vertretung geblieben.Aber auch im Parlament haben sich lediglich 202 von 434 Abgeordneten der Entschließung zu dieser sogenannten Verfassung angeschlossen. Das veranlaßte einen Kritiker, zu sagen, daß die Idee einer Verfassungsinitiative, die als Aufbruchzeichen des Europäischen Parlaments an sich selbst, als ein Akt der Selbstvergewisserung gemeint war, dann schließlich durch den Akt der Abstimmung zu einem Akt der Selbstdistanzierung geworden ist. Er sagte:Machtvolle politische Schubkräfte sind so zur Verwirklichung des Verfassungsprojekts kaum zu mobilisieren.Meine Damen und Herren, selbst wenn man diesen Entwurf einer teileuropäischen Verfassung als ein Meisterwerk späteuropäischer Integrationskunst betrachten sollte, muß man doch sagen, daß wir uns in die Verfassungsdiskussion erst einschalten werden, wenn die Zeit reif ist, das Gegenbild zu der jetzigen Europäischen Gemeinschaft einzubringen.Wir streben nämlich an: ein ökologisches, soziales, basisdemokratisches, gewaltfreies, nichtnukleares und nichtausbeuterisches
Europa, das als Zivilmacht und als eine Gemeinschaft der Regionen verfaßt ist.
Darf ich Sie bitten, Ihre Rede zu beenden.
Ich komme zum Ende. — Im Sinn dieses Orientierungsrahmens sind wir bereit, in der Stellungnahme des Deutschen Bundestages zum Entwurf unser Minderheitsvotum abzugeben.
Danke schön.
Das Wort hat der Herr Staatsminister Dr. Mertes.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Tag ist offensichtlich gekennzeichnet durch eine Mischung von heiterer Gelassenheit, von europäischem Optimismus trotz allem und von dem Versuch der Fraktion der GRÜNEN, durch die dämonisierende Kritik des Kollegen Vogt an einem einzigen Punkt des Vertragsentwurfs dialektisch hervorzuheben,
daß auch die GRÜNEN Kollegen die übrigen 86 Artikel des Entwurfs bejahen. Das ist ein gutes Omen für den Wahlkampf zum Europäischen Parlament.
Zum ersten Mal befaßt sich der Deutsche Bundestag mit einem Vertragsentwurf, den ein anderes Parlament verfaßt und angenommen hat. Die Bundesregierung begrüßt diese Debatte. Sie begrüßt auch den vorliegenden Entschließungsentwurf der vier Fraktionen. Es ist gut, daß hier einmal nicht über die Tagesfragen der Europapolitik, sondern über ihre langfristigen Perspektiven gesprochen wird. Europapolitik braucht die geschichtliche Einsicht in die Notwendigkeiten der Jahrzehnte, die vor uns liegen, braucht die Schubkraft beharrlichen und unverdrossenen Willens, braucht den langen Atem, der in der Mühsal des europäischen Alltags nicht erstickt. Sie ist Politik über den Tag hinaus, und sie kann erfolgreich nur sein, wenn die Ziele klar sind.Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung haben mit Präsident Dankert verabredet, daß er am 3. Mai nach Bonn kommen wird, um den Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments persönlich zu übergeben. Wir haben mit Präsident Dankert häufig gute Gespräche gehabt, und wir freuen uns auch auf diesen Besuch.Die Bundesregierung hat die dreijährigen Arbeiten des Europäischen Parlaments an diesem Vertragsentwurf mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Sie würdigt den am 14. Februar verabschiedeten Vorschlag als das größte einzelne Projekt des Europäischen Parlaments in seiner ersten Direktwahlperiode, die jetzt zu Ende geht. Das sollten wir alle, wo wir auch politisch stehen, im bevorstehenden Wahlkampf für das Europäische Parlament immer wieder würdigen. Auch in diesem Sinne verdient das Europaparlament die aktive Solidarität des nationalen deutschen Parlaments.
— Über jeden, der ein nettes Wort verdient hat, sage ich grundsätzlich ein nettes Wort. Aber ich möchte das hier jetzt nicht spezifizieren, weil ich dadurch die Verdienste der übrigen Kollegen des Europäischen Parlaments mindern würde.
Der Bundesregierung kommt auch die Entschließung, die das Europäische Parlament seinem Vertragsentwurf beigefügt hat, sehr gelegen. Es heißt dort, daß das aus den Wahlen vom 17. Juni hervorgehende Parlament aufgefordert wird — ich zitiere —, „alle geeigneten Kontakte und Treffen mit den nationalen Parlamenten zu organisieren und jede andere dienliche Initiative zu ergreifen, um es ihm zu ermöglichen, die Haltungen und Standpunkte der nationalen Parlamente zu berücksichtigen".Das bedeutet zweierlei. Zum einen, daß das Europäische Parlament selber zuerst den Dialog mit den
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Staatsminister Dr. Mertesnationalen Parlamenten sucht, bevor sich die Regierungen damit befassen. Zum anderen, daß es seinem Entwurf noch keinen endgültigen, sondern einen entwicklungsfähigen Charakter gegeben hat, um für die Reaktionen der nationalen Parlamente noch offen zu bleiben. Eine solche offene Diskussion ist für die Meinungsbildung wertvoll. Sie läßt die Verteilung der Vertragsschlußkompetenz nach dem Grundgesetz unberührt.Ich will einer späteren genaueren Stellungnahme der Bundesregierung im einzelnen nicht vorgreifen. Heute kann ich jedoch schon feststellen, daß ich in dem Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments einige wichtige Grundsätze unserer Europapolitik wiederfinde. Erstens. Das Ziel der deutschen Europapolitik ist die Europäische Union. Anders gesagt: Die Verträge von Rom und Paris und die Europäische Politische Zusammenarbeit sind nie das Endziel unserer Europapolitik gewesen. Sie sind aber ein Bestand, der keineswegs verwässert werden darf. Hier stimme ich dem zu, was die Kollegen der verschiedenen Fraktionen soeben gesagt haben. Denn die Gemeinschaftsverträge bleiben die größte Leistung, vor allem die konkreteste Leistung der Europapolitik in der Nachkriegszeit. Wir könnten heute in Europa weiter sein, wenn sie in allen Teilen stets voll angewendet worden wären. Andererseits haben diese in den 50er Jahren geschlossenen Verträge und die Europäische Politische Zusammenarbeit bisher nicht zu einer Europäischen Union geführt und werden für sich allein genommen auch nicht die ausreichende Basis sein, weder in den von ihnen erfaßten Materien noch in ihrem institutionellen Teil.Zweitens. Es ist notwendig geworden, die Entscheidungsstrukturen der Europäischen Gemeinschaft zu verbessern. Dies zeigt sich unabweislich auf fast jeder Ratstagung. Die Gemeinschaft muß schneller reagieren können, und sie muß zu mehr gemeinsamem Handeln kommen. Sie wissen, daß sich die Bundesregierung seit langem für die volle Anwendung der vertraglich festgelegten Mehrheitsregeln eingesetzt hat, in grundsätzlicher Form zuletzt in ihrer Initiative, die in Stuttgart zur Annahme der Feierlichen Deklaration führte. Ich muß aber daran erinnern, daß sich auch in den Römischen Verträgen große Bereiche finden, die nur mit Einstimmigkeit entschieden werden können. Dies betrifft auch und gerade die sogenannten neuen Politiken, die uns so am Herzen liegen, wie Forschung, Technologie oder Umweltschutz, der ja nur einstimmig vereinheitlicht werden kann, während der Entwurf des Europäischen Parlaments hierfür die qualifizierte Mehrheit vorsieht.Drittens. Die parlamentarische Komponente der Gemeinschaft muß verstärkt werden. Das sage ich als Vertreter der Bundesregierung, das sage ich vor allen Dingen aber auch als Parlamentarier.
Auch diese Forderung gehört zur unstreitigen Tradition deutscher Europapolitik. Auch dies finden Sie in der Genscher-Colombo-Initiative wieder. Wir sind damit bis an den Rand dessen gegangen, wasim Rahmen der Verträge möglich war. Dieser Rahmen ist bekanntlich eng gesteckt. Das Europäische Parlament schlägt hierfür eine Gesetzgebung im Zweikammersystem von Europäischem Parlament und Europäischem Rat vor. Das scheint mir vom Ansatz her interessant. Doch denke niemand, daß ein solches System in der Gemeinschaft einfach zu verwirklichen wäre.Viertens. Es ist das politische Ziel der Bundesregierung, daß alle Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften auch Mitglieder der Europäischen Union werden. Sie begrüßt es daher ausdrücklich, daß auch das Europäische Parlament in seiner Schlußresolution „wünscht, daß der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union schließlich die Zustimmung aller Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften auf sich vereinigt". Der Verfassungsentwurf selbst enthält aber in Art. 82 die Möglichkeit, ihn auch bereits unter einem Teil der Mitgliedstaaten in Kraft zu setzen, deren Bevölkerung zwei Drittel der Einwohner der Europäischen Gemeinschaft ausmacht. Ich verhehle nicht, daß ich z. B. dies für eine problematische Bestimmung halte. Denn die Römischen Verträge sind auf unbestimmte Zeit von allen Mitgliedstaaten geschlossen. Dies ist ein fester Besitzstand, der nicht in späteren Verhandlungen wieder zur Disposition gestellt werden kann.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung begrüßt den vorliegenden Entschließungsantrag. Durch die Befassung im Deutschen Bundestag und seinen zuständigen Ausschüssen wird auch bewirkt werden, daß wieder eine breite öffentliche Diskussion über die eigentlichen Grundfragen der europäischen Einigung in Gang kommt, die bei der heutigen Fixierung auf Haushalt und Agrarpolitik bedenklich zu kurz kommt. Zu kurz kommt übrigens auch die Tatsache, daß unsere nationale Deutschlandfrage und die Europafrage unlöslich miteinander verbunden sind, wie dies im Deutschlandvertrag, im Protokoll über den innerdeutschen Handel zu den Römischen Verträgen und in anderen verbindlichen Texten zum Ausdruck kommt. Auch der Brief zur Deutschen Einheit mit seiner Einbettung unserer nationalen Frage in einen dauerhaften Friedenszustand in Europa gehört dazu; die Einigung Westeuropas hat eine Schrittmacherfunktion für eine solche Friedensordnung „in der das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt".
Wir können in der Europapolitik mit ihren hohen Anforderungen an die Solidarität der Mitgliedsländer nur erfolgreich sein, wenn sie von unserer Öffentlichkeit, insbesondere von der jungen Generation, wirklich verstanden und aus Überzeugung aktiv mitgetragen wird.
Hierin liegt jenseits institutioneller Gesichtspunkte auch der politische Sinn der europäischen Wahlen. Aus diesem Grund war das Europäische Parlament meines Erachtens gut beraten, als es seinen Ver-
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Staatsminister Dr. Mertestragsentwurf in der Vorphase der zweiten Direktwahl verabschiedete und so zum Gegenstand einer öffentlichen Meinungsbildung im Wahlkampf machte. Sie wissen, daß die Regierungen zur Zeit noch voll mit den Verhandlungen über das sogenannte Stuttgarter Paket ausgelastet sind. Sie wissen aber auch, daß der Bundeskanzler sich bereits jetzt dafür ausgesprochen hat, in der zweiten Jahreshälfte eine breit angelegte Diskussion über die politische Zukunft Europas in Gang zu bringen. Es wird dabei weitgehend auch um Fragestellungen gehen, wie sie in dem Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments schon enthalten sind.Ich bin gewiß, meine Damen und Herren, daß auch künftig gelten wird, was bisher immer gegolten hat, daß nämlich über die Grundlagen unserer Europapolitik zwischen Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag volle Übereinstimmung in allen substantiellen Fragen besteht.Ich danke Ihnen.
Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 10/1247 an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Bei diesem Überweisungsvorschlag gehe ich davon aus, daß sich auch die Europa-Kommission im Rahmen ihres Einsetzungsbeschlusses mit der Vorlage befaßt und darüber berichtet. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Lage in Afghanistan
— Drucksache 10/1277 —
Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß
Das Wort dazu wird nicht erbeten.
Der Ältestenrat schlägt vor, den interfraktionellen Antrag auf Drucksache 10/1277 an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Gewährung von Bildungsbeihilfen für arbeitslose Jugendliche aus Bundesmitteln
— Drucksache 10/490 —
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
— Drucksache 10/1268 — Berichterstatter: Abgeordneter Feilcke
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 10/1294 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Sieler Dr. Friedmann
Frau Seiler-Albring
Im Ältestenrat ist für die Aussprache ein Beitrag bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Auch hiergegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wünscht ein Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Feilcke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als wir im November 1983 die Gesetzesinitiative des Bundesrates zur Änderung des Bildungsbeihilfengesetzes beraten haben, äußerten wir die Hoffnung, daß wir Ende des Jahres 1983 nicht mehr als 30 000 unversorgte Bewerber um Ausbildungsplätze registriert haben werden. Die damalige Reaktion der SPD und insbesondere ihres damaligen Sprechers, Herrn Schreiner, war im Grunde genommen Hohn und Spott sowie ein Bombardement von Vorwürfen und düsteren Zukunftsvisionen. Er ging davon aus — das hat sich in späteren Ausführungen immer wiederholt —, daß wir Ende 1983 mehr als 100 000 unversorgte Ausbildungsplatzbewerber haben werden. Er hat im Grunde genommen mit diesen Zahlen die Realität nicht nur nicht getroffen, sondern er hat sie völlig verzerrt.
— Wenn Sie wüßten, wovon Sie reden, Herr Kollege, dann wüßten Sie, daß wir im Jahre 1984 zur Zeit noch 150 000 Ausbildungsplätze brauchen. Ich habe im Moment von der Bilanz 1983 geredet. Es empfiehlt sich, erst einmal zuzuhören und dann zu kommentieren.
Tatsächlich waren es Ende 1983 noch 31 500 und, Herr Kollege Lutz, Ende Februar noch 22 700 unversorgte Bewerber. Was ist das für ein Vergleich zu dieser Schreckenszahl von 100 000?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Mit Vergnügen.
Bitte, Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Kollege, unterstellt, es sind nur noch 21 000 übriggeblieben: Ist es nicht Zynismus
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Lutzzu sagen und sich zu freuen, daß noch 21 000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz haben?
Herr Kollege Lutz, ich habe gesagt: Wir haben noch 22 700 unversorgte Bewerber; was ist das für ein Mißverhältnis zu den von Ihnen in die Öffentlichkeit getragenen Zahlen von 100 000 und mehr! Insofern ist das ein relativer Erfolg. Ich stimme Ihnen ohne weiteres darin zu, daß 22 700 unversorgte Bewerber genau 22 700 zuviel sind. Darin stimmen wir vollkommen überein.
Nur meine ich, gemessen an den Erwartungen, die wir alle, alle Fraktionen hier im Hause, hatten, ist das ein relativ großer Erfolg, und ich finde, wir sollten mit diesem Ergebnis sehr zufrieden sein.
Herr Kollege Lutz, ich habe auch manchmal den Eindruck, daß Sie solche positiven Entwicklungen einfach nicht wahrhaben wollen, nicht zur Kenntnis nehmen wollen, weil Ihr Geschäft ganz offensichtlich sehr häufig die Schwarzmalerei ist.
Ich sage ausdrücklich: Ich bin der Auffassung, daß die Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt noch nicht für alle Beteiligten voll zufriedenstellend ist. Hier ist noch viel zu tun. Aber unsere Erwartungen sind übertroffen worden.Ich sage in diesem Zusammenhang auch etwas zu den aktuellen Zahlen der Jugendarbeitslosigkeit. Auch hier gilt, damit es gar kein Mißverständnis gibt: 175 000 arbeitslose Jugendliche sind genau 175 000 zuviel. Aber die Entwicklung ist auch hier erfreulich. Die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen ist von Februar 1984 bis März 1984 um fast 15 000 und gegenüber dem Vorjahresmonat um fast 30 000 zurückgegangen. Unter der Gesamtzahl der Arbeitslosen machen die Jugendlichen heute eben nur noch — in Anführungszeichen — einen Anteil von 7,3 % aus. Ich sage: Auch das ist eine durchaus begrüßenswerte Entwicklung; denn Arbeitslosigkeit, Ausbildungsplatzmangel bei jungen Leuten ist schlimmer als Arbeitslosigkeit für jemanden, der bereits beruflich gefestigt ist.Einen Beitrag zu diesen Erfolgen leisten die Sonderprogramme von Bund und Ländern, so auch das Bildungsbeihilfenprogramm, über das wir heute zu sprechen haben. Durch dieses Programm sind bisher schon 14 400 Teilnehmer gefördert worden. Ihr Bildungsniveau konnte verbessert werden; ihre Vermittlungschancen wurden vergrößert. Etwa 30 dieser fast 15 000 Teilnehmer haben an Maßnahmen zur nachträglichen Erlangung des Hauptschulabschlusses teilgenommen, etwa ein Viertel — 24% — an berufsvorbereitenden Maßnahmen. Das Bildungsbeihilfenprogramm ist also unbedingt notwendig, es ist wirksam, und es hat sich bereits bewährt.
— Jawohl, Herr Kollege Lutz, auch das sei gesagt: Es ist in der Regierungszeit der SPD/FDP-Koalition auf den Weg gebracht worden, aber es ist in seinem Volumen erheblich ausgeweitet worden.
Wir haben nicht nur gepfiffen, wir haben auch gehandelt.
Das Bildungsbeihilfenprogramm gehört zu einer Reihe von aufeinander abgestimmten, sich ergänzenden Maßnahmen.Wenn auch die Bilanz für 1983 erfreulich ist, so dürfen unsere Anstrengungen nicht geringer werden. Etwa zwei Drittel der arbeitslosen Jugendlichen haben keine abgeschlossene Berufsausbildung; fast 30% haben keine Berufsausbildung und noch nicht einmal einen Schulabschluß.
— Wir können das gerne mal im einzelnen erörtern. Ich bin bereit, Ihnen das zu erläutern.
Ich glaube nur, daß wir jetzt im Moment nach Maßnahmen suchen müssen, um die Probleme zu lösen. Wir sind sicherlich auch in der Lage, die Probleme zu analysieren; wir müssen aber sehen, daß ein großer Teil derjenigen, die heute von Arbeitslosigkeit betroffen sind, ohne eine entsprechende schulische Qualifikation in das Arbeitsleben eingetreten sind. Sie bedürfen unserer besonderen Hilfe.
Wir wollen, daß niemand beim Eintritt in das Berufsleben vor verschlossener Tür steht. Wir wollen natürlich auch nicht, daß jemand gegen verschlossene Türen anrennen muß. Die Verbesserung der Bildungsvoraussetzungen ist der beste Türöffner.Es ist jetzt nicht unsere Aufgabe, die Situation zu beklagen und Schuldzuweisungen vorzunehmen, sondern es ist unsere Aufgabe, möglichst viele Jugendliche über ihre Möglichkeiten zu informieren und ihnen Mut zu machen, auch dann nicht aufzugeben, wenn sie nicht auf Anhieb Erfolg haben. Horrorzahlen, Kassandrarufe sind nicht angebracht, sie helfen überhaupt niemandem. Im Gegenteil, sie sind geeignet, Jugendliche zu verschrecken und Resignation auszulösen, so nach dem Motto: Du hast keine Chance, nutze sie!Meine Damen und Herren, die Realität ist viel positiver, sie gibt zu viel mehr Optimismus Anlaß, als es Oppositionspolitiker, insbesondere aus den
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FeilckeReihen der SPD, uns in der Öffentlichkeit häufig glauben machen lassen wollen.
— Aber mit Optimismus kann man sehr viel mehr erreichen als mit Pessimismus, Herr Kollege,
und ich finde, wir haben allen Anlaß zu einer optimistischen Betrachtungsweise. Denn entgegen den öffentlichen Schreckensmeldungen der Opposition waren — das finde ich jetzt außerordentlich erfreulich; Sie haben daran leider nicht teilnehmen können, aber dennoch merke ich, daß Sie außerordentlich sachkundig sind, Herr Kollege —
die Beratungen in den Ausschüssen von wohltuender Sachlichkeit und weitgehender Übereinstimmung geprägt.
— Herr Kollege Lutz, darauf komme ich später gern zurück.Zustimmung fand schließlich ein Antrag von CDU/CSU und FDP, der die Zugangsvoraussetzungen zu den nach diesem Gesetz geförderten Programmen erheblich vereinfacht. Es ist eine Ausweitung des förderungsberechtigten Personenkreises auf Jugendliche vorgesehen, die bisher noch nicht vier Monate beitragspflichtig beschäftigt waren. Sie müssen nur noch drei Monate beschäftigt gewesen sein. Aber auch davon kann abgesehen werden, wenn bis zum Zeitpunkt der Erfüllung dieser Voraussetzung eine Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit nicht zu erwarten ist. Die frühere weitere Voraussetzung, daß zusätzlich eine dreimonatige Arbeitslosigkeit vorliegen muß, soll künftig ersatzlos entfallen.Die Förderung der Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen im Teilzeitunterricht soll neu aufgenommen werden, wenn sie begleitend zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durchgeführt werden. Damit wird eine Verbindung von Theorie und Praxis — wenn Sie so wollen, von Arbeit und Leben —angestrebt.Der wohl wichtigste Änderungspunkt ist die Verlängerung der Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes von Ende 1985 auf das Jahresende 1987. Wir sagen, es ist das schönste überhaupt, daß die Bundesregierung bereits 205 Millionen DM für die Jahre 1985 bis 1987 eingeplant hat. Das gibt Planungssicherheit. Wir haben zügig beraten, die entsprechenden Programme können entwickelt und aufgelegt werden, und die Anschlußprogramme der Arbeitsämter können rechtzeitig genehmigt werden, so daß die Gelder auch tatsächlich abfließen können.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine kurze Schlußbemerkung machen. Ich sehe, die Zeit ist schon sehr weit fortgeschritten. Es ist leider in Mode gekommen, solche Maßnahmen zu disqualifizieren. Man spricht von „latent Arbeitslosen", vom „staatlichen Verschiebebahnhof", von „Wartesälen". Ich glaube, solche Formulierungen sind vollkommen unpassend. Sie werden dem Personenkreis, für den wir hier Maßnahmen zu beschließen haben, überhaupt nicht gerecht; denn es handelt sich überwiegend um jugendliche Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeiter — ein großer Teil sind ausländische Jugendliche —, die aus verschiedenen, sehr häufig persönlichen, häufig sozialen Gründen daran gehindert werden, eine volle berufliche Ausbildung zu beginnen. Sie wollen möglichst schnell Geld verdienen, und sie sind an weiteren beruflichen Bildungsmaßnahmen nicht in erster Linie interessiert.
Wenn sie auf diese Weise eine zweite Chance bekommen, ihre Qualifikation doch noch im zweiten Anlauf zu verbessern, dann verdient das unsere volle Unterstützung und — ich sage das ausdrücklich — auch volle Anerkennung.
Ich danke allen an der Diskussion in den Ausschüssen Beteiligten für die wirklich sachliche und einvernehmliche Beratung. Der Personenkreis, für den wir uns hier stark machen, verdient unsere besondere Unterstützung. Ich sage es noch einmal: Jugendliche Arbeitslose, insbesondere auch Ausbildungsplatzsuchende, zumal ausländische Ausbildungsplatzsuchende, haben es verdient, daß wir ihnen den Eintritt in die Arbeitswelt erleichtern. Ich bitte Sie um Zustimmung zu dieser Gesetzesänderung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Urbaniak.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, die SPD begrüßt keine Arbeitslosenmeldungen mit dem Attribut Horrormeldung; das muß nicht mit diesem Wort dramatisiert werden. Wir haben immer darauf aufmerksam gemacht, daß Arbeitslosen in diesem Lande entscheidend geholfen werden muß, vor allen Dingen jungen Menschen, die in die Arbeitswelt eintreten wollen, die an die Werkbank wollen und nicht auf die Parkbank.
Diesen Tatbestand haben wir herausgestellt, und darum kam damals die Initiative von Heinz Westphal.
Wenn wir eine derartig große Zahl von arbeitslosen jugendlichen Menschen haben, muß dies das ganze Haus beunruhigen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
— Aber Sie haben doch kräftig weiter Arbeitslose produziert. Kollege Blüm, Sie müssen dem Kollegen einmal verdeutlichen, um was es eigentlich geht. Er kommt nicht dahinter.
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UrbaniakIch bitte Sie sehr, Ihre Maßnahmen daran zu messen, wann Sie denn eigentlich die Arbeitslosigkeit unter den jungen Menschen beenden wollen. Oder wollen Sie sie über das ganze 80er Jahrzehnt vorhalten? Sie werden doch mit dem Problem der Arbeitslosigkeit überhaupt nicht fertig.
Darum ist das, was wir heute betreiben, eine Maßnahme für junge Menschen ohne Hauptschulabschluß. Es ist doch ein Tatbestand, daß die Eingliederung junger Menschen ohne Berufsausbildung sehr schwierig ist. Jeder Abgeordnete kennt doch die Klagen der Eltern, die ihre Tochter oder ihren Sohn nicht unterbringen können. Es bleibt uns nur die Möglichkeit, bei den Unternehmungen, in den Betrieben zu betteln, zusätzliche Jugendliche aufzunehmen.
Diese Westphal-Maßnahme, durch die Initiative des Landes Hessen im Bundesrat vorangebracht, durch diese Bundesregierung flankiert und weiter ausgebaut, was selbstverständlich anerkannt wird, soll gerade diesem Personenkreis helfen. Das ist auch gut so.
Wir haben auch ganz gute Erfahrungen, meine sehr verehrten Damen und Herren, weil sehr viele schon während der Maßnahmen in Arbeit kommen. Dies ist tatsächlich eine zweite Chance; das ist gar keine Frage.Darum sage ich hier noch einmal ganz ausdrücklich und klar: Wir begrüßen es nicht, daß wir eine hohe Zahl von Arbeitslosen haben. Ein Arbeitsloser ist uns schon zuviel. Wir wollen herunter von der Arbeitslosigkeit bei den jungen Menschen, und vor allen Dingen schnell.
Ich glaube, hier bestehen für die Demokratie und dieses Haus ganz besondere Verpflichtungen gegenüber der jungen Generation.
Meine Damen und Herren, wenn man den Saldo bildet und sich das Ergebnis 1983 näher ansieht, kann man davon ausgehen, daß wir rund 100 000 Jugendliche nicht in einen Ausbildungsplatz gebracht haben. Diejenigen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen haben, haben sich ja in die schulischen Warteschlangen eingereiht. Das ist doch gar keine Frage. Die haben Sie alle nicht unterbringen können. Sie haben Ihr Versprechen in dieser Beziehung nicht erfüllt.
Wir können das nur anprangern und immer wiedersagen: Realisieren Sie das, was Sie da politisch indie Welt gesetzt haben! Wir werden es dann begrüßen. Sie regieren; verhalten Sie sich richtig!
Die Zahl der Ausbildungsplatzbewerber steigt. Der ehemalige Kollege Franke, der jetzige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, hat gestern darauf aufmerksam gemacht, daß nach dem Stand vom 31. März 1984 150 000 Ausbildungsplätze zu wenig vorhanden sind. Ich kann nur sagen: Strengen Sie sich kräftig an, damit wir 1984 von dieser schlimmen Ausbildungslücke wegkommen! Unsere Vorschläge, das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit anzunehmen und durchzuführen, haben Sie j a abgelehnt. Jetzt verlangen wir Ihre Alternative, von der wir leider nichts sehen.
Das ist eine schlimme Sache. Das ist ein Vorgang, der die junge Generation treffen wird. Sie haben statt dessen die Vermögensteuer gesenkt und den Leuten und Unternehmen die Pfennige nachgeworfen, die es in der Tat nicht nötig haben.
Im übrigen — daran muß ich heute wieder erinnern — leistet die Rechtskoalition keinen nennenswerten Beitrag zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. Der ehemalige Kollege Franke, jetziger Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, hat das ja selber gesagt. Sie verweisen auf den Aufschwung. Wenn er kräftig wird, würden wir das begrüßen. Wenn dadurch Arbeitslosigkeit abgebaut wird, um so besser. Aber es ginge alles systematischer, schneller und besser, wenn Sie auch unseren Beschäftigungshaushalt angenommen hätten. Dann hätten wir die Arbeitslosenzahlen schon kräftig nach unten gefahren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Kollege, können Sie dem Hohen Hause einmal darstellen, wie viele Firmenpleiten während der 70er Jahre Ursache u. a. für den Wegfall von Ausbildungsplätzen gewesen sind?
Ich rate Ihnen, sich einmal die Zahlen anzusehen, die Herr Franke und Frau Wilms genannt haben: wie wenige Ausbildungsplätze jetzt zusätzlich geschaffen werden, gemessen an der Zahl derer, die notwendig sind.
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4796 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Urbaniak— Sie brauchen sich darüber nicht aufzuregen. Die Wirtschaft kommt ihrer Verpflichtung nicht nach.
Sie lehnen aber auch eine Arbeitszeitverkürzung ab. Auch mit dieser Frage werden Sie nicht fertig. Wir haben leider eine hohe Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen.
Das Instrument Bildungsbeihilfe wird nun ausgebaut. Das ist gut so. Ich hoffe, daß wir damit auch den Eifer bei den jungen Menschen wecken, die so enttäuscht sind auf Grund dessen, was sie in der Schulausbildung und in ihrer beruflichen Erfahrung haben mitmachen müssen. Hoffentlich nutzen sie diese Chance, die wir ihnen geben.Man muß allerdings auch noch sagen, Kollege Blüm: Es kommen ja weitere Dinge auf die jungen Leute zu. Der Abbau der Schutzvorschriften im Jugendarbeitsschutzgesetz kann ja auch kein Beitrag gegen die Jugendarbeitslosigkeit sein. Wir werden uns auf jeden Fall — das sage ich Ihnen hier — jedem weiteren Sozialabbau — und Sie planen Schlimmes — entschieden widersetzen und überall klarmachen, was Sie auch an sozialen Leistungen für die jungen Leute demontieren.
Sie werden auch weitere Schwierigkeiten bei den Gewerkschaften erwarten müssen.Wir aber begrüßen die Initiative des Bundesrates. Wir stimmen dem heute zu verabschiedenden Gesetz zu. Schließlich war es die Initiative des Arbeitsministers Westphal, dem wir in diesem Zusammenhang dafür noch einmal danken.
Ich hoffe, daß wir insgesamt als Parlament den jungen Menschen mit diesen Maßnahmen einen ganz, ganz großen Gefallen tun, daß ihnen hiermit geholfen wird, in den Beruf, in die Ausbildung, in die Beschäftigung zu kommen. Das ist eine ganz besondere Verpflichtung dieses Parlaments. Insofern sagen wir auch ein positives Wort dazu, Kollege Blüm, daß Sie das finanzielle Volumen erweitern wollen.Die Grundgedanken stammen von uns. Sie füllen etwas auf, Sie ergänzen das, was bitter notwendig ist, um der jungen Generation zu helfen und sie ins Arbeitsleben zu bringen. Hoffen wir, daß wir über den Bericht hinaus mit dieser Maßnahme mehr Erfolg haben.Aber insgesamt sage ich Ihnen: Gegen die Arbeitslosigkeit tut die Rechtskoalition zuwenig. Bemühen Sie sich einmal kräftig, damit wir von dieser Geißel befreit werden!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eimer.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Faustformel „Bessere Bildung — bessere Ausbildung — verbesserte Beschäftigungschancen" gilt — wenn auch mit Abstrichen und Einschränkungen — auch heute noch. Wer den Jugendlichen, die Arbeitsplätze suchen, helfen will, muß deutlich machen, daß es keine raschen, schnell wirksamen Patentrezepte gibt. An Stelle überdimensionierter Beschäftigungsprogramme muß eine Politik kleiner, zielgerichteter Schritte stehen. Alles andere weckt nur Illusionen, denen dann, wenn die öffentlichen Kassen leer sind, ein böses Erwachen folgen muß.Das hier zur Beratung anstehende Änderungsgesetz ist ein derartig notwendiger, wenn auch kleiner Schritt. Das Bildungsbeihilfengesetz wendet sich an eine der Personengruppen, die bei der Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt besondere Schwierigkeiten haben. Vorrangig soll es — darum wird es auch nach der Änderung, Verlängerung des Gesetzes gehen — arbeitslos gewordenen Jungarbeiterinnen und Jungarbeitern ohne Berufsausbildung die Möglichkeit bieten, zusätzliche Qualifikationen — sei es im beruflichen Alltag, sei es durch besondere schulische Maßnahmen — zu erreichen. Ohne eine derartig gezielte Hilfe hätten diese Jugendlichen praktisch keine Chance.Durch die jetzt vorgesehene Änderung wird eine Weiterführung dieses sinnvollen Instrumentariums in den nächsten Jahren ermöglicht; weiterhin wird der Adressatenkreis erweitert. Es ist zu begrüßen, daß auch arbeitslose Schulabgänger im Rahmen dieser Maßnahmen nunmehr grundsätzlich gefördert werden können. Der Bericht der Bundesregierung macht deutlich, daß den Jugendlichen im Rahmen dieser Maßnahmen ein breites Spektrum von Möglichkeiten angeboten wird: von Vorbereitungslehrgängen zum Erwerb des Hauptschulabschlusses, berufsvorbereitenden Maßnahmen über Maßnahmen zur Vermittlung und Erweiterung beruflicher Kenntnisse bis hin zur Teilnahme an allgemeinbildenden Kursen oder an Kursen zur Ergänzung von Kenntnissen, insbesondere in den Fächern Deutsch und Mathematik. Das breite Bündel dieser möglichen Bildungsmaßnahmen zeigt anschaulich, daß zu Recht versucht wurde, den unterschiedlichen Bedürfnissen und Bildungsinteressen der jungen Arbeitslosen Rechnung zu tragen.Ganz besonders zu begrüßen ist die Möglichkeit einer Kombination von Teilzeitbeschäftigung mit Teilzeitbildungsangeboten.
Dies trägt einerseits dem Wunsch vieler Jugendlicher nach Beschäftigung, nach beruflicher Praxis Rechnung, schafft andererseits aber auch die Chance, noch nicht vorhandene Kenntnisse zu erwerben bzw. bestehende zu verbessern oder zu vertiefen.
Dabei ist es wichtig, daß — ich hoffe, dies wird intensiv fortgesetzt — zur Betreuung dieser Jugendlichen verstärkt auch Fachkräfte eingesetzt werden, die wesentlich mit dazu beitragen, daß bestehende Schwierigkeiten und unzureichende Moti-
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vationen abgebaut werden. Mir scheint es richtig zu sein, daß im Mittelpunkt dieser gesamten Projektarbeit Lernen durch praktisches Tun und nicht die graue Theorie steht.
Die Erfahrung eigener praktischer Arbeit motiviert gerade junge Leute sehr viel stärker. Nur so können wir das Null-Bock-Syndrom sinnvoll überwinden. Wie notwendig eine entsprechende Betreuung ist, zeigen auch die hohen Abbrecherzahlen, selbst wenn man berücksichtigt, daß ein Teil der Jugendlichen aufgibt, weil sie eine ihnen zusagende Arbeitsoder Ausbildungsstelle gefunden haben.Meine Fraktion hätte es sicherlich begrüßt, wenn die vorgesehene Bedürftigkeitsprüfung, z. B. bei arbeitslosen Schulabgängern, entbehrlich gewesen wäre. Wir haben uns allerdings überzeugen lassen müssen, daß der begrenzte finanzielle Rahmen die Gefahr von Mitnehmereffekten begründet. Dadurch würde sicherlich gleichzeitig auch die Finanzierung anderer notwendiger Ausbildungsmaßnahmen, z. B. des Benachteiligtenprogramms, beeinträchtigten. Wichtiger erschien uns, daß dieses Programm erweitert, verbessert, fortgeführt werden kann, damit gerade denjenigen, die unserer Hilfe besonders bedürfen, diese auch schnell und sinnvoll zuteil werden kann.Frau Dr. Hamm-Brücher hat gestern in der Debatte zum 6. Jugendbericht gesprochen. In dieser Debatte ging es ja auch um einen Bevölkerungsteil, der benachteiligt ist und unter Arbeitslosigkeit leidet: die Mädchen. Aus Zeitgründen konnte sie einen Punkt nicht mehr ansprechen. Daher hat sie mich ausdrücklich gebeten, dies hier zu erwähnen. Sie spricht sich nachdrücklich und ausdrücklich gegen die vorgeschlagenen Quotierungen aus, weil diese die Probleme, die vor uns liegen, nicht lösen können. Die Probleme werden allenfalls verschleiert, und neue Probleme werden kommen.Die Faustformel „Bessere Bildung — bessere Ausbildung — verbesserte Beschäftigungschancen", von der ich anfangs gesprochen habe, gilt nicht nur, wenn ich den einzelnen Arbeitnehmer individuell anspreche und betrachte, sondern diese Faustformel gilt natürlich auch für die gesamte Volkswirtschaft. Die Konkurrenzfähigkeit unserer Produkte im Ausland, aber auch im Inland — gegenüber Importen — hängt nicht nur von Maschinen, nicht nur von Rationalisierungsmaßnahmen und Kapitaleinsatz ab, sondern auch von der Qualifikation der Arbeitnehmer, die diese Maschinen bedienen. Die Konkurrenzfähigkeit gegenüber Importen und damit unserer Exporte auf den Märkten im Ausland sichert Arbeitsplätze bei uns und holt verlorene oder, besser gesagt, exportierte Arbeitsplätze, zurück.Demgegenüber sehe ich kaum Vorschläge bei der Opposition. Im Gegenteil. Ich habe den Eindruck, daß die Opposition kaum ein Rezept ausläßt, das unsere Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten noch weiter beschneidet.
Ich darf hier nur zwei dicke Brocken ansprechen. Das sind die 35-Stunden-Woche und die sogenannte Maschinensteuer. Wenn Sie mehr Maßnahmen wissen wollen, dann schauen Sie auf die Maßnahmen, die Sie vorhin selbst angesprochen haben, dann schauen Sie auf Ihr Programm. Alle diese Maßnahmen bedeuten, daß wir nicht konkurrenzfähiger werden und mehr Arbeitsplätze zurückholen. Wir werden nicht nur keine Arbeitsplätze erhalten, sondern noch mehr Arbeitsplätze exportieren, und das hauptsächlich nach Fernost.Ich frage mich manchmal wirklich, wieso Sie jungen Leuten einreden können, man könne mit weniger Arbeit mehr Wohlstand und mehr Sicherheit erreichen. Ich meine, wir sollten die jungen Leute ermutigen, an den vorgeschlagenen Maßnahmen teilzunehmen. Ermutigen wir sie, durch praktisches Tun kennenzulernen, daß die Technik nicht Feind der Menschen, sondern ein notwendiges Hilfsmittel in unserer Gesellschaft ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Klejdzinski?
Bitte schön.
Herr Kollege, Sie haben vorhin die sogenannte Maschinensteuer oder Wertschöpfungsabgabe als ein Hindernis genannt. Darf ich Sie fragen, wie Sie letztlich die Rentenversicherung überhaupt bezahlen wollen, wenn die Zahl der Arbeitnehmer immer mehr zurückgeht?
Ich danke Ihnen ausdrücklich für diese Frage. Sie gehen davon aus, daß man das dann durch eine Abschöpfung, mit einer Maschinensteuer bezahlen könnte. Aber Sie vergessen, daß die Ursache nicht darin liegt, daß die Arbeitsplätze abnehmen, sondern darin, daß das Verhältnis derjenigen, die noch nicht oder nicht mehr arbeiten, zu denen, die im Arbeitsleben stehen, immer ungünstiger wird. Die Ursache dafür liegt aber in der Bevölkerungsentwicklung. Durch eine Maschinensteuer können Sie die Bevölkerungsstruktur nicht im geringsten beeinflussen.
Ich fahre fort. — Verbesserte Rahmenbedingungen, gezielte Maßnahmen auf bestimmte Problemgruppen hin können mit dazu beitragen, gerade die Jugendarbeitslosigkeit abzubauen. Der Abbau der Jugendarbeitslosigkeit ist und bleibt eine Aufgabe erster Priorität. Denn wer nach Beendigung der Schule erfahren muß, daß er in unserer Gesellschaft nicht gebraucht wird, wird dies nur sehr schwer verkraften können.
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4798 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jannsen.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn hier heute über Bildungsbeihilfen für arbeitslose Jugendliche geredet wird, dann wird über Jugendliche geredet, die zwischen der Schule und dem Alter von 22 Jahren sind. Ich glaube, Herr Feilcke, Ihre Zahl von 175 000 arbeitslosen Jugendlichen stimmt nicht ganz. Es sind etwa 450 000, und zwar nach den Angaben des Arbeitsamtes in Nürnberg vom September 1983.
— Es tut mir leid, ich habe die Angaben telefonisch erfragt.
Es handelt sich hierbei um Jugendliche, die entweder — in diesem Fall des Gesetzes — keinen Schulabschluß erreichen konnten oder auch keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen können. Es handelt sich also nicht um alle Jugendlichen und auch nicht um alle arbeitslosen Jugendlichen.
Diese Aussage weist auf drei Probleme hin, über die ich kurz einige Aussagen machen werde.
Darf ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen. — Bitte, Herr Feilcke.
Herr Kollege Professor Jannsen, ist Ihnen bekannt, daß die Bundesanstalt für Arbeit überhaupt nicht ermittelt und auch nicht ermitteln kann, wie viele Arbeitslose unter 22 Jahren vorhanden sind? Es ist insofern völlig ausgeschlossen, daß die Zahl, die Sie hier genannt haben, stimmt.
Herr Feilcke, ich darf Ihnen antworten, daß wir ein ausführliches Telefongespräch mit der Bundesanstalt für Arbeit geführt haben und daß in diesem Telefongespräch für jeden einzelnen Jahrgang von 15 bis 22 Angaben darüber möglich waren, übrigens auch Angaben darüber, wie viele junge Männer und wie viele junge Frauen darunter waren. Ich habe die Zettel bei mir; Sie können sie nachher gerne einsehen.
Folgt man dem Bericht der Bundesregierung zur Wirkung dieses Gesetzes über die Bildungsbeihilfen, so handelt es sich bei diesen Jugendlichen um einen besonders schwierigen Personenkreis aus der Gruppe jüngerer Arbeitsloser, der ohne entsprechende Bildungsmaßnahmen kaum eine Chance einer dauerhaften beruflichen Eingliederung hätte. Es handelt sich also um junge Menschen, die aus ihrer Schulzeit keinen Gewinn für ihr weiteres Leben mitnehmen konnten. Immerhin sind es in den letzten Jahren pro Jahr etwa 100 000 junge Menschen, an denen die Hauptschule und auch alle anderen Schultypen versagt haben. Das zwingt doch meines Erachtens zum Nachdenken auch über die Schulen, über die Formen, in denen heute von jungen Menschen Lernen verlangt wird.
Wohlgemerkt, es geht nicht um die 90% der jungen Menschen, die unser Schulsystem überstehen, sondern es geht um die 10%, die am Rande bleiben, die draußen bleiben und denen auch die Faustformel des Herrn Eimer nicht allzu viele Chancen geben wird. Denn da stehen ja — ich habe die Zahlen eben genannt — noch viele andere an, die den Hauptschulabschluß längst gemacht haben, die ihre Berufsausbildung gemacht haben, die auch einen Arbeitsplatz haben wollen, die aber auch keine Arbeit finden. Ob die jungen Leute ohne Abschluß in dieser Konkurrenz wirklich eine Chance haben, sollte doch noch einmal sehr genau überprüft werden. Ich halte es für sehr fraglich.
Wenn das, was in der Schule nicht möglich war, jetzt — das ist dem Bericht zu entnehmen — durch Bildungsmaßnahmen, die über die Bundesanstalt für Arbeit gesteuert werden, korrigiert werden soll, wird diesem Programm sicherlich nicht besonders großer Erfolg beschieden sein, auch wenn sich sehr viele junge Leute inzwischen darum bemühen, im Rahmen dieses Programms gefördert zu werden. Aber Herr Eimer hat zu Recht schon auf die sehr hohe Abbrecherquote hingewiesen, die meines Erachtens etwas damit zu tun hat, daß diese jungen Menschen über Jahre ihres Lebens zum Lernen gezwungen worden sind, zum Lernen an Dingen und mit Dingen, die sie nicht verstanden haben und nicht verstehen wollten, für die sie kein Interesse hatten.
Vielleicht hilft ihnen dann das Lernen in der Praxis, aber vielleicht hätte es ihnen mehr geholfen, wenn sie das schon früher hätten erfahren können.
Ich habe die Zahlen bereits genannt: Im September 1983 gab es an arbeitslosen Jugendlichen unter 22 Jahren 242 000 junge Frauen und 227 000 junge Männer. Von diesen haben einige den Berufsschulabschluß nicht erreichen können. Ich habe leider nur Zahlen für das Jahr 1982, die uns aber die Größenordnung angeben. Bei den unter 20jährigen waren 1982, was den Hauptschulabschluß angeht, knapp 60 000 ohne Erfolg. Ohne beruflichen Abschluß waren 1982 — wiederum bei den bis 20jährigen — 127 000. 1983 und 1984 dürften die Zahlen nicht wesentlich anders aussehen.Neben der Schule, der Schulausbildung und der Berufsausbildung gibt es aber, wie ein Blick auf die Geschichte dieses Gesetzes und auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit allgemein und besonders der Jugendarbeitslosigkeit zeigt, eine zweite Ursache der Jugendarbeitslosigkeit und der Notwendigkeit dieses Gesetzes, bei dem die Geltung über län-
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Dr. JannsenBere Zeit ja nun nicht gerade das Schönste ist, was man sich denken kann, sondern etwas, was leider eintritt, weil es notwendig ist, in diesem Zusammenhang noch für weitere Jahre etwas zu tun. Etwa seit 1978/79 steigt die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen im Alter von unter 20 Jahren — für andere Altersgruppen liegen mir keine Zahlen vor — sprunghaft an. Ab 1982 gilt dieses Gesetz. Ein enger Zusammenhang ist damals auch vom Gesetzgeber gesehen worden. Er ist auch heute noch unübersehbar. Die hohe Arbeitslosigkeit ist ebenfalls ursächlich für diese Situation, nicht etwa nur die schlechte Ausbildung und die mangelnde Schulbildung, denn die Zahl der Hauptschulabgänger ohne Abschluß ist in dieser Zeit nicht gestiegen.Um dieses Problem wirklich in den Griff zu bekommen, muß also Arbeitslosigkeit beseitigt werden. Ob Sie dies mit Wachstum oder mit Sondermaßnahmen schaffen, weiß ich nicht. Ich selber bin nicht in der Lage und zur Zeit auch nicht bereit, darüber Aussagen zu machen, wie denn Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik im allgemeinen und insbesondere bei jungen Leuten abzubauen sei. Das System, in dem hier Arbeit verteilt wird, ist nicht geeignet, dieses Problem zu lösen.
Das Gesetz soll und wird dieses Problem auch nicht lösen. Es soll aber eine Hilfe für diejenigen sein, die aus dem vielgepriesenen Ausbildungssystem und der Arbeitswelt in der Bundesrepublik herausgefallen sind.
Es soll — so der Bericht der Bundesregierung — bildungsmüde Jugendliche anstoßen, damit sie sich in den tagtäglichen Kampf der über 600 000 jungen Menschen um die wenigen angebotenen Arbeitsplätze mit ein wenig mehr Chancen einmischen können.Es werden aber nur wenige tatsächlich gefördert. Noch weniger erreichen das gesteckte Ziel. Wie so oft — dies wurde gestern in der Debatte über die Frauenarbeitslosigkeit deutlich gemacht — trifft die Maßnahme Frauen wiederum weniger als Männer. Nach den bisher im Bericht vorliegenden Zahlen sind knapp 40 % Frauen und rund 60 % Männer gefördert worden, obwohl die Zahl der arbeitslosen Frauen unter 22 Jahren — ich habe diese Zahl vorhin genannt — höher ist als die Zahl der arbeitslosen Männer dieser Altersgruppe.
Die Diskussion wird gestern hoffentlich nicht von allen beendet worden sein. Bei uns ist sie jedenfalls gestern abend nicht abgeschlossen worden.
Obwohl wir wissen, daß kein einziges der Probleme — mangelhafte Ausbildung, hohe Arbeitslosigkeit der Jugendlichen, Benachteiligung von weiblichen Jugendlichen — durch dieses Gesetz gelöst wird und auch nicht gelöst werden kann, werden wir zustimmen, denn immerhin erhalten einige Jugendliche die Möglichkeit, wenigstens für eine geringe Summe Geldes ihre Chancen auf einen Arbeitsplatz zu verbessern, was in dieser Gesellschaft heute auch keine Selbstverständlichkeit ist.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Vogt.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Urbaniak, Sie haben vorhin in Ihrem Debattenbeitrag
einem Mitglied der CDU/CSU-Fraktion mangelnde Sachkenntnis vorgeworfen. Ich würde empfehlen, daß Sie sich nach dem Sprichwort verhalten: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Ich muß Ihnen sagen: Sie müßten eigentlich wissen, daß der Arbeitsmarkt ein konjunktureller Spätindikator ist. Wenn es wirtschaftlich abwärts-geht, so ist das auf dem Arbeitsmarkt sehr spät bemerkbar. Auch wenn es aufwärtsgeht, zieht der Arbeitsmarkt erst spät nach. Sie versagen sich ja aber gerade vor der Aufgabe: Wie kann eine wirtschaftliche Erholung schneller in einen höheren Beschäftigungsstand umgesetzt werden? Ihnen fällt nur der Vorwurf des Sozialabbaus ein. Herr Kollege, das ist sehr schwach.
— Herr Kollege Urbaniak, wenn wir die Ausbildungsstellenbilanz für das Ausbildungsjahr 1981/82 mit der Bilanz für das Jahr 1982/83 vergleichen, können wir feststellen, daß die Bilanzen gleich ausfallen: Etwa 22 000 Jugendliche konnten nicht versorgt werden. Das sind 22 000 zuviel. Auf der anderen Seite haben wir im Ausbildungsjahr 1982/83 aber ein Rekordergebnis erzielt. Wegen dieses Rekordergebnisses, meine Damen und Herren, brauchen wir uns und braucht sich die ausbildende Wirtschaft nicht zu schämen.
Im übrigen bitte ich Sie, wenn Sie immer mit der Senkung der ertragsunabhängigen Steuern operieren, zu überprüfen, was denn wohl auf die Dauer Arbeitsplätze schafft. Wenn es nicht gelingt — aber wir sind auf dem besten Wege dorthin —, dazu zu kommen, daß das Sachkapital wieder mehr Rendite abwirft als das Finanzkapital, werden keine Arbeitsplätze geschaffen. Auch Sie werden mit Ihren Beschäftigungsprogrammen, von denen Sie ständig reden, keine schaffen.
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Parl. Staatssekretär VogtDie Praxis hat gezeigt, daß dieses Programm der Bildungsbeihilfen für arbeitslose Jugendliche wirksam war. Es hat sich bewährt. Über 15 000 Jugendliche sind gefördert worden, vor allem Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeiter. Deshalb wird vorgeschlagen — und heute beschlossen werden —, das Programm bis 1987 fortzuführen und 205 Millionen DM zusätzlich dafür zur Verfügung zu stellen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lutz?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber selbstverständlich.
Herr Abgeordneter Lutz.
Herr Staatssekretär, da wir heute interfraktionell gemeinsam ein Gesetz beschließen werden: Können wir dann nicht einmal von dem politischen Ritual der gegenseitigen Beschimpfung ablassen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Lutz, ich nehme an, daß Sie während des Debattenbeitrages Ihres Kollegen Urbaniak nicht im Saal gewesen sind; denn ich kann mich daran erinnern, daß er in seiner zehnminütigen Rede acht Minuten über ganz etwas anderes als den Gesetzentwurf, der hier heute beraten und beschlossen werden soll, gesprochen hat.
Meine Damen und Herren, dieses Programm schafft ein zusätzliches berufliches Bildungsangebot, und es erreicht eine sozialpolitisch besonders wichtige Zielgruppe, nämlich Jugendliche, die keine Ausbildung gehabt haben. Wir behaupten nicht, daß wir mit diesem Gesetzentwurf ein Antibiotikum gegen die Jugendarbeitslosigkeit hätten. Aber das Bildungsbeihilfengesetz ist eine der vielfältigen Strategien im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Und die Erfolge im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit können doch nicht übersehen werden. Herr Kollege Jannsen, ich will nur auf die amtliche Statistik der Bundesanstalt für Arbeit verweisen: Bei Jugendlichen unter 20 Jahren ist die Jugendarbeitslosigkeit im Durchschnitt geringer.
Und die Zahl der arbeitslosen Jugendlichen ist rückläufig. Im Vergleich zum Vorjahresmonat waren bei den Jugendlichen unter 20 Jahren 14 % weniger arbeitslos. Dieser Fortschritt ist ein Erfolg der vielen kleinen Schritte. Wir behaupten gar nicht, das große Rezept zu haben. Aber die Politik der tausend Schritte wird uns helfen, auch die Jugendarbeitslosigkeit weiter wirksam zu bekämpfen.
Meine Damen und Herren, eine gründliche berufsqualifizierende Ausbildung ist eben nach wie vor die beste Startrampe für das Berufsleben und der wirksamste Schutz gegen Arbeitslosigkeit. 17% der Arbeitnehmer ohne einen berufsqualifizierenden Abschluß sind arbeitslos, dagegen nur 6% derer, die eine berufliche Qualifikation haben. Auch dies weist noch einmal aus, wie wichtig berufliche Qualifikation ist, um die Beschäftigungschancen zu verbessern.
Meine Damen und Herren, nicht alle Jugendlichen schaffen auf Anhieb die Hürden des Weges zu einem qualifizierten Beruf.
Das Bildungsbeihilfenprogramm für Arbeitslose setzt genau bei dieser Gruppe von Jugendlichen an. Es gibt diesen Jugendlichen eine zweite Chance.
Über die verschiedenen Maßnahmen, die jetzt in dem Gesetzentwurf neu enthalten sind, haben meine Vorredner, die zur Sache gesprochen haben, schon Ausführungen gemacht.
Ich brauche dies hier nicht zu wiederholen. Ich will nur noch einmal aufzählen: Möglichkeit, den Hauptschulabschluß nachzuholen, Ausweitung des Kreises förderungsberechtigter Personen, Kombination von Lernen und Arbeiten. Dies ist besonders für diese Gruppe von Jugendlichen wichtig, die oftmals von einer gewissen Schulmüdigkeit gekennzeichnet sind. Grade für sie bieten Lernen und Arbeiten in Kombination eine Perspektive für die Zukunft.
Mit der Entscheidung heute ist die Voraussetzung geschaffen, daß die Programme weitergeführt werden können. Die Bildungsträger haben jetzt den Spielraum, ihre organisatorischen und personellen Entscheidungen im Interesse der Jugendlichen zu treffen. Ich bedanke mich für die zügige Beratung dieses Gesetzentwurfs.
Ich danke Ihnen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einstimmig in der zweiten Lesung angenommen.Wir treten in die dritte Beratungein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das Gesetz ist in der dritten Lesung einstimmig angenommen.
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Vizepräsident Frau RengerIm übrigen hat der Deutsche Bundestag den Bericht der Bundesregierung über die Gewährung von Bildungsbeihilfen für arbeitslose Jugendliche aus Bundesmitteln auf Drucksache 10/857 zur Kenntnis genommen.Ich rufe den Punkt 24 der Tagesordnung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes
— Drucksache 10/964 —a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft
— Drucksache 10/1248 —Berichterstatter:Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil Frau Schmidt
b) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung— Drucksache 10/1295 —Berichterstatter:Abgeordnete Dr. Riedl ZanderVerheyen
Im Ältestenrat ist für die Aussprache in der zweiten Beratung eine Runde vereinbart worden. Für die dritte Beratung ist die Abgabe von Erklärungen bis zu zehn Minuten für jede Fraktion verabredet worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Es ist so beschlossen.Wünscht ein Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall.Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Anlaß dieser Beratung ist erfreulich: Das BAfföG für Studenten konnte erhöht werden. Dies ist der schlichte Kern der heutigen Beratungen in zweiter und dritter Lesung.Ganz so selbstverständlich ist das nicht. Zur Zeit der sozialliberalen Koalition war die Gesamtsumme der Ausbildungsförderung im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung eingefroren worden. Das bedeutete: Bei steigenden Schüler- und Studentenzahlen mit Ansprüchen auf Ausbildungsförderung und bei gleichzeitig steigenden Lebenshaltungskosten mußten in Zukunft die auszahlbaren Beiträge kleiner und die Einkommensgrenzen geringer werden. Daß es dazu nicht kam, dazu, Frau Minister Wilms, kann man Ihnen an diesem Tag ruhig gratulieren.
Möglich geworden sind diese Erhöhungen — und auch künftige, an die man ja denken muß — nicht durch neue Schulden, sondern durch eine ausgewogene Umstrukturierung der Ausbildungsförderung, die den sozialen Kern langfristig sichert, nämlich daß jeder, der dazu befähigt ist und es wünscht, auch dann studieren kann, wenn seine Eltern es nicht finanzieren können. Begreiflicherweise wird die Opposition die Debatte wohl von dem genannten Kern wegzulenken versuchen und auf diese Umstrukturierung zu sprechen kommen, für die inzwischen ein forstwirtschaftlicher Begriff weit über die Opposition hinaus Eingang in die bildungspolitische Umgangssprache gefunden hat
— bis hin zum Bundeskanzler —: der Kahlschlag.Da ich mit der Forstwirtschaft vertraut bin, kenne ich den Begriff. Einen Kahlschlag einer bestimmten Fläche nimmt man nur vor, wenn das zu schlagende Holz hiebsreif ist und im Idealfall die Naturverjüngung schon nachwächst.Wenn in der heutigen Debatte die Frage im Vordergrund steht, ob im Bereich der Schülerförderung der Kahlschlag zu hart gewesen sei, so stellt sich — um im forstwirtschaftlichen Bild zu bleiben — für die Endnutzung, wie der Kahlschlag in der Fachsprache heißt, die Frage, ob die Hiebmenge zu groß war, ob der Einschlag zu früh erfolgte, und schließlich, ob rechtzeitig für Jungwuchs gesorgt wurde.Zunächst die Einschlagmenge. Es sind ja Altholzreste geblieben. Geblieben ist die Förderung für den, der auswärts untergebracht werden muß, z. B. im Internat. Geblieben ist die Weiterförderung für den zweiten Bildungsweg. Bei letzterem ist zuzugeben: es wäre sicher befriedigender gewesen, wenn wir Fachoberschüler und Schüler von Berufsaufbauschulen weiterhin hätten fördern können. Allein die Haushaltslage, die wir 1982 vorfanden, ließ uns keine Wahl.Um dieses und andere Probleme zu bereinigen, genügt es allerdings nicht — wie im SPD-Antrag geschehen —, für Besucher der Abendrealschule und des Abendgymnasiums deutliche Verschlechterungen durch Inanspruchnahme der Eltern vorzusehen. Der soziale Kernbereich der Ausbildungsförderung würde getroffen, wollte man die Eltern von in der Regel erwachsenen Kindern erneut heranziehen.Im Grunde genommen — dies ist meine persönliche Meinung; aber wo kämen wir hin, wenn ein Abgeordneter seine persönliche Meinung nur noch im Ausschuß und nicht mehr im Plenum sagen dürfte? — sollte man überlegen, ob die schulische Weiterbildung von Volljährigen, die sich nach einer beruflichen Tätigkeit weiterzubilden wünschen, nicht mit der beruflichen Weiterbildung in einem umfassenden Förderkanon nach Darlehensmuster zusammengefaßt werden sollte. Beide Bereiche der Erwachsenenbildung — also die im schulischen Bereich für Volljährige und die im beruflichen Bereich— gehören ja ganz eng zusammen. Ich habe schon in einer früheren Rede auf die Bedeutung hingewiesen, die die Weiterbildung in der Zukunft haben
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Graf von Waldburg-Zeilwird. Wir sollten ruhig schon jetzt darangehen zu überlegen, die Förderung für die schulische und die berufliche Weiterbildung Erwachsener als wesentlichen Teil des Bildungsbereiches zusammenzuführen.Zurück zu unserem waldbaulichen Vergleich. Auch über den Zeitpunkt der Nutzung läßt sich streiten. Ich will gar nicht leugnen, daß es günstiger gewesen wäre, eine grundlegende Schülerförderungsänderung erst dann vorzunehmen, wenn die geburtenschwachen Jahrgänge das Abitur erreicht haben würden. Nur: 1982 hatten wir nicht nettoneuverschuldungsfrei übernommen wie die sozialliberale Koalition 1969.
— Daran darf man, lieber Kollege, zum Geburtstag des Altbundeskanzlers Kiesinger ruhig einmal erinnern.Was nun die Länderregelungen betrifft, ist hier sicher weder Zeit noch Ort, eine Föderalismusdebatte zu führen. Man kann der begründeten Ansicht sein — der ich als überzeugter Föderalist anhänge —, daß die ortsnahen Länder die Förderung der zu Hause lebenden Schüler übernehmen sollten, allerdings unter Wahrung der einheitlichen Lebensverhältnisse im Bundesgebiet.Ich würde es sehr gut verstehen, wenn die Opposition — um im Waldbild zu bleiben — mürrisch auf Baumstümpfe weist, neben denen wachstumsfreudige und gleichwertige Ersatzregelungen hochgewachsen sind, und andere, bei denen Buchgeschenke an Leistungsbeste als Kümmerbäumchen stehen.Aber wenn Länder, dann Länder. Ich hoffe, daß allzu Verschiedenes rasch auch dem Scharfsinn der Ministerpräsidenten und Kultusminister auffallen wird und einer entsprechenden Angleichung zugeführt werden kann. Allerdings fürchte ich, daß wir hier in Kürze keine Föderalismus-, sondern eine Partikularismusdebatte haben werden. Denn es ist beachtenswert, wenn heute maßgebliche Wirtschaftsverbände bereits vor der Gefahr eines Kulturpartikularismus und der eines allmählichen Rückzugs des Bundes aus der Bildungspolitik warnen.Nun hat der Bundeskanzler die zweite Möglichkeit ebenso klar angesprochen, etwa verbleibende Unstimmigkeiten durch den Familienlastenausgleich zu lösen. Ich meine, daß es von Anfang an richtiger gewesen wäre, Ausbildungskosten für Kinder, die über die normalen Lebenshaltungskosten hinausgehen, im Rahmen des Familienlastenausgleichs abzudecken durch direkte Transferleistungen bei Einkommensschwachen und durch Freibeträge bei den progressiv Steuerbelasteten. Vieles vom schlechten Ruf des Schüler-BAföG ging ja auf die Tatsache zurück, daß die Beträge den Konten der volljährigen Schüler gutgeschrieben wurden und von diesen oft nicht als familienergänzendes Einkommen, sondern als privates Einkommen verwendet wurden. Korrekturen in diesem Bereich sollten deshalb nun wirklich in den Familienlastenausgleich eingebracht werden. Dies ist eine Chance nicht nur zum Ausgleich von Härtefällen, sondern zur Berichtigung eines von vornherein falschen Ansatzes.Nun haben Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der SPD — jedenfalls im Ausschuß —, weder die Ergänzung der Studentenförderung abgelehnt noch grundsätzlich Kritik an der Familienlastenausgleichslösung geübt, noch an solchen Länderregelungen, die gut gelungen sind. Sie haben sich darauf beschränkt, einige Teilprobleme aufzugreifen und zum Einbau in die BAföG-Novelle zu empfehlen. Ich übe keinerlei Kritik an diesen Vorschlägen, einige scheinen mir sogar ausgesprochen vernünftig.
— Sicher. — Ihr Problem ist nur, daß hier 50 Millionen DM, dort 60 DM anfallen. Genauso kann man mit vernünftigen Vorschlägen und zig Milliönchen hier und dort jedes Sparkonzept im Grunde genommen zunichte machen. Die Anträge summieren sich auch in anderen Bereichen; wir müssen nur die Debatte der letzten Woche zurückverfolgen. Besser ist aber eine neue Sohle als ständige Flickschusterei, mit der man die Füße auf Dauer nicht trocken kriegt.
Deshalb muß ich empfehlen, daß wir Ihre Anträge — trotzdem ich gesagt habe, daß sie vernünftig sind —, hier ablehnen.Lassen Sie mich schließlich mit dem nochmaligen Hinweis, daß wir ein Gesetz zu Ende beraten, nach dem die geförderten Studenten, Internatsschüler sowie Schüler des zweiten Bildungsweges mehr statt weniger bekommen. Dies sollte man trotz aller Kritikpflicht der Opposition nicht ganz vergessen. Ich bitte Sie deshalb, der achten BAföG-Novelle zuzustimmen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Odendahl.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anlaß unserer heutigen Debatte ist die Überprüfung bzw. Neufestsetzung der Bedarfssätze und Freibeträge nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, zu der die Bundesregierung alle zwei Jahre verpflichtet ist.Graf Waldburg, Sie haben das als einen freudigen Anlaß bezeichnet. Ich konstatiere das im Grundsatz auch. Diese Neufestsetzung wird von meiner Fraktion grundsätzlich begrüßt. Allerdings sind die jetzt angesetzten Erhöhungen völlig unzureichend,
wenigstens die inzwischen eingetretenen Preissteigerungen bei der Lebenshaltung aufzufangen. Miteiner solchen Reparaturnovelle läßt sich nun ein-
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Frau Odendahlmal nicht zukleistern, was Sie seit der Wende mit Ihrem BAföG-Kahlschlag an Chancengleichheit bei der Bildung für alle jungen Menschen zerstört haben.Und wenn vor kurzem der Bundeskanzler Helmut Kohl eingestehen mußte, daß beim Schüler- und Studenten-BAföG der Kahlschlag möglicherweise zu hart war, so hätten Sie jetzt die Möglichkeit, einige der verheerendsten Auswirkungen dieses Kahlschlags zurückzunehmen. Denn dieses Eingeständnis erfordert Konsequenzen, auch wenn einige Regierungsmitglieder noch immer weniger einsichtig als der Bundeskanzler von „ordnungspolitisch notwendigen BAföG-Umstellungen" sprechen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
Ja, bitte.
Frau Kollegin Odendahl, teilen Sie meine Auffassung, daß der Herr Bundeskanzler gut daran täte, sein in der „Bild"-Zeitung veröffentlichtes Eingeständnis, daß der BAföG-Kahlschlag möglicherweise zu hart gewesen sei, im Hohen Haus persönlich zu vertreten?
Ich würde das ebenfalls sehr begrüßen, aber wir waren schon von der Diskussion der Lehrstellengarantie her nicht sehr verwöhnt, was die Präsenz betraf.
Lassen Sie uns hier noch einmal offenlegen, was Sie mit Ihren sogenannten ordnungspolitischen Umstellungsmaßnahmen, sprich: Kahlschlag, alles angerichtet haben. Als das Bundesausbildungsförderungsgesetz am 23. Juli 1971 im Deutschen Bundestag einstimmig verabschiedet wurde, lautete die Begründung: Der soziale Rechtsstaat, der soziale Unterschiede durch eine differenzierte Sozialordnung auszugleichen hat, ist verpflichtet, durch Gewährung individueller Ausbildungsförderung auf eine berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzuwirken. — Diese Verpflichtung haben Sie inzwischen aufgegeben. Von der damaligen Gemeinsamkeit ist nichts übriggeblieben. Diese Gemeinsamkeit haben Sie aufgegeben, als Sie eine Diskussion über einzelne Mißbräuche bereitwillig übernahmen, anstatt diese — dabei hätten Sie unsere Unterstützung gehabt — gemeinsam auszuräumen. Sie haben das diffamierende Wort vom „Schülertaschengeld" in Ihrem Sprachgebrauch übernommen, und die Bildungsministerin Frau Wilms hat schließlich ausgeführt, das Schüler-BAföG habe die Kinder aus den Elternhäusern getrieben.
1969 haben alle Fraktionen gemeinsam eine bundeseinheitliche Regelung für die Herstellung einer Chancengleichheit im Bildungswesen für erforderlich gehalten.
Nachdem mit der Wende das Förderungsgesetz des Bundes zu Fall gebracht war, versprach die Bundesregierung, der ausdrücklichen Forderung des Deutschen Bundestages, sich um eine einheitliche Länderförderung zu bemühen, nachzukommen. Diese Bemühungen sind ganz kläglich gescheitert. Das Chaos von Passau bis Flensburg ist perfekt.
Herr Daweke, als bildungspolitischer Sprecher Ihrer Fraktion haben Sie das gewertet. Sie haben gesagt:
Das Ergebnis der Rückübertragung ist deprimierend. Einige Länder haben überhaupt keine Schülerförderung eingeführt,
und in anderen Ländern bestehen die unterschiedlichsten Systeme, Anspruchsvoraussetzungen und Leistungen. Die Chancengleichheit ist auf der Strecke geblieben.
Weil wir gerade bei den Ländern sind: Auch hier gibt es inzwischen ganz interessante Erkenntnisse. Ich spreche hier von der NAföG-Regelung. Diesbezüglich hat Ministerpräsident Albrecht vor kurzem im Landtag Antwort gegeben. Die Bilanz der NAfög-Regelung sieht nämlich so aus: Über 40% der Geförderten sind Kinder von Freiberuflern, die also deshalb an dieser Förderung partizipieren, weil sie mit allen möglichen Tricks ihr steuerpflichtiges Einkommen auf Minimalbeträge reduzieren können.
Frau Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Milz?
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen, weil ich knapp in der Zeit bin.
Für die Familien mit viel kleineren Einkommen, dafür aber mit Lohnsteuerkarte, bleibt meist nur die Null-Lösung. Das bedeutet: Pech für Arbeitnehmer; ihre Kinder gehen leer aus. Nicht leer gehen aber Leute aus, die es sich leisten können, ihre Kinder auf exklusive Internate zu schicken. Da sie leicht nachweisen können, daß eine Schule mit einem vergleichbaren, meist sehr spezifischen Bildungsangebot von ihrem Wohnort aus nicht zu erreichen ist, erhalten sie die volle Förderung und können dann diese geförderten Internatskosten auch noch von der Steuer absetzen.
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Frau OdendahlDie vorher angesprochenen Familien mit kleineren Einkommen, dafür aber mit Lohnsteuerkarte, vertrösten Sie nun damit, daß bei der Neuordnung und Verbesserung des Familienlastenausgleichs die Ausbildungskosten für die Familien durch steuerliche Entlastungsmaßnahmen berücksichtigt werden. Meine Damen und Herren, wenn die Ausbildungskosten aber lediglich steuerlich angerechnet werden, führt das nicht zu einem Lastenausgleich, sondern nur dazu, daß die wirklich Bedürftigen nichts bekommen, im Abseits gelassen werden, während die Vermögenden wieder die Nutznießer sind.In verschiedenen Regierungsankündigungen jongliert man mit diesem Familienlastenausgleich in einem Zeitraum zwischen 1986 und 1988. Die Regierung bleibt denen die Antwort schuldig, die als Betroffenen des BAföG-Kahlschlags fragen, wo denn ihre Chancengleicheit bleibt, wer ihnen denn die Tür offenhält — Sie verwenden diesen Begriff hier oft — für eine Ausbildung nach ihrer Eignung und ihrer Neigung.
Die Frage ist berechtigt; denn vielen wurde die Tür inzwischen versperrt. Das zeigt die rückläufige Zahl der BAföG-Anträge trotz steigender Studentenzahlen. Man kann hier schon von einem Abschrekkungseffekt durch das Volldarlehen sprechen. So sind z. B. laut Angabe des Deutschen Studentenwerks in Aachen die Studentenzahlen dort um 6% gestiegen, während die Erstanträge aber um 33 % zurückgingen. Dafür gibt es noch viele Beispiele.Bei der Verabschiedung des Berufsbildungsberichts führte Frau Wilms aus, daß die Bedarfsprognose für Ausbildungsplätze auch deshalb nach oben verlagert werden mußte, weil das Ausbildungsverhalten junger Menschen zur Zeit großen Veränderungen unterliege. Dabei führe ein geändertes Bildungsverhalten, etwa von Abiturienten, die dem Studium zunehmend eine betriebliche Ausbildung vorziehen oder vorschalten, zu der weiter steigenden Nachfrage. Daß die Abschreckung auf Mädchen in weit stärkerem Maße gewirkt hat, wurde gestern bei der Diskussion über den Sechsten Jugendbericht von der Kollegin Frau Dr. Hamm-Brücher mit exakten Zahlen belegt.
Aber, Frau Wilms, Sie können das nicht nur auf die schlechteren Berufschancen für Lehrer und als Folge davon auf den deutlichen Rückgang der Lehramtsstudenten zurückführen. Die Entscheidung fällt insbesondere bei Familien mit mehreren Kindern in der Familie, der Sie durch Ihren BAföG-Kahlschlag diese Entscheidung aufgezwungen haben,
und die in der Regel, wenn sie zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Männern und Frauen gefällt werden muß, zuungunsten der Mädchen ausfällt.Damit, meine Kolleginnen und Kollegen, schließt sich auf sehr bedrückende Weise der Kreis zu unserer gestrigen Debatte über Frauenarbeitslosigkeit und über die Konsequenzen aus dem Sechsten Jugendbildungsbericht.
Positiv ist zu bewerten, daß aus allen Untersuchungen hervorgeht, daß sich gerade junge Frauen, gestützt auf die Erfahrungen ihrer Mütter, auflehnen. Sie nehmen diesen Staat in die Pflicht, wo er die Antwort auf gleiche Chancen für die junge Generation schuldig bleibt, und sie tun das mit Recht; denn an diesem Ausbildungsförderungsgesetz werden wir gemessen, und hier stehen wir gemeinsam im Wort.
Wir haben heute die Chance, wenigstens die gravierendsten Ungerechtigkeiten in Ordnung zu bringen. Die SPD-Fraktion hat Anträge zu dieser Novelle eingebracht, die meine Kollegin Renate Schmidt im einzelnen erläutern wird. Folgen Sie bei der Abstimmung darüber der Einsicht des Bundeskanzlers, daß dieser BAföG-Kahlschlag revidiert werden muß!
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft war vereinbart worden, im Interesse der Begünstigten — ich sage nicht: Betroffenen — durch die Verbesserungen der Achten Novelle zum Bundesausbildungsförderungsgesetz eine grundsätzliche Aussprache, die u. a. auch noch wegen des Berichts der Bundesregierung zum Entschließungsantrag des Deutschen Bundestages vom 16. Dezember 1982 notwendig ist, zurückzustellen. So begrüßenswert diese Vereinbarung war und auch weiterhin bleiben wird, hindert nichts daran — die bisherigen Debattenbeiträge haben es schon gezeigt —, die Verbesserungen, die wir heute zu beschließen haben, im Zusammenhang der nun schon lange andauernden Auseinandersetzungen über das Gesamtproblem der Ausbildungsförderung zu diskutieren, zu beurteilen und zu betrachten.Aber zunächst möchte ich zu den Verbesserungen kommen. Wir begrüßen ausdrücklich die Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge im Herbst 1984 um rund 4 % und die für 1985 vorgesehene Zwischenanpassung der Freibeträge um 2 %. Wir schließen uns dem Dank an, den Graf von Waldburg-Zeil an Frau Bildungsminister Dr. Wilms schon erstattet hat.
Meine Damen und Herren, selbstverständlich — daran kann es gar keinen Zweifel geben — kann man darüber, ob solche Anpassungen ausreichend
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Neuhausensind, immer verschiedener Meinung sein. Das kenne ich schon aus der alten Koalition. Aber angesichts der in vielen Politikbereichen notwendigen Konsolidierungsbeiträge — ich versage es mir, hier die Beispiele zu nennen — kann und muß die Tatsache, daß hier eine doch spürbare Verbesserung vorgenommen wird, als ein wichtiger und richtiger Schritt der Bundesregierung gewürdigt werden.Gerade weil die Bundesregierung in ihrer Begründung zum Gesetzentwurf feststellt, daß der Finanzrahmen nicht ausreiche, um bei Bedarfssätzen und Freibeträgen den zwischenzeitlich eingetretenen Preisanstieg voll auszugleichen, sollte dieser Schritt vor dem Hintergrund der allgemeinen Finanzsituation auch bei den Begünstigten eine realistische — ich wiederhole: eine realistische — Würdigung finden.
Nun hat die SPD — es wurde gerade begründet — im Ausschuß und auch heute zur zweiten Lesung des Gesetzentwurfs einige Änderungsvorschläge eingebracht. Ebensowenig wie Graf von Waldburg-Zeil stehe ich nicht an, zu erklären, daß damit tatsächlich der Finger auf einige Schwachpunkte der jetzigen Regelung gelegt wird. Aber wenn sich die SPD in ihrer Begründung auf eine Interviewäußerung des Bundeskanzlers beruft, die Gesetzgebung zum BAföG im Rahmen der Haushaltsbegleitgesetze 1983 sei mit heißer Nadel genäht — eine Anmerkung, die ich durchaus teile; da stimme ich mit dem Herrn Bundeskanzler überein —, dann muß man allerdings sagen, daß die Nadel, mit der die Vorschläge der SPD, insbesondere die im Ausschuß vorgelegten Deckungsvorschläge, genäht wurden, noch viel heißer glüht.
Wo auf der einen Seite Schwachstellen und Härten beseitigt bzw. ausgeglichen werden sollen, werden auf der anderen Seite neue geschaffen. Ich frage mich, wenn im Ausschußbericht als einem Teil der Begründung der SPD-Vorschläge davon die Rede ist, durch ihre Anträge werde erheblich zur Akzeptanz des Gesetzes beigetragen, wie es denn um die Akzeptanz der vorgeschlagenen Einschränkung der elternunabhängigen Förderung für Schüler von Abendgymnasien und Kollegs bei den davon Betroffenen bestellt ist, so unstimmig es ist, daß in der jetzigen Regelung der allgemeine zweite Bildungsweg deutlich gegenüber dem berufsschulischen bevorzugt wird.Was die Akzeptanz einer zweiten Deckungslösung anlangt, nämlich den Einkommensbegriff nach § 21 so zu verändern, daß Verluste und/oder Abschreibungen aus einer Einkommensart für die Ermittlung des Einkommens prozentual begrenzt werden, so sehe ich ebenfalls das Echo auf diesen mit der heißen Nadel genähten Einschnitt als sehr düster an.Meine Damen und Herren, überhaupt hat sich der Begriff der Akzeptanz meines Erachtens in der politischen Diskussion — da schließe ich mich natürlich selbstkritisch mit ein — allzu breitgemacht.Im Ausschußbericht kommt er gleich zweimal vor: einmal in dem bereits zitierten Sinn der Akzeptanz bei den Betroffenen, zum anderen von seiten der Regierungsfraktionen im Hinblick auf den sogenannten Mangel an Akzeptanz des früheren Förderungsrechts bei der Bevölkerung im allgemeinen. Schlicht gesagt: Diejenigen, die etwas bekommen, akzeptieren das meist gern, auch wenn es ihnen zuwenig erscheint. Aber bei denen, die sich vorstellen, daß sie mit ihren Steuern dazu beitragen, herrscht oft — wir haben es erfahren — ein anderer Eindruck vor.Aber darauf sollte es — ich habe mir ein Stück Naivität bewahrt — eigentlich, wenn man das Schielen nach politischer Opportunität einen Augenblick unterdrückt, nicht ankommen — ich sage das durchaus selbstkritisch —, sondern es sollte darauf ankommen, ob eine Lösung sachgerecht, notwendig und im Rahmen der Gesamtmöglichkeiten finanzierbar ist. Da hat man immer noch genügend Stoff zur Auseinandersetzung; denn darüber, was sachgerecht, notwendig und finanzierbar ist, kann man von den verschiedensten Vorgaben und Voraussetzungen her durchaus zu unterschiedlichen Vorstellungen kommen.Dabei sollte sich allerdings die sogenannte Akzeptanz mit einer — wenn auch in Wahlzeiten notwendigerweise aufgeputzten — Nebenrolle begnügen.Meine Damen und Herren, so betrachtet muß allerdings die jetzige Regelung der Ausbildungsförderung, die j a bei aller Würdigung der Verbesserungen durch die achte Novelle strukturell nicht verändert wird, immer noch kritisch angesehen werden. Sie ist unbefriedigend. Das ist bei früheren Debatten mehrfach ausgeführt worden und kann hier nicht wiederholt werden. Von daher habe ich für vernünftige Änderungsvorschläge nicht nur Sympathie, sondern ich könnte sie zwanglos um eine Reihe weiterer ergänzen.Aber ich habe doch viel Skepsis — nicht nur wegen der Erfahrungen seit der sogenannten Wende, sondern auch wegen der Erfahrungen aus der Zeit vorher — gegen isolierte Maßnahmen. Man sollte sich — um im Forstwirtschaftlichen zu bleiben — mit solchen isolierten Maßnahmen nicht auf Holzwege verirren, obwohl ich weiß, daß man auf den Holzwegen das Holz wieder dahin bringt, wo es gebraucht wird. Da könnte ich mich der Kahlschlagtheorie anschließen, Graf von Waldburg-Zeil.Das Herumoperieren an der Ausbildungsförderung — mit welcher Zielsetzung auch immer — hat ja eine Tradition, die in die Zeit vor dem Herbst 1982 zurückreicht. Das dürfte nicht einfach vergessen werden.Wenn heute manchmal viel von Verdrängungseffekten hinsichtlich der Ausbildungsplatzsituation gesprochen wird, so mache ich z. B. darauf aufmerksam, daß das damals bestätigte Auslaufen der Förderung für Schüler im 10. Jahr der berufsbildenden Schulen vor dem Hintergrund der aktuellen Situation nicht ganz außer Betracht bleiben sollte. Da
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4806 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Neuhausenkann man dann Schuldzuschreibungen hin- und herschieben.Aber die Entwicklung der Verlagerung des größten Teils der Schülerförderung in die Länder ist ein zweites schlechtes Operationsbeispiel. Die daran geknüpften Erwartungen haben sich meines Erachtens weithin nicht erfüllt. Nicht nur wegen des Mangels an Bundeseinheitlichkeit, den nun niemand mehr übersehen kann, nicht nur weil die Länder ihre Regelungen ganz unterschiedlich ausrichten — einmal mehr auf die Begabtenförderung, in anderen Ländern mehr auf den sozialen Aspekt — und dabei dem Drang nach Unterschiedlichkeit freien Lauf lassen, sondern auch angesichts der Tatsache, daß die meisten Länder nicht einmal die Mittel dafür eingesetzt haben, die durch die Einschränkungen der Bundesausbildungsförderung für Schüler für eigene Lösungen frei wurden und ihnen zur Verfügung gestellt wurden. Das geht dann allerdings quer durch den politischen Garten.Zwei Beispiele: Wenn die Zahlen stimmen, so gibt Nordrhein-Westfalen von einer Einsparung von 86 Millionen DM 10 Millionen DM für eine Landesausbildungsförderung weiter, Niedersachsen von 59 Millionen DM 25 Millionen DM.
Wenn heute — Graf von Waldburg-Zeil hat davon gesprochen — in allen Parteien eine neue Föderalismus- oder Partikularismusdebatte geführt wird, sollte diese Entwicklung nicht übersehen werden. Das Verhältnis von Länder- und Bundeskompetenz kann auch in der Bildungspolitik nicht nur vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen oder hehrer Vorsätze, es muß vielmehr angesichts der Wirklichkeit konkreter Beispiele und Entwicklungen diskutiert werden. Die Notwendigkeit der Erhaltung bundesstaatlicher Verantwortung zeigt sich an diesem Beispiel besonders deutlich.Das alles macht klar, daß die Beratung der achten Novelle eben nicht die richtige Gelegenheit ist — wenn die Vereinbarung, die ich zu Anfang erwähnt habe, irgendeinen Sinn haben sollte —, strukturelle Probleme der Ausbildungsförderung zu lösen. Es geht jetzt vielmehr darum, die heute zu beschließenden Anpassungen rechtzeitig in Kraft zu setzen und im übrigen die Anregungen weiterzuverfolgen, die schon in der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 16. Dezember 1982, die von der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen und Parteien im Hinblick auf den Zusammenhang der Ausbildungsförderung mit einer Neukonzeption des Familienlastenausgleichs immer wieder gegeben wurden.Irgend jemand — ich weiß im Augenblick nicht, wer es war — hat einmal geschrieben, daß zwar hinsichtlich der Ausbildungsförderung die Bildungspolitiker den Ton angäben, dieses Thema aber in Wirklichkeit zu dem großen Komplex des sozialpolitischen Familienlastenausgleichs gehöre, da ja die Leistungen an die Einkommensverhältnisse der Eltern gebunden seien. Tatsächlich war und ist das System der Ausbildungsförderung ein Zwitter und muß es auch sein; denn einerseits bezieht sich die Förderung auf den Ausbildungsweg des einzelnen Schülers oder Studenten; andererseits ist die Höhe der Förderung von der Einkommenssituation der Eltern abhängig. Einerseits wird das System von dem bildungspolitischen Gedanken der breiten Förderung, der Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit für den einzelnen getragen, andererseits soll die Förderung die sozialpolitischen Voraussetzungen dafür schaffen, daß eine Familie in die Lage versetzt wird, ihren Kindern eine Ausbildung nach Neigung, Leistung und Begabung zu ermöglichen.Das System der Ausbildungsförderung braucht nicht isoliert den Schüler zu sehen, muß aber mindestens vom Einkommen her die Lage der ganzen Familie im Blick haben. Allerdings ist es andererseits keine allgemeine Familienförderung, sondern bezieht sich auf den speziellen Bildungsweg des einzelnen Schülers. Diese gegenseitige Ergänzung, die ja kein Gegensatz zu sein braucht und auch keiner ist, ist nicht immer deutlich genug bewußt gewesen. Daraus haben sich sowohl Mißbräuche als auch Vorbehalte ergeben.Wenn es jetzt um neue Konzepte des Familienlastenausgleichs geht, sollten beide Aspekte sowohl von Bildungs- und Sozialpolitikern als auch von Finanz und Steuerpolitikern auch künftig als miteinander verbundene Ergänzungen gesehen werden. Werden sie so gesehen, so können z. B. auch die Fragen der elternunabhängigen Förderung im Rahmen eines — von Graf von Waldburg-Zeil schon angedeuteten — Konzepts, insbesondere was den zweiten Bildungsweg angeht, beantwortet werden, weil ja nicht nur hier differenzierte Lösungen notwendig sein werden.Meine Damen und Herren, es wird auch an uns Bildungspolitikern liegen, ob und daß die Kollegen der anderen Bereiche bei Familienlastenausgleich nicht immer nur an Familien im allgemeinen und insbesondere an solche mit kleinen Kinder denken, sondern in einer differenzierten Betrachtungsweise die besonderen Aufwendungen für Kindern und Jugendliche in der Ausbildung, vor allem in ihren späteren Phasen, sehen. Ich bin mir dessen bewußt, daß solche Aussichten auf ein mögliches neues Gesamtkonzept, in dem sich Familien- und Ausbildungsförderung ergänzen, für aktuelle Härten und Unstimmigkeiten keine unmittelbare Hilfe bieten. Aber es ist — ich wiederhole meine Ausführungen aus der letzten Debatte —, außer an die hier dargestellten Gesichtspunkte auch an die Grenzen des Möglichen und Machbaren zu denken. Konsolidierung der Finanzen setzt eben die Beachtung dieser Grenzen voraus, und sie ist ihrerseits die Voraussetzung dafür, daß überhaupt noch Mittel für die Bildungspolitik, für das Offenhalten aller Bildungswege zur Verfügung stehen und daß es verantwortbar ist, die Neukonzeption der Ausbildungsförderung in der Diskussion, auf der Tagesordnung zu halten.Aus diesen Gründen, meine Damen und Herren, werden wir dem Änderungsantrag der SPD nicht zustimmen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984 4807
Das Wort hat der Abgeordnete Jannsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein Gesetzentwurf — und ein Antrag dazu — vorgelegt worden, ein Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Man sollte erwarten, daß wesentliche Fehler, Probleme, die man inzwischen erkannt hat, in einem solchen Gesetzentwurf auch berücksichtigt werden. Man sollte also erwarten, daß die Diskussion über die Rücknahme der VolldarlehensRegelung und den Teilerlaß von Darlehen berücksichtigt worden wäre. Man sollte erwarten, daß die Korrektur unbilliger Härten, etwa die, daß Kollegiaten und Schüler des zweiten Bildungsweges vom August dieses Jahres an keine BAföG-Zahlungen mehr erhalten werden, erfolgen würde. Man sollte erwarten, daß Lücken, die das Gesetz vom Dezember 1982 gerissen hat, geschlossen werden, etwa die, daß für Menschen, die im Entwicklungsdienst, im Sozialen Jahr, im Zivildienst oder im Wehrdienst tätig waren, Probleme bei der BAföG-Zahlung auftreten, wenn sie Schüler sind.Keine Rede davon! Es liegt eine Sammlung von Zahlen vor, die von der Bundesregierung auftragsgemäß vorgelegt worden ist. Im Ergebnis gibt es eine Anhebung von Bedarfssätzen und Freibeträgen, die nicht einmal der faktischen Geldentwertung gerecht wird. Diese Bundesregierung befindet sich, wie der Bericht sagt, in einer guten Tradition. Ich zitiere hier eine Stelle aus dem Bericht:Die Bundesregierung erklärt in der Begründung des Gesetzentwurfs, sie habe sich — wie ihre Vorgängerin 1981 — vor dem Problem gesehen, daß die für die Ausbildungsförderung insgesamt zur Verfügung stehenden Finanzmittel für einen vollen Ausgleich des seit der letzten Leistungsanpassung eingetretenen Preisanstiegs nicht ausreichten.Geht es also darum, weniger zu leisten, den Leuten etwas wegzunehmen, befindet man sich wohl in der Tradition. Befindet man sich allerdings im Streit mit der SPD, dann ist es Erblast. Es ist schon spannend, was hier an manchen Stellen geschieht.
— Das sind Sachen, die in solchen Situationen und in vielen dieser Debatten auch für das Protokoll gesagt werden. Das wissen auch Sie, Herr Carstensen.
Dies geschieht in einer Situation, wo während der Ausbildung kaum noch jemand Arbeit finden kann, weil die Arbeitslosigkeit so hoch ist, daß Studenten oder Schüler kaum dazuverdienen können.Ich will zu den einzelnen Punkten, die ich genannt habe, ein paar Beispiele nennen, die die Problematik etwa der Darlehensförderung verdeutlichen können.Mir ist ein Brief von einem zu 100 % Schwerbehinderten zugegangen — ich nehme an, den anderen ist er auch zugegangen —, der seine Situation schildert und dabei zu folgendem Schluß kommt. Wenn er auf Grund seiner Behinderung ein längeres Studium in Anspruch nimmt und auf Grund seiner Berechtigung Darlehen — sogenanntes BAföG, Bundesausbildungsförderung — bekommt, so wird sich das Darlehen, das dieser junge Mensch im Laufe seines Lebens für seine Ausbildung erhält, gegenüber demjenigen erhöhen, der unter den gleichen Bedingungen BAföG erhält, weil er auf Grund seiner Behinderung länger studieren muß. Der junge Mann hat sich auch an das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft gewandt. Da gab es eine Antwort. Auf das Argument, daß hier wohl eine ungerechte Behandlung, eine soziale Benachteiligung vorliege, die nicht hinzunehmen sei, antwortet das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft — ich zitiere aus dem Brief —:BAföG ist als ein Massenleistungsgesetz stärker auf den Regelfall konzentriert. Nach allgemeinem Haushaltsrecht — § 59 Bundeshaushaltsordnung — hat jedoch die Verwaltung unter anderem die Möglichkeit, Ansprüche zu stunden oder zu erlassen, wenn die Einziehung nach Lage des einzelnen Falles mit erheblichen Härten— erheblichen Härten! —für den zahlungspflichtigen Bürger verbunden wäre.Dann kommt der Nachsatz:Ich bin sicher, daß auf diesem Wege im Bedarfsfall eine befriedigende Lösung gefunden werden kann.Ich bin allerdings nicht so sicher, daß diese befriedigende Lösung gefunden werden kann, weil erstens eine Antragstellung verlangt wird, zweitens in dieser Antragstellung sicherlich ein Nachweis erbracht werden muß, ob es sich um erhebliche Härten handelt, und drittens die ganze Entscheidung davon abhängt, ob die Behörde ihr Ermessen großzügig oder kleinkariert ausübt. Das jemandem anzulasten, der neben seiner Behinderung, die er sowieso schon zu ertragen hat, höhere finanzielle Aufwendungen für sein Studium hat leisten müssen und jetzt eventuell sogar noch gerichtliche Schritte für die Durchsetzung seiner Ansprüche vornehmen muß, finde ich doch schon sehr makaber.
Ich werde im Zusammenhang mit dem Darlehen noch einen zweiten Punkt wieder aufgreifen; ich habe auf ihn schon einmal hingewiesen. Es geht um den Teilerlaß von Darlehensschulden. Dieser wird als Leistungsprämie verkauft. Eine Leistungsprämie kann er aber nicht sein, weil erstens zu Beginn nicht klar ist, bei welcher konkreten Leistung denn ein Teil des Darlehens erlassen wird. Das geschieht deswegen, weil erst nach Absolvierung des Examens — nicht nur des einzelnen Examens, sondern vieler Examina eines ganzen Jahrgangs — festgestellt wird, wer denn überhaupt diesen leistungsbezogenen Darlehensnachlaß bekommt. Hier liegen also eine Ungerechtigkeit und eine falsche Behaup-
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4808 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Dr. Jannsentung vor. Zweitens ist ein Einfluß der Kandidaten auf diese Leistung nicht gegeben.
— Herr Daweke, das sachliche Ergebnis des einen Jahres kann dazu führen, daß kein Darlehensnachlaß erreicht wird. Das gleiche sachliche Ergebnis des anderen Jahres kann dazu führen, daß ein Darlehensnachlaß erreicht wird. Dazu kann der Kandidat nichts tun! Es können Arbeiten abgegeben werden, die im Inhalt und im Gehalt identisch sind. Das haben Sie wohl nicht bedacht.
Herr Daweke, der zweite Punkt, den zu behandeln ich beabsichtige, ist der Bereich derjenigen, die besonders hart betroffen sind, derjenigen, die sich im zweiten Bildungsweg befinden. Laut einer Meldung der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" vom 4. November 1982 versprach Herr Daweke, auf das Kabinett einzuwirken, das wohl in Unkenntnis der realen Situation beschlossen hatte. Er versprach das auf einer Versammlung, die zum BAföG-Kabinettsbeschluß im November 1982 stattfand. Dieser Kabinettsbeschluß enthielt bereits die Ankündigung der Streichung der August-Förderung ab 1984 und Angaben zu weiteren Maßnahmen im Zusammenhang mit dieser neuen Regelung.Was Herrn Daweke offensichtlich verblüfft hat —
das alles geht aus der Zeitungsmeldung hervor — —
— Ich habe die Zeitung zu Ende gelesen, Herr Daweke!
Erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich erlaube jetzt keine.
— Herr Daweke, ich habe nicht Sie zitiert, sondern habe die Zeitung zitiert.
Ich gehe auf ein Zahlenbeispiel ein, das für viele im zweiten Bildungsweg gilt. Dabei handelt es sich in der Regel um erwachsene Menschen, die nach den Bedingungen für die Aufnahme in Förderungsmaßnahmen an Schulen des zweiten Bildungsweges auch schon einige Jahre beruflich tätig gewesen sind. Das Ergebnis sieht folgendermaßen aus. Der finanzielle Aufwand dieser Menschen beläuft sich für Miete auf etwa 300 DM, für Ernährung auf 200 DM, für die Krankenkasse auf 50 DM, für Fahrtkosten zur Schule auf 45 DM, für Versicherung und andere Dinge auf 40 DM. Von den 685 DM, die sie maximal — einschließlich der Mietzuschüsse — zur Verfügung haben können, bleiben damit etwa 50 DM für Kleidung, Schuhe, Lehrmaterial, Bücher, Körperpflege und andere Fahrten als die zur Schule übrig, 50 DM monatlich für all das!Um deutlich zu machen, wen das trifft und was diese Menschen davon halten, zitiere ich aus einem Brief, den ich erhalten habe:Viele der Studierenden des ZBW haben jahrelang gearbeitet, Steuern bezahlt und Sozialabgaben geleistet. Im Rahmen der Chancengleichheit entschlossen sie sich zur Weiterbildung und gaben ihren sicheren Arbeitsplatz auf. Jetzt werden sie dafür bestraft.Weiter geht aus diesem Brief hervor: In Zukunft kann es sich kein Arbeiter, kein Arbeitsloser, niemand, der nicht Geld von zu Hause hat, mehr leisten, den zweiten Bildungsweg zu beschreiten.Es kommt hinzu, daß es ein Arbeitsverbot für Teilnehmer an Studienkollegs gibt, ein Arbeitsverbot und auch kaum eine Arbeitsmöglichkeit, denn schließlich kann nur im August gearbeitet werden, nicht in anderen Monaten. Aber die Kosten laufen ja weiter, und wie bei diesem Aufwand in den anderen elf Monaten das Geld zurückgelegt werden kann, das im August gebraucht wird, soll mir mal einer verraten. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Man wird nur staunen können, wenn diese Menschen überhaupt noch zahlen können.Ein letzter Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang betrifft das Versprechen, mit der Zauberformel „Familienlastenausgleich" all diese Probleme lösen zu können. Die hier von mir aufgeführten Probleme lassen sich mit dem Familienlastenausgleich sowieso nicht lösen. Außerdem wird der Familienlastenausgleich jungen Menschen, die selbständig zu werden beginnen,. ohnehin in keiner Form gerecht, weil diese jungen Menschen ja nicht die Möglichkeit haben, direkt, unmittelbar als Betroffene, an diese Förderung heranzukommen. Vielmehr müssen sie gegenüber ihren Eltern einklagen, daß sie die Förderung bekommen, wenn die Eltern Schwierigkeiten haben oder es nicht wollen, etwa wenn sie bei denjenigen, die einen zweiten Ausbildungsweg beschreiten wollen, dies nicht für notwendig halten, weil ja eine Ausbildung da ist. Diese jungen Menschen können also deswegen nicht in ihre Ausbildung gehen, weil die Familienförderung das nicht ohne weiteres zuläßt.Im übrigen möchte ich hinzufügen, daß wir die Familienförderung, den Familienlastenausgleich nicht für ein geeignetes Mittel halten, um jungen Menschen den Eintritt in ein selbständiges Leben zu ermöglichen. Wir halten es für notwendig, daß alle jungen Menschen eine Grundlage für ihr Leben bekommen, die von der Gesellschaft finanziert wird. Die Finanzierung sollte also nicht nur über die Eltern erfolgen.
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Dr. JannsenIch möchte nun noch die Situation im Bereich der BAföG-Anträge ansprechen. Mir sind vom Studentenwerk Angaben über die Zahl der Erstanträge auf BAföG-Gewährung im Wintersemester 1983/84 mitgeteilt worden. Ich nenne als Beispiel ein paar positive und negative Zahlen. In Aachen ist die Zahl der Anträge um 33 %, in Göttingen um 24 % und in Regensburg um 22 % gesunken, obwohl die Studentenzahlen dort um zwischen 2 und 6 % gestiegen sind. In Clausthal und in Dortmund ist die Zahl der Anträge um 8% gestiegen; die Studentenzahlen sind dort ebenfalls um 8 oder 9% gestiegen.
— Herr Daweke, ich kann Ihnen leider nicht sagen, wovon diese Studenten leben. Sie können mir das wahrscheinlich auch nicht sagen.Ich möchte einen letzten Punkt kurz erwähnen und dabei aus dem Bericht zitieren. In einem Zusammenhang, in dem auch die GRÜNEN erwähnt werden, wird dort folgendes gesagt:Auf diese Weise könnten die gröbsten Ungerechtigkeiten des geltenden Förderungsrechts beseitigt und erheblich zur Akzeptanz des Gesetzes bei den Betroffenen beigetragen werden.Im Bericht ist es so dargestellt, als wenn wir der Meinung wären, daß diese Akzeptanz wünschenswert wäre. Dieses drückt nicht unsere Meinung aus, denn es geht nicht um die Akzeptanz dieses Förderungsrechts, sondern weiterhin um umfassende weitreichende, lebendige Kritik an diesem Förderungsrecht. Dennoch halten wir es für notwendig, zu versuchen, einzelne Verbesserungen zu erreichen, die mit den Punkten übereinstimmen, die ich hier genannt habe. Wir werden deswegen dem Antrag der SPD zustimmen.
Das Wort hat Frau Wilms, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine verehrten Kollegen von der Opposition, manchmal muß ich mich doch sehr wundern, wenn ich Sie hier so reden höre, vor allen Dingen, wenn ich Sie über soziale Leistungen reden höre. Haben Sie denn eigentlich folgendes vergessen — wenn es so sein sollte, möchte ich es Ihnen noch einmal sagen —: Hätten wir Ende 1982 nach Ihrer Regierungszeit volle Kassen vorgefunden, dann hätten wir diese Diskussion hier heute nicht.
Sie tun in allen Sozialdebatten jetzt so, als ob wir volle Kassen vorgefunden hätten und das Geld unter das Volk gestreut oder es verjubelt hätten. Meine Damen und Herren, ich möchte vor aller Öffentlichkeit noch einmal sagen, daß Ihre Politik die Ursache für eine Reihe von zugegebenermaßen gravierenden sozialen Einschnitten ist, die vorgenommen werden mußten. Dies wollen wir doch einmal festhalten.
Auch die einschneidenden Maßnahmen beim BAföG, insbesondere beim Schüler-BAföG waren auf Grund der von Ihnen verschuldeten desolaten Finanzsituation Ende 1982 notwendig.
Ich weise alles zurück, was Sie uns hier in die Schuhe schieben wollen. Ich möchte hier für das Protokoll und für die Öffentlichkeit festhalten, wer für die Ursachen der notwendigen Maßnahmen verantwortlich ist.
Wir nehmen mit der vorliegenden achten BAföG-Novelle eine Anpassung der BAföG-Leistungen an die Entwicklung der Lebenshaltungskosten seit dem Frühjahr 1982 vor. Ich möchte hier einmal sagen — auch dieses wird von Ihnen ja nicht vorgebracht —, daß 1985 allein vom Bund ein Mehr von 175 Millionen DM für BAföG aufgebracht wird. Im Jahre 1986 wird es ein Mehr von 250 Millionen DM sein. Durch diese Anpassung, meine Damen und Herren, wird garantiert, daß der reale Wert der BAföG-Leistungen erhalten bleibt. Und diese Anpassung ist — auch dies ist neu, war bei Ihnen nicht mehr vorhanden — in der mittelfristigen Finanzplanung abgesichert und damit solide finanziert.
Ich sage hier, daß sich Eltern und Jugendliche wieder auf die Kontinuität der Leistungen der Ausbildungsförderung verlassen können.
Auf diese Kontinuität konnten sich die Eltern im Jahre 1982/83 nicht mehr verlassen.
Der jetzt zur Beschlußfassung vorliegende Gesetzentwurf enthält eine Anhebung der BAföG-Sätze um durchschnittlich 4 %. Dies entspricht der allgemein sehr niedrigen Preisentwicklungsrate im letzten Jahr. Ich möchte auch dies erwähnen. Es ist ein Erfolg der Bundesregierung, daß es uns gelungen ist, die Preisentwicklung 1983 sehr niedrig zu halten.
Es ist sicherlich Ihr gutes Recht — das gebe ich Ihnen zu —, daß Sie höhere Anpassungen fordern. Aber ich sage Ihnen genauso: Diese höhere Anpassung ist nicht zu finanzieren,
insbesondere wenn ich Ihre Forderungen in denKontext der Forderungen stelle, die Sie auf anderen
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4810 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Bundesminister Frau Dr. WilmsGebieten allenthalben vortragen. Ich denke, Sie müssen sich entscheiden — ich sage das auch zu den Haushältern Ihrer Fraktion, die hier sitzen —: Was wollen Sie eigentlich? Wollen Sie mit uns eine Sanierung der öffentlichen Haushalte? Oder wollen Sie weiter aus dem Vollen wirtschaften und in eine noch höhere Verschuldung hineinkommen?
Zu irgendeiner Politik müssen Sie sich jetzt entschließen.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich möchte jetzt weitermachen.
Keine Zwischenfragen.
Die Steigerung der Bedarfssätze, die wir jetzt vorsehen, ist vernünftig. Der Bedarfssatz für einen auswärts untergebrachten Studenten wird von etwa 660 DM auf 690 DM angehoben. Ein voll geförderter Student wird also künftig, je nach Höhe seiner Mietkosten, bis zu 788 DM Förderung im Monat erhalten. Damit liegt das BAföG für Studenten etwa in derselben Größenordnung wie der von der Zehnten Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks mit 800 DM ermittelte Bedarfssatz, der dann noch Sonderleistungen für Kino, Hobby usw. zusätzlich enthält.Meine Damen und Herren, ich erlaube mir, an dieser Stelle auch daran zu erinnern, daß fast die Hälfte aller Studenten mit Einnahmen von weniger als 700 DM auskommen muß. Mancher Student, der kein BAföG erhalten kann, wäre glücklich, wenn er wie ein BAföG-Empfänger gestellt wäre, weil es sich dabei um ein zinsloses Darlehen mit großzügigen Rückzahlungsmodalitäten handelt. Wir stehen mit unserer Studentenförderung in Europa immer noch an der Spitze.
Lassen Sie mich noch eines mit allem Nachdruck sagen, gerade weil wir uns jetzt so sehr um die Situation von Lehrlingen bemühen: Mancher Facharbeiter wäre froh, wenn er seine Meisterausbildung zu so günstigen Bedingungen finanzieren könnte.
Nun noch zu den vom Deutschen Studentenwerk in diesen Tagen gemeldeten und interpretierten Angaben über Rückgänge der Zahl von Erstanträgen von Studenten für BAföG. Ich muß hier leider feststellen — und ich weiß, was ich sage —, daß das Deutsche Studentenwerk diese Zahlen nicht korrekt interpretiert hat.
Folgendes ist dazu zu bemerken.
Erstens. Ein Vergleich zeigt, daß die Zahl der Erstanträge immer in den Jahren nach Anhebung der Beitragssätze zurückgegangen ist, also letztmals nach 1982.Zweitens. Erstantragstelle sind nicht mit Studienanfängern gleichzusetzen. Dies ist eine falsche Interpretation.Drittens. Rückgängen bei einigen Hochschulen und bei einigen Studienbereichen wie z. B. bei den Lehramtsstudien stehen Steigerungsraten bei den Erstanträgen etwa bei Fachhochschulen gegenüber.
Zu Aachen, weil das die Kollegin Odendahl vorhin angeführt hat: Wir bzw. das Land Nordrhein-Westfalen stehen bereits mit Aachen in Verbindung. Dort ist nämlich nicht korrekt verfahren worden. Die Zahl ist in Aachen fälschlich dadurch zustande gekommen, daß in der Zahl der Anträge für das Wintersemester 1982/83 auch unerledigte Altanträge aus dem Vorjahr enthalten waren, während das bei den Neuanträgen für das Wintersemester 1983/84 nicht der Fall war. Wir werden dem nachgehen. Hier ist also ein unsolider, unkorrekter Vergleich gestartet worden. Ich muß das leider sagen.Der Gesetzentwurf wird durch die Anträge gleich noch einmal zum Anlaß genommen, die von der Bundesregierung und der Koalition getroffene Grundsatzentscheidung vom Dezember 1982 über das Schüler-BAföG korrigieren zu wollen. Diese Anträge, die Sie, Frau Kollegin Schmidt, gleich begründen werden,
würden selbst dann zu erheblichen Mehrkosten führen, wenn alle Ihre Deckungsvorschläge im federführenden Ausschuß aufgegriffen würden. Aber die decken eben nicht alles. Auch dies muß hier klar gesagt werden. Außerdem — das möchte ich auch den Kollegen sagen, die vielleicht von Frau Kollegin Schmidt nicht darüber informiert werden —: Sie schlagen bei Ihren Deckungsvorschlägen Eingriffe in den Einkommensbegriff vor, die besonders zu einer erneuten Belastung von Landwirten oder Häuschenbesitzern führen würden. Das sind Gruppen, die von uns sowieso schon gerade in diesen Zeiten ungeheuer belastet werden.
Außerdem wollen wir — das sage ich mit Blick auf die Abendgymnasien — nicht generell die elternunabhängige Förderung der Abendgymnasiasten abschaffen.
Zur Begründung der neuen Forderungen wird auf ein berühmtes Interview des Bundeskanzlers Bezug genommen. Ehrlich gesagt: Die Aufregung, die darüber entstanden ist, verstehe ich nun auch nicht ganz.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984 4811
Bundesminister Frau Dr. WilmsDenn ich habe in den Debatten über die Umstellung des BAföG von Anfang an auf die nicht vermeidbaren Härten hingewiesen. Aber ich sage noch einmal: Nicht diese Bundesregierung hat das allgemeine Finanzdesaster herbeigeführt, sondern das waren Sie.
Wir wollen jetzt versuchen, durch Neustrukturierung in der Bildungsförderung die Weichen neu zu stellen, immer vor dem Hintergrund des finanzpolitisch Möglichen. Lassen Sie mich dazu noch drei Anmerkungen machen.Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom Mai 1983 auf die Zielrichtung der Ausbildungsförderung hingewiesen. Schülerförderung ist nach Auffassung der Bundesregierung im Schwerpunkt Ländersache, wie ja auch die Lehr- und Lernmittelfreiheit von den Ländern geregelt wird. Fast alle Länder haben bei der Schülerförderung inzwischen entsprechende Gesetze verabschiedet und Mittel bereitgestellt.
Aus der Sicht der Bundesregierung ist es wünschenswert, daß die Schülerförderung seitens der Länder weiter ausgebaut wird.Zweitens. Die Bundesregierung wird dafür Sorge tragen, daß im Rahmen eines neu geordneten Familienlastenausgleichs die Lasten der Familien für die Ausbildung ihrer Kinder Berücksichtigung finden. Herr Kollege Jannsen von den GRÜNEN, wir sehen durchaus eine enge Verbindung zwischen der Familie und der Sorge der Familie für ihre Kinder. Da unterscheiden wir uns vielleicht wirklich grundsätzlich.
Zu der Neuregelung im Familienlastenausgleich gehören Entlastungen im steuerlichen Bereich. Wir werden beim Familienlastenausgleich die Belange der Familien mit heranwachsenden Kindern ebenso wie die der jungen Familien berücksichtigen. Über die konkreten Formen ist die Diskussion noch nicht abgeschlossen. Wir werden sie in ein Gesamtkonzept einbinden müssen, das die immer noch höchst prekäre Finanzsituation beim Bund und bei den Ländern berücksichtigt. Wichtig ist für uns, daß die Dispositionsfreiheit der Familien erweitert und gestärkt wird.
Meine Damen und Herren, wir hatten gestern eine Debatte mit vielen guten Worten. Die Bundesministerin könnte in Erinnerung an diese Debatte um etwas mehr Aufmerksamkeit bitten.
Drittens. An der Umstellung des Studenten-BAföG auf Darlehen wird nichts geändert.
Sie ist ordnungspolitisch im Sinne der Gerechtigkeit zwischen Studierenden und jungen Berufstätigen geboten. Die Berücksichtigung von Leistungskriterien beim teilweisen Darlehenserlaß halten wir nach wie vor für gerechtfertigt.
Meine Damen und Herren, zum Schluß darf ich mich noch bedanken, daß das Parlament und seine Ausschüsse eine so zügige Beratung des Gesetzentwurfs ermöglicht haben. Die Länder und die Förderungsämter erhalten damit den notwendigen zeitlichen Spielraum, um bei den Förderungsanträgen für das nächste Jahr bereits die erhöhten Sätze zugrunde legen zu können.
Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die allgemeine Aussprache ist beendet.
Wir kommen zur Einzelberatung und zur Abstimmung. Es liegt auf Drucksache 10/1285 ein sozialdemokratischer Antrag vor. Dazu ist namentliche Abstimmung beantragt und mündliche Begründung gewünscht. Hierzu erteile ich das Wort der Frau Abgeordneten Schmidt .
— Meine Damen und Herren, es ist im Augenblick sehr schwierig, von dem Rederecht geziemenden Gebrauch zu machen. Ich bitte um die Liebenswürdigkeit, Platz zu nehmen und der Rednerin Aufmerksamkeit zu widmen. Wir werden sonst sicherlich nicht nach dem vorgesehenen Zeitplan fertig.
Danke schön. — Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Minister Wilms, Sie wissen, es würde mich jetzt ungeheuer jucken, auf das einzugehen, was Sie gesagt haben. Ich kann das nicht, weil ich nur die Anträge begründen darf.Der Antrag, der von uns gestellt worden ist, macht unsere grundsätzliche Kritik und unsere grundsätzliche Forderung nach Wiederherstellen des BAföG nicht gegenstandslos. Der Bundeskanzler hat in einem Interview in einer von mir sonst nicht besonders geschätzten Zeitung gesagt — darüber sind wir überhaupt nicht aufgeregt, sondern wir begrüßen das —: Der BAföG-Kahlschlag war möglicherweise zu hart. Daran ist nur ein einziges Wörtchen falsch, nämlich das Wörtchen „möglicherweise".
Es handelt sich hier eben nicht um Altholz und Holzwirtschaft, sondern um ganz lebendige junge Menschen. Es handelt sich bei unserem Antrag auch nicht um das Wiederherstellen oder das Verändern der Struktur des jetzigen BAföG, sondern es handelt sich um das, was auch wiederum der Bundeskanzler gesagt hat, nämlich darum, daß diese Gesetzesänderungen mit der heißen Nadel genäht worden sind.
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4812 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Frau Schmidt
Mit diesen Äußerungen wurden Fehler bekannt und bei Betroffenen Hoffnungen geweckt.
— Ich höre doch auf.
Meine Damen und Herren, ich bitte um Aufmerksamkeit für die Rednerin.
Je lauter Sie sind, desto später kommen Sie in die Osterpause. Ich kann hier auch zwanzig Minuten oder eine halbe Stunde stehenbleiben. Hören Sie mir bitte zu.
Das ging uns allerdings alle miteinander an, Frau Kollegin.
Mit diesem Antrag werden die gröbsten Fehler, die schlimmsten Ungerechtigkeiten, die unverständlichsten Dinge beseitigt und Chancengleichheit in einem ganz kleinen Umfang wiederhergestellt.
Zu unserem ersten Punkt. Das Parlament hat hier häufig über Wehrgerechtigkeit debattiert. Dieses selbe Parlament hat vor wenigen Wochen ein Sondergesetz einstimmig angenommen, womit Lehrer nicht mehr benachteiligt werden sollen, die Wehr- oder Zivildienst geleistet haben. Sie waren es, die Wehrdienste und Wehrgerechtigkeit immer haben wollten. Dieses Parlament hat mit der jetzigen BAföG-Regelung dafür gesorgt, daß Studenten durch ihren Wehr- oder Zivildienst nicht benachteiligt werden sollen. Dieses selbe Parlament hat die Schüler in dem selben Gesetz schlicht und einfach und ohne weitere Umstände vergessen — vergessen! —; ich sage noch einmal: mit heißer Nadel genäht. Lehrer werden nicht benachteiligt, Studenten werden nicht benachteiligt, aber der Schlosserlehrling, der seinen Wehr- oder Zivildienst geleistet hat und anschließend auf die Berufsaufbauschule gehen will, bekommt überhaupt nichts mehr. Seinem Kollegen Student geben wir wenigstens noch das Darlehen und teilweise einen Zuschuß. Wir schaffen mit diesem Gesetz eine Zwei-KlassenWehrgerechtigkeit. Ich kann Sie nur herzlich bitten: Machen Sie das rückgängig!
Nun zu unserem zweiten Antrag. Ich habe hier schon häufig an Beispielen zu erläutern versucht, was wir gerade für die im Antrag genannte Personengruppe angerichtet haben. Das sind samt und sonders Schüler und vor allem Schülerinnen des beruflichen zweiten Bildungswegs.
Es geht um junge Menschen, über die wir hier oft daherschwafeln. — Ich bitte Sie jetzt einmal ganz herzlich, zuzuhören und dafür zu sorgen, daß sie wenigstens den Eindruck haben, daß hier ernsthaft über ihre Anliegen geredet wird.
— Auch dorthin.
Meine Damen und Herren, das Wort hat die Rednerin.
Ich bitte Sie, fortzufahren.
Das sind junge Leute, die einen Beruf haben, den sie auch jahrelang ausgeübt haben und nun versuchen, sich weiter zu qualifizieren, junge Frauen vor allen Dingen — von denen war gestern hier auch sehr viel die Rede —, die verwitwet oder geschieden sind und Kinder haben und die versuchen, wieder eine berufliche Basis zu finden. Diese haben längst einen eigenen Hausstand, wohnen vielleicht Hunderte von Kilometern von ihren Eltern entfernt; die Eltern sind häufig bereits Rentner und haben ihren jetzt erwachsenen Kindern vor Jahren auch die erste Berufsausbildung bezahlt. Diesen Menschen mutet das jetzige Bundesausbildungsförderungsgesetz — ich glaube, weil wir schludrig gearbeitet haben — wieder zu, zu ihren Eltern zu ziehen, und den Eltern mutet es zu, die gesamte zweite Ausbildung zu bezahlen, aber nur dann — da wird es dann widersinnig —, wenn diese Eltern in einer Stadt wohnen, in der zufälligerweise eine Schule ist, die diese jungen Leute besuchen könnten. Wenn dieselben Eltern auf dem Land wohnen, dann ist alles wieder in Ordnung und sie bekommen BAföG, obwohl der Ausbildungsort mehrere Hundert Kilometer entfernt ist.Der Bundesrat und vor allen Dingen die unionsgeführten Länder haben gesagt: Dies ist nicht zumutbar; Bund, fördere das weiter! — Wir fordern Sie mit unserem Antrag nur auf, dieser Gesetzesinterpretation des Bundesrates auch zu folgen.
Nun zum Dritten. Wir wollen, daß für den Monat August auch die Schüler wieder gefördert werden. Studenten erhalten selbstverständlich BAföG für 12 Monate im Jahr, Schüler nur für 11 Monate. Das mag für die Schüler hingenommen werden, die unter Einbeziehung des Einkommens der Eltern gefördert werden. Das ist nicht hinzunehmen für diejenigen, die unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern, weil sie vielleicht gar keine mehr haben, gefördert werden.Ich darf Sie auf einen Brief der Caritas aus Nordrhein-Westfalen an Frau Bundesminister Wilms verweisen, in dem davon gesprochen wird, daß einige Bildungseinrichtungen für Spätaussiedler wegen dieses 12. Monats, weil sie nicht in der Lage sind, auch noch kostenlos Unterhalt zu gewähren, sehr gefährdet sind.Meine verehrten Kollegen, ich glaube, wir schaden dem Ansehen des Parlaments insgesamt, wenn erkannte Fehler nicht beseitigt werden.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984 4813
Frau Schmidt
Dieses Parlament war bisher auch fähig, Fehler, die es gemacht hat, zu korrigieren. Ich erinnere nur an das Taschengeld für Altenheimbewohner. Was wir gemeinsam angerichtet hatten, haben wir dann auch wieder gemeinsam in Ordnung gebracht.Der Bundeskanzler hat Hoffnungen geweckt, daß das auch hier getan wird. Jetzt werden diese jungen Leute auf den Familienlastenausgleich vertröstet. Ich frage Sie: Was macht der wehrpflichtige junge Mann, der im Jahre 1983 Wehrdienst geleistet hat, damit, daß 1986/87 oder 1988, wenn seine Ausbildung längst abgebrochen ist, im Familienlastenausgleich etwas korrigiert wird?Die jungen Leute im Jugendprotest bemängeln vor allen Dingen, daß das Reden und Handeln von Politikern nicht übereinstimmt. Zeigen wir doch endlich, daß wir dazu fähig sind, daß es nicht bei Redereien in der „Bild"-Zeitung bleibt, sondern daß wir endlich auch danach handeln.
Der Bundeskanzler — er ist immer noch nicht da — müßte dabei eigentlich den Anfang machen. Er müßte zeigen, daß er den Worten auch Taten folgen läßt.Wir beantragen für diesen Antrag, der nur wieder vernünftiges Recht herstellen soll, namentliche Abstimmung. Stimmen Sie unseren Anträgen zu,
wenn Sie nicht wollen, daß Kanzler Kohl Kahlschlagkanzler gegen Wehrgerechtigkeit, gegen Frauen mit Kindern und gegen den zweiten Bildungsweg genannt werden wird.
Das Wort zur Aussprache hat der Abgeordnete Daweke. — Danach kommen wir zur Abstimmung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Schmidt hat über die Ungerechtigkeiten des existierenden BAföG geredet. Ich zeige Ihnen die rote Karte, denn unsolide und ungerecht gegenüber der jungen Generation war eine Politik, die dieser Generation so viel Schulden hinterlassen hat, daß sie Jahre brauchen wird, um das abzutragen.
Frau Schmidt, wo sind Sie denn eigentlich gewesen? Sie sind doch 1980 in den Bundestag gekommen. Haben Sie denn alles vergessen, was Voraussetzung dieser Politik war? Es tut uns auch weh, wenn wir in soziale Besitzstände einschneiden müssen. Wo sind Sie denn in den letzten 13 Jahren gewesen, als Sie das Geld mit dem Füllhorn hinausgeschmissen haben, und als Sie dafür gesorgt haben, daß die nächste Generation Jahr für Jahr das Zigfache von dem, was Sie hier jetzt verteilen wollen, alleine an Banken, an Scheichs — ich weiß nicht, an wen sonst noch — bezahlen muß, um die Schulden abzutragen.
Herr Abgeordneter, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kollege Westphal, nein.
Wir lehnen den von Ihnen gestellten Antrag ab, weil er unsolide ist, weil er nicht finanzierbar ist und weil er neue Ungerechtigkeiten schafft.
Noch im Ausschuß hat die SPD verlangt, daß wir zusätzlich 180 Millionen DM für eine höhere Anpassung bereitstellen. Offensichtlich haben Sie diesen Antrag nach Rücksprache mit Ihren eigenen Finanzern jetzt nicht mehr neu eingebracht. Das spricht wenigstens für diese Gruppe in Ihrer Fraktion.
Unsolide ist, daß Sie den Eindruck erwecken, als könnten Sie denjenigen, die den zweiten Bildungsweg beschreiten, insbesondere den Fachoberschülern, durch Ihren Antrag helfen. Das wird nicht gemacht. Ich halte es für unsolide, wie Sie vorgehen.
Sie haben im Ausschuß 300 Millionen DM mehr gefordert. Das ist nicht finanzierbar. Wenn Sie 300 Millionen DM mehr fordern, dann müssen Sie bei der Lage unseres Bildungshaushalts auf die Erhöhung des BAföG verzichten. Das können Sie doch ernsthaft nicht wollen. Sie stellen hier im Grunde genommen doch nur Schauanträge.
Letzte Bemerkung: Wenn Sie den Familien, die ihren Kindern eine Ausbildung finanziert haben, jetzt zumuten, daß sie ihnen auch noch die zweite Ausbildung finanzieren sollen — so würde es nämlich kommen, wenn die von Ihnen vorgeschlagene elternabhängige Förderung wieder eingeführt würde; damit begründen Sie j a Ihren Finanzierungsvorschlag —, dann schaffen Sie neue Ungerechtigkeiten.
Meine Damen und Herren, weil das unsolide ist, müssen wir Ihre Anträge ablehnen. Ich bitte Sie, meine Kollegen von der Koalition auch so zu stimmen.
Meine Damen und Herren, die Aussprache ist geschlossen.Wir kommen zur Abstimmung. Erhebt sich Widerspruch dagegen, daß vor Aufruf der Einzelvorschriften über diesen Änderungsantrag im ganzen abgestimmt wird? — Das ist nicht der Fall.Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf der Drucksache 10/1285 zuzustimmen wünscht, den bitte ich, die Abstimmungskarte mit Ja, wer dagegen stimmt oder sich der Stimme enthalten will, den bitte ich, die entsprechenden Abstimmungskarten in die hier vorn aufgestellten Urnen einzuwerfen.
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4814 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
Präsident Dr. BarzelIch eröffne die namentliche Abstimmung.Ich darf zum erstenmal fragen, ob alle Kolleginnen und Kollegen Gelegenheit hatten, sich an der Abstimmung zu beteiligen. — Das ist nicht der Fall.Ich darf erneut fragen, ob alle Gelegenheit hatten, sich an der namentlichen Abstimmung zu beteiligen. — Das ist nicht der Fall.Meine Damen und Herren, haben jetzt alle Mitglieder des Deutschen Bundestages Gelegenheit zur Abstimmung gehabt? — Das ist nicht der Fall.Meine Damen und Herren, haben jetzt alle Gelegenheit gehabt, sich an der Abstimmung zu beteiligen? — Das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.Meine Damen und Herren, ich bitte, Platz zu nehmen. Ich möchte gerne das vorläufige Ergebnis der Abstimmung bekanntgeben. — Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Deutschen Bundestages haben 405 ihre Stimme abgegeben. Ungültig keine. Mit Ja haben gestimmt 178, mit Nein 227; Enthaltungen keine.19 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Davon ungültig keine; mit Ja 8, mit Nein 11.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 405 und 19 Berliner Abgeordnete; davonja: 178 und 8 Berliner Abgeordnetenein: 227 und 11 Berliner AbgeordneteJaSPDAmling AntretterDr. Apel BachmaierBahr BambergBecker BerschkeitBindigFrau BlunckBrück BuckpeschBüchler
Dr. von Bülow BuschfortCollet ConradiCurdtFrau Dr. Czempiel Daubertshäuser DelormeDreßlerDuveDr. Ehmke Dr. EhrenbergDr. Emmerlich EstersEwenFiebigFischer Fischer (Osthofen) Franke (Hannover)Frau Fuchs GanselGerstl
GilgesGlombig Gobrecht GrunenbergDr. Haack Haase
HaehserFrau Dr. HartensteinDr. HauchlerHauckDr. Hauff HeistermannHerterich HettlingHiller Hoffmann (Saarbrücken) HornImmer Jahn (Marburg)JansenJaunich Dr. JensJung Junghans JungmannKastning Kirschner Kisslinger Klein
Dr. KlejdzinskiKloseKolbowKretkowski Dr. Kübler Kühbacher Kuhlwein Lambinus Lennartz Leonhart Frau Dr. LepsiusLiedtkeLutzFrau Dr. Martiny-Glotz Frau Matthäus-Maier MatthöferMeininghausMenzelDr. Mertens Müller (Düsseldorf) Müller (Schweinfurt)Dr. Müller-Emmert MünteferingNagelNehmNeumann
Dr. NöbelFrau OdendahlPaterna PauliPeter
PfuhlPoßPurpsRapp
Rappe ReimannFrau RengerReschke ReuterRohde
RothSanderSchäfer SchanzSchlaga SchlatterDr. Schmidt Schmidt (München)Frau Schmidt Schmidt (Wattenscheid) Schmitt (Wiesbaden)Dr. SchmudeDr. Schöfberger SchreinerSchröder Schröer (Mülheim) Schulte (Unna)Dr. Schwenk SielaffSielerFrau SimonisDr. Soell Dr. Spöri Stahl
SteinerFrau SteinhauerStiegler StocklebenFrau TerborgTietjenFrau Dr. Timm ToetemeyerFrau TraupeUrbaniak Vahlberg Verheugen VogelsangVoigt Waltemathe WaltherWeinhofer WestphalFrau Weyel Wieczorek Wiefelvon der Wiesche Wimmer WischnewskiDr. de With Wolfram
Zander
ZeitlerFrau ZuttBerliner AbgeordneteDr. Diederich EgertHeimann LöfflerDr. MitzscherlingDr. Vogel Wartenberg
DIE GRÜNENFrau Dr. BardFrau Beck-Oberdorf BurgmannDrabiniokDr. Ehmke Fischer (Frankfurt) Frau Dr. Hickel HoracekDr. JannsenFrau KellyKleinert KrizsanFrau NickelsFrau PotthastFrau ReetzSchilyFrau Schoppe StratmannVerheyen Vogt (Kaiserslautern) Frau Dr. VollmerBerliner Abgeordneter Schneider
NeinCDU/CSUDr. AbeleinDr. AlthammerFrau Augustin Austermann Dr. Barzel BayhaDr. Becker BergerBiehleDr. Blens Dr. Blüm Dr. Bötsch BohlBohlsenBorchert BreuerBrunnerBühler
Dr. BuglCarstens
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984 4815
Präsident Dr. BarzelCarstensen
ClemensConrad Dr. CzajaDawekeFrau DempwolfDeresDörflinger DossDr. DreggerEchternachEhrbar EigenErhard
Frau Fischer
Fischer Francke (Hamburg)Dr. FriedmannGanz
Frau GeigerDr. GeißlerDr. von GeldernGerlach GersteinGerster
GlosDr. GöhnerDr. Götz Günther von HammersteinHanz Hartmann HaungsHauser Hauser (Krefeld) HedrichFreiherr Heeremanvon ZuydtwyckFrau Dr. Hellwig HelmrichDr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Dr. HoffackerFrau Hoffmann HornungFrau HürlandDr. Hüsch Dr. Hupka Graf Huyn Jäger
JagodaDr. Jahn
Dr. JobstJung
Dr.-Ing. KansyFrau KarwatzkiKellerKiechleDr. Köhler KolbKrausDr. Kreile KreyDr. KronenbergDr. Kunz LamersDr. LammertLandréDr. LangnerLattmann Dr. Laufs LenzerLink
Link Linsmeier LintnerDr. Lippold LöherLohmann LouvenLowackMaaßFrau Männle Marschewski Dr. MarxDr. Mertes MetzDr. Meyer zu Bentrup MichelsDr. MikatDr. Miltner MilzMüller Müller (Wadern)Müller
NelleFrau Dr. Neumeister NiegelDr.-Ing. OldenstädtDr. Olderog PeschPetersenPfeffermann PfeiferDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRaweReddemann RepnikRode Frau Rönsch Dr. RoseRossmanith Roth RüheRufSauer
Sauer
SaurinSauter Sauter (Ichenhausen)Dr. Schäuble Schartz SchemkenScheuSchlottmann Schmidbauer Schmitz
von Schmude Schneider
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte SchwarzDr. Schwarz-SchillingDr. Schwörer SeehoferSeesingSeitersSpilkerSprangerDr. SprungGraf StauffenbergDr. StavenhagenDr. Stercken Stockhausen Dr. Stoltenberg StrubeStücklenStutzerSussetTillmannDr. Todenhöfer Vogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. VossDr. WaffenschmidtDr. WaigelGraf von Waldburg-Zeil Dr. WarrikoffDr. von Wartenberg WeirichWeißWernerFrau Dr. Wex Frau Dr. Wilms WilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. Wittmann Dr. WörnerWürzbachDr. WulffZiererDr. ZimmermannZinkBerliner AbgeordneteFrau Berger BoroffkaBuschbomDolataFeilckeDr. Hackel KalischDr. h. c. Lorenz Schulze StraßmeirFDPBaumBeckmann Bredehorn Eimer Engelhard ErtlGallusGattermann GrünerDr. Hirsch Hoff ieKleinert KohnMischnick Neuhausen PaintnerRonneburgerFrau Seiler-AlbringDr. Solms Dr. WengWolfgramm WurbsBerliner Abgeordneter HoppeDamit ist der Änderungsantrag abgelehnt.Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen? — Die aufgerufenen Vorschriften sind angenommen. Damit ist die zweite Beratung beendet.Wir treten in diedritte Beratungein. Wir kommen zur Abgabe von Erklärungen. Zuerst hat das Wort der Abgeordnete Vogelsang.Vogelsang [SPD]: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte meine Erklärung mit zwei Zitaten beginnen. Das erste Zitat ist aus einer CDU-Wahlanzeige und heißt: „Für jeden ist eine Lehrstelle da." Das zweite Zitat ist aus einem Interview mit dem Herrn Bundeskanzler: „Beim Schüler- und Studenten-BAföG war möglicherweise der Kahlschlag zu hart."Es ist nicht der Sinn einer Erklärung, diese Zitate zu kommentieren.
Ich will mir das auch verkneifen. Darüber ist eben schon genug gesprochen worden. Wir wollten mit unseren Anträgen, die Sie eben mit Mehrheit abgelehnt haben, lediglich die Möglichkeit geben, Politik nicht nur in der „Bild"-Zeitung zu machen, sondern in diesem Saal, wo sie auch zu machen ist.
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4816 Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984
VogelsangIch habe mich auch nicht um die Glaubwürdigkeit von Kanzleräußerungen zu sorgen. Das ist seine eigene Sache. Worüber ich mir aber Sorgen mache, ist, ob wir nicht bei diesem Verhalten — Ankündigungen in der Öffentlichkeit, aber keine Politik in diesem Saal — den Kredit bei der Jugend verspielen. Das ist meine Sorge.
Es ist auch zuwenig, wenn der Herr Bundskanzler sagt: Ich bejahe die Frage rundherum mit Ja.
Frau Dr. Wilms, Sie haben in der Debatte das Wort „verlassen" gebraucht. Sie wissen, um die Doppeldeutigkeit dieses Wortes. Ich freue mich darüber, daß Sie in einem Interview auf die Frage, ob Ihnen das Amt Spaß mache, erklärt haben: Ja, es macht mir Spaß. Ich bin durchaus der Auffassung: Wer schaffen will, muß fröhlich sein. Es wird aber auch darauf ankommen, daß das Ergebnis dieses Schaffens denen Freude bereitet, die davon betroffen sind.
Wir stehen nun vor der dritten Lesung, und da stehen nur noch die Anpassungen der Förder- und Freibeträge zur Abstimmung. Wir werden, wie in der zweiten Lesung
— wir Sozialdemokraten —, dem Gesetzentwurf in der dritten Lesung zustimmen. Nur, es wäre falsch, wenn Sie daraus den Schluß ziehen wollten, damit würden wir Ihrer Politik, soweit es das BAföG angeht, insgesamt unsere Zustimmung geben.
Wir vertreten nach wie vor den Standpunkt, daß Sie mit Ihren Maßnahmen hier viel zu weit gegangen sind.
Wir wollen mit unserer Zustimmung erreichen, daß die Härten in diesem Gesetz nicht noch größer werden, als sie heute schon sind.
Da Sie hier heute finanzielle Argumente eingeführt haben: Ich glaube nicht, daß das überzeugend ist — insbesondere nicht für uns —, wenn von Ihnen in der Öffentlichkeit im gleichen Atemzug darüber diskutiert wird, daß Sie in Zukunft die Einnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden durch eine Steuerreform um 25 Milliarden DM schmälern wollen. Da scheint mir das Argument, wir könnten diese Härten aus finanziellen Gründen nicht beseitigen, nicht besonders überzeugend zu sein.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Männle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Wir haben soeben ein seltenes Schauspiel erlebt, so meine ich; ich würde es fast eine Komödie nennen. Die Wiederholung von Zitaten bringt ja nun nichts Neues mehr; es ist j a hier heute auch dagegen argumentiert worden.Die Anträge der SPD waren auf eine recht billige Effekthascherei ausgerichtet.
Es ist billig, zu versprechen, es ist billig, zu verteilen und die Rechnung dann dem Wirt zu überlassen. Meine Damen und Herren, wo blieben denn Ihre Deckungsvorschläge? Sie wissen ja auch, daß Sie die Kostenerhöhung beim BAföG während Ihrer Regierungszeit keineswegs durchgehalten hätten. Sie haben sich j a auch über die Einfrierung von BAföG-Sätzen zerstritten. Wo hätten Sie denn da angesetzt? Ich meine, Sie stehlen sich mit Ihren Äußerungen aus der Verantwortung.Wir haben im Ausschuß Einigkeit darüber erzielt, daß wir die Strukturprobleme, die es beim BAföG gibt — und die gibt es j a —, später, in einer späteren Diskussion, in einer neuen Auseinandersetzung genau unter die Lupe nehmen und eine Neuregelung schaffen. Wir wissen, daß es in Einzelfällen Schwierigkeiten gibt. Aber was haben Sie davon, wenn man da noch etwas hinsetzt, dort noch etwas abschnippelt, so daß das, was dann dabei herauskommt, eine echte Flickschusterei ist? So etwas, ein derartiges Flickwerk können wir doch nicht wollen.
Wir müssen den gesamten Bereich der Ausbildungsförderung neu überdenken. Diese Chance sollten wir jetzt in der Tat endlich ergreifen. Eltern haben große Ausbildungsbelastungen. Diese sollten auch in der Steuerreform berücksichtigt werden, es sollte ihnen Rechnung getragen werden.
Wenn Sie, Frau Schmidt, dann sagen werden, daß die Reichen da wieder etwas bekommen, die anderen aber nicht, dann wissen Sie, daß dies konkret gelogen ist.
Sie wissen, daß wir im Steuerbereich ansetzen werden und natürlich auch für diejenigen etwas tun werden, die nicht in den Genuß von Steuererleichterungen kommen werden.
Ich weiß, daß Sie dies in der Öffentlichkeit keineswegs in den Mittelpunkt setzen wollen.
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Deutscher Bundestag — 10. Wahlperiode — 68. Sitzung. Bonn, Freitag, den 13. April 1984 4817
Frau MännleMeine sehr geehrten Damen und Herren aus der SPD, Sie versuchen jetzt, das alte BAföG hochzustilisieren.
Dabei verschleiern Sie all die Strukturprobleme, all die Ungerechtigkeiten, die wir mit diesem BAföG haben.Es geht uns jetzt tatsächlich um eine Neukonzeption, die in den Familienlastenausgleich eingebunden werden soll. Wir wollen alle diejenigen unterstützen, die tatsächlich Belastungen mit der Ausbildung haben. Wir wollen natürlich nicht, daß es aus sozialen Gründen nicht möglich ist, begabten Kindern die weitere Ausbildung zu gewährleisten.
Um was geht es uns jetzt in dieser Abstimmung? Darüber besteht Einigkeit, das hat Herr Vogelsang gerade auch gesagt. Es geht um die Anpassung an die wirtschaftliche Entwicklung, d. h. es geht um die Erhöhung der Freibeträge, es geht um die Erhöhung der Bedarfssätze, und hier haben wir auch einigermaßen rechtzeitig und zügig beraten. Der reale Wert der Förderungsbeiträge darf nicht absinken — das haben wir betont —, und deshalb erhöhen wir um 4 % und haben ab Herbst 1985 eine Zwischenanpassung der Freibeträge von 2 %. Wir sind uns da einig. Sie haben gesagt, Sie werden zustimmen.
Wir sollten hier jetzt abstimmen und dann insgesamt die Diskussion beginnen, um die gegenwärtige mißliebige Situation im BAföG zu überwinden. Wir wollen die Strukturveränderungen in Gang setzen und damit endlich eine gerechte Lösung für alle Familien finden.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jannsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem Gesetz, wie es jetzt da ist, liegt nur mehr ein Torso vor. Es wird eine Anpassung von Freibeträgen und Bedarfssätzen vorgelegt, die nicht den Notwendigkeiten entspricht. Gleichwohl befinden wir uns natürlich in einer Zwickmühle, weil die BAföG-Empfänger auf diese leichte Erhöhung angewiesen sind.
Unser Abstimmungsverhalten wird sich entsprechend dieser Zwickmühle äußern. Wir werden nicht bereit sein, einem solchen Gesetz, das sich Änderungsgesetz zum Bundesausbildungsförderungsgesetz nennt, zuzustimmen. Wir werden allerdings
dieses Gesetz auch nicht ablehnen, sondern wir werden uns in diesem Falle bewußt und ganz gezielt unter diesen Vorstellungen — dieses Gesetz bietet einigen weniges, aber anderen nichts — der Stimme enthalten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ganz kurz: Wie bereits in der zweiten Lesung zum Ausdruck gebracht, stimmt die Fraktion der FDP dem vorgelegten Gesetzentwurf zu. Die Verbesserungen der Bedarfssätze und Freibeträge im Herbst 1984 um 4 % und die vorgesehene Zwischenanpassung der Freibeträge um 2 % im Herbst 1985 sind nicht nur allgemein zu begrüßen, sie sind eine richtige Maßnahme, sie sind unter anderem eine Klarstellung, daß auch in finanzpolitisch schwierigen Zeiten der soziale Aspekt der Bildungspolitik, wenn auch in beschränktem Rahmen, seinen hohen Stellenwert behält.
Da wir uns den Ostertagen nähern, ist es angebracht, sich österlich zu verhalten. Ich tue es, indem ich so kurz zu Ihnen spreche.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Das Gesetz ist damit angenommen.
Erlauben Sie mir ein kurzes Wort, meine Damen und Herren. Vor den Weihnachtsferien hatte ich angeregt, daß wir uns um kürzere, lebendigere, freiere Reden und Debatten bemühen. Ich glaube, wir haben gestern einen guten Weg beschritten. Wir sollten herzhaft diesen Weg fortzusetzen uns bemühen und auch die anderen Fragen, die auf dem Tisch liegen, nicht zögerlich behandeln.
Ihnen allen, meine Damen und Herren, und vor allen Dingen denen, die wir hier vertreten, also unserem Volk, und dort vor allen Dingen denen, die einsam und krank sind, wünsche ich von Herzen gnadenreiche Ostern.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 3. Mai 1984, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.