Nehmen Sie bitte Platz . Die Sitzung ist eröffnet .
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer Plenarsitzung . Es gibt
keine Veränderungen der Tagesordnung, auch keine an-
deren vom Plenum zu billigenden Vereinbarungen . Also
können wir gleich in unsere Tagesordnung einsteigen .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 c sowie
den Zusatzpunkt 6 auf:
37 . a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Verbesserung der Leistungen bei
Renten wegen verminderter Erwerbsfä-
higkeit und zur Änderung anderer Geset-
ze (EM-Leistungsverbesserungsgesetz)
Drucksache 18/11926
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der
GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über den Abschluss der Rentenüberlei-
tung (Rentenüberleitungs-Abschlussge-
setz)
Drucksache 18/11923
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der
GO
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Matthias W . Birkwald, Sabine Zimmermann
(Zwickau), Klaus Ernst, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Die Erwerbsminderungsrente stärken
und den Zugang erleichtern
Drucksache 18/12087
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Annalena Baerbock, Dr . Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Renteneinheit vollenden – Gleiches Renten-
recht in Ost und West
Drucksache 18/10039
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Für diese Debatte sind 60 Minuten Aussprachezeit
vorgesehen . – Das trifft offenkundig auf allgemeine Zu-
stimmung . Dann verfahren wir so .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
der Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea
Nahles .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und So-
ziales:
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode packen
wir wichtige Vorhaben bei der Rente an . Mit dem ersten
Rentenpaket 2014 haben wir erst einmal für Menschen,
die lange gearbeitet haben, den Weg in einen vorzeiti-
gen Ruhestand ohne Abschläge ermöglicht . Wir haben
die Mütterrente verbessert . Und wir haben auch schon
damals die Verbesserung der Absicherung bei Erwerbs-
minderung vorgesehen . Daran knüpfen wir nun heute an .
Aber es kommt noch etwas Wesentliches hinzu: Denn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723422
(A) (C)
(B) (D)
wir werden heute auch einen historischen Schritt zur in-
neren Einheit unseres Landes einleiten .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es höchs-
te Zeit, dass wir eine klare Perspektive für die Anglei-
chung der Rentenwerte geben . Bis 2025 werden wir die
Renteneinheit vollenden . Ab 2025 sollen für die Renten-
berechnung in Ost und West dieselben Werte gelten . Die
Rentenversicherung ist wirklich das letzte große soziale
Sicherungssystem, bei dem wir diese innere Einheit noch
nicht vollzogen haben . Das machen wir heute und stellen
das zur parlamentarischen Debatte .
Die Umstellung erfolgt in sieben Schritten bis 2025 .
Im gleichen Zeitraum wird – im Gegenzug zur Anglei-
chung der Rentenwerte in den neuen Ländern – die bis-
herige Höherwertung der Löhne schrittweise abgebaut .
Der Arbeitsmarkt und die Löhne haben sich seit der Wie-
dervereinigung bereits deutlich verbessert . Mit dem Min-
destlohn haben wir dabei einen ganz deutlichen Sprung
nach vorne machen können . Ich gehe davon aus, dass
diese positive Entwicklung – die Rentenwerte in diesem
Jahr legen das zumindest nahe – auch in den nächsten
Jahren fortgesetzt werden kann .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die Voraussetzungen sind jedenfalls sehr gut .
Die große Nachfrage nach Fachkräften, die wir überall
immer stärker erleben, setzt ein klares Signal: Niedrig-
lohn ist auch aus wirtschaftspolitischer Sicht die falsche
Strategie, aus rentenpolitischer Sicht allemal . Denn gute
Löhne bedeuten eben auch gute Renten, in Ost genauso
wie in West .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, von Armut im Alter sind
in Deutschland, wenn man rein die Statistik zur Grund-
sicherung betrachtet, derzeit 3 Prozent der Menschen be-
troffen .
(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das
sind die Allerärmsten! – Dr . Wolfgang
Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Gucken Sie doch mal in den Armuts-
und Reichtumsbericht, und gucken Sie sich
die Armutsquoten an! Nehmen Sie doch nicht
immer nur die Grundsicherung! Die Grundsi-
cherung ist doch nicht Armut!)
Bei Kindern beispielsweise ist dieser Prozentsatz deut-
lich höher . 14 Prozent der Kinder leben in staatlicher
Grundsicherung . Deswegen glaube ich, dass man bei
aller berechtigten Diskussion über die Altersarmut wirk-
lich sagen muss – –
(Weitere Zurufe von der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Einen Augenblick, bitte . – Nach meinem Eindruck
kommen alle Fraktionen nachher zu Wort,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
sodass die Gelegenheit besteht, die jeweiligen Einwände
der Reihe nach vorzutragen – und nicht gleichzeitig –,
was sich auch im Protokoll viel übersichtlicher festhalten
lässt .
(Heiterkeit – Zuruf von der CDU/CSU: Das
stimmt allerdings!)
Frau Ministerin, bitte schön .
Andrea Nahles, Bundesministerin für Arbeit und So-
ziales:
Vielen Dank, Herr Präsident . Ich bin von der so frühen
Erregungsfähigkeit der Opposition hier angetan . Das ist
gut .
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es gibt aber einzelne Gruppen, die überproportional
von dem Risiko, von Grundsicherung leben zu müssen,
betroffen sind . Dazu gehört mit Sicherheit die Gruppe
der Erwerbsgeminderten . Besonders gefährdet sind Be-
schäftigte in psychisch und körperlich stark belastenden
Berufen . Aber ich möchte hier sehr deutlich sagen: Jeden
und jede kann es treffen . Niemand kann sicher sein, dass
es ihn nicht aus der Bahn wirft . Jeder von uns kann in die
schwierige Situation kommen, nicht mehr oder nur noch
eingeschränkt arbeiten zu können .
Jedes Jahr kommen – und das ist eine sehr hohe Zahl,
wie ich finde – über 170 000 Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer in die Erwerbsminderungsrente . Mit anderen
Worten: Sie können aus gesundheitlichen Gründen nicht
bis zum Erreichen des Renteneintrittsalters arbeiten .
Deshalb wollen wir zum zweiten Mal in dieser Wahl-
periode die Bedingungen für die Erwerbsminderungs-
rentnerinnen und -rentner verbessern .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Nur für
die künftigen!)
Bevor wir 2014 diese Renten zum ersten Mal angepackt
haben, wurden sie so berechnet, als hätten die Betroffe-
nen bis zum 60 . Lebensjahr gearbeitet, auch wenn sie
zum Beispiel mit gut 50 Jahren in Erwerbsminderungs-
rente gegangen sind; das ist leider das Durchschnittsein-
trittsalter bei Erwerbsgeminderten . 2014 haben wir das
dann auf 62 Jahre angehoben .
Nun wollen wir stufenweise weitere drei Jahre oben-
drauf packen – von 62 Jahren auf 65 Jahre . Damit werden
Erwerbsgeminderte ab 2024 so gestellt, als ob sie drei
Jahre länger als bisher hätten weiterarbeiten können .
Das ist eine spürbare Verbesserung dessen, was die Er-
werbsgeminderten an vorzeitiger Rente bekommen – im
Schnitt um 7 Prozent .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Bundesministerin Andrea Nahles
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23423
(A) (C)
(B) (D)
Eine angemessene Absicherung bei Erwerbsminde-
rung ist für mich ein Gebot des Anstandes und auch ein
Zeichen der Solidarität . Sie ist aber vor allem ein Aus-
druck von Respekt für diejenigen, die sich im Job auf-
gerieben haben, und ein Beitrag, um Armut im Alter zu
verhindern .
Mir ist dabei besonders wichtig, dass wir heute über
eine Gruppe von Menschen reden, die sich wirklich auf-
gerieben haben und die in der Arbeit krank geworden
sind . Das ist nämlich der Grund . Deswegen war es auch
gut und richtig, dass wir in dieser Legislaturperiode viele
Maßnahmen zur Verbesserung der Reha und der Präven-
tion im Arbeitsleben auf den Weg gebracht haben:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
mit der Flexirente und, mit der Anhebung des Reha-
deckels, übrigens auch ganz zu Beginn im ersten Renten-
paket . Wir haben eine ganze Menge von Dingen gemacht,
die dazu dienen sollen, den Eintritt in die Erwerbsminde-
rungsrente von vornherein zu vermeiden .
Meine Damen und Herren, bevor die Frage kommt:
Das kostet natürlich Geld . Bis 2030 sind es rund 1,5 Mil-
liarden Euro pro Jahr . Aber dieses Geld wirkt gezielt . Es
kommt direkt bei denen an, die es sich hart verdient ha-
ben und die es am nötigsten brauchen .
(Beifall bei der SPD)
Wir gehen damit – und das ist, glaube ich, richtig – einen
weiteren Schritt hin zu mehr Zusammenhalt und Gerech-
tigkeit in unserem Land .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Koalitionsver-
trag hatten wir eine weitere Vereinbarung getroffen, wie
wir Altersarmut direkt angehen und verhindern können .
Wer sein Leben lang gearbeitet hat, wer jahrzehntelang
eingezahlt hat, der soll im Alter mehr haben als die
Grundsicherung . So steht es im Koalitionsvertrag . Ich
bin enttäuscht und bedauere, dass diese Vereinbarung of-
fenbar nicht mehr gilt und dass wir die gesetzliche Soli-
darrente in dieser Wahlperiode nicht mehr werden umset-
zen können . Aber ich sage Ihnen ganz klar: Ich halte an
diesem Grundsatz – wer lange gearbeitet hat, muss mehr
bekommen als diejenigen, die das, aus welchen Gründen
auch immer, nicht gemacht haben – entschieden fest . Das
bleibt auf der politischen Tagesordnung .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Mit den heute zu verabschiedenden Gesetzen kommen
wir einen wichtigen Schritt voran . Damit wird die gesetz-
liche Rente auch in Zukunft solide, aber vor allem auch
gerechter sein . In diesem Sinne freue ich mich auf die
parlamentarischen Beratungen .
Vielen Dank .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Wort erhält nun der Kollege Dietmar Bartsch für
die Fraktion Die Linke .
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Mi-
nisterin, Sie haben vorhin von einem historischen Schritt
und von der Erregungsfähigkeit der Opposition gespro-
chen; diese ist wirklich da . Sie haben des Weiteren ge-
sagt, dass erst 2025 die innere Einheit vollzogen werden
soll . Bevor ich zu diesem Thema komme, will ich etwas
zum Thema Erwerbsminderungsrente sagen . Sie haben
völlig zu Recht gesagt: Es kann jede und jeden von uns
treffen . – Deswegen ist völlig klar, dass chronisch kran-
ke Menschen unsere volle Unterstützung brauchen . Ich
glaube, das ist auch Konsens in diesem Haus . Das sollte
die Grundlage aller unserer Beratungen sein .
(Beifall bei der LINKEN)
Die Logik unseres Systems ist, dass chronisch kranke
Menschen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente haben,
wenn die Reha nicht hilft; das ist vernünftig . Aber ich
will daran erinnern, dass SPD und Grüne im Jahr 2001
mit ihren Entscheidungen dafür gesorgt haben, dass die
Erwerbsminderungsrente in den Sinkflug übergegangen
ist . Lag sie im Jahr 2000 im Durchschnitt bei 738 Euro,
waren es im Jahr 2013 nur noch 650 Euro, und das ohne
Berücksichtigung der Inflation und anderer Faktoren.
Das ist Ihre Verantwortung .
(Beifall bei der LINKEN)
Seitdem hat sich die Zahl der Kranken, die Grundsi-
cherung beantragen müssen, mehr als verdoppelt, näm-
lich von 181 000 im Jahre 2003 auf heute eine halbe
Million . Ein Grund sind zweifelsfrei niedrige Löhne und
Menschen, die unversichert Hartz-IV-Zeiten hatten und
krank wurden; das ist schlimm genug . Aber der Haupt-
grund sind die von Ihnen eingeführten Abschläge .
(Dr . Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist
die Wahrheit!)
Monat für Monat werden den Menschen 10,8 Prozent –
das sind durchschnittlich 85 Euro – weggekürzt . Bei ost-
deutschen Frauen sind es im Übrigen – zu Ostdeutschland
komme ich noch – 93 Euro im Monat . Genau deshalb
haben wir zu Beginn der Legislaturperiode gesagt: Wir
wollen das streichen . – Das wäre der vernünftige Weg .
Streichen Sie die Abschläge aus dem Gesetz!
(Beifall bei der LINKEN)
Nun haben Sie, Frau Nahles, zu Recht darauf hinge-
wiesen, dass Sie mit dem Rentenpaket 2014 zumindest
den Sinkflug gestoppt haben. Deswegen lag die durch-
schnittliche Erwerbsminderungsrente 2015 bei immer-
hin 711 Euro . Aber auch mit dieser Rente zwingen Sie
chronisch kranke Menschen weiterhin, aufs Sozialamt zu
gehen .
(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: So ist
das!)
Bundesministerin Andrea Nahles
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723424
(A) (C)
(B) (D)
Auch die heutige zweite Reform wird daran nichts än-
dern .
Im Schnitt beginnt die Erwerbsminderungsrente mit
einundfünfzigeinhalb Jahren, wie wir alle wissen . Die
Betroffenen erhalten seit der Reform von 2014 eine Er-
werbsminderungsrente, als ob sie bis zum 62 . Lebensjahr
gearbeitet hätten . Nun wollen Sie die Zurechnungszeit bis
zum 65 . Lebensjahr erhöhen . Das heißt konkret – ich will
einmal Ihre Prozentsätze etwas auflösen –: Im Jahre 2024
erhält eine Neurentnerin 50 Euro Rente mehr pro Monat .
Aber für jemanden, der im nächsten Jahr in Rente geht,
sind es nur 4,50 Euro . Daran ändert sich in der ganzen
Zeit, in der er Rente bezieht, nichts . Für all diejenigen,
die bereits in Rente sind, ändert sich überhaupt nichts .
Den heutigen 1,8 Millionen Rentnerinnen und Rentnern
bringt diese Reform gar nichts . Und da sprechen Sie von
Respekt? Das ist respektlos gegenüber diesen Menschen .
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist gut, dass Sie erkannt haben, dass etwas gemacht
werden muss . Darin unterstützen wir Sie auch . Aber das
ist kein Schritt, sondern maximal ein Schrittchen . Anstatt
zu klotzen, kleckern Sie mit dieser Reform im Kampf ge-
gen Armut . Sie sind zögerlich und ängstlich . Ganz andere
Schritte sind hier notwendig .
(Beifall bei der LINKEN)
Ich will das wiederholen: Sie lassen vor allem die heuti-
gen Rentnerinnen und Rentner komplett im Stich . Hören
Sie doch auf die Gewerkschaften, die Sozialverbände
und die Betroffenen! Dann würden Sie andere Entschei-
dungen treffen .
(Beifall bei der LINKEN)
Nun zu dem zweiten großen Thema, das Sie ein biss-
chen nebenbei behandelt sehen wollen .
(Daniela Kolbe [SPD]: Das stimmt doch gar
nicht!)
– Doch, das stimmt . Aber man kann das nicht nebenbei
behandeln, erst recht nicht mit dieser Attitüde .
Allein der Titel „Rentenüberleitungs-Abschlussge-
setz“ erweckt den Eindruck, dass mit diesem Gesetz alle
Sachverhalte der Alterssicherung der DDR zufriedenstel-
lend – vielleicht noch in Bundesrecht überführt – abge-
schlossen werden können, im Sinne eines Schlussstrichs .
Das ist eine rhetorische Täuschung .
(Beifall bei der LINKEN)
Letztlich – das will ich deutlich sagen – ist es eine Un-
verschämtheit wegen der vielen Ungerechtigkeiten, der
vielen Diskriminierungen, deren Korrektur wir hier im
Bundestag x-mal beantragt haben und für die wir im Üb-
rigen aus allen Fraktionen zumindest für einzelne Fälle
bei namentlichen Abstimmungen Unterstützung bekom-
men haben; darauf will ich verweisen . Diese Korrekturen
sollen nun mit einem Mal völlig ad acta gelegt werden?
Ich will einmal daran erinnern, worum es dabei geht:
Es geht um Krankenschwestern, um Geschiedene, um
Landwirte, um Forstwirte, um die Eisenbahner der Deut-
schen Reichsbahn, um Postler, um Polizei, Zoll und viele
andere mehr . Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, dass Sie
das jetzt beenden wollen .
(Beifall bei der LINKEN)
Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht gesagt,
dass das vom politischen Willen abhängig und nicht ge-
setzlich vorgegeben ist . Handeln Sie endlich danach, und
beseitigen Sie diese Ungerechtigkeit gegenüber den Ost-
deutschen!
(Beifall bei der LINKEN)
Ich kann Ihnen eins versichern: Es wird diesen Ab-
schluss nicht geben, zumindest nicht, wenn nach der
Wahl im September die Linke in irgendeiner Weise in
Verantwortung kommt; dann wird dieses Thema neu auf-
gerufen, meine Damen und Herren .
(Beifall bei der LINKEN)
Ich will an ein Zweites erinnern, Frau Nahles – das
ärgert mich nun wirklich –: Sie haben im September
des letzten Jahres, kurz vor der Mecklenburg-Vorpom-
mern-Wahl, in Schwerin mit Herrn Sellering eine Pres-
sekonferenz abgehalten . Dort haben Sie ein Konzept vor-
geschlagen, das mit dem heutigen wirklich nichts zu tun
hat . Was ist denn davon geblieben? Ich meine, anstelle
der Union hätte ich mich verdammt verarscht gefühlt,
wenn kurz vor der Mecklenburg-Vorpommern-Wahl so
etwas vorgelegt und gesagt wird: „So machen wir das“,
und nichts davon realisiert wird. Ich finde das eine Un-
verschämtheit, wobei es für Sie von der CDU/CSU-Frak-
tion noch schlimmer ist: Frau Merkel hat schon 2005 ge-
sagt, in der nächsten Legislatur werde die Angleichung
vollzogen werden . Das wäre 2009 gewesen . Auch das ist
ein Wahlversprechen, das nicht gehalten worden ist .
(Dr . Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Gebro-
chen!)
Sie müssen sich einmal vor Augen führen: Wer im
Jahr 1990 65 Jahre geworden und in Rente gegangen
ist, der muss 100 Jahre alt werden, damit er die Renten-
angleichung erlebt . Das ist doch nicht fassbar! 100 Jahre
muss er werden! Das können wir doch nicht akzeptieren .
Das ist mehrfacher Bruch von Wahlversprechen .
(Beifall bei der LINKEN)
Im Übrigen ist es kurios, dass alle Ministerpräsiden-
ten – der Union, der SPD und der Linken – aus dem Os-
ten das so nicht akzeptieren . Gibt es Ihnen allen nicht
irgendwie zu denken, dass dem so ist? Kann es irgendwie
sein, dass da vielleicht was falsch ist? Das sagen die Mi-
nisterpräsidenten übrigens auch im Bundesrat . Hören Sie
doch wenigstens auf die Landesregierungen im Osten .
Außerdem ist im Bundesrat, und zwar auch mit den Stim-
men der Westländer, klipp und klar beschlossen worden,
dass diese Angleichung der Renten aus Steuermitteln zu
finanzieren ist. Hören Sie doch wenigstens dabei auf Ihre
Länder!
(Beifall bei der LINKEN – Matthias W .
Birkwald [DIE LINKE], an die SPD gewandt:
Da könnt ihr ruhig auch mal klatschen!)
Die Bundesregierung darf nicht einseitig die Beitrags-
zahler belasten . Nein, da müssen auch Politiker, Beamte
Dr. Dietmar Bartsch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23425
(A) (C)
(B) (D)
und die Superreichen herangezogen werden . Das ist der
Punkt .
Ich komme zu einem anderen Thema . Sie, Frau
Nahles, haben über die Löhne und über die Angleichung
gesprochen . Sie sind doch auch Arbeitsministerin . Da
ist die Frage der Ost-West-Angleichung der Löhne doch
zentral . Der Durchschnittslohn von vollbeschäftigten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit allen Zah-
lungen liegt im Westen bei 4 224 Euro brutto, im Os-
ten sind es 3 165 Euro brutto . Das sind rund 1 000 Euro
weniger, 25 Prozent weniger, und das kann man auf fast
jede Berufsgruppe herunterbrechen: Kfz-Mechaniker im
Westen 2 572 Euro, im Osten 2 047 Euro; Pflegekräfte in
Westdeutschland 2 525 Euro, im Osten 2 040 Euro – rund
500 Euro monatlich weniger .
Aufgrund dieser Unterschiede sollte die Höherwer-
tung erst dann ausgesetzt werden, wenn wir bei einer
Angleichung der Löhne von 96 oder 97 Prozent sind .
(Beifall bei der LINKEN)
Nutzen Sie das jetzt nicht, um die Westler, die niedrige
Renten haben, gegen die Ostler aufzuhetzen . Das kann
doch nicht sein . Natürlich brauchen wir eine Debatte da-
rüber, wie wir Langzeitarbeitslosigkeit und niedrige Löh-
ne in Ost und West, in Rostock wie in Gelsenkirchen,
besser berücksichtigen können . Dazu hat Matthias W .
Birkwald gestern genug gesagt . Verändern Sie den Titel
des Gesetzes, aber verändern Sie vor allen Dingen den
Inhalt . Ansonsten wird das am Ende des Jahres wieder
aufgerufen, meine Damen und Herren .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Karl Schiewerling hat nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: In dieser Legis-
laturperiode hat es viel mehr Veränderungen und Verbes-
serungen in der Rente als in vielen Legislaturperioden
zuvor, zumindest seit 1998, gegeben . Auf den Weg ge-
bracht haben wir die Mütterrente – das war eine zentrale
Forderung der Union – und die vorgezogene Altersrente
ohne Abschlag mit 63 . Wir haben die Verbesserung der
Erwerbsminderungsrente bereits in einem ersten Schritt
eingeführt – als Regierungsfraktion kann man unendlich
dankbar dafür sein, dass wenigstens das von den Linken
akzeptiert wird –, und wir haben miteinander die Flexi-
rente auf den Weg gebracht . Heute bringen wir in einem
weiteren Schritt zwei Gesetzentwürfe ein: Der eine steht
für eine Verbesserung der Erwerbsminderung, der andere
für die in der Tat seit langem geplante Ost-West-Renten-
angleichung .
Herr Kollege Bartsch, ich will Ihnen in aller Deut-
lichkeit sagen: 1990 war das Niveau der Ostrenten bei
40 Prozent des Niveaus der Westrenten .
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)
Sukzessive haben sich die Niveaus angeglichen . In die-
sem Jahr wird das Niveau der Ostrenten bei 95,7 Pro-
zent des Niveaus der Westrenten liegen . Den Rentnerin-
nen und Rentnern im damaligen Beitrittsgebiet – diesen
furchtbaren Ausdruck benutzte man damals – geht es
deutlich besser als vorher .
(Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Kein
Widerspruch!)
Wissen Sie, worüber ich mich am meisten ärgere? Die
Überleitung der Ostrenten in die Westrenten 1990/1991
war eine der größten sozialpolitischen Leistungen, die
dieses Land gemeinsam mit der Deutschen Rentenversi-
cherung erbracht hat .
(Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Kein
Widerspruch!)
Ich halte es für zwingend geboten, dass Sie jetzt nicht
all die Sonderregelungen, die zu DDR-Zeiten einmal ge-
schaffen worden sind, mit dem Anspruch hier vorbrin-
gen, dass der Westen sie bitte berücksichtigt .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich sage Ihnen: Das ist nicht unsere Aufgabe .
Meine Damen und Herren, wir wollen mit dem Ge-
setzentwurf, den wir heute einbringen, die Erwerbsmin-
derungsrente ein weiteres Mal verbessern . Ich teile aus-
drücklich die Aussage, dass es hier um eine Frage der
Gerechtigkeit und um eine Frage des Respekts den Men-
schen gegenüber geht, die aufgrund ihrer gesundheitli-
chen Einschränkungen nicht mehr arbeiten können . Das
ist übrigens eine alte Forderung der CDA, die dann von
der CDU aufgegriffen worden ist und jetzt gemeinsam
in unserer Fraktion Arm in Arm mit der CSU und ge-
meinsam mit der SPD in dieser Koalition auf den Weg
gebracht wird .
Ich halte die Verbesserung der Erwerbsminderungs-
rente für zwingend geboten . Ich halte es für einen bedeu-
tenden Schritt, dass wir mit dem Beschluss, der in diesem
Jahr anliegt, den durchschnittlichen Zahlbetrag der Er-
werbsminderungsrente seit 2013 um 143 Euro pro Person
erhöhen . Das ist ein gewaltiger Schritt . Übrigens werden
viele Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen wa-
ren, durch diesen Schritt aus der Grundsicherung heraus-
geholt – fürwahr eine wichtige sozialpolitische Leistung .
Wir werden im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
noch prüfen, wo möglicherweise noch weitere Dinge zu
verbessern sind . Aber schon mit dem vorliegenden Ge-
setz ist ein wichtiger und zentraler Schritt getan .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Meine Damen und Herren, der Punkt, der mich dabei
am meisten umtreibt, ist ein anderer . Das durchschnitt-
liche Alter des Eintritts in die Erwerbsminderungsrente
liegt bei uns im Augenblick leider nicht, Herr Kollege
Bartsch, bei 51 Jahren, sondern darunter . Das ist ein
Punkt, der uns sehr zu schaffen macht . Viele von denen,
Dr. Dietmar Bartsch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723426
(A) (C)
(B) (D)
die heute eine Erwerbsminderungsrente beantragen, ha-
ben vorher nie an einer Präventionsmaßnahme oder gar
an einer medizinischen oder beruflichen Rehabilitations-
maßnahme teilgenommen . Mit dem Flexirentengesetz
haben wir zielgerichtet ermöglicht, dass eine solche Teil-
nahme rechtzeitig eingeleitet werden kann .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Auch dies ist ein wichtiger, zentraler sozialpolitischer
Schritt .
Was mich aber bedrückt und mir zu schaffen macht,
ist die Tatsache, dass immer mehr Erwerbsminderungs-
renten mit der Begründung der Zunahme psychosoma-
tischer und seelischer Erkrankungen beantragt werden .
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Genau! Arbeitsbedingungen ver-
bessern!)
Das ist nicht nur eine Frage der Arbeitswelt, das ist nicht
nur eine Frage der Arbeitsbedingungen, das ist auch be-
zeichnend für die Gesamtentwicklung in unserer Gesell-
schaft . Dieser Punkt macht mir sehr zu schaffen .
Wenn wir all den Herausforderungen, die im Bereich
der Digitalisierung und bei dem Tempo, in dem sich die
Wirtschaft verändert – mit all den Anforderungen an die
Arbeitnehmer, die daraus resultieren –, vor uns liegen,
wirklich erfolgreich begegnen wollen, dann geht das nur
mit Menschen, die gesund sind . Das betrifft die soziale,
persönliche, psychische, seelische Gesundheit . Nur so
finden die Menschen die Kraft, diese Veränderungspro-
zesse mitzugestalten . Deswegen rate ich uns, den Blick
auch auf diese Veränderungsprozesse in unserer Gesell-
schaft zu richten und etwas mehr zu überlegen, wie wir
das miteinander präventiv anders gestalten können .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD)
Was mir ebenfalls zu schaffen macht, ist, dass wir
im Bereich der Erwerbsminderungsrente genau darauf
schauen müssen, von wem welche Anträge kommen und
wie die Anträge bearbeitet sind . Ich stehe ein wenig unter
dem Eindruck eines unglaublichen Missbrauchsskandals
in Westfalen, wo die Rentenversicherung Gott sei Dank
rechtzeitig erkannt hat, dass in einem nicht unbeträchtli-
chen Umfang Menschen für die Erwerbsminderungsrente
krankgeschrieben worden sind, bei denen die Vorausset-
zungen offensichtlich nicht vorliegen . Es ist ein klassi-
scher Missbrauch, eine klassische strafbare Handlung .
Das bringt mich dazu, sehr deutlich zu sagen: Jawohl,
wir müssen all denjenigen, die wirklich krank sind, hel-
fen, damit sie möglichst nicht dauerhaft auf eine Er-
werbsminderungsrente angewiesen sind . Wir müssen
aber aufpassen, dass wir die Prüfung und Kontrollen so
anlegen, dass es wirklich die Richtigen trifft . Ich bin si-
cher, dass wir damit viele Menschen schützen, die wirk-
lich auf diese Hilfe angewiesen sind .
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eini-
ge Sätze zur sogenannten Ost-West-Rentenangleichung
sagen . Ich halte diesen Schritt mit Blick auf die Voll-
endung der deutschen Einheit – wir haben das damals
schon in den Einigungsvertrag hineingeschrieben – für
zwingend geboten, und wir setzen mit dem Rentenüber-
leitungs-Abschlussgesetz einen Rahmen dafür, dass wir
das bis 2024 erreichen . Heftige Kritik ist übrigens an der
Finanzierung geäußert worden .
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: In der Tat!)
Dort müssten auch die Steuermittel hinein, hieß es .
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja!)
Es ist vereinbart, dass das ab einem bestimmten Zeit-
punkt passiert . Ich will Sie nur der guten Ordnung halber
darauf aufmerksam machen, dass der Gesetzentwurf, den
wir vorgelegt haben, in einem Punkt bereits überholt ist .
Der erste Schritt der Anpassung ist bereits aus wirtschaft-
licher Kraft viel schneller erfolgt und das ohne Gesetzes-
änderung .
Das zeigt: Die wirtschaftlich prosperierende Entwick-
lung in Deutschland und die gute Entwicklung auch in
den östlichen Bundesländern führen dazu, dass aus eige-
ner Kraft die Anpassung schneller erfolgt, als wir das per
Gesetz vorgesehen haben . Aber mit dem Gesetz geben
wir einen rechtlichen Rahmen und damit allen Menschen
Sicherheit . Diese Sicherheit, dieser rechtliche Rahmen,
das ist etwas ganz Wichtiges, um deutlich zu machen,
dass uns an der Angleichung der Lebensverhältnisse und
an der Angleichung der Situation der Rentnerinnen und
Rentner sehr viel liegt, wir das sehr ernst meinen und
auch angehen .
Ich bin sehr sicher, dass wir dies konsequent auch in
Zukunft gemeinsam schultern werden und damit den
Menschen ein wichtiges Zeichen geben, dass wir die Al-
terssicherung in Deutschland als einen wichtigen Teil an-
sehen . Die Menschen müssen wissen, dass Rente Lohn
für Lebensleistung ist . Rente ist kein Fürsorgesystem,
sondern ist Lohn für Lebensleistung . Ich glaube, je kon-
sequenter wir an diese Dinge herangehen und dies auch
deutlich machen, umso mehr werden wir die richtigen
Maßstäbe dafür erhalten, wie wir die Veränderungen im
Rentensystem zu gestalten haben, damit die Rente auch
nach 2030 zukunftsfest ist .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Markus Kurth ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen .
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Seit gut einem Vierteljahr-
hundert ist die DDR nun Geschichte . Die Rentenversi-
cherung allerdings holt nach wie vor regelmäßig Berliner
Kartenmaterial mit Druckdatum vor 1989 aus den Archi-
ven; denn der frühere Verlauf der Mauer ist im Renten-
recht noch immer entscheidend . Dies führt zu absurden
Karl Schiewerling
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23427
(A) (C)
(B) (D)
Situationen etwa für die Beschäftigten des Deutschen
Bundestages .
(Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wohl
wahr!)
Die Gebäude des Parlaments befinden sich nämlich
auf beiden Seiten des früheren Eisernen Vorhangs . Und
dort, wo unsere Architektur zum Beispiel durch eine Brü-
cke über die Spree Einheit symbolisieren soll, verläuft
die Grenze rentenrechtlich nach wie vor mitten durch
den Bürokomplex . Die Folge ist: Die Arbeit von Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern, die im Westen – etwa im
Paul-Löbe-Haus – arbeiten, ist nach Rechtsauffassung
der Rentenversicherung rentenrechtlich anders zu bewer-
ten als die der Beschäftigten auf der Ostseite der Mauer
im Jakob-Kaiser-Haus, auch wenn die Büros nur wenige
Meter auseinander liegen . Meine Damen und Herren, das
zeigt die vollständige Absurdität so lange Zeit nach dem
Mauerfall .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN)
Die einzige Fraktion, die eine schnelle und sofortige
Angleichung des Rentenwertes Ost an den Rentenwert
West vorschlägt, ist die von Bündnis 90/Die Grünen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir wollen die Anhebung des Rentenwerts Ost auf
Westniveau . Wir wollen in der Vergangenheit auf dem
früheren Gebiet der DDR erworbene Rentenansprüche
unverändert erhalten . Wir sagen aber auch: Die Entgelt-
punkte werden ab einem bestimmten Stichtag – ideal
wäre der Zeitpunkt der nächsten Rentenerhöhung – bun-
deseinheitlich geregelt . Das heißt also, die sogenannte
Höherwertung – die Berücksichtigung des in Teilen von
Ostdeutschland niedrigeren bzw . früher in weiten Teilen
niedrigeren Lohnniveaus – wird beendet . Damit wird
Gleichheit bzw . werden gleiche Lebensverhältnisse her-
gestellt .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Kurth, darf der Kollege Birkwald eine
Zwischenfrage stellen?
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wenn es denn sein muss, bitte .
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Präsident . Vielen Dank, lieber Kol-
lege Markus Kurth . – Weil Sie gerade gesagt haben, die
Grünen seien die einzigen, die die Ostangleichung sofort
wollten, frage ich erstens: Warum habt ihr das nicht ge-
macht, als ihr gemeinsam mit der SPD regiert habt?
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Zweitens frage ich, und diese Frage ist sehr wichtig:
Müsste man nach dem, was hier gerade vorgetragen
worden ist, nicht hinzufügen, dass dies dann bedeutet,
dass die Umrechnung, die fälschlicherweise auch Hö-
herwertung oder Hochwertung genannt wird, wegfiele?
Das würde bedeuten, dass diejenigen, die heute 20, 30
oder 40 Jahre alt sind, wenn sie in Zukunft in Rente ge-
hen werden, nach dem jetzigen Gesetzentwurf ab 2025
massiv niedrigere Renten erhalten werden, weil, wie
vorhin von Dietmar Bartsch dargestellt worden ist, die
durchschnittlichen Löhne im Osten bei Vollzeitarbeit um
25 Prozent niedriger als im Westen sind .
Ich habe das einmal ausgerechnet .
(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind wenige Eu-
ros!)
– Ich mache das ganz kurz . – Lieber Kollege Kurth, das
bedeutet, dass jemand, der im Westen 2 175 Euro im Mo-
nat verdiente, heute nach 45 Jahren 1 021 Euro Rente
hat . Jemand, der im Osten im Monat 1 873 Euro ver-
diente, wird heute qua Umrechnung genauso behandelt
und kommt heute auf 950 Euro Rente . Wenn man das
jetzt so machen würde, wie Sie es wollen, würde diesen
Menschen in Zukunft monatlich 70 Euro Rente wegge-
nommen werden . Deswegen möchte ich, dass Sie hier
deutlich sagen, dass „gleiche Rente“ dann auch bedeutet,
dass künftige Rentnerinnen und Rentner deutlich weni-
ger bekommen . Wie bewerten Sie das?
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Birkwald, nur mal zwischendurch: Die
Kurzintervention heißt Kurzintervention, weil sie in der
Regel nicht ganz so lang sein soll wie der Redebeitrag
des Kollegen, der damit unterbrochen wird .
(Heiterkeit)
Bitte schön, Herr Kurth .
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Danke . – Das Problem, Matthias Birkwald, ist, dass
Sie regelmäßig mit Durchschnitten rechnen und nicht se-
hen, dass die Situation im Moment viel differenzierter
ist .
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD –
Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Das
stimmt immer!)
Wenn wir den rechnerischen Durchschnitt nehmen wür-
den, dann müsste jeder Fünfte hier im Raum ein Chinese
sein . Das ist aber nicht so .
(Heiterkeit)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie haben das geprüft, Herr Kurth? Sie sagen das nicht
so einfach daher?
(Heiterkeit)
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Nach bestem Wissen und Gewissen, Herr Präsident . –
Ich sage Ihnen einmal, wie die Verhältnisse sind: Sie
vergleichen pauschal das Lohnniveau im früheren Gebiet
Markus Kurth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723428
(A) (C)
(B) (D)
der DDR mit dem im alten Gebiet der Bundesrepublik .
Man kann es aber auch anders sehen . Die fünf ostdeut-
schen Kreise mit dem höchsten Lohnniveau lassen be-
reits ein Drittel aller westdeutschen Kreise hinter sich .
In Pirmasens oder in Herne ist das Lohnniveau zum
Beispiel deutlich niedriger . Warum soll jemand, der in
Herne oder in Pirmasens 1 000 Euro in prekärer Beschäf-
tigung verdient, weniger Rente kriegen als jemand, der
1 000 Euro in Potsdam verdient?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Dr . Dietmar Bartsch [DIE
LINKE]: Soll er doch gar nicht!)
Das kann ich sowohl den Menschen in Nordrhein-West-
falen als auch allen westdeutschen Beitragszahlerinnen
und Beitragszahlern, die Großes geleistet haben, nicht
mehr vermitteln .
(Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Das steht doch
auch gar nicht zur Debatte! – Abg . Matthias
W . Birkwald [DIE LINKE] will wieder Platz
nehmen)
– Nein, ich darf jetzt auch so lange antworten, wie Sie
gefragt haben . Bleiben Sie bitte stehen .
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der
CDU/CSU)
Ich weiß, das schmerzt . Aber es gibt auch große
Lohn unterschiede zwischen Schleswig-Holstein und Ba-
den-Württemberg . Nach Ihrer Logik müsste auch für die
schleswig-holsteinischen Beschäftigten die Rente höher
gewertet werden .
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD –
Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Aber
selbst in Schleswig-Holstein sind sie höher als
in Brandenburg!)
Das ist 27 Jahre nach dem Fall der Mauer völlig absurd .
Was an Unterschieden beim Lohnniveau bleibt, ist struk-
tureller Natur . Das hat nichts mit einer Benachteiligung
des Ostens zu tun,
(Widerspruch bei der LINKEN)
sondern das liegt an den wirtschaftlichen Folgen der deut-
schen Einheit, die wir hier jetzt nicht in Gänze ausbreiten
können . Aber nur einmal ein Hinweis: In Ostdeutschland
gibt es weniger Großunternehmen . Die sind dort seltener
anzutreffen . Es gibt also Gründe für das unterschiedliche
Lohnniveau .
Ich fahre mit meiner Rede fort . Ich glaube, Ihnen ist
klar geworden, dass es nicht darum geht, irgendjemandes
Rente zu kürzen .
(Unruhe bei der Linken)
– Sie können die Diskussion auf der linken Seite nachher
noch fortsetzen .
(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was du gesagt
hast, hat jetzt zu Diskussionen innerhalb der
Fraktion geführt!)
Der Vollständigkeit halber möchte ich sagen: Es ist doch
bereits so, dass bei den Tariflöhnen die Lohngleichheit
zwischen Ost und West weitgehend hergestellt ist . Die
Tariflöhne entsprechen sich ja größtenteils schon eins zu
eins . Das Problem ist zum Beispiel, dass die Tarifbin-
dung im Osten wesentlich niedriger ist . Das Rentenrecht
ist grundsätzlich nicht der richtige Ort, um Unterschiede
in der Bezahlung auszugleichen . Ich hoffe, dass Sie das
endlich einmal kapieren .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Jetzt will ich aber zu einem kritischen Punkt die Gro-
ße Koalition betreffend kommen: Die Anhebung des
Rentenwertes Ost auf Westniveau erfolgt nach dem Vor-
schlag der Regierungskoalition wesentlich auf Kosten
der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler . Das ist ein
Punkt, den wir absolut nicht akzeptieren können . Herr
Schiewerling hat gesagt: Ab einem gewissen Zeitpunkt
beteiligt sich der Bund . – Ich sage Ihnen einmal ge-
nau, was das bedeutet: Die Gesamtkosten sind mit circa
20 Milliarden Euro beziffert . Der Bund beteiligt sich ab
2022 mit zunächst jämmerlichen 200 Millionen Euro,
also gerade einmal 1 Prozent der Gesamtkosten . Die-
ser Betrag steigt dann langsam an bis auf 600 Millionen
Euro . Aber den Löwenanteil zahlen die Beitragszahlerin-
nen und Beitragszahler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer .
Das ist nicht in Ordnung; denn sie haben in puncto Ren-
teneinheit schon sehr viel und, ich meine, auch genug ge-
leistet. Das müsste aus Steuermitteln finanziert werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Dieser Auffassung war ja wohl auch die Ministerin . Frau
Nahles konnte sich aber offensichtlich gegenüber dem
Finanzministerium nicht durchsetzen . Dieser Auffassung
ist auch die Deutsche Rentenversicherung, deren Vorsit-
zender heute in einer Pressemitteilung klar eingefordert
hat, dass dies aus Steuermitteln finanziert werden soll.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In gewisser Weise schließt sich ja damit in dieser
Legislaturperiode auch ein rentenpolitischer Kreis . Sie
haben zu Beginn der Legislaturperiode durchaus beden-
kenswerte Leistungen wie die sogenannte Mütterrente
sachfremd aus Beitragsmitteln finanziert. Sie haben die
Rücklage der Rentenversicherung angezapft . Genau
dahin kehren Sie jetzt zum Ende der Legislaturperiode
zurück . Wiederum zapfen Sie die Rücklage der Beitrags-
zahlerinnen und Beitragszahler an und schwächen die
Rentenversicherung – unnötig, wie ich meine . Das hilft
nicht dabei, nachhaltige Finanzen sicherzustellen, und es
ist nicht generationengerecht .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie hätten ja die Mittel und die Möglichkeiten, um es
anders zu machen . Die Niedrigzinsphase hat von 2008
bis 2015 für den Bundeshaushalt Zinseinsparungen in
Höhe von 122 Milliarden Euro erbracht . Das hat eine An-
frage meines Kollegen Sven-Christian Kindler ergeben .
Markus Kurth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23429
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(B) (D)
Ich meine, dass wir durchaus Möglichkeiten haben, das
anders zu finanzieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben auch den Gesetzentwurf zur Erwerbsmin-
derungsrente vorliegen . Hierzu ist schon viel Richtiges
gesagt worden . Ich muss sagen: Auch meine Fraktion
denkt, dass hier ein überfälliger Schritt in die richtige
Richtung gegangen wird . Es ist gut und richtig, dass die
Erwerbsminderungsrente verbessert wird . Allerdings
bleibt eine ganze Reihe von Punkten offen . Auch wir sind
der Auffassung, dass die Abschläge bei der Erwerbsmin-
derungsrente abgeschafft gehören . Hier geht es nicht um
Fehlanreize; denn jemand, der in Erwerbsminderungs-
rente geht, ist gesundheitlich stark betroffen und tut dies
nicht freiwillig .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Wir müssen außerdem etwas für besonders belastete
Beschäftigte tun, die für die Erwerbsminderungsrente zu
gesund sind, aber nicht mehr voll arbeiten können . Wir
haben bereits im Zusammenhang mit dem Flexirenten-
gesetz vorgeschlagen, eine abschlagsfreie Teilrente für
besonders belastete Beschäftigte einzuführen, mit dem
Ziel, diese länger im Arbeitsmarkt zu halten . Das muss
unser Ziel sein .
Ich will noch erwähnen, dass wir Verbesserungen im
Bereich der Rehabilitation brauchen . Ziel muss es sein,
frühzeitig, bevor jemand Erwerbsminderungsrentnerin
oder -rentner wird, zu erkennen, wo die Belastungen zu
groß sind und ein beruflicher Neustart zu entwickeln ist.
Es gibt die Rehabilitationsleistungen . Es gibt sehr gute
Beispiele bei den Berufsförderungswerken, zum Bei-
spiel ist eines in meinem Wahlkreis in Dortmund . Hier
wird Neuausbildung im Verbund mit der Wirtschaft, im
Verbund mit den Unternehmen geplant und angeboten,
mit dem Ziel, dass Menschen nicht mit durchschnittlich
50 Jahren in Erwerbsminderungsrente gehen, sondern bis
zum Eintritt der Regelarbeitszeitgrenze arbeiten können .
Ich glaube, eine längere Lebensarbeitszeit, ein längeres
gesundes Verbleiben im Berufsleben wird jetzt und in
Zukunft noch viel wichtiger für die nachhaltige Finan-
zierung der Rente sein .
Vielen Dank .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die SPD-Fraktion hat nun Daniela Kolbe das Wort .
(Beifall bei der SPD)
Daniela Kolbe (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Ich bin richtig froh und auch stolz, dass
wir heute über die Rentenangleichung Ost-West und über
die Verbesserung der Erwerbsminderungsrente für dieje-
nigen, die es gesundheitlich nicht bis zur Rente schaffen,
sprechen . Ich will zuallererst Andrea Nahles und ihrem
Haus ganz herzlich Danke sagen .
(Beifall bei der SPD)
Hier wird die gute Arbeit fortgesetzt, die während der ge-
samten Legislatur darauf ausgerichtet war, die gesetzli-
che Rente zu stärken und zu verbessern . Es wird deutlich:
Das Arbeiten hört erst am Wahltag auf . Also, hier wird
bis zum Schluss gearbeitet. Ich finde, hier wird richtig
gute Arbeit vorgelegt .
(Beifall bei der SPD – Dr . Dietmar Bartsch
[DIE LINKE]: Wollt ihr danach nicht mehr
regieren?)
– Wir regieren dann weiter . Aber die Ministerin muss
sich natürlich erst einmal bestätigen lassen . Das wird
auch so passieren, Herr Bartsch, keine Sorge .
(Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ich hoffe
das!)
Ich war neun Jahre alt, als die Berliner Mauer gefallen
ist . Ich war Grundschülerin und habe noch Kopfnoten in
Betragen und Fleiß bekommen .
(Dr . Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wel-
che?)
– Sie waren nicht so ganz schlecht . Das tut hier aber
nichts zur Sache .
Ich bin jetzt 37 Jahre alt, und ich lebe immer noch
in einem Land mit zwei Rentensystemen . Die funktio-
nieren zwar nach den gleichen Prinzipien, aber in Ost-
deutschland war und ist es einfacher, einen Rentenpunkt
zu verdienen . Dafür war und ist der Rentenpunkt aber
auch weniger wert .
27 Jahre nach dem Mauerfall treibt das Blüten; Herr
Kurth hat das bereits angesprochen . Vor wenigen Tagen
wurde zum Beispiel festgestellt, dass bei der Rentenbe-
rechnung von Bundestagsmitarbeitern der ganz genaue
Ort des Büros ausschlaggebend ist . Ich muss mir in mei-
nem Büro Diskussionen anhören, warum ich nicht in das
Jakob-Kaiser-Haus umziehen könnte, wo der Renten-
punkt einfacher zu erlangen ist als in meinem jetzigen
Büro im Paul-Löbe-Haus, das etwa 30 Meter zu weit
westlich gebaut ist .
Aber das Gesetz ist nicht wegen dieser Blüten wichtig,
sondern wegen etwas ganz anderem: Kaum ein anderes
Thema wird bei älteren Ostdeutschen so tief emotional
verhandelt . Der rationale Fakt, dass der Rentenwert nied-
riger ist, löst bei ganz vielen das tief empfundene Ge-
fühl aus, dass ihre Lebensleistung weniger wertgeschätzt
wird als die der Westdeutschen . Seit 27 Jahren wird im
Rentenrecht für viele Ostdeutsche das Gefühl am Leben
erhalten und verstärkt, Bürger zweiter Klasse zu sein . Für
viele ist es eine Kränkung . Das mag objektiv alles nicht
so sein, und es ist garantiert auch nicht so gemeint, aber
das Gefühl, verknüpft mit mancher negativer Erfahrung,
die viele nach der Wiedervereinigung gemacht haben und
Markus Kurth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723430
(A) (C)
(B) (D)
über die eigentlich bisher kaum öffentlich gesprochen
wird, ist da,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN sowie der Abg . Uda Heller [CDU/
CSU])
und dieses Gefühl ist einer der größten Hemmschuhe für
eine echte, vollendete Wiedervereinigung . Insofern ma-
chen wir einen riesengroßen Schritt in Richtung innere
Einheit, wenn wir die Angleichung der Renten endlich
abschließen .
(Beifall bei der SPD)
Es ist gut, dass wir nicht auf den Tag X warten, an dem
die Angleichung von allein passiert . Schon aufgrund der
unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur wäre das nämlich
am Sankt-Nimmerleins-Tag . Deswegen ist es richtig,
dass wir sie politisch angehen .
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Für ostdeutsche Rentnerinnen und Menschen, die
schon die Hälfte ihres Erwerbslebens oder mehr hinter
sich haben, ist es nicht nur eine ideelle Anerkennung,
sondern sie werden es auch finanziell spüren. Wir müs-
sen aber auch klar sagen: Für jüngere Menschen wird es
durch den Wegfall der Umwertung – ich rede über die
ostdeutschen – nicht mehr so leicht sein, einen Renten-
punkt zu erlangen .
(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: So ist
es, und das geht nicht! Das darf nicht sein!)
Bei im Durchschnitt niedrigeren Löhnen ist das eine He-
rausforderung . Da müssen wir ran . Wir dürfen gerade die
Jüngeren nicht vergessen . Auf sie kommen sowieso gro-
ße Herausforderungen zu .
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN)
Insofern lohnt sich jede Anstrengung für gute Löhne . Das
heißt ganz konkret: gute Tariflöhne, eine hohe Tarifbin-
dung, speziell in Ostdeutschland . Andrea Nahles ist auch
hier viele richtige Schritte gegangen .
Außerdem wird es so oder so – ob wir die Rentenan-
gleichung vornehmen oder nicht – viele Menschen geben,
die die Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit und
der verheerend niedrigen Löhne der vergangenen Jahre
bei der Rente zu spüren bekommen . Deswegen brauchen
wir dringend eine echte Solidarrente, damit Menschen,
die jahrzehntelang gearbeitet und eingezahlt haben oder
arbeiten wollten, im Alter nicht dumm dastehen .
(Beifall bei der SPD)
Ich sage es offen, lieber Koalitionspartner: Ich bin rich-
tig sauer, dass wir den Koalitionsvertrag an dieser Stelle
nicht umsetzen . Aber ich bin auch motiviert und sage:
Als SPD bleiben wir da dran . Das ist eines unserer ganz
wichtigen Themen .
(Beifall bei der SPD)
Wir sehen aber auch: Der Abstand zwischen den Löh-
nen in Ost und West ist kein Naturgesetz . Durch den
Mindestlohn hat sich eine richtig tolle Dynamik entwi-
ckelt, und das sollte man manchem Mindestlohnskepti-
ker vielleicht einmal vor Augen führen .
(Beifall bei der SPD)
Am Anfang der Legislatur betrug der Unterschied bei
den Rentenpunkten 8,5 Prozent, und es hatte sich lange
Zeit eigentlich nichts bewegt . Am 1 . Juli wird der Ab-
stand nur noch 4,3 Prozent betragen . Auch bei der Um-
wertung sehen wir solch einen Effekt: Anfang der Legis-
latur waren es knapp 18 Prozent Umwertung – sie wird
häufig auch „Aufwertung“ genannt –, jetzt liegen wir bei
unter 12 Prozent . Das ist eine riesengroße Dynamik, und
sie ist ein großer Grund zur Freude . Aber sie ist so groß,
dass wir noch mal an den Gesetzentwurf ran müssen . Er
wird nämlich gerade im positivsten Sinne von der Rea-
lität überholt . Ich hoffe, wir tun das gemeinsam in einer
Art und Weise, die dazu beiträgt, dass wir die Anglei-
chung zügiger auf den Weg bekommen . Ich hoffe auch,
dass wir die Angleichung mit großer Einigkeit hier im
Haus angehen . Sie ist nämlich ein wichtiges Signal an
die Ostdeutschen, dass ihre Lebensleistung vom gesam-
ten Deutschen Bundestag wertgeschätzt und respektiert
wird .
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit .
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jana Schimke für
die CDU/CSU-Fraktion .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jana Schimke (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht
heute um ein Vorhaben, das sicherlich zu einem der wich-
tigsten Vorhaben in dieser Legislatur zählt; denn die Her-
stellung eines einheitlichen Rentenrechts steht nunmehr
zum dritten Mal in einem Koalitionsvertrag, und jetzt
endlich wird dieses Projekt auch Wirklichkeit .
(Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Erst 2024!)
Ein Blick zurück zeigt, dass es in dieser Legislatur
rentenpolitische Vorhaben gab, die man durchaus als
wegweisend bezeichnen kann – Vorhaben, bei denen wir
die Zukunft im Blick haben, die einen tieferen Sinn ha-
ben und kein schlichtes Wunschkonzert sind, mit denen
Rechtssicherheit angestrebt wird . Ohne Frage zählt die
Flexirente dabei zu den wichtigen und richtigen Ent-
scheidungen in dieser Legislatur . Sie ist die eigentliche
Antwort auf das, was ist, und auf das, was noch kommt:
eine ältere, aber auch fitter werdende Gesellschaft mit
steigender Lebenserwartung und längeren Rentenbe-
zugsphasen und die daraus folgenden Lasten für die
sozialen Sicherungssysteme und unsere Solidargemein-
schaft . Die Gruppe der älteren Beschäftigten ist eine
zentrale Gruppe, wenn es um die Wettbewerbsfähigkeit
unseres Arbeitsmarktes, aber auch um die Zukunft der
Rente in Deutschland geht . Nur Beschäftigung schafft
am Ende einen auskömmlichen Lebensabend . Mit den
Änderungen bei der Erwerbsminderungsrente, die wir
Daniela Kolbe
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23431
(A) (C)
(B) (D)
heute hier diskutieren, sind wir dabei, die wirtschaftliche
Lage für erwerbsgeminderte Menschen in Deutschland
zu verbessern .
Meine Damen und Herren, Sozialpolitik hat die Auf-
gabe, dort aktiv zu werden, wo Hilfe tatsächlich benötigt
wird . Deshalb war es für uns überhaupt keine Frage, den
Anrechnungszeitraum bei der Erwerbsminderungsrente
vom 62 . auf das 65 . Lebensjahr auszuweiten .
Und schließlich – das sei mir als abschließende Vor-
bemerkung noch gestattet – besteht die Chance, noch in
dieser Legislatur wichtige Reformen im Bereich der be-
trieblichen Altersvorsorge vorzunehmen .
Vorsorge ist mehr als gesetzliche Rente . Vorsorge ist
Ausdruck von Prioritätensetzung, von Entscheidungen
und damit auch Ausdruck eines persönlichen Lebens-
weges . Sie endet nicht beim jährlichen Rentenbescheid
oder einer Rentenpolice . Vorsorge ist weit vielfältiger,
und wir brauchen eine Vorsorgekultur in Deutschland,
die diese Vielfältigkeit auch widerspiegelt . Deswegen
ist es so wichtig, dass wir die Rahmenbedingungen nicht
nur im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge, sondern
zum Beispiel auch beim Erwerb von Grund und Boden
verbessern . Hierzu hat die Union wichtige und entschei-
dende Vorschläge vorgelegt .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Mit dem heute zu beratenden Gesetz zum Abschluss
der Rentenüberleitungen kommt ein weiterer Meilen-
stein hinzu . Unsere Gesetze, insbesondere die der Sozi-
algesetzgebung, machen in der Bundesrepublik eigent-
lich keinen Unterschied zwischen Ost und West . Überall
herrschen dieselben Regeln – außer im Rentenrecht . Das,
was einst als Ausdruck gesamtdeutscher Solidarität galt,
wurde in den letzten Jahren zunehmend als Belastung für
das Zusammenwachsen von Ost und West verstanden,
auch – und das möchte ich an dieser Stelle besonders her-
vorheben – durch das nicht immer sachliche und falsche
Zutun mancher Parteien; das konnten wir uns gerade in
der Debatte erneut anhören .
Die Politik des Postfaktischen ist keine Politik, die
für die Union als erstrebenswert gilt . Dabei bestand die
Besonderheit der Rente Ost gerade darin, mit der Hoch-
wertung der ostdeutschen Löhne Gerechtigkeit in best-
möglichem Maße abzubilden . Wie sonst sollte es gelin-
gen, zwei Staaten mit gegensätzlichen Wirtschafts- und
Gesellschaftsordnungen zusammenwachsen zu lassen .
Nur durch den Unterschied bei den Löhnen und durch
ein differenziertes Rentenrecht bestand die Chance auf
eine gerechte Sozialpolitik und damit auf eine gemeinsa-
me Zukunft. Davon profitieren wir bis heute.
Nach wie vor werden mit dem Hochwertungsfak-
tor die Löhne um rund 14 Prozent hochgewertet . Die-
se Regelung wirkt sich damit auch 27 Jahre nach der
Wiedervereinigung positiv auf die Renten in den neuen
Bundesländern aus . Gleichwohl kann man auch ohne Ge-
setzesänderung von einer nahezu erfolgten Angleichung
sprechen . Der Rentenwert Ost steigt noch in diesem Jahr
auf 95,7 Prozent, und damit haben wir die erste Stufe des
noch zu beschließenden Gesetzes quasi schon erreicht .
Sicher – das ist heute auch deutlich geworden – hätte
sich der eine oder andere gewünscht, dass der Anglei-
chungsprozess schneller vonstattengeht . Doch hier spie-
len eben auch Faktoren wie die wirtschaftliche Entwick-
lung Ostdeutschlands eine Rolle . Schauen wir deshalb
auf das Erreichte und seien wir stolz auf das, was uns
durch die vielen Anstrengungen der letzten Jahre gelun-
gen ist . Und ganz ehrlich, meine Damen und Herren: Für
mich ist der Prozess immer wieder auch eine Bestätigung
dafür, was Sozialismus und 40 Jahre DDR anzurichten
vermocht haben .
Das Zusammenwachsen ist ein langwieriger Prozess,
gerade angesichts der geschichtlichen Hintergründe . Si-
cher kann man auch sagen: Bis 2024 sind es immer noch
sieben Jahre . Aber zur Wahrheit gehört auch, dass es die
Angleichung der Rentenwerte nicht zum Nulltarif gibt .
Immerhin wird dieses Projekt den Beitrags- und Steuer-
zahler künftig bis zu 3,9 Milliarden Euro jährlich mehr
kosten . Mit der vereinbarten Zeitschiene aber und den
Stufen zur Anpassung, die wir als Union maßgeblich in
den Gesetzentwurf hineinverhandelt haben, haben wir
eine Lösung geschaffen, die die Kosten in einem vertret-
baren Rahmen hält .
Das Gesetz war auch deshalb nötig, weil wir 27 Jahre
nach der Wiedervereinigung dazu angehalten sind, den
Sonderzustand der Rentenüberleitung zum Abschluss zu
bringen . Es steht einem Rechtsstaat und einer etablier-
ten Demokratie nicht gut, einen Unterschied so lange mit
sich herumzutragen . Dass dabei auch die Notwendigkeit
besteht, den Hochwertungsfaktor schrittweise abzu-
schmelzen, versteht sich, denke ich, von selbst . Wer die
Gleichbehandlung möchte, muss auch bereit sein, sich
von jenen Faktoren zu trennen, die bisher Ausdruck der
Besserstellung waren .
Lassen Sie mich abschließend noch einen Punkt an-
sprechen, der in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist .
Wir wären heute nicht da, wo wir sind, wenn sich nicht
auch die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre so
positiv dargestellt hätte . Allein in den letzten fünf Jah-
ren stieg in den neuen Bundesländern der Rentenwert um
7 Prozentpunkte . Die Renten in Ostdeutschland stiegen
seit 2012 um 19 Prozent . Unsere Arbeitsmarkt- und Wirt-
schaftspolitik zeigt ganz konkrete Erfolge . Das kommt
auch unseren Rentnern zugute . Wenn Sie so wollen, hat
die Renteneinheit zwischen Ost und West gerade in den
vergangenen Jahren einen besonderen Schwung erhalten .
Deshalb wäre es desaströs, diese Erfolge durch einen
schrittweisen Abbau der Agenda 2010 zu gefährden .
Maßnahmen wie zum Beispiel die Bezugsdauer des Ar-
beitslosengeldes zu verlängern, flexible Arbeitsmarktin-
strumente schlichtweg abzuschaffen oder neue Milliar-
denprogramme ohne jedwede Nachhaltigkeit aufzulegen,
würden die eben genannten Erfolge aufs Spiel setzen .
Meine Damen und Herren, was wir nicht wollen, ist ein
politisch verordneter Abschwung . Das ist meine Sorge .
Wir wollen nicht mehr Arbeitslosigkeit in Deutschland,
sondern wollen, dass Unternehmen in der Bundesrepu-
blik investieren und Arbeitsplätze schaffen . Wir kämpfen
dafür, dass die wirtschaftliche Entwicklung der Bundes-
Jana Schimke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723432
(A) (C)
(B) (D)
republik Deutschland weiterhin im Aufschwung bleibt
und es nicht zu einem Abschwung kommt .
Mit einem einheitlichen Rentenrecht aber ist es noch
nicht getan . Ein einheitliches Rentenrecht bietet Chan-
cengleichheit zwischen den alten und den neuen Bundes-
ländern . Jetzt kommt es aber darauf an, dafür zu sorgen,
dass sich die positive wirtschaftliche Lage weiter fort-
setzt .
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Schimke, darf kurz vor dem Finale Ihrer Rede
der Kollege Thomas Jurk von der SPD-Fraktion eine
Zwischenfrage stellen?
Jana Schimke (CDU/CSU):
Nein, das können wir zum Schluss machen . – Wir als
Union stehen für Beschäftigungsaufbau und nicht für Be-
schäftigungsabbau . Dafür machen wir uns stark .
Vielen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Michael Gerdes hat nun das Wort für die SPD-Frak-
tion .
(Beifall bei der SPD)
Michael Gerdes (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es freut
mich, dass wir gerade zum Tag der Arbeit bereits zum
zweiten Mal in dieser Legislaturperiode Verbesserungen
für Erwerbsgeminderte auf den Weg bringen . Das zeigt
die Dringlichkeit bzw . den Ernst der Lage . Wir wollen
und dürfen nicht übersehen: Erwerbsminderung ist ein
echtes Armutsrisiko . Insbesondere für diejenigen, die
sich private Vorsorge gar nicht erst leisten können oder
deren Berufsunfähigkeitsversicherungen dann doch nicht
zahlen, ist es wichtig, dass sie vernünftig abgesichert
werden . Viel zu lange waren die Erwerbsminderungsren-
ten im freien Fall, wie es der DGB einmal vor Jahren be-
schrieben hat . Als Sozialdemokrat und Gewerkschafter
bin ich froh, dass unsere Arbeitsministerin Nahles beim
Thema Rente einen sehr umfassenden Ansatz verfolgt .
(Beifall bei der SPD)
Wer aufgrund von Krankheit nicht in der Lage ist, sei-
nen Lebensunterhalt aus eigener Kraft aufzubringen, darf
und muss auf die Hilfe der Solidargesellschaft setzen . So
definieren wir soziale Absicherung. Bauchschmerzen
macht mir vor allem, dass relativ viele Erwerbsminde-
rungsrentner auf Grundsicherungsleistungen angewiesen
sind . Das erscheint wenig gerecht, vor allem dann, wenn
man lange Jahre gearbeitet und ins System eingezahlt hat .
Schließlich liegt das Durchschnittsalter der Antragsteller
bei knapp 52 Jahren . Da ist ein großer Teil des Arbeitsle-
bens bereits absolviert, und es ist schwer, zu akzeptieren,
auf ein Existenzminimum zu fallen .
Das wollen wir ändern . Diese Gerechtigkeitslücke
schließen wir ein Stück weit . Mit der angestrebten Ge-
setzesänderung erhalten all diejenigen, die nicht mehr
arbeiten können, ein wenig mehr Rente .
(Beifall bei der SPD)
Das erreichen wir, wie bereits gehört, durch die Verlän-
gerung der Zurechnungszeiten . Gleichzeitig wissen wir,
wie bescheiden das Niveau der Rentenzahlung an Er-
werbsgeminderte ist .
Losgelöst von der Verlängerung der Zurechnungszei-
ten möchte ich an dieser Stelle den Vorsorgegedanken in
den Fokus rücken . Wichtig ist, dass wir nicht erst aktiv
werden, wenn es um die vorzeitige Verrentung geht . Un-
ser Grundgedanke lautet: Prävention vor Reha, Reha vor
Rente .
(Beifall bei der SPD)
Frühzeitig müssen Unternehmen über Gesundheitsför-
derung und Belastungen am Arbeitsplatz nachdenken .
Das tun auch viele . An vielen Stellen kann durch mo-
derne technische Hilfsmittel die Zahl arbeitsbedingter
Verschleißerkrankungen verringert werden . Wir müssen
gemeinsam mit den Unternehmen darauf abzielen, Er-
werbstätige vor Berufsunfähigkeit zu bewahren .
Dabei ist zwischen körperlichen und mentalen Belas-
tungen zu unterscheiden . Insbesondere die Zahl der psy-
chischen Erkrankungen steigt . Nicht von ungefähr hat die
SPD-Fraktion in dieser Legislaturperiode laut über eine
Antistressverordnung nachgedacht . Immerhin gibt es seit
wenigen Monaten die neue Arbeitsstättenverordnung, die
auch eine psychische Gefährdungsbeurteilung vorsieht .
Der Leistungsdruck in der Arbeitswelt von heute ist
enorm . Das Gesundheitsmanagement der Betriebe und
die Eingliederung der von Krankheit Betroffenen stellen
daher eine große Herausforderung dar . Ohne Prävention
wird es vor dem Hintergrund der älter werdenden Gesell-
schaft nicht gehen . Ein diesbezüglich interessantes und
durchaus vorbildliches Unternehmen sind die Berliner
Verkehrsbetriebe . Hier arbeiten überdurchschnittlich
viele Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen .
Viele der BVG-Mitarbeiter sind erst im Laufe ihres Be-
rufslebens erkrankt und werden nach Begutachtung ihrer
veränderten Fähigkeiten an anderer Stelle im Unterneh-
men eingesetzt . Die Leistungen der Rentenversicherung
zur Teilhabe am Arbeitsleben sind diesbezüglich sehr
vielfältig . Es macht Sinn, die Versicherten und die Un-
ternehmen mehr und mehr auf diese Hilfestellungen hin-
zuweisen .
Trotz allem behält die Erwerbsminderungsrente ihre
Berechtigung. Umschulung heißt nicht zwangsläufig
Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit . Jeder Fall ist an-
ders und muss individuell betrachtet werden . Das macht
die Rentenverfahren in der Regel so aufwendig und lang-
wierig .
Ein Wort noch zu den sogenannten Bestandsrentnern .
Hier sind erneut keine Veränderungen bzw . Verbesserun-
gen vorgesehen . Das ist schmerzlich . Wir bekommen als
Abgeordnete viele Zuschriften, von denen jede einzelne
beklagenswert ist . Aber jede Sozialreform, jede Aufsto-
ckung von Leistungen muss finanziert werden, und ge-
Jana Schimke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23433
(A) (C)
(B) (D)
nau an dieser Stelle bleiben wir immer wieder stecken, so
bedauerlich ich das auch finde. Aber wir bleiben am Ball.
Herzlichen Dank und Glück auf! Ich wünsche Ihnen
einen schönen 1 . Mai .
(Beifall bei der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Stephan Stracke für die CDU/CSU-Fraktion .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Stephan Stracke (CDU/CSU):
Grüß Gott! – Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die letzten knapp vier Jahre waren
für die Rentenversicherung und für die Alterssicherung
in Deutschland durchaus bewegte Zeiten . Wir haben als
Große Koalition gemeinsam viel bewegt . Wir haben ein
beachtliches Feld an rentenpolitischen Themen bearbei-
tet und eine Vielzahl von Reformen beschlossen, die den
Menschen guttun . Diese Maßnahmen zielen alle darauf,
die gesetzliche Rentenversicherung zu stärken und die
Altersarmut in Deutschland vermeiden zu helfen .
Die Reformmaßnahmen waren vor allem von deutli-
chen Ausweitungen der Leistungen der Rentenversiche-
rung für die Rentnerinnen und Rentner in diesem Land
gekennzeichnet . Ich denke an das Rentenpaket, das wir
gemeinsam beschlossen haben, insbesondere an die Müt-
terrente, die 9,5 Millionen Müttern und Vätern zugute-
kommt – mit bis zu 330 Euro pro Jahr und Kind –, ich
denke an die Rente mit 63, an die Verbesserungen bei den
Rehaleistungen und bei der Erwerbsminderungsrente . Im
Bereich der Erwerbsminderung haben wir bereits 2014
Verbesserungen vorgenommen: Wir haben die Zurech-
nungszeit um zwei Jahre erweitert und die Bewertung
der Zurechnungszeit dahin gehend verbessert, dass die
Phase, in der man in der Regel schlechter verdient, weil
man krank ist, nicht in dem Maße zählt und mitgerechnet
wird .
Jetzt gehen wir die Ost-West-Angleichung an . Wir ha-
ben beachtliche Rentensteigerungen erlebt . Allein in die-
ser Legislaturperiode ist die Rente im Westen um knapp
10 Prozent und im Osten um über 14,5 Prozent gestiegen .
Das ist tatsächlich beachtlich .
All das war nur möglich, weil die Rentenversicherung
finanziell gut und stabil dasteht. An diesen Sachverhalt
gewöhnt man sich schnell, aber die Situation ist doch
ziemlich einmalig . Wir haben so niedrige Beitragssätze
wie seit Jahrzehnten nicht, zum Zweiten Spielraum für
Leistungserweiterungen und zum Dritten stabile Finan-
zen . Das hat eine Ursache: Die Wirtschaft in unserem
Land läuft gut . Wir haben vieles richtig gemacht . Wir ha-
ben nicht auf die vielen Einflüsterer gehört, die wollten,
dass wir die Steuern erhöhen und die Menschen stärker
belasten . Im Gegenteil: Wir haben die Menschen entlas-
tet, wir haben die Flexirente beschlossen, und – das ge-
hört auch dazu – wir haben den Mindestlohn eingeführt .
All das führt zu einer guten Finanzsituation der Deut-
schen Rentenversicherung und dazu, dass wir so viele
sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze haben wie
seit langem nicht mehr .
Die Reformmaßnahmen waren vor allem an zwei
Zielen ausgerichtet: Erstens: gute Renten für die ältere
Generation . Unser Leitbild dabei ist die Lebensstandard-
sicherung für die älteren Menschen, basierend auf meh-
reren Säulen der Alterssicherung .
(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Das
klappt aber nicht! Die Lebensstandardsiche-
rung klappt mit euren drei Säulen doch nicht!
Das muss man doch mal sagen!)
Das zweite Ziel ist die langfristige Finanzierbarkeit trotz
alternder Gesellschaft . Diese nachhaltige Finanzierbar-
keit ist die Bedingung für ein zukunftssicheres Alterssi-
cherungssystem .
Dabei bildet die gesetzliche Rentenversicherung eine
zentrale und stabile Säule . Aber wir brauchen als Ergän-
zung natürlich auch eine kapitalgedeckte Alterssiche-
rung . Dies ist unverzichtbar .
(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Brau-
chen wir nicht! Machen Sie uns nichts vor!)
Deswegen arbeiten wir daran, die betriebliche Altersvor-
sorge zu verbessern und auch die Riester-Förderung in
diesem Bereich besser auszugestalten . Manches, was die
Versicherungswirtschaft in diesem Bereich gemacht hat,
hat der Riester-Rente nicht gutgetan . Deswegen müs-
sen wir dies korrigieren . Diese Aufgabe wird weit in die
nächste Legislaturperiode hineinreichen . Andere Staaten
haben uns vorgemacht, wie das geht .
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ja, bei den
Erwerbsgeminderten besteht klarer Handlungsbedarf .
Einer 40-jährigen Erzieherin zum Beispiel, die aufgrund
von Depressionen krank und arbeitsunfähig wird, oder
einem jungen Handwerker, der verunfallt und deswe-
gen seiner Arbeit nicht mehr nachgehen kann, wird die
Erwerbsminderungsrente aller Wahrscheinlichkeit nach
nicht zum Leben ausreichen . Deswegen muss die gesetz-
liche Rentenversicherung das Risiko der Erwerbsminde-
rung ausreichend absichern . Das ist zum einen eine Fra-
ge der Akzeptanz der Rente mit 67, aber vor allem eine
Frage der Gerechtigkeit gegenüber denjenigen, die nicht
freiwillig aus dem Erwerbsleben ausgestiegen sind, son-
dern einfach krank wurden .
(Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: 4,50
Euro für den Jahrgang 1980!)
Wir nehmen es nicht hin, dass 15 Prozent derer, die
erwerbsgemindert sind, auf Leistungen der Grundsiche-
rung angewiesen sind . Deswegen haben wir 2014 die Re-
form gemacht und die Zurechnungszeiten um zwei Jahre
erhöht . Diese erhöhen wir jetzt noch einmal schrittwei-
se um drei Jahre . 2014 wären wir bereit gewesen, noch
mehr zu tun . Damals gab es allerdings keinen Spielraum .
Jetzt haben wir ihn .
Die Menschen müssen sich darauf verlassen können,
dass sie, wenn die Arbeit körperlich hart ist, wenn sie
psychisch belastet sind, wenn sie einfach Pech haben,
weil sie krank werden, tatsächlich gut abgesichert sind .
Darauf zielt die jetzt vorgelegte Reform ab . Es geht um
Michael Gerdes
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723434
(A) (C)
(B) (D)
Gerechtigkeit gerade im Umgang mit Menschen, die die
Solidarität der Gemeinschaft am meisten nötig haben .
Das ist eine gute Reform und Ausdruck christlich-sozi-
aler Politik .
Herzliches Dankeschön .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich bedanke mich auch für den beispielhaften Nach-
weis, dass man gelegentlich sogar mit weniger als der
eingeräumten Redezeit wesentliche Beiträge zu einer
solchen Debatte leisten kann . – Ich schließe die Ausspra-
che .
Wir kommen damit zu den notwendigen Überweisun-
gen . Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/11926, 18/11923, 18/12087 und
18/10039 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen . – Dazu stelle ich Einvernehmen
fest . Dann sind die Überweisungen so beschlossen .
Wir kommen nun zu den Zusatzpunkten 7 und 8:
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Grenzregionen vor Atomrisiken schützen –
Export von Brennelementen stoppen
Drucksache 18/12093
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Tschernobyl und Fukushima mahnen – Atom-
ausstieg konsequent umsetzen
Drucksache 18/11743
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher-
heit (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
hierfür 60 Minuten vorgesehen . – Widerspruch höre ich
keinen . Dann können wir so verfahren .
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Landesminister Johannes Remmel, zugleich, wie ich ver-
mute, für die Fraktion Die Grünen . – Bitte schön, Herr
Remmel .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Johannes Remmel, Minister (Nordrhein-Westfa-
len):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da-
men und Herren! Ja, es ist völlig richtig, heute, zwei Tage
nach dem 31 . Jahrestag der Atomkatastrophe von Tscher-
nobyl, zu erinnern und zu mahnen . Ja, das unvergessli-
che Leid und die unglaublichen gesundheitlichen Folgen
über Generationen hinweg in Tschernobyl und auch in
Fukushima – mit Fukushima ist Nordrhein-Westfalen
übrigens seit Jahren eng verbunden; diese Partnerschaft
wird weiterentwickelt – sind ständige Mahnung und auch
gleichzeitig Auftrag: Nie wieder und nirgendwo!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Es ist auch gut und richtig, hier und jetzt an die gro-
ße politische Einigkeit von Bundestag und Bundesrat in
einer gemeinsamen Beschlussfassung zu erinnern, aus
der Atomenergie in Deutschland auszusteigen und Atom-
kraftwerke abzuschalten . Das ist und bleibt historisch .
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Erin-
nerung an historische Leistungen oder Mahnungen wer-
den dann zunehmend zu erstarrten Ritualen und schluss-
endlich auch hohl, wenn sie nicht immer wieder in der
politischen Praxis konkrete Konsequenzen für das Jetzt
und Heute und auch für das Übermorgen haben .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN sowie des Abg . Hubertus Zdebel [DIE
LINKE])
Diese Konsequenzen müssen dann auch gezogen wer-
den . Eigentlich ist das doch so einfach – die Menschen
draußen haben jedenfalls ein klares Gespür dafür, und
das gilt parteiübergreifend –: Wer A sagt, muss auch B
sagen, und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wer – A – „Atomkraftwerke abschalten“ sagt, muss –
B – auch in Belgien, bei unserem Nachbarn, das Gleiche
fordern .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Bei aller Achtung der nationalen Souveränität: Strah-
lung macht eben nicht an der Grenze halt . Da gibt es
schlicht keine Obergrenze; sie ist einfach null . Es ist den
Menschen nicht mehr zu erklären: das ständige An- und
Abschalten, die vielen Pannen, die Risse in den Schrottre-
aktoren, die unterschiedlichen Sicherheitsstandards . Die
Diskussion über die Mechanismen der Verteilung von
Jodtabletten ist angesichts unserer Beschlusslage, aus der
Atomenergie auszusteigen, schlicht schizophren . Selbst
die belgische Atomaufsicht hält die Betreiber für nicht
zuverlässig .
Frau Bundesministerin Hendricks, es ist gut, dass Sie
sich endlich aufgemacht haben,
(René Röspel [SPD]: Nicht „endlich“!)
um auch in Belgien dafür zu sorgen, dass die Lücke in Sa-
chen nukleares Sicherheitsabkommen geschlossen wird;
das ist nicht ausreichend, aber es ist ein wichtiger Schritt .
Es ist auch richtig, dass sich die Sicherheitsexperten aus-
tauschen . Das gilt auch für die Erklärung bezüglich der
Sicherheitslücken der belgischen Atomkraftwerke . Aber
wo bleibt die Unterstützung unserer Aktivitäten gegen-
über der Europäischen Kommission?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN sowie des Abg . Hubertus Zdebel [DIE
LINKE])
Stephan Stracke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23435
(A) (C)
(B) (D)
Wo bleibt die Unterstützung der Bundesregierung, wenn
es darum geht, alle rechtlichen Möglichkeiten auf nati-
onaler, aber auch auf internationaler Ebene wahrzuneh-
men? Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich mei-
ne, die äußere und innere Sicherheit ist Chefsache . Ich
frage mich: Wo ist die Bundeskanzlerin bei dieser Sache?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Es gäbe noch sehr viel mehr zu tun, wenn es um kon-
krete Unterstützung, Zusammenarbeit und Partnerschaft
geht . Beispielsweise müsste der Netzausbau forciert
werden . Wir brauchen nicht nur eine Verbindung . Viel-
mehr brauchen wir dringend eine zweite . Das muss in
den Netzausbauplan eingearbeitet werden . Wir brauchen
auch, genauso wie mit Frankreich, gemeinsame Kom-
missionen, die sich in beiden Ländern für Alternativen,
nämlich für erneuerbare Energien, einsetzen . Hier gibt es
deutliche Lücken, und hier müsste die Bundesregierung
sehr viel mehr tun .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Klar ist auch: Wer A sagt, muss auch im eigenen Land
B sagen . Es kann doch nicht sein – das stößt bei Dis-
kussionen vor Ort immer wieder auf –, dass Gronau und
Lingen nach wie vor nicht unter das Atomgesetz fallen .
Das muss dringend repariert werden . Hierzu muss es
nicht nur ein Gutachten geben, sondern auch eine recht-
liche Entscheidung im Deutschen Bundestag, so wie es
der Bundesrat zweimal gefordert hat . Bitte, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, überwinden Sie sich endlich, und
entscheiden Sie, dass das zum Atomausstieg dazugehört!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Wer A sagt, muss auch B sagen, wenn es um die Ge-
nehmigung der Ausfuhr von Brennelementen geht . Das
Atomgesetz verlangt für die Erteilung einer Ausfuhrge-
nehmigung den Nachweis des Ausschlusses einer „die
innere und äußere Sicherheit“ der Bundesrepublik ge-
fährdenden Verwendung der zu exportierenden Brennele-
mente . Ein solcher Nachweis sei für die maroden Reak-
toren jedoch nicht zu erbringen, so die Bundesregierung .
Ich frage mich, was denn sonst die innere und äußere
Sicherheit bedroht, wenn nicht solche Atomkraftwerke .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Geradezu zynisch ist der Hinweis der Bundesregie-
rung, die Brennstäbe würden ohnehin geliefert, wenn
nicht von uns, dann eben von anderen . Das ist nicht Poli-
tik, sondern das ist Geschäft .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr . Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Das hat
nichts mit Geschäften zu tun, sondern mit
Kompetenzerhalt!)
Sehr verehrte Frau Bundesministerin, man kann nicht
auf der einen Seite erklären, dass man die Sicherheitsla-
ge nicht für ausreichend hält, und gleichzeitig Brennele-
mentelieferungen genehmigen und somit die Lage auch
noch von anderer Seite befeuern . Ja, ich sage Ihnen: Wo
ein Wille ist, ist auch ein Weg . Es fehlt aber schlicht am
politischen Willen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich will gar nicht bestreiten, dass es unterschiedliche
Rechtsauffassungen gibt . Sie sind ja sowohl in Gutachten
der Bundesregierung als auch in Gutachten von außer-
halb mehrfach dargelegt worden . Selbst der Gutachter
der Bundesregierung spricht davon, dass es unterschied-
liche Rechtsauffassungen gibt .
Was macht man denn, wenn man unterschiedliche
Rechtsauffassungen hat? Man versucht dann, den recht-
lich möglichen Weg tatsächlich auch zu beschreiten, das
heißt: Verbieten Sie den Export, genehmigen Sie ihn
nicht . – Dann werden möglicherweise die Gerichte eine
Klärung über den Weg herbeiführen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Frau Bundesministerin, wenn Sie sich nicht sicher
sind, ob dieser Weg über die Gerichte richtig ist – das
wird im Übrigen schnell geklärt werden können –, dann
muss man Gesetze ändern . Das ist die Haltung des Land-
tages Nordrhein-Westfalen, das ist die Haltung der Regi-
on um Aachen herum, und das ist die Haltung der Men-
schen in Nordrhein-Westfalen: den politischen Willen an
dieser Stelle auch umzusetzen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN sowie des Abg . Hubertus Zdebel [DIE
LINKE])
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eines kann
und muss ich zum politischen Willen noch sagen: Wir
brauchen am Ende des Tages auch eine europäische Ini-
tiative für einen umfassenden Atomausstieg . Es kann
nicht sein, dass Ländern um uns herum regelmäßig ein
Sicherheitsrabatt – das kann im Übrigen auch unter Wett-
bewerbsgesichtspunkten nicht sein – gewährt wird . Wir
wissen, dass in Frankreich ein Nachrüstungsbedarf von
über 150 Milliarden Euro besteht . Hier ist eine scharfe
Initiative der Bundesregierung zur Vertretung unserer In-
teressen im europäischen Kontext notwendig .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Minister, ich möchte Sie nur darauf aufmerksam
machen, dass Ihre weitere Redezeit auf das Konto der
Fraktion geht, für die Sie sicher auch reden .
Johannes Remmel, Minister (Nordrhein-Westfa-
len):
Also: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, wenn es um
die Untersagung der Brennelementelieferungen, die voll-
ständige Durchsetzung des Atomausstieges durch den
Bundestag und letztlich auch das Abschalten der Atom-
kraftwerke in Tihange und Doel geht .
Minister Johannes Remmel (Nordrhein-Westfalen)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723436
(A) (C)
(B) (D)
Herzlichen Dank .
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der
LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Anja Weisgerber
das Wort .
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der
CDU/CSU: Jetzt kann der Verstand zurück-
kehren!)
Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Vor ziemlich genau 31 Jahren ereignete sich
im Atomkraftwerk Tschernobyl ein katastrophaler Un-
fall, der bis dahin nicht vorstellbar war
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Doch!)
und dessen Auswirkungen bis zu uns spürbar waren und
auch noch lange spürbar sein werden .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das konnten nur Sie sich nicht
vorstellen!)
Unser oberstes Ziel ist daher die bestmögliche Sicherheit
für die Bevölkerung und unser Land .
Dies hat nicht zuletzt dazu geführt, dass wir nach den
Vorfällen von Fukushima den beschleunigten Ausstieg
aus der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung
beschlossen haben .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nach dem zweiten GAU!)
Und glauben Sie mir: Als Klimapolitikerin kann ich sa-
gen, dass der Ausstieg aus der nahezu CO2-neutralen
Kernenergie bei der Stromerzeugung eine wahre Her-
kulesaufgabe darstellt . Aber wir stehen weiterhin fest zu
unserem Beschluss und nehmen diese Herausforderung
gerne an .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist eine Leistung!)
Wir nehmen auch die Ängste der Bürgerinnen und
Bürger in den Grenzregionen vor möglichen nuklearen
Unfällen in den naheliegenden ausländischen Reakto-
ren und ihre Sorgen sehr ernst, weil Radioaktivität eben
keinen Halt an Grenzen macht . Denn, meine Damen und
Herren, die Sicherheit der Bewohner an der Grenze hat
für uns oberste Priorität, nicht aber irgendwelche Wahl-
kampfmanöver wie dieser Antrag der Grünen; das will
ich vonseiten der Union ausdrücklich betonen .
(Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Göring-
Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
haben Sie immer gesagt! Und dann fliegen
die Atomkraftwerke in die Luft! Angeblich
ist immer Wahlkampf! Es ist aber immer ein
Risiko!)
In dieser Legislaturperiode haben wir uns im Umwelt-
ausschuss, aber auch im Plenum mit dem Thema der äl-
teren grenznahen belgischen Reaktoren vielfach beschäf-
tigt . Meine Damen und Herren, man kann viel fordern .
Jedoch ist das aus meiner Sicht nur dann zielführend,
wenn wir uns im Rahmen der Realität und des Machba-
ren bewegen . Deshalb sollten wir in den entsprechenden
europäischen, internationalen und bilateralen Gremien
mit unserem deutschen Know-how auf die Einhaltung
höchster Sicherheitsstandards drängen . Nur so können
wir ein Mehr an Sicherheit, unser wichtigstes Ziel, in den
grenznahen Kernkraftwerken nachhaltig erreichen .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Dazu kann ich nur sagen, dass wir bzw . die Umweltmi-
nisterin in dieser Legislaturperiode alles getan haben,
was aus Sicht Deutschlands machbar ist .
Das Thema wurde auch in mehreren Kleinen Anfra-
gen sowie in mündlichen und schriftlichen Fragen behan-
delt . Eine zentrale Antwort der Bundesregierung war und
ist immer, wenn es um die Forderung nach Abschaltung
dieser Reaktoren geht: Jeder Staat ist für seinen Energie-
mix selbst verantwortlich und bestimmt alleine .
Deshalb stehen uns nur sehr begrenzte Möglichkeiten der
Einflussnahme zur Verfügung.
Die Kompetenz zum Energiemix liegt eben nicht auf
der EU-Ebene . Ich sage dazu nur: Wenn die Kompetenz
zum Energiemix auf EU-Ebene läge, dann hätten wir al-
ler Voraussicht nach nicht in der Weise Vorreiter werden
und aus der Kernenergie aussteigen können, meine sehr
geehrten Damen und Herren . Nebenbei möchte ich auch
erwähnen, dass Belgien nach derzeitiger belgischer Ge-
setzeslage beschlossen hat, bis zum Jahr 2025 aus der
Kernenergie auszusteigen .
Was wurde seitens der Bundesregierung alles veran-
lasst? Letzten Dezember haben Deutschland und Belgi-
en ein gemeinsames Nuklearabkommen unterzeichnet,
das die bilaterale Zusammenarbeit der beiden Länder
im Bereich der nuklearen Sicherheit vertieft und das die
Grundlage für einen verlässlichen Informations- und
Erfahrungsaustausch darstellt . Teil des Abkommens ist
auch die Einrichtung einer deutsch-belgischen Nukle-
arkommission, einer Expertenkommission, die noch vor
dem Sommer zum ersten Mal tagen und sich fachlichen
Fragen widmen wird, wie zum Beispiel den gefundenen
Kohlenstoffseigerungen in den Wandungen der Reaktor-
druckbehälter der beiden belgischen Reaktoren .
Auch sonst bedient sich die Bundesregierung aller di-
plomatischen Werkzeuge . Dort, wo in unseren Nachbar-
ländern eine Laufzeitverlängerung vorgesehen ist, setzt
sie sich dafür ein, dass eine verpflichtende grenzüber-
greifende Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt
wird . Wir versuchen, unseren Nachbarn zu zeigen, dass
man auch als Industrienation durch den Ausbau der si-
cheren erneuerbaren Energien aus der Kernenergienut-
zung zur Stromerzeugung mittelfristig aussteigen kann .
Hier gehen wir mit gutem Beispiel voran und versuchen,
Minister Johannes Remmel (Nordrhein-Westfalen)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23437
(A) (C)
(B) (D)
Nachahmer zu finden. Das ist auch gut so, meine Damen
und Herren .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg .
René Röspel [SPD])
Ein Exportverbot und die Schließung der Urananrei-
cherungsanlage Urenco und der Brennelementefabrik
ANF, wie es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
die Linke fordern, ist in meinen Augen der falsche Weg .
Ich sage Ihnen auch, warum . Dafür gibt es aus meiner
Sicht zwei Gründe .
Erstens . Bei Schließung dieser Firmen würde Deutsch-
land wichtige Kompetenz im Nuklearbereich verlieren,
(Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Aha! Darum
geht es also!)
die aus meiner Sicht vor allem für die Frage des sicheren
Rückbaus, der auch uns sehr wichtig ist – ich komme aus
einer Region, in der es ein Kernkraftwerk gibt –,
(Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kotting-
Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist
ja das tollste Argument!)
von hoher Bedeutung ist .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dafür brauchen wir Urenco?)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Weisgerber, darf der Kollege Krischer eine Zwi-
schenfrage stellen?
Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU):
Nein, ich möchte heute ausnahmsweise meine Rede
gerne komplett zu Ende führen, weil sie allumfassend ist .
Ich gehe davon aus, dass nach dieser Rede alle Fragen
beantwortet sind .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich will Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, den zweiten Grund dafür erklären . Nur
mit Kompetenz und anerkanntem Know-how kann
Deutschland durch Experten mit Sitz und Einfluss in
den europäischen Gremien – der ENSREG, einem Bera-
tungsgremium der EU-Kommission zu technischen Fra-
gen, und der WENRA, dem Gremium der europäischen
Genehmigungsbehörden – mitwirken . Der Kompetenz-
erhalt ist aber auch wichtig, um in der Internationalen
Atomenergie-Organisation und in der Nuclear Energy
Agency der OECD Gehör zu finden. Gerade dies ist un-
ser wichtigstes Ziel: dass wir Gehör finden und dass wir
weltweit hohe nukleare Sicherheitsstandards implemen-
tieren . Das ist unser oberstes Ziel .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Denn hier gilt der Grundsatz: Nur wer anerkannte
Kompetenz hat und mitreden kann, der kann auch be-
einflussen. An dieser Stelle muss man auch betonen,
dass wir hier in Deutschland immer noch die sichersten
Kernkraftwerke der Welt betreiben und über eine hohe
Kompetenz in diesem Bereich verfügen . Der Ausstieg ist
beschlossen – das ist ganz klar –, aber die Kompetenz ist
vorhanden .
Verbannen wir jegliche kerntechnische Anlagen aus
Deutschland, verlieren wir über kurz oder lang die ent-
sprechende Kompetenz, mit der wir zum Beispiel auch
die Sicherheit grenznaher Kraftwerke bewerten können .
Wie gesagt, wir brauchen in Zukunft weiterhin die Kom-
petenz auf diesem Gebiet für den sicheren Rückbau der
Kernkraftwerke, welcher noch ein bis zwei Jahrzehnte in
Anspruch nehmen wird .
(Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kotting-
Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man
braucht doch kein Urenco für den Rückbau!
Das ist doch absurd! Urananreicherung für
den Rückbau! Das ist wirklich abstrus!)
Und nun zum nächsten Punkt: Es gilt das Redundanz-
prinzip . Ein Betreiber eines Kernkraftwerkes bezieht die
Brennelemente immer aus zwei Quellen, um sicherzu-
stellen, dass im Bedarfsfall die Brennstoffversorgung des
Reaktors gesichert ist und nicht ins Stocken gerät . Würde
Deutschland den Export der Brennelemente nach Belgi-
en stoppen, würde das am Weiterbetrieb der Reaktoren in
Doel und Tihange nichts ändern .
Zudem muss man auch klar betonen, dass die von der
Firma ANF gefertigten Brennelemente eine sehr hohe
Qualität haben . Auch dies ist ein wichtiger Sicherheits-
aspekt . Und gerade die nukleare Sicherheit steht doch im
Fokus . Das zieht sich wie ein roter Faden durch meine
Rede .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser oberstes Ziel
ist die Sicherheit für die Menschen, aber es ist äußerst
fraglich, ob wir dies mit einem Exportverbot erreichen .
Aus meiner Sicht muss man, wenn man mehr Sicherheit
will – das wurde schon angesprochen –, auf der europäi-
schen Ebene ansetzen und dort für eine Fortentwicklung
der Sicherheitsstandards im Bereich der Kernkraftwerke
werben . Dies ist für mich der einzig richtige Weg, mit
dem wir auch etwas erreichen werden .
Deshalb muss es uns insbesondere gelingen, die ho-
hen deutschen Sicherheitsstandards auf die europäische
Ebene zu heben . Als ich Europaabgeordnete war, war
es immer der Ansatz meiner europäischen Umweltpoli-
tik, die deutschen Standards auf die europäische Ebene
zu heben . Auch bei den Sicherheitsstandards in diesem
Bereich müssen wir genau diesen Weg gehen, und dafür
werbe auch ich, meine Damen und Herren .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
In Ihrem Antrag sprechen Sie sich für eine sichere
Lagerung der Brennelementkugeln des ehemaligen For-
schungsreaktors Jülich aus . Diese Grundforderung trage
ich zu 100 Prozent mit .
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd-
nis 90/Die Grünen, Ihre Forderung nach einem neuen
Zwischenlager am Standort Jülich lehne ich entschieden
Dr. Anja Weisgerber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723438
(A) (C)
(B) (D)
ab, da dies nicht die schnellste Lösung für eine sichere
Lagerung der Brennelementkugeln ist .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja wenn man schon fünf Jahre
wartet, natürlich nicht! Wenn man nichts tut!)
Wie Sie alle wissen, wurde die Betriebsgenehmigung
für das vorhandene Lager am Standort Jülich wegen feh-
lender Erdbebensicherheit entzogen .
(Jens Spahn, Parl . Staatssekretär: Aha!)
Wir haben dort einen rechtswidrigen Zustand, der zulas-
ten der Sicherheit geht und schnellstmöglich beseitigt
werden muss .
Welche Optionen stehen zur Verfügung?
Erstens der von Ihnen geforderte Bau eines neuen
Zwischenlagers am Standort Jülich . Diese Option würde
eine Genehmigungs- und Bauzeit von bis zu zehn Jahren
bedeuten und so dem Ziel der schnellstmöglichen Behe-
bung des rechtswidrigen Zustandes widersprechen und
somit auch Sicherheitsdefizite mit sich bringen.
Zweitens ein Export der Brennelementkugeln zur
Wiederaufarbeitung in den USA . Bislang ist fraglich,
wann die Amerikaner genehmigungstechnisch für die
Wiederaufarbeitung der Brennelementkugeln bereit sein
werden .
Die dritte Möglichkeit ist der Transport in das Zwi-
schenlager Ahaus . Diese Option ist zeitlich gesehen die
schnellste Lösung, zumal schon seit ein paar Jahren ver-
traglich Lagerkapazitäten im Zwischenlager Ahaus ver-
einbart sind und eine Realisierungszeit von nur wenigen
Jahren – meines Wissens wären es mindestens zwei Jah-
re – möglich wäre .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: 52 Transporte interessieren Sie
nicht!)
Zusammengefasst wäre die Lagerung im Zwischen-
lager Ahaus die schnellste und damit sicherste Variante .
Deshalb gebe ich diesen Ball, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von den Grünen, gerne an Sie und Ihre Kollegen in
der rot-grünen Landesregierung in Nordrhein-Westfalen
zurück .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Zu Ihrer Forderung nach der Wiedereinführung der
Kernbrennstoffsteuer möchte ich auch noch einige Wor-
te verlieren . Die Kernbrennstoffsteuer wurde 2009/2010
bei der Laufzeitverlängerung eingeführt, um Gewinne
der Energieversorger abzuschöpfen . Nachdem dann aber
2011 nach den Ereignissen von Fukushima der beschleu-
nigte Ausstieg aus der Kernenergie parteiübergreifend
beschlossen worden war,
(Zuruf von der SPD: Die Kehrtwende war
das, nicht der beschleunigte Ausstieg!)
wurden die kurz vorher gesetzlich zugestandenen Lauf-
zeiten der Kernkraftwerke wieder drastisch zurückge-
nommen . Deshalb ist die Steuer Ende 2016 ausgelaufen .
Es gibt fachlich also keinen sachlichen Grund, die
Kernbrennstoffsteuer wieder einzuführen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der Opposition . Im Gegenteil!
Wir sind heute schon viele Schritte weiter . Wir haben in
dieser Legislaturperiode den gesamten Nuklearbereich
auf ein neues gesetzliches Fundament gestellt . Die Fi-
nanzierungsfrage für die nuklearen Altlasten ist geregelt,
und das Geld hierfür ist gesichert . Die Energieversorger
werden ab dem 1 . Juli dieses Jahres mehr als 23 Milliar-
den Euro in einen öffentlich-rechtlichen Fonds einzah-
len . Der Bund wird für die Zwischenlagerung und die
Endlagerung zuständig, welche aus dem Fonds finanziert
werden . Die Energieversorger werden den Rückbau der
Kernkraftwerke selbst durchführen und bezahlen . Auf
der anderen Seite haben wir eine neue Behördenstruktur
für den Nuklearbereich nach internationalem Maßstab
geschaffen: den neuen Regulierer, das Bundesamt für
kerntechnische Entsorgungssicherheit, BfE, und die bun-
deseigene Bundesgesellschaft für Endlagerung . Zuletzt
haben wir zudem noch gesetzlich die neue Suche nach
einem Endlager für wärmeentwickelnde hochradioaktive
Abfälle festgelegt . Diese wird auch zeitnah starten .
Diese Liste zeigt, dass seit dem Beginn der Nutzung
der Kernenergie in keiner Legislaturperiode so viel sei-
tens des Gesetzgebers in diesem Bereich geregelt wurde .
Hinzu kommt, dass diese Regelungen auch noch par-
teiübergreifend verabschiedet wurden . Wenn das kein
Erfolg ist, meine Damen und Herren!
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sehr geehrter Herr Präsident, ich komme zum Schluss .
Das Thema „Sicherheit von Kernkraftwerken“ ist aus un-
serer Sicht sehr ernst zu nehmen . Dieses Thema ist aber
zu ernst, um mit den Ängsten der Bevölkerung zu spielen
und sich politisch mit Anträgen zu profilieren.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sie spielen! – Claudia Roth
[Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Unverschämtheit!)
Vielen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt Wünsche
nach Kurzinterventionen . Ich bitte um Verständnis, dass
ich sie heute nicht zulasse . Es wird zum Schluss dieser
Debatte noch eine Geschäftsordnungsdebatte geben, die
bereits angemeldet ist . Sie wird uns noch einmal zusätz-
liche Zeit kosten . Wir liegen schon hinter dem vereinbar-
ten Zeitplan. Mit Blick auf die Präsenzverpflichtung der
Kollegen bitte ich um Nachsicht, dass ich Kurzinterven-
tionen heute nicht zulasse .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
sowie der Abg . Ute Vogt [SPD])
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Zdebel für
die Fraktion Die Linke .
(Beifall bei der LINKEN)
Dr. Anja Weisgerber
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23439
(A) (C)
(B) (D)
Hubertus Zdebel (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die Linke fordert die Bundesregierung auf,
ein sofortiges Exportverbot von Urankernbrennstoffen
aus den Anlagen in Gronau und Lingen zum Einsatz in
den störanfälligen belgischen Atomkraftwerken Tihange
und Doel anzuordnen .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Anfragen der Linken hatten bereits im September
vergangenen Jahres gezeigt, dass allein im letzten Jahr,
also 2016, insgesamt 68 neue Brennelemente aus der Ur-
anfabrik in Lingen an den maroden Risikoreaktor im bel-
gischen Tihange geliefert worden sind . Die Haltung der
Bundesregierung ist in unseren Augen komplett schizo-
phren . Einerseits fordern Sie, Frau Ministerin Hendricks,
vollkommen zu Recht – übrigens auch auf Empfehlung
der Reaktor-Sicherheitskommission –, dass diese Anla-
gen dringend abgeschaltet gehören . Andererseits sorgen
Sie dafür, dass weiterhin der Brennstoff für den Weiter-
betrieb dieser maroden Atomkraftwerke aus Deutschland
geliefert wird . Das passt doch hinten und vorne nicht zu-
sammen, was die Regierung da macht .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Durch die Lieferung von angereichertem Uran aus
der Atomfabrik in Gronau und Brennelementen aus
der Atomfabrik in Lingen werden etwa ein Drittel aller
Atomkraftwerke weltweit mit dem notwendigen Brenn-
stoff versorgt . Trotz der Forderung der Antiatombewe-
gung weigert sich die Bundesregierung bisher, die Ur-
anfabriken in Gronau und Lingen stillzulegen . Das muss
politisch korrekt so weiterentwickelt werden, dass auch
diese Anlagen in den Atomausstieg aufgenommen wer-
den . Das fordern wir Linke schon seit Jahren . Das muss
endlich umgesetzt werden .
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist ein Skandal, dass die Atomreaktoren in Doel und
Tihange durch die Atomanlagen in Lingen und Gronau
weiterhin atomaren Brennstoff erhalten .
(Beifall der Abg . Sylvia Kotting-Uhl [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Damit wird der unverantwortliche Weiterbetrieb dieser
Schrottanlagen durch die Exportgenehmigung des Bun-
desamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, das im
Nuklearbereich dem Bundesumweltministerium und da-
mit Ihnen, Frau Hendricks, untersteht, ermöglicht . Nicht
nur in NRW und insbesondere rund um Aachen sorgen
sich die Menschen um eine Atomkatastrophe durch den
maroden Block 2 des AKW Tihange und die anderen al-
tersschwachen Reaktoren . Damit muss endlich Schluss
gemacht werden . Die Bundesregierung muss die Ausfuh-
rerlaubnis für derartige Uranlieferungen untersagen .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben Handlungsmöglichkeiten, Frau Ministe-
rin . Exporte von Uranbrennstoff und dessen Nutzung
in Atomkraftwerken wie im belgischen Tihange tragen
direkt zur Sicherheitsgefährdung Deutschlands bei . Ein
Gefährdungsausschluss ist aber nach dem Atomgesetz
zwingende Genehmigungsvoraussetzung . Darauf hatte
vor einigen Monaten die Rechtsanwältin Ziehm in ei-
nem Rechtsgutachten hingewiesen . Wir erleben an dieser
Stelle allerdings ein unerträgliches Doppelspiel . Inzwi-
schen fordern alle Landtagsfraktionen in NRW inklusive
der CDU – hört, hört! – und der SPD sowie sogar der
FDP einen Exportstopp für die Lieferungen nach Tihange
und Doel .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Na so was aber auch! – Britta
Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Laschet vorneweg!)
Hier im Bundestag, wo entschieden wird, machen aller-
dings die Bundesregierung, die SPD-geführten Ministeri-
en für Umwelt und Wirtschaft und das Bundeskanzleramt
nicht mit . Sie, Frau Hendricks, streiten jegliche weitere
Handlungsmöglichkeit ab .
Ich gebe Ihnen recht: Es gibt unterschiedliche Rechts-
auffassungen . Ich habe gerade deutlich gemacht, welche
Rechtsauffassung ich teile und dass Sie durchaus von Ih-
ren Möglichkeiten Gebrauch machen sollten, um das zu
untersagen . Aber was macht man denn in einem Fall, in
dem es unterschiedliche Rechtsauffassungen gibt? Man
lässt das juristisch prüfen . Ich fordere Sie auf, sämtli-
che rechtliche Schritte zu unternehmen, damit die An-
gelegenheit geklärt wird . Das wäre doch konsequentes
Handeln . Stattdessen verstecken Sie sich hinter einem
Rechtsgutachten .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Menschen insbesondere in Nordrhein-Westfalen,
aber auch in Rheinland-Pfalz haben einen Anspruch da-
rauf, dass CDU/CSU und SPD im Deutschen Bundestag
vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen Farbe
bekennen .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Dann kann dieses unerträgliche Doppelspiel endlich auf-
hören . Einerseits sagen Sie in NRW, dass Sie dagegen
sind . Andererseits sagen Sie hier im Bundestag – wenn
ich Sie richtig verstanden habe, Frau Weisgerber –: „Wir
wissen es nicht“, oder: „Wir sind dafür .“ Das muss aufhö-
ren . An dieser Stelle müssen Sie Farbe bekennen . Dazu
haben Sie nachher die Möglichkeit bei dem Antrag, den
die Grünen gestellt haben .
Wir fordern von der Bundesregierung, die rechtlichen
Möglichkeiten auszuschöpfen, mit allen juristischen
Mitteln gegen den Weiterbetrieb der in Rede stehenden
Atomkraftwerke vorzugehen und jegliche Lieferung von
Uranbrennstoff an diese Anlagen zu verhindern .
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723440
(A) (C)
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Präsident Dr. Norbert Lammert:
Für die Bundesregierung hat nun die zuständige Bun-
desministerin Frau Hendricks das Wort .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vom ersten Tag an haben wir uns als Bundesregierung
der schwierigen und auch unangenehmen Verantwortung
gestellt, die uns das Atomzeitalter aufgezwungen hat .
Bei allem, was wir tun und getan haben, hat der Schutz
der deutschen Bevölkerung absolut oberste Priorität, und
zwar an jedem einzelnen Tag im Jahr und nicht nur an
Tagen vor Landtagswahlen .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ich habe nie etwas davon gehalten, die Verantwortung für
das nukleare Erbe einfach an die nächste Generation oder
ins Ausland abzuschieben .
Im Gegenteil: Wir haben die vergangenen Jahre da-
für genutzt, das Chaos in Sachen Atommüll zu ordnen .
Mit dem Nationalen Entsorgungsprogramm haben wir
erstmals eine langfristige Strategie zur Entsorgung der
Brennelemente beschlossen . Wir haben uns um die Rück-
führung der verbleibenden Castoren aus der Wiederauf-
arbeitung gekümmert . Wir haben sichergestellt, dass die
Stromkonzerne ihre finanziellen Pflichten bei der Stillle-
gung und beim Rückbau erfüllen werden . Wir haben die
Zuständigkeiten für die Endlagerung neu und transparent
geregelt, und wir haben auf der Basis der Empfehlung
der Endlagerkommission mit unserer Formulierungshilfe
zur Novellierung des Standortauswahlgesetzes das wich-
tigste umweltpolitische Gesetzesvorhaben dieser Legis-
latur auf den Weg gebracht .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Es bleibt dabei: Wir werden in einem gestuften Ver-
fahren bis spätestens Ende 2022 endgültig und unum-
kehrbar aus der kommerziellen Nutzung der Atomener-
gie aussteigen . Diese Entscheidung setzen wir tagtäglich
um, national wie international .
Wir haben erkennbar viel geschafft . Ab und an würde
ich auch aus diesem Hause dafür gerne einmal ein halbes
Lob bekommen . Aber gut .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich sage das nur zur Erinnerung, weil der Antrag des
Bündnisses 90/Die Grünen diese Leistung übergeht und
deshalb, wie ich finde, ein bisschen scheinheilig ist.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir haben zu der Leistung ja ge-
nügend beigetragen! Hallo! – Oliver Krischer
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Scheinhei-
lig“ aus Ihrem Mund?)
– Das Wort „scheinheilig“ haben Sie in Aachen geprägt,
und das werde ich Ihnen nie vergessen .
Lassen Sie mich, bevor ich auf die Punkte des Antrags
eingehe, eines in aller Deutlichkeit sagen: Agieren Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, bei die-
sem Thema bitte nicht wider besseres Wissen!
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Sie waren es doch, die die von Ihnen angesprochenen
Umstände in der Vergangenheit mitgetragen haben . Auch
Sie und Ihr Umweltminister Trittin haben es damals als
nicht notwendig erachtet, die Anlagen der nuklearen Ver-
sorgung in die Verhandlungen zum Atomausstieg einzu-
beziehen . Sie waren es, die die Erteilung der Betriebs-
genehmigung der Urananreicherungsanlage in Gronau
mitgetragen haben . Das waren Sie, Frau Höhn, in Ihrer
damaligen Zuständigkeit .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Jetzt sind wir 17 Jahre später! 17
Jahre! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Außerdem haben Sie die Bekräftigung des Atomaus-
stiegs im Jahr 2011 mitgetragen und ihm zugestimmt,
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wie albern ist das denn?)
und zwar mit allen Elementen, auch hinsichtlich der bei-
den nuklearen Versorgungsanlagen in Gronau und Lin-
gen .
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wann ist das gewesen, Frau
Hendricks?)
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in Ihrem Antrag wird die nukleare Sicherheit
ausländischer AKW angesprochen, vor allem – selbstver-
ständlich – aus Sicht der Grenzregionen . Dazu kann ich
Ihnen sagen, dass ich jeden verstehen kann, der sich um
die Sicherheit ausländischer AKW sorgt . Das tue auch
ich . Ich teile zum Beispiel die Sorgen der Menschen in
der Region Aachen und werde auch in Zukunft alles tun,
was im internationalen Miteinander getan werden kann,
um die Situation im Umgang mit den belgischen AKW
zu verbessern .
Ich finde, dass uns als Nachbarstaat das Recht zuge-
standen werden muss, kritische Fragen zu stellen und
Antworten einzufordern . Dies tun wir . Die Bundesre-
gierung hat sich daher mit Nachdruck dafür eingesetzt,
dass die AKW dort und anderswo, wenn sie schon nicht
abgeschaltet werden, höchsten Sicherheitsanforderungen
genügen . Allerdings – das wissen natürlich auch Sie, lie-
be Kolleginnen und Kollegen von den Grünen – ist der
Betrieb von AKW eine Frage, die in nationaler Souverä-
nität des jeweiligen Staates entschieden wird .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Genau!)
Die souveräne Entscheidungsmöglichkeit über den nati-
onalen Energiemix gilt grundsätzlich innerhalb der Eu-
ropäischen Union. Den Einflussmöglichkeiten der Bun-
desregierung sind daher enge Grenzen gesetzt . Das weiß
selbstverständlich auch der Kollege Remmel .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23441
(A) (C)
(B) (D)
Sie, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die
Grünen, fordern einen sofortigen Exportstopp für Brenn-
elementelieferungen aus Lingen in belgische AKW .
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nicht nur wir, die ganze Region! –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Auch SPD und CDU!)
Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Die Bundesregierung
hat die Rechtslage für die Ausfuhr von Kernbrennstoffen
gründlich analysiert .
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wo ein Wille ist, ist auch ein
Weg!)
– Nein . „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ ist leider
rechtlich nicht haltbar . Das muss ich auch dem Kollegen
Remmel mit auf den Weg geben .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Es gibt keine rechtlich belastbare Grundlage, die Er-
teilung von Ausfuhrgenehmigungen von der Sicherheit
eines genehmigten Betriebs – wir haben es mit einem ge-
nehmigten Betrieb zu tun – von Atomkraftwerken in ei-
nem der Europäischen Union angehörigen Nachbarstaat
abhängig zu machen . Das Atomgesetz entspricht damit
bindenden Vorgaben des Europarechts, die ich nicht auf-
heben kann . Das können Sie gerne ausführlich in dem
umfangreichen Rechtsgutachten des ansonsten auch von
Ihnen so geschätzten Verwaltungs- und Atomrechtsex-
perten Professor Ewer nachlesen .
In dem gleichen Gutachten wurde festgestellt, dass
ein Widerruf vorhandener Genehmigungen aus solchen
Gründen nicht eingefordert werden kann . Solange in
Deutschland Kernbrennstoffe produziert werden, müssen
nach rechtsstaatlichen Grundsätzen auch Ausfuhrgeneh-
migungen erteilt werden .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann stoppen Sie doch die Pro-
duktion der Brennstoffe!)
Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass IPPNW ges-
tern die inzwischen dritte Stellungnahme ein und dersel-
ben Rechtsanwältin in gleicher Sache vorgestellt hat, die
das Gegenteil behauptet .
Es ist verantwortungslos, in der Öffentlichkeit den
Eindruck zu erwecken, als könne über einen Stopp von
Brennelementelieferungen aus Deutschland der Betrieb
der Atomkraftwerke in Belgien verhindert werden . Sie
wecken damit eine Hoffnung, die niemand in Deutsch-
land erfüllen kann – auch Sie selbst nicht, auch nicht der
Landesminister .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich verstehe überhaupt nicht, warum
die SPD klatscht!)
Die belgischen Betreiber haben, was Ihnen ebenfalls gut
bekannt sein dürfte, Frau Kollegin Haßelmann, jederzeit
die Möglichkeit, auf dem Weltmarkt, auch außerhalb
Deutschlands, Brennelemente zum Betrieb ihrer Anlagen
zu beschaffen . Das hat nichts mit „Geschäft“ zu tun, son-
dern das hat damit zu tun, dass ein Stopp der Ausfuhr aus
Deutschland eben nicht zur Versorgungsunsicherheit für
Brennelemente in Belgien führt; Brennelemente gibt es
auch woanders .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Aber wir tragen dann zumindest nicht
mehr die Verantwortung! Das ist doch Heu-
chelei!)
Sie streuen doch den Menschen damit Sand in die Augen
und schüren Ängste .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die Leute haben von alleine
Angst!)
Dafür gibt es keine Rechtfertigung, auch nicht, wenn
man gerade schlechte Umfragewerte hat .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Haben Sie das eigentlich Hannelore
Kraft auch erklärt?)
Meine Bitte ist deshalb: Seien Sie fair und ehrlich .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja, Sie auch!)
Alles andere nützt niemandem, auch nicht den Bürgerin-
nen und Bürgern in der Region .
Der einzige Weg, um den Export von Brennelementen
zu verhindern, wäre eine Schließung der Uranfabriken .
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Komisch, dass alle Fraktionen im
Landtag Nordrhein-Westfalen das anders se-
hen! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Warum sind Sie eigentlich
gegen den kompletten Landtag von Nord-
rhein-Westfalen, SPD-regiert?)
Darum lassen wir genau diese Option jetzt rechtlich prü-
fen .
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Bundesministerin gegen Minis-
terpräsidentin, Hendricks gegen Kraft – das
hören wir hier!)
– Frau Göring-Eckardt, spielen Sie einen Papagei, oder
was machen Sie?
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU – Katrin Göring-Eckardt [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, ich spiele kei-
nen Papagei! – Weitere Zurufe vom BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Gemäß dem Auftrag der Umweltministerkonferenz
lässt mein Haus derzeit ein Gutachten dazu erstellen, un-
ter welchen rechtlichen Voraussetzungen eine Stilllegung
der Urananreicherung und der Brennelementeproduktion
in Deutschland möglich wäre .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, verantwortlich ist
immer die zuständige atomrechtliche Aufsichtsbehörde
des jeweiligen Staates, auf dessen Gebiet sich die An-
Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723442
(A) (C)
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lage befindet. Mittlerweile gibt es allerdings eine Reihe
europäischer und internationaler Gremien, in denen ganz
konkrete Sicherheitsfragen erörtert werden . In diesen
Gremien sind auch unsere Nachbarstaaten vertreten .
(Dr . Anja Weisgerber [CDU/CSU]: Genau!)
Deutschland arbeitet in allen entscheidenden Gremien
aktiv mit und setzt sich für höchste Sicherheitsanforde-
rungen ein, gerade auch vor dem Hintergrund der grenz-
nahen Anlagen .
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Gar nichts machen Sie!)
Eine Oberaufsicht der EU über AKW macht deswegen
keinen Sinn, weil die zuständigen nationalen Behörden
viel detailliertere Kenntnisse über die einzelnen Anlagen
haben, als das die Europäische Kommission europaweit
für alle Anlagen je haben könnte .
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist schlimmer als scheinheilig, was
Sie hier machen!)
Aber der entscheidende Punkt ist, dass alle Mitglieds-
länder einer Übertragung der Kompetenz auf die EU
zustimmen müssten und dass deswegen überhaupt nicht
klar ist, ob denn unsere Vorstellungen und unsere sehr
hohen deutschen Standards zugrunde gelegt würden . Im
Gegenteil: Es wäre eher zu befürchten, dass dann Sicher-
heitsstandards abgesenkt werden – und damit auch in
Deutschland . Wollen Sie das wirklich?
Es macht viel mehr Sinn, verbindliche Sicherheits-
ziele in der Europäischen Union festzulegen und ein
System wechselseitiger Kontrolle einzusetzen, so wie
wir es getan haben . Wir haben mit acht Nachbarstaaten
Vereinbarungen zum Informationsaustausch über grenz-
nahe kerntechnische Einrichtungen abgeschlossen und
somit bilaterale Nuklearkommissionen eingerichtet . Seit
dem vergangenen Jahr haben wir eine solche Vereinba-
rung auch mit Belgien . Ihr Zustandekommen war zum
ersten Mal Anfang der 1990er-Jahre gescheitert . Danach
hatte sich keiner meiner Vorgänger darum gekümmert,
das noch einmal zu versuchen . Jetzt haben wir es aber
zustande gebracht .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
In diesen Kommissionen wird offen und kritisch über Si-
cherheitsfragen diskutiert . Eine solche Kooperation mit
unseren Nachbarstaaten halte ich unter den europäischen
Rahmenbedingungen für viel erfolgversprechender als
die von Ihnen geforderte Konfrontation und Klagen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zu der Behaup-
tung, die Bundesregierung blockiere eine genehmigte
Zwischenlagerung der AVR-Brennelemente in Jülich . Da
kann ich Ihnen nur sagen: Das ist schlicht falsch . Rich-
tig ist: Es muss einen Nachweis geben, dass das Lager
erdbebensicher ist . Den hat die Betreiberin bislang nicht
erbracht .
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja, die eine Bundesgesellschaft ist! Sie
sind witzig, Frau Hendricks!)
Ein solcher sicherheitstechnischer Nachweis wäre für den
Neubau eines Zwischenlagers natürlich ebenso zwingend
erforderlich wie für den weiteren Verbleib der Brennele-
mente im bestehenden Lagergebäude, bis ein Neubau in
Betrieb genommen werden könnte; Frau Weisgerber hat
sich dazu geäußert . Zurzeit werden die Untersuchungen
vom Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicher-
heit fortgeführt . Ich bin froh, dass auch hier der Grund-
satz gilt, dass die Sicherheit stets Vorrang vor allen ande-
ren Erwägungen hat .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, last, but not least
möchte ich auf die erhobene Forderung nach Erhöhung
der Deckungsvorsorge eingehen . Die Forderung, die De-
ckungsvorsorge für Schäden aus Atomunfällen auf min-
destens 25 Milliarden Euro anzuheben, ist, ehrlich gesagt,
pure Heuchelei . Das Atomgesetz sieht eine summenmä-
ßig unbegrenzte Haftung des Anlagenbetreibers und eine
Deckungsvorsorge von 2,5 Milliarden Euro vor . Es war
der Kollege Trittin, der damals richtigerweise eine Erhö-
hung von 500 Millionen DM auf nunmehr 2,5 Milliarden
Euro verhandelt hat . Eine höhere Deckungssumme hat
er als nicht versicherbar und damit auch nicht darstellbar
angesehen . Das hat sich nicht geändert . Eine Deckungs-
summe von 25 Milliarden Euro ist auf dem Versiche-
rungsmarkt nicht verfügbar .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Was ja auch etwas heißt!)
Bitte lassen Sie es auch an dieser Stelle sein, der Bevöl-
kerung vorzugaukeln, dass das möglich wäre .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann muss man abschalten, wenn es
nicht versicherbar ist!)
Wir alle hoffen, dass Sie hier im Deutschen Bundestag
wie auch der Kollege Remmel nach den Landtagswahlen
wieder zur Besinnung kommen und zur bewährten kon-
struktiven Zusammenarbeit zurückkehren .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre hilfreich,
wenn die offenkundig unterschiedlichen Positionen,
wenn sie hier zu Recht vorgetragen werden, möglichst
nah an der Sache und möglichst weit von vermeidbaren
zusätzlichen persönlichen Kommentierungen blieben .
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das würde Klarstellungsbedarf auf allen Seiten verhin-
dern oder jedenfalls auf ein Minimum reduzieren .
Die nächste Wortmeldung kommt von der Kollegin
Gundelach für die CDU/CSU-Fraktion .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg .
René Röspel [SPD])
Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23443
(A) (C)
(B) (D)
Dr. Herlind Gundelach (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie
mich zunächst mit einer Vorbemerkung beginnen:
Sicherheit in der Kernenergie stand und steht für die
Union immer an erster Stelle, und zwar von Anbeginn
an . Als 1999 – das ist zugegebenermaßen schon ein biss-
chen her – die CDU in Hessen die Regierung übernom-
men hat, war eine der ersten Entscheidungen, für Biblis A
und Biblis B ein umfangreiches Nachrüstprogramm auf
den Weg zu bringen . Das war erforderlich, weil unter der
rot-grünen Landesregierung mit einem grünen Umwelt-
minister jahrelang keinerlei Nachrüstung und damit kei-
nerlei Gewinn an Sicherheit erfolgt sind;
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist es!)
einer der verantwortlichen Herren ist übrigens noch heu-
te aktiv . Ich denke, das geschah damals wohl in der Hoff-
nung, so schneller zu einer Abschaltung der Gesamtanla-
ge zu kommen, was das eigentliche politische Ziel war .
Damit wurde aus meiner Sicht aber billigend in Kauf
genommen, dass es zu Zwischenfällen kommen könnte
und dass sich dadurch das Risiko für eine Gefährdung
der Bevölkerung erhöht .
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Was das mit Sicherheit und Verantwortung zu tun hat, ist
mir bis heute ein Rätsel .
Das von der CDU-geführten Landesregierung veran-
lasste Nachrüstprogramm für die Reaktorblöcke Biblis A
und Biblis B ging damals in die Hunderte von Millionen,
zunächst D-Mark, anschließend Euro . RWE war, wie Sie
sich vorstellen können, alles andere als amused über die-
se Herausforderung; denn nie hat RWE günstiger Strom
aus Kernenergie produzieren können als damals unter ei-
nem grünen Umweltminister in Hessen .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
So weit die Vorbemerkung und zum Unterschied zwi-
schen Anspruch und Wirklichkeit .
Nun aber zu den uns vorliegenden Anträgen . Hier
drängt sich durchaus der Eindruck auf – da nehme ich das
auf, was die Kollegin Hendricks schon gesagt hat –, dass
die vorliegenden Anträge und die heutige Debatte etwas
mit den anstehenden Wahlen in Nordrhein-Westfalen
zu tun haben könnten, wo vor allen Dingen die Grünen
durch die jüngsten Umfragen höchst verunsichert sind
und dringend Profilierungspotenzial brauchen. Was liegt
da näher, als auf das Thema zurückzugreifen, das sich
schon immer als das geeignetste erwiesen hat, nämlich
die Atomenergie? Das ist aber aus meiner Sicht so nicht
in Ordnung, genauso wenig wie es in Ordnung ist, mit
den Ängsten der Menschen zu spielen . Dafür sind diese
Anträge ein Musterbeispiel .
(Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kotting-
Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hier
spielt niemand!)
– Doch, das tun Sie .
Wir alle – ich meine damit wirklich uns alle – haben es
geschafft, dass es heute in Deutschland einen Grundkon-
sens zum Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kern-
energie in unserer Gesellschaft gibt . Die Bürgerinnen
und Bürger und alle Fraktionen im Bundestag stehen für
einen grundlegenden Umbau unserer Energieversorgung .
Das heißt, sie stehen zur Energiewende . Ihre Anträge, lie-
be Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, stellen
diesen Konsens wieder infrage . Sie sind polemisch und
helfen in keiner Weise, die Energiewende in einem ver-
antwortungsvollen Miteinander nach vorne zu bringen .
(Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kotting-
Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ha-
ben Sie ja eh an die Wand gefahren!)
Ich persönlich muss sagen, dass ich gedacht habe, dass
wir in der Zwischenzeit ein bisschen weiter wären, als
dass wir uns auf diesem Niveau auseinandersetzen müs-
sen .
(Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kotting-
Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Opposi-
tionsarbeit ist das, gnädige Frau!)
Das verwundert mich umso mehr, als wir gerade in dieser
Legislaturperiode mit großen Mehrheiten hier im Bun-
destag die neue Endlagersuche gesetzlich verankert und
auch die Finanzierungsfrage der nuklearen Altlasten ge-
klärt haben .
Lassen Sie mich jetzt noch konkret auf einige Punkte
aus den vorliegenden Anträgen eingehen .
Die Grünen sprechen in ihren Anträgen von den so-
genannten Risse-Meilern Tihange und Doel in Belgien
und fordern uns auf, mit der belgischen Regierung Ver-
handlungen darüber aufzunehmen, diese Anlagen still-
zulegen . Auch die Linken fordern die sofortige Abschal-
tung . Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
wenn jemand ohne tiefgreifende fachliche Kenntnisse
ihre Anträge liest, geht er oder sie wahrscheinlich davon
aus, dass in Belgien Kraftwerke stehen, die Risse haben,
durch die radioaktive Strahlung entweichen könnte .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Natürlich haben die Risse!)
Genau das meinte ich mit meiner Bemerkung, dass Sie
nicht mit den Ängsten von Menschen spielen sollten .
(Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau
Gundelach, diese Rede halten Sie mal bitte in
Aachen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Und zwar bei der CDU in Aa-
chen!)
– Das würde ich auch machen . Davon können Sie aus-
gehen .
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das machen Sie mal!)
Es ist richtig, dass in den Reaktordruckbehältern der
Kraftwerke Doel und Tihange Ultraschallanzeigen ge-
funden wurden, die auf sogenannte Wasserstoffflocken
bzw . Seigerungen im Metall hinweisen, die für Risse
stehen könnten . Ich betone aber ausdrücklich: könnten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723444
(A) (C)
(B) (D)
Inwieweit dies unter Betriebsbelastungen einen Integri-
tätsverlust der drucktragenden Wand des Reaktorbehäl-
ters verursachen könnte, muss noch abschließend geklärt
werden . Die belgischen Behörden und unser Umweltmi-
nisterium haben sich dieser Problematik angenommen,
und das BMUB hat eine Stilllegung bis zur Klärung ge-
fordert .
Die Reaktor-Sicherheitskommission beim Bundesamt
für Strahlenschutz hat in ihrer vorläufigen Bewertung
vom April 2016 festgehalten, dass auf Grundlage der
umfangreichen Untersuchungen der Belgier sowie der
vorliegenden Erkenntnisse aus Forschungsvorhaben im
Rahmen der Reaktorsicherheitsforschung in Deutschland
davon ausgegangen werden kann, dass ein Integritäts-
verlust – das heißt, eine Möglichkeit des Austritts von
radioaktiver Strahlung – nicht zu erwarten ist . Selbstver-
ständlich müssen noch weitere Untersuchungen vorge-
nommen werden, und diese finden auch statt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schon erwähnt
worden: Der Energiemix eines Landes liegt in der Ent-
scheidung des jeweiligen Landes; darauf hat auch die EU
keinen Einfluss. In den meisten Ländern der Welt genießt
die Kernenergie einen guten Ruf . Frankreich und Groß-
britannien sehen in ihr sogar eine saubere und CO2-freie
Energiegewinnungsmöglichkeit . Ob wir das so sehen
oder nicht, spielt für diese Länder bei ihren Entscheidun-
gen schlichtweg keine Rolle . Und daran werden wir auch
nichts ändern können .
(Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!)
Auch das Risiko der Kernenergienutzung wird von Land
zu Land höchst unterschiedlich beurteilt . Das ist die Re-
alität, die wir akzeptieren müssen .
Wir können niemandem vorschreiben, was er oder sie
denkt . Wenn wir ganz objektiv an die Sache herangehen,
ist und bleibt ein Ja oder Nein zur Kernkraft immer auch
eine politisch-gesellschaftliche Frage, ob uns das nun ge-
fällt oder nicht . Wir sollten außerdem vielleicht beden-
ken, dass auch wir nicht wollen, dass uns jemand von
außen in unsere Energiewende hineinredet, und das, ob-
wohl unsere Nachbarn durch sie durchaus in Mitleiden-
schaft gezogen werden, Stichworte „Netzüberlastung“
und „Netzsperren“ .
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist aber nicht vergleichbar!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Meinung,
dass es unser gemeinsames oberstes Ziel sein sollte, auf
europäischer Ebene flächendeckend möglichst hohe Si-
cherheitsstandards für den Betrieb von Kernkraftwerken
zu implementieren . Wir haben hier in Deutschland noch
immer die sichersten Kraftwerke und verfügen über ein
hervorragendes Know-how in Sachen Sicherheitstech-
nik . Deswegen würde ich gerne auch noch auf die ge-
forderte Schließung des Unternehmens Urenco eingehen .
Diese Forderung hat die jetzige rot-grüne nord-
rhein-westfälische Landesregierung unter Hannelore
Kraft 2012 in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen,
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das hat auch der Bundestag zweimal
beschlossen!)
was zumindest insofern ein wenig verwundert, da die von
Ministerpräsident Steinbrück geführte rot-grüne Landes-
regierung im Jahre 2005 noch eine Verdreifachung der
Betriebskapazität genehmigt hat .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Man kann ja klüger werden!)
Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat des-
halb für die Begründung einer möglichen Schließung
ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das ja schon
zitiert wurde . In diesem wurde 2013 ausdrücklich fest-
gestellt, dass eine rechtssichere Beendigung des Betriebs
nicht möglich ist . Die Landesregierung stellte in einer
Landtagsdrucksache fest, dass ein Stresstest und seine
Auswertung ergeben hätten, dass die Urananreicherungs-
anlage in Gronau auf allen überprüften Gebieten die
strengsten Bewertungskriterien erfüllt .
Somit wären wir ganz klar wieder bei der Frage nach
ideologischen Befindlichkeiten. Wie ich aber schon
mehrfach klargemacht habe, steht für die Union stets Si-
cherheit an erster Stelle . Insofern sind wir uns unserer
Verantwortung sehr wohl bewusst und haben auch in die-
ser Legislaturperiode bewiesen, dass wir im Nuklearbe-
reich dazu stehen .
Ich verstehe auch nicht, warum Sie Firmen wie Uren-
co und ANF in Lingen schließen wollen . Damit fördern
Sie letztendlich, dass erstens in den Reaktoren in Bel-
gien, auf deren Abschaltung wir, wie gesagt, gar keinen
Einfluss haben, Brennstoffe aus anderen Anlagen einge-
setzt werden, die vermutlich nicht den bei uns geltenden
und nachgewiesenen Sicherheitsstandard haben werden,
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dafür sorgt doch Euratom, denke
ich! Deswegen bestehen Sie doch immer auf
Euratom, weil die das alles so toll regeln!)
und dass zweitens – auch das ist schon erwähnt wor-
den – Deutschland notwendiges und wertvolles Fach-
wissen im Nuklearbereich verloren geht . Sind Sie sich
eigentlich bewusst, welche Konsequenzen das zur Folge
hätte? Ich will es Ihnen noch einmal verdeutlichen: Die
einzige für uns zur Verfügung stehende Möglichkeit, auf
die Sicherheit von grenznahen Kernkraftwerken einzu-
wirken, besteht in der Mitsprache deutscher Experten in
den entsprechenden Beratungsgremien der Europäischen
Union oder der IAEO . Dort können wir diese Themen
und auch unser Fachwissen einbringen, diskutieren und
Vorschläge machen . Nur so können wir tatsächlich etwas
bewegen .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Haben wir hier in Deutschland kein kerntechnisches
Know-how mehr, werden wir auch nicht mehr in den
entscheidenden Gremien wahrgenommen und ernst ge-
Dr. Herlind Gundelach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23445
(A) (C)
(B) (D)
nommen . Das wäre aus meiner Sicht fatal und auch ver-
antwortungslos .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Deshalb noch einmal als Fazit meiner Rede: Die Si-
cherheit unserer Bevölkerung muss an erster Stelle ste-
hen . Wir sollten uns deshalb alle für möglichst hohe Si-
cherheitsstandards beim Betrieb von Kernkraftwerken in
Europa einsetzen .
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Deshalb müssen die geschlossen wer-
den! Die müssen geschlossen werden, wenn es
Ihnen um die Sicherheit geht!)
Leider sind da Ihre Vorschläge, liebe Opposition, kon-
traproduktiv und helfen weder uns noch den Belgiern,
solange diese ihre Anlagen betreiben .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt
der Kollege Andrej Hunko .
(Beifall bei der LINKEN)
Andrej Hunko (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich als Abgeordneter aus Aachen ein paar Worte
dazu sagen, wie die Stimmung in dieser Stadt ist . Wenn
Sie durch die Stadt gehen, werden Sie an mindestens je-
dem zweiten Fenster ein Plakat sehen mit der Aufschrift
„Stop Tihange“ . Wenn ich von Schulen eingeladen wer-
de, um zum Beispiel über Europa oder den Brexit zu
diskutieren, halten mir die Schüler entgegen: Wir wollen
darüber nicht diskutieren, solange Tihange 2 da steht .
Das kann ja jederzeit hochgehen . Warum machen Sie
nichts? – Es ist in Aachen so, dass der Städteregionsrat
von der CDU – das entspricht dem Landrat in anderen
Gemeinden – eine Klagebewegung anführt
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Der ist übrigens hier! Der sitzt da
oben!)
– Herr Etschenberg sitzt sogar da oben auf der Zuschau-
ertribüne –, der sich eine dreistellige Anzahl von Ge-
meinden angeschlossen hat, auch aus Belgien und den
Niederlanden . Wenn ich mir diese Debatte hier anhöre,
dann verstehe ich wirklich die Welt nicht mehr . Das ist
wirklich schizophren, was hier stattfindet.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Hendricks, ich habe mir eben Ihre Argumentati-
on sehr genau angehört . Sie sagen, es gibt ein Rechtsgut-
achten, dass wir nichts machen können . Dem steht ein
anderes Rechtsgutachten entgegen . Ich möchte doch erst
einmal sehen, ob die Firmen Urenco und andere wirklich
bereit sind, in einer solchen Situation zu klagen . Ich habe
da meine Zweifel . Auf jeden Fall muss das gerichtlich
geklärt werden . Da muss die Bundesregierung einfach
aktiv werden .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber die Bevölkerung in der Region, nicht nur in Aa-
chen, sondern auch in den angrenzenden Gebieten, in den
Niederlanden und in Belgien, wird aktiv . Sie muss aktiv
werden, weil die Bundesregierung eben nicht alle Mittel
ausschöpft, um Tihange 2 und Doel 3 zu stoppen . Es wird
am Sonntag, dem 25 . Juni 2017, eine 90 Kilometer lange
Menschenkette von Aachen über Maastricht und Lüttich
nach Tihange geben . Das ist notwendig geworden . Es ist
richtig, dass die Menschen trinational, international dort
auf die Straßen gehen, wenn diese Bundesregierung nicht
handelt . Ich glaube, wir sollten diese Aktivität unterstüt-
zen .
Ich bedanke mich .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Jetzt hat für SPD-Fraktion Hiltrud
Lotze das Wort .
(Beifall bei der SPD)
Hiltrud Lotze (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Menschenketten kenne ich
auch aus dem Wendland, aus Gorleben . Aber zu sagen,
dass die Bundesregierung nicht handelt, ist natürlich
falsch und Quatsch .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Es ist heute Morgen schon erwähnt worden: Wir ha-
ben in dieser Woche an die Katastrophe von Tschernobyl
vor 31 Jahren gedacht . Vor sechs Jahren hatten wir den
schweren Unfall in Fukushima . Es ist aller Ehren wert,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, dass
Sie mit Ihrem Antrag und der Debatte heute noch einmal
daran erinnern .
Es bleibt so: Atomkraft ist eine Hochrisikotechnolo-
gie, die vom Menschen nicht beherrschbar ist . Der infolge
von Tschernobyl und Fukushima beschlossene Ausstieg
Deutschlands aus der Atomenergie muss unumkehrbar
bleiben . Wer diesen Atomausstieg zurücknehmen will
oder wer sogar die Laufzeit von Atomkraftwerken ver-
längern will, der handelt menschenfeindlich .
(Beifall bei der SPD)
Die Zukunft einer sicheren, bezahlbaren und klima-
freundlichen Energieversorgung liegt allein in den er-
neuerbaren Energien . Liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, wir teilen viele Ansätze Ihres Antrages .
Aber nicht alles, was politisch wünschenswert ist, ist
rechtlich sofort umsetzbar . Auch wir sind der Ansicht,
dass das Betreiben von Uranfabriken und der Export von
Brennelementen nicht zum Ausstieg aus der Atomener-
gie passen . Wir wissen – das wissen Sie auch –, dass ein
sofortiges Exportverbot des Kernbrennstoffes Uran und
Dr. Herlind Gundelach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723446
(A) (C)
(B) (D)
die Stilllegung von Uranfabriken ein weitreichender Ein-
griff in bestehende Rechte sind . Ob und unter welchen
rechtlichen Rahmenbedingungen dieses gerichtsfest
möglich ist, müssen wir eben prüfen .
(Beifall bei der SPD)
Ein Gutachten zum Exportverbot liegt vor . Ein weite-
res Gutachten zur Stilllegung der Anlagen ist in Auftrag
gegeben worden . Auf der Grundlage dieser Ergebnisse
werden wir das Thema gründlich beraten und dann einen
rechtssicheren – ich betone: rechtssicheren – Weg finden
und Schritte beschließen, um zum gemeinsamen Ziel zu
kommen .
(Beifall bei der SPD)
Klar ist: Die Verantwortung für den Betrieb eines
Atomkraftwerkes endet nicht an den Staatsgrenzen . Dass
Menschen und Umwelt diesseits und jenseits der Gren-
zen geschützt werden müssen, muss das oberste Ziel
sein . Das müssen wir in Europa durch Überzeugungsar-
beit, durch Verhandlungen und Verträge erreichen . Hier –
das haben wir hier schon gehört – liegt noch eine Menge
Arbeit vor uns und, ich fürchte, auch ein etwas längerer
Weg . Die Ministerin hat es beschrieben .
Stattdessen, liebe Kolleginnen und Kollegen, erwe-
cken Sie mit Ihren Anträgen den Eindruck, als könnte die
Umweltministerin die Lieferung der Brennelemente so-
fort stoppen . Sie wollen weiter den Eindruck erwecken,
als könnte die Umweltministerin mal eben so veranlas-
sen, dass die Schrottreaktoren in Belgien stillgelegt wer-
den . Sie machen den Leuten etwas vor .
(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Steffen
Kanitz [CDU/CSU])
Wir leben in einem Rechtsstaat, wir leben in der Eu-
ropäischen Union: Ein souveräner Staat ist ein souverä-
ner Staat, ein Vertrag ist ein Vertrag, und ein Gesetz ist
ein Gesetz . Die deutsche Umweltministerin hält sich an
Recht und Gesetz .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Wenn ich es richtig verstanden habe, dann will auch die
nordrhein-westfälische rot-grüne Landesregierung nichts
anderes, als einen rechtssicheren Weg beschreiten . Wir
sind sehr dankbar dafür und wollen diese demokratische
und rechtsstaatliche Errungenschaft, die wir haben, nicht
zu gering einschätzen . Meine Fraktion und ich werden
diese Werte immer verteidigen, auch wenn uns das Er-
gebnis, wie in diesem Fall, nicht gefallen kann .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es hat bisher keinen
Umweltminister oder keine Umweltministerin gegeben,
die den Atomausstieg so glaubhaft vertritt
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist doch das Allerletzte!)
und so systematisch vorantreibt wie Barbara Hendricks .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Sie macht das unaufgeregt und pragmatisch . Sie macht
es, weil es ihr wichtig ist .
(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Dr . Anja
Weisgerber [CDU/CSU])
Wie sieht es mit der Strategie der Grünen, der Doppel-
strategie, aus? Sie attackieren heute hier die Umweltmi-
nisterin, während Sie im Landtag von Nordrhein-West-
falen, wenn ich es richtig gelesen habe, in der sehr
erfolgreichen rot-grünen Landesregierung mit Anträgen
den Kurs der Bundesumweltministerin unterstützen,
nämlich den Rechtsweg zu beschreiten .
(Beifall bei der SPD – Widerspruch beim
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch ich werde einfach den Eindruck nicht los, dass
der Antrag hier etwas mit dem Wahlkampf in Nord-
rhein-Westfalen zu tun hat .
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Quatsch!)
Ich verstehe natürlich sehr gut, dass man sich etwas ein-
fallen lassen muss, wenn die Umfragewerte nicht so gut
sind .
(Beifall der Abg . Ulli Nissen [SPD] – Britta
Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aha! Sie müssen heute Abend mal Politbaro-
meter gucken!)
Aber wenn Sie jetzt den Menschen weismachen wollen,
die Bundesumweltministerin würde sich nicht genug
für die Menschen in den Grenzregionen einsetzen, dann
ist das nicht nur sehr durchsichtig, sondern auch falsch;
denn das genaue Gegenteil ist der Fall .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ich habe gesagt, wir teilen Ansätze aus Ihrem Antrag,
und wir sind im Ziel überhaupt nicht auseinander . Ich
glaube deswegen, dass es schlicht die falsche Strategie
ist, mit der Sie hier gerade vorgehen . Denn auch wir ha-
ben das Ziel – das hat auch die Ministerin gesagt –, einen
rechtssicheren Weg zu beschreiten, um am Ende dazu zu
kommen, dass die Uranfabriken irgendwann die Arbeit
einstellen und wir keine Brennelemente mehr exportie-
ren müssen .
Ich erlaube mir einen letzten Halbsatz .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Aber nur einen Halbsatz, Frau Kollegin Lotze .
Hiltrud Lotze (SPD):
Genau . – Ich kenne das aus Gorleben: Wenn wir über
die Schließung von Firmen sprechen, dann reden wir
auch über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . Das sollten
wir an dieser Stelle auch nicht vergessen .
Vielen Dank .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Hiltrud Lotze
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23447
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Als letzte Rednerin zu diesem Tages-
ordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort . Bitte schön .
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Ministerin, selbstverständlich kann man diese De-
batte heute nicht völlig unabhängig vom Wahlkampf in
Nordrhein-Westfalen sehen .
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist ja nur
Wahlkampf! – Zuruf von der SPD: Aha!)
Wenn sich Ihr Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen
an die Spitze der Bewegung stellt
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
und zum ersten Gegner der Brennelementexporte nach
Tihange wird,
(Beifall der Abg . Britta Haßelmann [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
wenn der Landrat oben auf der Tribüne sitzt, der an Ihren
Reden seine helle Freude haben wird, wenn Frau Kraft in
Nordrhein-Westfalen das Gegenteil von dem fordert, was
Frau Hendricks ankündigt, zu tun, dann ist das natürlich
nicht unabhängig davon zu sehen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
In der Sache will ich Ihnen aber sagen: Es ist ja wohl
nicht daneben, zwei Tage nach dem Jahrestag von Tscher-
nobyl, in einer Zeit, in der wir in Europa – 31 Jahre nach
Tschernobyl – von überalterten Reaktoren umgeben sind,
auch darauf hinzuweisen, dass mit die gefährlichsten an
der deutschen Grenze stehen und hier etwas getan wer-
den könnte,
(Ulli Nissen [SPD]: Und du willst die schlie-
ßen? Wie denn?)
wenn man wollte und den Mumm dazu hätte .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Wir
wollen doch auch Tihange nicht mehr! Es ist
doch Unsinn, was du da sagst!)
Frau Ministerin Hendricks, Sie haben in fast jeder De-
batte, die wir in letzter Zeit zum Atomausstieg oder auch
zur Endlagersuche geführt haben, die Anti-AKW-Be-
wegung für ihre Zivilcourage gelobt . Das Stichwort ist
„Zivilcourage“ . Jetzt könnten Sie auf Grundlage eines
Gutachtens, das von IPPNW, einer dieser Initiativen der
Anti-AKW-Bewegung, die Sie immer so gern loben, in
Auftrag gegeben wurde, handeln und sagen, wir stoppen
die fatalen Exporte der Brennelemente für Reaktoren,
über die Sie selber sagen, sie seien nicht zumutbar und
müssten abgeschaltet werden .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Anstatt dieses Geschenk auf dem Präsentierteller anzu-
nehmen und zu sagen: „Damit gehe ich in die Offensive
und werde dem Lob gerecht, das ich immer an die An-
ti-AKW-Bewegung verteile“, lassen Sie ein Gegengut-
achten erstellen, das Ihnen nicht einmal bescheinigt, dass
es nicht möglich wäre, die Exporte zu stoppen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie lassen sich ein Gegengutachten machen, um die Hän-
de in den Schoß legen zu können .
(Hiltrud Lotze [SPD]: Also, das ist falsch!)
Dann reden Sie sich wieder mit der bilateralen Atom-
kommission heraus und sagen, damit sei doch alles gut,
wir redeten doch mit Belgien . Ich habe Sie zwei Jahre
lang aufgefordert, so eine Kommission einzurichten – Sie
haben es zwei Jahre lang abgelehnt . Jetzt haben Sie eine
Atomkommission, die sogar hinter bestehende – zum
Beispiel die mit Tschechien – zurückfällt, weil nicht ein-
mal Dokumente ausgetauscht werden . Diese Kommissi-
on ist zahnlos . Es ist ein Bettvorleger und nichts anderes .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Einige Sätze zu Jülich . Es ist schon dreist, die ganze
Verantwortung nach NRW zu schieben . 90 Prozent der
Anlage in Jülich sind im Besitz des Bundes .
(René Röspel [SPD]: Der Bund übernimmt
90 Prozent der Finanzierung!)
Wir haben vor sechs Jahren erstmals gefordert, dort ein
neues Zwischenlager zu bauen . Es ist die Bundesfor-
schungsministerin, die seit Jahren diese Option blockiert .
Ihre Kollegin im Kabinett macht das, und nicht NRW .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Haben Sie den Mumm, die Konsequenzen aus den
Vorkommnissen in Tschernobyl und Fukushima zu zie-
hen! Haben Sie den Mut, endlich tätig zu werden! Verfü-
gen Sie den Stopp von Brennelementelieferungen! Sor-
gen Sie dafür, dass man in Jülich zu einer angemessenen
Lösung kommt! Vor allem: Sorgen Sie mit einer Initiati-
ve auf europäischer Ebene endlich dafür, dass die Anrai-
nerstaaten ein Mitspracherecht erhalten, denn die Wolke
macht an der Grenze nicht Halt!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Bevor wir jetzt zur Abstimmung
kommen: Landesminister Remmel und die Kollegin
Göring-Eckardt haben um die Gelegenheit gebeten, eine
Erklärung zur Aussprache abzugeben, was ihnen auch
genehmigt wird .
Bevor Sie das Wort erhalten, möchte ich Sie darauf
aufmerksam machen, dass dies keine Gelegenheit ist,
die Debatte erneut aufzunehmen und wieder inhaltlich
zu diskutieren . Vielmehr ist es so – ich zitiere aus der
Geschäftsordnung –:
Mit einer Erklärung zur Aussprache dürfen nur Äu-
ßerungen, die sich in der Aussprache auf die eigene
Person bezogen haben, zurückgewiesen oder eigene
Ausführungen richtiggestellt werden; sie darf nicht
länger als fünf Minuten dauern .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723448
(A) (C)
(B) (D)
Wir wären Ihnen dankbar, wenn es kürzer wäre . Danke
schön .
Johannes Remmel, Minister (Nordrhein-Westfa-
len):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Vielen Dank für die Gelegenheit,
eine Erklärung abzugeben . Ich will auch gar nicht zur Sa-
che Stellung nehmen, sondern ich will darauf hinweisen,
dass es guter Brauch ist – dafür bin ich auch dankbar –,
dass Vertreterinnen und Vertreter von Landesregierungen
auf Initiative der jeweiligen Fraktionen hier im Deut-
schen Bundestag reden können .
Ich möchte unterstreichen, dass jede einzelne Äuße-
rung von mir die Position der Landesregierung Nord-
rhein-Westfalen ist .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Über die Position des Landtages Nordrhein-Westfalen –
nachlesbar in den Dokumenten und Beschlussfassungen
der letzten Plenardebatte – herrscht fraktionsübergrei-
fend Einigkeit, sowohl auf der Seite der Piraten, der SPD
und Bündnis 90/Die Grünen als auch auf der Seite der
CDU/CSU und der FDP . Insofern werden Sie den Anlie-
gen des Landtages nicht gerecht, wenn Sie das Thema in
die Nähe des Wahlkampfes rücken . Sie müssen sich mit
den Inhalten auseinandersetzen . Darum bitte ich herzlich .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Jetzt hat die Kollegin Göring-Eckardt
das Wort .
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Hendricks, Sie
haben mich eben nach einem Zwischenruf angesprochen,
ich würde wohl reden wie ein Papagei . Ich will noch ein-
mal deutlich machen, was mein Zwischenruf war . Mein
Zwischenruf war die Frage, warum Sie hier eigentlich
gegen das sprechen, was der Landtag in Nordrhein-West-
falen, was Frau Kraft, eine Ministerpräsidentin Ihrer Par-
tei, beschlossen hat? Ich verstehe es nicht . Das hat nichts
mit „Papagei“ zu tun .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Kathrin Rösel [CDU/CSU]: Das ist eine be-
rechtigte Forderung des Landtags!)
Ich frage Sie, wieso Sie sich hierhinstellen und mir
und meiner Fraktion vorwerfen, es würde um Angstma-
che gehen . Es geht nicht um Angstmache, es geht um
Fakten . Es geht darum, ob Sie das tun, was der Landtag
in Nordrhein-Westfalen gemeinsam über die Parteigren-
zen hinweg – deswegen schockiert mich das auch so, was
Sie hier machen – beschlossen hat, nämlich dass Sie alle
rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, und zwar alle,
(René Röspel [SPD]: Alle rechtlichen! So ist
das! „Rechtlichen“!)
und nicht nur die eine, die Sie sich haben aufschreiben
lassen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich will es an dieser Stelle ganz persönlich sagen: Es
geht mir nicht um das kleine Karo . Es geht mir nicht da-
rum geht, dass wir hier parteipolitische Auseinanderset-
zungen haben .
(Zurufe von der CDU/CSU: Nein! Nein!)
– Nein, darum geht es mir gerade nicht .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Jetzt hat überwiegend die Kollegin Göring-Eckardt
das Wort .
(Tobias Zech [CDU/CSU]: Das ist ja das
Schlimme!)
Ich bitte um Ruhe .
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Wir haben das bei der Endlagersuche sehr vernünftig
miteinander hinbekommen .
Ich will es Ihnen deswegen ganz persönlich sagen,
weil es meine eigene politische Biografie von Anfang an
bestimmt hat . 1986 habe ich noch in der DDR gelebt .
Man hat uns erklärt, die Wolke käme nicht über die Gren-
ze . Das gleiche Argument wird jetzt hier gebracht: dass
es möglicherweise keine Auswirkungen auf Deutschland
hat, was in Tihange passiert .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Frau Göring-Eckardt, kommen Sie dann bitte zu den
Äußerungen, die Sie betreffen. Wir befinden uns nicht in
einer allgemeinen Aussprache .
Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Nein, ich bin gerade nicht in einer allgemeinen Aus-
sprache, Frau Schmidt, sondern spreche über das,
(Ute Vogt [SPD]: Über den Lebenslauf! Mein
Gott!)
was mich politisiert hat und wozu Frau Hendricks heute
zu mir gesagt hat: „Papagei“ .
(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)
– Das mag Sie nicht interessieren, ich werde es hier aber
trotzdem sagen .
(Dagmar Ziegler [SPD]: Ja, ja, natürlich! La,
la, la!)
Wer einmal so wie ich im Jahr 1990 – übrigens, ohne
dass ich es wusste, schwanger – in der Nähe von Tscher-
nobyl gewesen ist, der weiß, es geht nicht um „Papagei“,
der weiß, es geht nicht um Angstmache,
(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Ist ja gut!)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23449
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der weiß, es geht tatsächlich um ein gigantisches Risiko .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Menschen in Aachen, die auf die Straße gehen und
sich engagieren, die Fraktion von Bündnis 90/Die Grü-
nen im Bundestag und der komplette Landtag von Nord-
rhein-Westfalen wissen um diese Verantwortung . Das ist
nicht Angstmache, das ist nicht „Papagei“, sondern das
ist die große Verantwortung, die wir als Generation heute
und den kommenden Generationen gegenüber haben .
(Christian Flisek [SPD]: Ein bisschen mehr
Respekt vor dem Parlament!)
Wer sich hinter Rechtsgutachten und hinter kleiner
Münze Parteipolitik versteckt, der nimmt diese Verant-
wortung nicht ernst . Ich will, dass Sie verstehen, dass das
mir ein Herzensanliegen, ein persönliches Anliegen ist .
Wir dürfen hier nicht mit „Papagei“ und Angstmache ar-
gumentieren, meine Damen und Herren .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Jetzt hat die Bundesministerin
Hendricks die Gelegenheit, ganz kurz dazu Stellung zu
nehmen . Dann gehen wir in der Tagesordnung weiter .
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das, um was der Landtag Nordrhein-Westfalen mich und
die Bundesregierung insgesamt bittet, nämlich alle recht-
lichen Möglichkeiten auszuschöpfen, tun wir .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Unglaublich! – Oliver Krischer
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sehe ich
überhaupt nichts von!)
Ich weise in diesem Zusammenhang darauf hin – das
gilt auch für alle Fraktionsvorsitzenden im Landtag
von Nordrhein-Westfalen –, dass dies eine gemeinsame
Rechtsauffassung der gesamten Bundesregierung ist .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Dann kommen wir jetzt zum Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
18/12093 mit dem Titel „Grenzregionen vor Atomrisiken
schützen – Export von Brennelementen stoppen“ . Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung
in der Sache . Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
wünschen Überweisung, und zwar federführend an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi-
cherheit und mitberatend an den Ausschuss für Wirtschaft
und Energie, an den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung sowie an den Ausschuss
für die Angelegenheiten der Europäischen Union .
Mir ist mitgeteilt worden, dass hierzu das Wort zur
Geschäftsordnung gewünscht wird . Das Wort hat jetzt
die Kollegin Britta Haßelmann .
(Dagmar Ziegler [SPD]: Totentanz der Grü-
nen!)
Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wenn es eingangs, als ich zum Rednerpult gegan-
gen bin, eine peinliche Bemerkung gab, weiß ich, dass
das Ganze der SPD besonders unangenehm ist . Unser
Geschäftsordnungsantrag zielt darauf, über unseren An-
trag „Grenzregionen vor Atomrisiken schützen – Export
von Brennelementen stoppen“ heute hier eine Abstim-
mung durchzuführen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Denn diese Koalition ist – das hören wir seit vielen Wo-
chen durch Anträge der Linken und der Grünen, die dem
heutigen vorausgegangen sind – in der Sache längst fest-
gelegt .
(René Röspel [SPD]: Das stimmt doch gar
nicht!)
Die Auffassung des Bundesministeriums und der Bun-
desregierung ist, dass man Brennelementelieferungen
nach Tihange und Doel ruhig durchführen könne . Das ist
auch die Praxis . Es werden Genehmigungen erteilt, und
zwar von SPD-Union-geführter Bundesregierung . Diese
Auffassung wird gestützt durch die Fraktionen der SPD
und der CDU/CSU .
Wissen Sie, was heute nicht passieren soll? Es soll auf
gar keinen Fall im Parlament eine Entscheidung getrof-
fen werden . Es soll auf keinen Fall sein, dass man sich
als Abgeordnete dazu verhalten muss, dass wir als Grüne
einen Exportstopp für diese Brennelementelieferungen
fordern .
(René Röspel [SPD]: Das ist eine Farce!)
Denn man möchten sich gerne weiterhin im Wahlkampf
vor Ort hinstellen und flammend sagen: Ich bin gegen
Brennelementelieferungen nach Tihange . –
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Man hofft darauf, dass die Menschen vor Ort das glauben
und Ihnen deshalb Unterstützung signalisieren . Ich sage
Ihnen: Damit muss endlich Schluss sein! Das ist unparla-
mentarisch, was Sie hier seit Wochen abziehen .
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Diskutieren
ist nicht unparlamentarisch!)
Meine Damen und Herren, da geht es nicht nur um
den Antrag heute . Wir erleben in der Sache jeden Tag
im Parlament eine Vertagung von Antragsinitiativen, bei
denen gar kein Beratungsbedarf mehr besteht, weil man
sich dazu öffentlich nicht positionieren will . Man möch-
te lieber dieses Spiel spielen: Im Wahlkreis vor Ort sage
ich: „Ich bin dagegen, und zwar aus Überzeugung“, aber
im Bundestag wird das Thema in die zehnwöchige Bera-
Katrin Göring-Eckardt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723450
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(B) (D)
tungsschleife geschickt, damit das Parlament dazu keine
Auffassung vertreten kann .
(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Es gibt kein
Parlament, das mehr Oppositionsrechte hat
wie unseres!)
Dieses Doppelspiel muss endlich ein Ende haben!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Darüber müssen wir öffentlich sprechen . Das muss man
entlarven . So geht es nicht weiter, meine Damen und
Herren . Deshalb diese GO-Debatte und unser Antrag auf
Abstimmung in der Sache heute . Sie stützen doch die
Auffassung von Frau Hendricks, weiter Brennelemente
zu liefern . Dann müssen Sie doch auch in der Lage sein,
heute über diesen überschaubaren Antrag abzustimmen .
Lehnen Sie ihn doch einfach ab! Aber das trauen Sie sich
nicht .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Weder vor der Wahl am 7 . Mai in Schleswig-Holstein
noch vor der Wahl am 14 . Mai in Nordrhein-Westfalen
wollen Sie Farbe bekennen . Ich sage Ihnen: Das müssen
Sie jetzt aber mal, und zwar sowohl bei der Frage: Wollen
Sie Brennelementelieferungen weiter zulassen, obwohl
wir bei Tihange und Doel über Schrottreaktoren reden?,
als auch bei den Fragen: Wollen Sie den Familiennach-
zug endlich wieder in Kraft setzen? Wollen Sie die Ehe
für alle? – Oder wollen Sie das nur in Sonntagsreden?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN – Christian Flisek
[SPD]: Missbrauch der Geschäftsordnung ist
das! – Weitere Zurufe von der SPD)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Jetzt darf der Kollege Bernhard Kaster, CDU/
CSU-Fraktion, seine Meinung kundtun .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Bernhard Kaster (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Frau Kollegin Haßelmann, Ihre
Rede hat bestätigt, aufgeregte Geschäftsordnungsdebat-
ten werden meist aus zwei Gründen beantragt und durch-
geführt: Entweder gehen die Argumente aus, oder man
will ein Spektakel veranstalten . Da können Sie sich jetzt
etwas aussuchen .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie müssen Ihre Erfahrung nicht über-
tragen auf andere!)
Weil Sie hier den Eindruck erweckt haben, dass Sie hier
nicht ordnungsgemäß beraten können, möchte ich mit
Blick auf die Geschäftsordnung Folgendes sagen: Ich
behaupte, es gibt in der ganzen Welt kein Parlament, das
so viele Oppositions- und Minderheitenrechte bewusst in
der Geschäftsordnung verankert hat wie unseres . Das gilt
besonders für diese Legislaturperiode .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: So großzügig!)
Was die Behandlung dieses Antrags angeht, bitte ich,
sich selbst die Frage zu stellen, warum Sie mit Ihrem An-
trag auf Sofortabstimmung die Ernsthaftigkeit Ihres An-
liegens infrage stellen . Diese Verfahrensweise verhindert
es doch, sich ausführlich damit zu beschäftigen .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der SPD – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Der x-te Antrag zu dem The-
ma!)
Das ist ein ernstes Thema . Die Menschen machen sich
Sorgen . Das ist hier mehrfach gesagt worden . Die Sicher-
heit der Bürgerinnen und Bürger steht für uns im Vor-
dergrund . Das ist ein komplexes Thema, ein schwieriges
Thema,
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: So?)
das einer gewissenhaften und ausführlichen Beratung in
den Ausschüssen bedarf .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Sylvia Kotting-Uhl [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Forderung gab es
schon im Herbst letzten Jahres!)
In einem Punkt besteht, denke ich, Konsens: Natürlich
brauchen wir das Abschalten; wir brauchen zumindest
eine Abschaltperspektive . Da gibt es ja viele Initiativen .
Wir haben heute viel über das Kernkraftwerk Tihange ge-
sprochen . Ich weise darauf hin, dass das gleiche Thema
auch das Kernkraftwerk Cattenom betrifft .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ganz genau! Steht im Antrag
auch drin! Antrag lesen, wenn man dazu re-
det!)
Ich kann sagen: In unserer Fraktion gibt es viele Abge-
ordnete – ich selbst gehöre dazu –, die Kontakt mit den
Parlamentskollegen in Frankreich und Belgien aufge-
nommen haben .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja, das haben wir auch gemacht!)
Ich kann das nur anraten, weil man dabei mit deren Po-
sitionen und Stellungnahmen konfrontiert wird . Das nur
als kleiner Rat .
Die Debatte hat gezeigt – die Umweltministerin hat es
deutlich gemacht –, dass derzeit viele Fragen rechtlich
und politisch geklärt werden . Das kann in diesen Prozess
und auch in die Beratung dieses Antrags einfließen.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wieso? Sie genehmigen doch weiter!)
Das hat die Bundesumweltministerin sehr deutlich ge-
macht .
Britta Haßelmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23451
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Ich sage es nochmals: Das Thema ist so komplex, dass
die Antwort niemals die Erledigung durch einen simplen
Antrag hier sein kann .
(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)
Das sind wir im Übrigen auch den Bürgern schuldig . Was
für ein Eindruck kommt denn auf? Sie erwecken bei ei-
nem so schwierigen Thema hier den Eindruck, als sei das
Problem mit einem Antrag hier gelöst . Das Problem ist
damit doch nicht gelöst .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Jetzt aber Vorsicht!)
Auch da müssen wir ehrlich und verantwortungsvoll mit
den Dingen umgehen .
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich behaupte
einmal, wenn Sie diesen Antrag vor einem halben oder
einem Dreivierteljahr gestellt hätten,
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Haben wir!)
wären Sie niemals auf die Idee gekommen, über diesen
direkt abstimmen zu lassen . Sie hätten Wert darauf ge-
legt, dass gründlich darüber beraten wird . Auch mit die-
sem Antrag wollen wir das tun .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Der Antrag ist im September ge-
stellt worden!)
Deswegen überweisen wir ihn in den entsprechenden
Ausschuss, wie es die übliche Arbeitspraxis dieses Par-
lamentes ist .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Zdebel von der
Linken das Wort .
Vielleicht kann man die Gemüter ein bisschen herun-
terfahren . Denn hier hat jeder das Recht, seine Meinung
oder ihre Meinung zu sagen . Es wäre schön, wenn die
anderen zumindest zuhören würden .
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Machen wir!)
Bitte schön, Herr Zdebel .
(Beifall bei der LINKEN)
Hubertus Zdebel (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich will zumindest einen Tacken herunter-
fahren und zur Sache sprechen . Natürlich unterstützt
auch die Fraktion Die Linke den Antrag der Grünen auf
sofortige Abstimmung .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Das lässt sich auch klar begründen . In der Sache – das
ist in der Aussprache deutlich geworden; ich habe sehr
aufmerksam zugehört, wie sich die einzelnen Fraktionen
geäußert haben – haben Sie sich doch schon längst ent-
schieden .
(René Röspel [SPD]: Könnte das für Sie even-
tuell auch gelten, dass Sie schon längst ent-
schieden sind?)
Wir diskutieren heute auch nicht das erste Mal über die
Frage der Brennelementeexporte . Es hat in der Vergan-
genheit schon x Anträge zu diesem Thema gegeben .
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Ministerin hat selber ein Gutachten in Auftrag ge-
geben . Wir haben auch über das Gutachten von Frau
Ziehm regelmäßig in allen möglichen Konstellationen
und Schattierungen diskutiert . Wir haben Kleine Anfra-
gen zu diesem Thema gestellt . Dadurch haben wir unter
anderem herausgefunden, dass der Schrottreaktor Ti-
hange durch Lingen beliefert wird; das war vorher nicht
bekannt . Ich denke, es ist deutlich geworden, wo Sie im
Endeffekt stehen und wo die Opposition in dieser ganzen
Angelegenheit steht . Das ist das eine .
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das andere ist: In der Sache ist auch deutlich gewor-
den – Frau Weisgerber hat es deutlich gesagt, ohne es
klar auszusprechen –, dass Sie daran festhalten und dass
zum Beispiel die Fabriken in Lingen und Gronau weiter-
betrieben werden sollen . Im Kern wollen Sie natürlich
auch daran festhalten, dass die entsprechenden Lieferun-
gen stattfinden können. Ansonsten würde das wenig Sinn
machen . Denn hier in Deutschland steigen wir aus der
Atomenergie aus . In ein paar Jahren ist kein Cent mehr
damit zu verdienen . Sie wollen natürlich, dass Brenn-
elemente und angereichertes Uran weiterhin aus Lingen
und Gronau exportiert werden können . Das ist doch die
Wahrheit .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Insofern können wir hier meines Erachtens in der Sa-
che abstimmen . Ich sehe natürlich, dass es unterschied-
liche Positionen gibt . Linke und Grüne sind der Auffas-
sung, dass die Regierung ihre rechtlichen Möglichkeiten
nicht komplett ausschöpft und dass der Export von Bren-
nelementen nur genehmigt werden darf – so ist es im
Atomgesetz festgeschrieben worden –, wenn die innere
und äußere Sicherheit Deutschlands nicht gefährdet sind .
Wir sind der Auffassung, dass es mehr Handlungsmög-
lichkeiten gibt und dass diese Ausfuhrgenehmigungen
von Frau Ministerin Hendricks gestoppt werden können,
indem sie dem BAFA, also dem Bundesamt für Wirtschaft
und Ausfuhrkontrolle, die entsprechende Anordnung er-
teilt . Dann müssten letztendlich die Gerichte entscheiden .
Das ist meines Erachtens der Weg, der jetzt angesichts
der Gefahren, die auch von den Atomkraftwerken in der
Region ausgehen, beschritten werden muss . Darüber ist
ja gerade hinlänglich gesprochen worden .
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Bernhard Kaster
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723452
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Was machen Sie jetzt? Meines Erachtens ist es so,
dass Sie die Möglichkeit haben, die Anträge abzulehnen .
Das können Sie ja hier heute machen .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann müsste man ja Stellung be-
ziehen!)
Sie hätten auch eigene Anträge oder Änderungsanträge
stellen können . Sie machen jetzt aber Folgendes: Sie
wollen nicht, dass die Koalitionsfraktionen in dieser
wichtigen Frage Farbe bekennen .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Natürlich hat das auch etwas mit der Situation in Nord-
rhein-Westfalen zu tun . Wir diskutieren hier doch nicht
im luftleeren Raum . Ich habe doch gerade darauf auf-
merksam gemacht, dass im Landtag in Nordrhein-West-
falen im Moment Tango ist . Dort sprechen sich alle
Fraktionen, die im Landtag vertreten sind, dafür aus, alle
rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen und anzuord-
nen, dass diese Lieferungen abgebrochen werden .
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Max Straubinger [CDU/CSU]: Zur Geschäfts-
ordnung!)
Das ist doch ein klares Signal aller Fraktionen . Die Men-
schen in Nordrhein-Westfalen wollen doch wissen, wie
sich die Parteien an der Stelle verhalten, an der letztlich
darüber entschieden wird, nämlich hier in Berlin, im
Bundestag . Alles andere ist doppelzüngig .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Wenn die CDU in Düsseldorf sagt: „Wir sind dafür, dass
diese Ausfuhrgenehmigungen quasi unterbunden wer-
den“, die Union hier in Berlin aber einen ganz anderen
Eindruck erweckt, nämlich den, dass man daran festhal-
ten will, ist das doppelzüngig .
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Zur Ge-
schäftsordnung!)
Meines Erachtens muss klar werden, wo die einzelnen
Parteien stehen . Dieses Doppelspiel darf nicht fortgesetzt
werden .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch uns ist so etwas mit einem unserer Anträge
gerade passiert – ich will nur kurz darauf hinweisen –,
nämlich als wir Linke im Umweltausschuss den Antrag
gestellt haben, diese Exportgenehmigungen zu stoppen .
Bei einem ähnlichen Antrag der Grünen gab es diese Pro-
bleme nicht . Unser Antrag wird hier und heute aber nicht
zur Abstimmung gestellt, weil man auf Einhaltung der
Zehnwochenfrist bestanden hat . Es ist meines Erachtens
mehr als nur peinlich, wenn CDU/CSU und SPD mit
ihrer Mehrheit durch Tagesordnungsbeschlüsse die Be-
schlussfassung im Bundestag verhindern . Das machen
wir nicht mit . Deswegen unterstützen wir den Antrag der
Grünenfraktion in der Sache .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Dr . Matthias
Miersch für die SPD-Fraktion das Wort .
(Beifall bei der SPD)
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe diese Debatte verfolgt und muss sagen: Wenn
ich die aktuelle Diskussion über die sogenannten eta-
blierten Parteien außerhalb dieses Parlaments betrachte,
dann finde ich, alle, die hier sitzen, Opposition und Re-
gierungskoalition, haben eine große Verantwortung .
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Britta
Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ja! Ihr auch!)
– Ja, auch wir, Britta Haßelmann, aber auch ihr als Op-
position .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber auch zur Konsistenz!)
Wenn suggeriert wird, dass hier in irgendeiner Form
unparlamentarisch vorgegangen worden ist, Britta
Haßelmann,
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ja!)
dann weise ich das in aller Entschiedenheit zurück .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ihr verschiebt und vertagt!)
Hier passiert nichts anderes als das, was dieses Parlament
immer schon gemacht hat,
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Verschieben und vertagen!)
egal ob Grün, Rot, Schwarz oder wer auch immer regiert
hat .
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Verschieben und vertagen!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, niemandem ist genutzt,
wenn hier einfach etwas entschieden wird,
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Verschieben und vertagen!)
was letztlich in keiner Weise realisierbar ist . Das ist un-
verantwortlich . Aber wir stellen uns der Verantwortung,
liebe Kolleginnen und Kollegen .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Und was ist mit der Konsistenz?)
Hubertus Zdebel
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23453
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Wenn hier in irgendeiner Form der Eindruck erweckt
werden soll, die SPD in Nordrhein-Westfalen stehe im
Widerspruch zur SPD-Bundestagsfraktion,
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja, aber hallo!)
dann sage ich: Mitnichten ist das der Fall . Wir stehen
an der Seite der Kolleginnen und Kollegen in Nord-
rhein-Westfalen .
(Beifall bei der SPD – Britta Haßelmann
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh, Donner-
wetter! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das ist aber mutig!)
Aber wir alle wissen, dass wir unterschiedliche Rollen
haben . Diejenigen, die wie ich in der Kommunalpolitik
aktiv sind, wissen, dass wir in unseren Kommunalparla-
menten Beschlüsse, Resolutionen etc . verfassen können
und müssen . Aber damit ist kein Automatismus verbun-
den, dass es dann auch so kommt .
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nein, aber dafür kann man hier
etwas tun!)
Lieber Kollege Remmel, es ist völlig richtig, zum Bei-
spiel zu fordern, dass wir in Europa eine andere Atom-
politik brauchen . Wir alle wissen, dass wir das hier be-
schließen können . Aber Europa bringt das erst einmal
gar nichts; denn wir brauchen dafür die Zustimmung von
anderen . Das ist das politische Geschäft .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Sylvia Kotting-Uhl [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber irgendjemand
muss mal die Initiative ergreifen! Wir sind
doch ein Teil von Europa!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir lehnen den An-
trag der Grünen hier und heute ganz bewusst nicht ab .
(Beifall der Abg . Ulli Nissen [SPD])
Denn in der Sache wollen wir in der Tat jedem Menschen
helfen, der derzeit in Nordrhein-Westfalen demonstriert
und für eine Eindämmung des Risikos ist .
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir wollen mit dem weitermachen, was wir in den letz-
ten Monaten und Jahren gemeinsam mit dieser Bun-
desumweltministerin getan haben .
(Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sich weiter verstecken?)
Wir wollen auf dem Weg heraus aus der Atomtechnolo-
gie vorankommen, und zwar in ganz Europa .
(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Dr . Anja
Weisgerber [CDU/CSU])
Wenn Sie von den Linken jetzt sagen: „Sie kann ja
mal kurz da hinfahren und das belgische Atomkraftwerk
schließen“ – das ist ja das, was Sie suggerieren –,
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Sylvia
Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
So ein Quatsch!)
dann kann ich Ihnen nur entgegnen: Wer war denn in Bel-
gien? Wer hat dort geredet? Wer hat denn versucht, die
deutschen Interessen dort zu vertreten?
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Johannes Remmel war da! Vorges-
tern! – Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Johannes Remmel! Fragen
Sie ihn mal!)
Aber es gibt eben auch rechtliche Grenzen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen .
(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Dr . Anja
Weisgerber [CDU/CSU])
Wir lehnen diesen Antrag heute, wie gesagt, nicht ab .
(Lachen des Abg . Oliver Krischer [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir werden in den nächsten Wochen in der Tat, Oli
Krischer, alle rechtlichen Möglichkeiten diskutieren, die
uns zur Verfügung stehen . Zur Richtigkeit gehört aber
auch, dass man sagt: Es gibt unterschiedliche rechtliche
Auffassungen . – Als Anwalt habe ich auch das eine oder
andere Gutachten geschrieben, und natürlich versucht
man dabei, rechtliche Fragestellungen im Sinne des Auf-
traggebers zu klären .
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Oh!)
Richtig ist aber auch, dass Recht nicht „Eins plus eins
gleich zwei“ ist, sondern dass es auch Interessenswider-
streite geben kann .
Insofern war es doch nur richtig, dass diese Bun-
desumweltministerin dafür gesorgt hat, dass die Frage,
ob und unter welchen Voraussetzungen es rechtlich mög-
lich ist, hier eine Stilllegung zu veranlassen, beantwor-
tet wird . Dieses Gutachten liegt noch nicht vor . Wenn
es vorliegt, dann werden wir im Umweltausschuss mit
dem Antrag der Linken und mit dem Antrag der Grünen
überlegen, mit welcher Beschlussfassung wir tatsächlich
etwas für die Menschen, die sich zu Recht große Sorgen
machen, erreichen können .
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Jetzt handeln!)
Das ist parlamentarisches Verfahren, das ist sorgfältige
und verantwortungsvolle Demokratie .
Insofern: Tun Sie nicht so, als ob wir hier irgendetwas
negieren, unter den Tisch fallen lassen wollen . Das ist
parlamentarische Beratung . Alles andere wäre Augenwi-
scherei .
Vielen Dank .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Immer verschie-
ben! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Verschieben, vertagen!)
Dr. Matthias Miersch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723454
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Damit hat jede Fraktion ihren Stand-
punkt darlegen können .
Wir stimmen jetzt nach ständiger Übung zuerst über
den Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Wer stimmt
für die beantragte Überweisung? – Das ist die Koalition .
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Zehn Wochen Beratungen!)
Wer stimmt dagegen? – Das ist die Opposition . Wer
enthält sich? – Keiner . Dann ist die Überweisung so be-
schlossen, und wir stimmen heute über den Antrag auf
Drucksache 18/12093 nicht in der Sache ab .
Es wäre schön, wenn Sie alle noch sitzen bleiben wür-
den, um die Abstimmungen zu beenden . Bei einem so
engagiert behandelten Tagesordnungspunkt sollte man
warten, bis über alles abgestimmt wurde . – Danke schön .
Zusatzpunkt 8 . Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 18/11743 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind
Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann ist so
beschlossen .
Dann können wir jetzt zum nächsten Tagesordnungs-
punkt kommen . Danke schön .
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur straf-
rechtlichen Rehabilitierung der nach dem
8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homo-
sexueller Handlungen verurteilten Personen
und zur Änderung des Einkommensteuerge-
setzes
Drucksache 18/12038
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Katja
Keul, Volker Beck (Köln), Renate Künast, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Aufhebung der nach 1945 in
beiden deutschen Staaten gemäß den §§ 175,
175a Nummer 3 und 4 des Strafgesetzbuches
und gemäß § 151 des Strafgesetzbuches der
DDR ergangenen Unrechtsurteile
Drucksache 18/10117
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Katja Keul, Renate Künast, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Individuelle und kollektive Entschädigung für
die antihomosexuelle Strafverfolgung nach
1945 in beiden deutschen Staaten
Drucksache 18/10118
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . – Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden .
Ich bitte Sie, Ihre Plätze einzunehmen . – Ich eröffne
die Aussprache . Das Wort für die Bundesregierung hat
Bundesminister Heiko Maas .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-
ten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag wird
am Ende dieser Legislaturperiode in etwa 500 Gesetze
verabschiedet haben . Der Entwurf, den wir Ihnen heute
vorlegen, ragt aus der Masse dieser Gesetze heraus . Er
ist deshalb etwas Besonderes, weil er die Grundfragen
unseres Rechtsstaates berührt . Es geht um die Frage, was
einen Rechtsstaat eigentlich ausmacht .
Ein Element des Rechtsstaates ist die Gewaltenteilung,
also die Trennung von Gesetzgebung, Verwaltung und
Rechtsprechung . Ein weiterer Baustein ist die Rechtssi-
cherheit: Auf Entscheidungen, die einmal gefallen sind,
sollte man sich verlassen können . Das sind wesentliche
Grundsätze eines und auch unseres Rechtsstaates .
„Recht ist Wille zur Gerechtigkeit“, hat Gustav Rad-
bruch einmal gesagt . Und mit diesem Ideal der Gerech-
tigkeit ist es unvereinbar, dass Männer bis heute mit dem
Strafmakel der Verurteilung leben müssen, nur weil sie
homosexuell sind und ihre Sexualität gelebt haben .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, für das, was Gerechtigkeit
ausmacht, finden sich in unserem Grundgesetz viele po-
sitive Anknüpfungspunkte . Der stärkste steht in Artikel 1
unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist
unantastbar .“ Die Kriminalisierung von Homosexualität
war aus heutiger Sicht ein Frontalangriff auf die Persön-
lichkeit der betroffenen Männer, ihre sexuelle Identität
und auch ihre Menschenwürde .
Ich freue mich, dass heute Betroffene, also Verurteil-
te, auf der Ehrentribüne dieses Plenarsaals sitzen und der
Debatte folgen . Herzlich willkommen! Das ist heute Ihr
Tag .
(Beifall im ganzen Hause)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23455
(A) (C)
(B) (D)
Meine Damen und Herren, der berüchtigte § 175 des
Strafgesetzbuches hat vielfach großes Leid angerichtet .
Fast 70 000 Menschen wurden nach 1945 in Ost und West
verurteilt . Im Bundeszentralregister sind noch immer fast
3 000 Verurteilungen verzeichnet . Der § 175 StGB hat
Menschen sozial geächtet und Karrieren zerstört . Er hat
zu Schikanen, Erpressungen und auch zu Scheinehen
geführt. Und er hat Menschen aus Verzweiflung in den
Selbstmord getrieben . Wir können heute dieses Leid
nicht wiedergutmachen . Aber wir können etwas dagegen
tun, dass das Unrecht, das diesem Leid zugrunde liegt,
zumindest formal nicht weiter andauert .
Mit unserem Gesetzentwurf sollen alle Verurteilun-
gen wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen
zwischen Personen über 14 Jahren pauschal aufgehoben
werden .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Außerdem sollen die Betroffenen finanziell entschädigt
werden . Ja, diese Entschädigung ist gewiss nicht mehr
als ein Symbol . Aber ich meine, es ist ein wichtiges Sym-
bol, gerade für die Betroffenen .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, die Geschichte des § 175
StGB ist ein besonders trübes Kapitel deutscher Rechts-
geschichte, und zwar auch des Justizministeriums . Die
Nazis hatten diesen Paragrafen 1935 verschärft . Trotz-
dem blieb er in der Bundesrepublik in Kraft . Obwohl
sich der Deutsche Juristentag und selbst die Große Straf-
rechtskommission für eine Reform starkgemacht hatten,
hat das Bundesjustizministerium bis in die 60er-Jahre
unverändert an der Kriminalisierung von Homosexuali-
tät festgehalten, zum Teil mit den gleichen Argumenten
wie aus der Nazizeit .
Meine Damen und Herren, wenn wir heute vorschla-
gen, das Justizunrecht der Vergangenheit zu beseitigen,
dann steht das in vollem Einklang mit unserem Rechts-
staat . Rechtssicherheit bedeutet, dass sich derjenige, der
von einem Urteil betroffen ist, nach dessen Rechtskraft
auf das Urteil verlassen kann . Für den Täter heißt dies,
dass er nicht erneut verfolgt werden kann; für die Op-
fer, dass sie sich auf die Genugtuung durch das Urteil
verlassen dürfen . Bei der Verurteilung nach § 175 des
Strafgesetzbuches gab es jedoch keine Opfer, weil es sich
um einvernehmliche Handlungen handelte . Die einzig
wirklichen Opfer in diesen Fällen waren diejenigen, die
verurteilt worden sind . Deshalb wird durch die Aufhe-
bung dieser Urteile die Rechtssicherheit von niemandem
beeinträchtigt .
Die Gewaltenteilung stellt sicher, dass Urteile allein
von unabhängigen Gerichten getroffen und überprüft
werden . Eine Aufhebung von Urteilen durch den Gesetz-
geber würde die Gewaltenteilung dann berühren, wenn
sie sich gegen den Inhalt eines konkreten Urteils oder ei-
nes Strafverfahrens richtete .
Bei unserem Gesetzentwurf geht es aber nicht um den
Einzelfall, sondern um das aus heutiger Sicht unrecht-
mäßige Gesetz . Durch die Aufhebung der Urteile korri-
giert der Bundestag sich selbst, nicht jedoch die Justiz;
denn die war damals zu der Anwendung des Gesetzes
verpflichtet.
Meine Damen und Herren, der Deutsche Bundestag
hat bereits im Jahr 2002 die Männer rehabilitiert, die
während der NS-Zeit nach § 175 StGB verurteilt wor-
den sind . Damit wurden das Unrecht und die Urteile von
vor 1945 beseitigt . Wir können aber nicht das Unrecht
bestehen lassen, das aufgrund des gleichen Paragrafen
nach 1945 angerichtet wurde . Deshalb müssen wir einen
zweiten notwendigen Schritt der Rehabilitierung tun .
Kein Homosexueller soll weiter den Strafmakel der Ver-
urteilung tragen .
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der CDU/CSU)
Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit, und diese Reha-
bilitierung zeigt, was die Stärke eines Rechtsstaates aus-
macht: Er hat die Kraft, seine eigenen Fehler zu korri-
gieren .
Schönen Dank .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Jetzt hat für die Fraktion Die Linke der
Kollege Harald Petzold das Wort .
(Beifall bei der LINKEN)
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Ich
bin ein bisschen aufgeregt vor dieser Rede, weil es – da
gebe ich dem Minister recht – keine Rede ist, wie man sie
sonst schon einmal eben schnell zu einem Gesetzentwurf
hält, sondern es ist zumindest für mich eine der wichtigs-
ten Reden in dieser Legislaturperiode .
Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf zur
strafrechtlichen Rehabilitierung und Entschädigung der
nach dem 8 . Mai 1945 wegen einvernehmlicher homose-
xueller Handlungen verurteilten Personen vorgelegt . Ich
sage: endlich; es ist spät, aber nicht zu spät .
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Auch ich freue mich, dass wir heute Zeitzeugen – Be-
troffene – unter uns haben, die dieser Debatte folgen .
Lieber Fritz Schmehling, du hast zumindest von meiner
Seite die Zusage, dass wir alles tun werden, um dieses
Gesetz so schnell wie möglich in Kraft treten zu lassen,
damit du vor allem diese Wirkung noch erleben kannst .
(Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bundesminister Heiko Maas
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723456
(A) (C)
(B) (D)
Ich will zu Beginn meiner Rede sagen, dass ich mich
tief vor all denjenigen verneige, die unter diesem Para-
grafen gelitten haben, und vor allen Dingen vor denje-
nigen, die den heutigen Tag nicht mehr erleben können .
Ich will zu Beginn meiner Rede sagen, dass ich mich
bei all denjenigen bedanke, die dazu beigetragen haben,
dass wir den heutigen Tag sozusagen miteinander erleben
können . Exemplarisch dafür will ich die Bundesstiftung
Magnus Hirschfeld nennen .
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abge-
ordneten der CDU/CSU, der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich will die Antidiskriminierungsstelle des Bundes
nennen . Ich will aber auch unsere überfraktionelle Ab-
geordnetengruppe für LGBTI-Fragen nennen: die Kolle-
gin Zollner und die Kollegin Sütterlin-Waack – sie sind
anwesend –, aber auch der Kollege Kaufmann und der
Kollege Fabritius, die in der Unionsfraktion ganz inten-
siv dafür geworben haben, dass wir dieses Gesetz heute
verabschieden können .
Ich will natürlich auch Volker Beck danken, der vie-
le, viele Jahre mit an der Spitze gestanden und dazu bei-
getragen hat, dass wir heute diesen Gesetzentwurf de-
battieren können . Ich danke auch den Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion dafür, dass ihr, Mechthild
Rawert, Johannes Kahrs und Karl-Heinz Brunner, dazu
beigetragen habt, dass wir das heute miteinander verhan-
deln können .
(Beifall bei der LINKEN und der SPD –
Mechthild Rawert [SPD]: Das war uns wich-
tig!)
Ich habe seit meinem eigenen Coming-out Anfang
der 90er-Jahre mit vielen Betroffenen sprechen kön-
nen . Ich habe dabei das kennengelernt, was in dem Film
Coming Out 1989 als eine Szene vorkam, die sich mir
unvergesslich ins Gedächtnis eingeprägt hat, als Werner
Dissel, der in dem Film einen älteren Schwulen verkör-
pert, davon sprach, wie er in Sachsenhausen als „Rosa
Winkel“ letzter Abschaum gewesen sei . Er ist eben nach
der Befreiung kein anerkanntes Opfer des Nazifaschis-
mus gewesen, sondern er hat das damals so bezeichnet:
Die Schwulen haben sie vergessen .
Das stimmt eben nicht . Es war nicht nur ein Verges-
sen, sondern für manche sogar ein weiteres, ein zweites
Martyrium . Einige sind sogar abgeholt worden, weil
noch Reststrafe zu verbüßen war . Diesen Zynismus muss
man sich auf der Zunge zergehen lassen .
In den Gesprächen habe ich natürlich viel über die
Lebensschicksale erfahren – einiges hat der Minister
hier schon angesprochen –: das Tuscheln der Nachbarn,
der Verlust der Wohnung, das Mobbing, der Verlust des
Arbeitsplatzes und vor allen Dingen auch die ständige
Angst vor dem Entdecktwerden, die ständige Angst,
für den kurzen Moment, in dem man Glück empfinden
wollte, entdeckt zu werden und verhaftet zu werden, die
Angst vor Ermittlungsverfahren, mit denen die bürger-
liche Existenz beendet gewesen ist, aber natürlich auch
die Problematik mit den Scheinehen, die zur tragischen
Zerstörung auch von Leben Dritter führte; denn das hat ja
auch mit diesen Partnerinnen und mit den Kindern etwas
gemacht . Ich habe also von dem vielen Leid erfahren,
das sich in diesem Zusammenhang ereignet hat und von
dem wir zum Teil wirklich gar keine eigene Vorstellung
haben können .
Insofern bin ich froh darüber, dass heute dieser Ge-
setzentwurf vorliegt, und kann für meine Fraktion sagen,
dass wir diesem Gesetzentwurf zustimmen werden, auch
wenn wir Sie darum bitten, noch einmal darüber nach-
zudenken, ob wir nicht an der einen oder anderen Stelle
noch eine Veränderung dahin gehend erreichen können,
dass wir eben nicht nur das Nötigste tun, sondern tatsäch-
lich auch unter Beweis stellen, dass es uns mit Wieder-
gutmachung ernst ist .
Da rede ich natürlich von der Individualentschädi-
gung . Ich bin froh darüber, dass sie im Gesetz geregelt
wird . Aber ich sage auch: Würden wir nach dem Opfer-
entschädigungsgesetz verfahren, müssten wir mindestens
eine Individualentschädigung von 9 125 Euro in das Ge-
setz schreiben . Meine Fraktion wird das vorschlagen .
(Beifall bei der LINKEN)
Es ist die Rede davon gewesen, dass Arbeitskarrieren
für viele Betroffene zu Ende gewesen waren – nicht nur
dann, wenn sie verurteilt wurden, sondern auch schon,
wenn das Ermittlungsverfahren eröffnet worden ist, ob-
wohl es später vielleicht zu gar keiner Verurteilung ge-
kommen ist . Deswegen fordern wir, dass es zum einen
eine pauschale Rentenzahlung von wenigstens 300 Euro
im Monat gibt und dass zum anderen eine Härtefallrege-
lung für diejenigen erfolgt, die aufgrund der Aufnahme
von Ermittlungsverfahren ebenfalls vom § 175 StGB in-
direkt betroffen gewesen sind .
(Beifall bei der LINKEN)
Wir bitten Sie auch darum, eine Vererbbarkeit des
Anspruchs vorzusehen, wenn der Betroffene den Antrag
noch selbst gestellt hat, aber bis zur Bewilligung verstor-
ben ist, weil es in dieser Frage wenigstens auch ein Stück
weit eine Wiedergutmachung für die Familien bzw . die
Angehörigen, die hinterbleiben, geben muss .
Außerdem bitte ich Sie erneut darum, dass eine Kol-
lektiventschädigung eingeführt wird .
Ich bin sehr froh darüber, dass es im Zuge der Haus-
haltsverhandlungen erstmals gelungen ist, für die Bun-
desstiftung Magnus Hirschfeld eine institutionelle För-
derung hinzubekommen .
(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Allerdings sage ich Ihnen auch: Wenn wir tatsächlich
dieses viele auch individuelle Leid aufarbeiten und do-
kumentieren wollen, damit es für die Nachwelt erhalten
bleibt und nicht verloren geht und sich nicht wiederholen
kann, dann ist es notwendig, dass wir auch Mittel zur Ver-
fügung stellen, mit denen nicht nur eine Stiftung an sich
betrieben werden kann, sondern auch die Forschungsar-
beit, die Bildungsarbeit und die öffentliche Aufklärung
noch besser durchgeführt werden können . Zumindest
diejenigen, die sich ähnlich wie ich sehr intensiv mit der
Harald Petzold (Havelland)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23457
(A) (C)
(B) (D)
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld beschäftigen, wissen,
dass dort unter anderem mit dem „Archiv der anderen
Erinnerungen“ eine sehr wichtige Arbeit geleistet wird .
Deswegen wollen wir unbedingt erreichen, dass diese
Arbeit finanziell sichergestellt wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Linke
wird einen Änderungsantrag mit diesen Vorschlägen und
diesen Bitten zur weiteren Qualifizierung des Gesetzent-
wurfes einbringen . Wir werden darauf verzichten, dass
eine öffentliche Anhörung durchgeführt werden muss,
damit wir den Gesetzentwurf so schnell wie möglich im
Ausschuss behandeln können . Prinzipiell sind wir dafür,
dass dieser Gesetzentwurf angenommen wird, bitten Sie
aber um diese Verbesserungen im Sinne dessen, was ich
angedeutet habe .
Vielen Dank .
(Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Jetzt hat Dr . Stephan Harbarth, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zu dem, was
unseren Rechtsstaat so stark macht, gehört weniger sei-
ne vermeintliche Fehlerfreiheit als die Möglichkeit zur
Korrektur eines vormals eingeschlagenen und heute für
falsch gehaltenen Weges . Der Rechtsstaat ist lernfähig,
und der Rechtsstaat hat im Fall der heute zur Diskussi-
on stehenden Thematik dazugelernt . Allerdings müssen
auch Korrekturen insgesamt rechtsstaatlich und gerecht
vorgenommen werden . Es darf dabei nicht zu neuen Ver-
werfungen oder Ungleichbehandlungen kommen; denn
das hieße, einen Fehler zu tilgen und dabei einen neuen
zu begehen .
Bis heute gilt § 175 als eine Art geflügelter Begriff,
der stellvertretend und maßgeblich für die Verfolgung
von Homosexuellen in der deutschen Rechtsgeschich-
te steht und damit für ein Kapitel, das unserem heuti-
gen Werteverständnis diametral widerspricht . Es ist die
oberste Aufgabe aller staatlichen Gewalt, die im Grund-
gesetz verbürgten Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu
achten und zu schützen, und zwar aller Bürgerinnen und
Bürger, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung .
Die Auswirkungen des § 175 auf das Leben der ver-
urteilten homosexuellen Männer standen und stehen im
ekla tanten Widerspruch zu so wesentlichen Prinzipien
wie der freien Entfaltung der Persönlichkeit, des Schut-
zes der sexuellen Identität und der Gleichheit vor dem
Gesetz . Die verheerenden Auswirkungen des § 175
müssen klar benannt werden. Berufsbiografien wurden
zerstört, persönliche Existenzen vernichtet und sich lie-
bende Menschen getrennt . § 175 hat Lebenspläne durch-
kreuzt und Menschen zutiefst traumatisiert . Auch wenn
wir geschehenes Leid nicht für ungeschehen erklären
können, können wir dennoch versuchen, Gerechtigkeit
für die Opfer zu schaffen .
Aber wie soll gerechterweise mit den damaligen Ur-
teilen verfahren werden? Dabei geht es neben dem kon-
kreten Maßnahmenbündel vor allem um ein politisches
Signal, das da heißt: Gerechtigkeit kennt kein Verfalls-
datum . Der Umstand, dass zahlreiche von der strafrecht-
lichen Verfolgung Betroffene mittlerweile hochbetagt
sind, macht ihre Rehabilitierung nicht weniger wichtig,
sondern umso dringlicher .
(Johannes Kahrs [SPD]: Man hätte es auch
mal eher machen können!)
Während das Bundesverfassungsgericht noch mit
seiner Entscheidung vom 10 . Mai 1957 die §§ 175 ff .
des Strafgesetzbuchs für verfassungskonform erklärt
hat, stellte der Europäische Gerichtshof für Menschen-
rechte 1981 erstmals fest, dass die strafrechtliche Ver-
folgung einvernehmlicher homosexueller Handlungen
unter Erwachsenen das Recht auf Achtung des Privat-
lebens, verankert in Artikel 8 der Europäischen Men-
schenrechtskonvention, verletzt . Im Dezember 2000 hat
der Deutsche Bundestag festgestellt, dass die Verfolgung
einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Beziehungen
gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und
nach heutigem Verständnis auch gegen das freiheitliche
Menschenbild des Grundgesetzes verstößt . Letztlich be-
stand Einigkeit, dass die seinerzeit ergangenen Urteile
heute zu Recht auf völliges Unverständnis und Ableh-
nung stoßen . Dies gilt auch für die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1957 .
Es geht hier aber nicht um Urteile, die wie in der NS-
Zeit in einem staatsterroristischen System gefällt wurden,
sondern um solche, die von unabhängigen Gerichten in
einem demokratischen Rechtsstaat gesprochen wurden,
mögen wir sie heute auch für falsch halten . Daher hat der
Bundestag zunächst 2002 die während der Zeit des Nati-
onalsozialismus gegen Homosexuelle ergangenen Urtei-
le pauschal aufgehoben und die Betroffenen rehabilitiert .
Warum hat man dann nicht gleich auch die Verurteilun-
gen nach 1945 erfasst? Diese Frage stellt sich in der Tat .
Unsere heutige Bewertung der nach 1945 getroffenen
Entscheidungen ist das Ergebnis eines gewandelten Ver-
ständnisses von Sexualmoral und Sexualität . Während
es nach heutiger Auffassung eindeutig einen massiven
Eingriff in den intimsten Bereich privater Lebensführung
und sexueller Selbstverwirklichung bedeutet, wurde das
zwischen 1945 und 1969 und teilweise sogar bis 1994
von der Rechtsordnung noch anders beurteilt . Dieses
Thema zeigt in besonderer Weise: Auch der demokrati-
sche Rechtsstaat befindet sich nicht in einem unveränder-
lichen Aggregatzustand, sondern unterliegt Prozessen, in
denen sich eine wandelnde gesellschaftliche Sicht wider-
spiegelt .
Die Frage, die wir zu beantworten hatten und haben,
ist, ob wir Urteile von unabhängigen Gerichten, die unter
Geltung des Grundgesetzes ergangen sind, aufheben soll-
ten . Diese Frage beantworten wir, beantworte ich mit Ja .
Es ist an der Zeit, zu handeln .
In wenigen Bereichen war der gesellschaftliche Wan-
del so tiefgreifend und waren die ergriffenen Maßnah-
men gegen die Betroffenen so zerstörend für die Lebens-
und Erwerbsbiografie des Einzelnen wie im Bereich des
Harald Petzold (Havelland)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723458
(A) (C)
(B) (D)
§ 175 . Für uns ist es heute zu Recht und glücklicherweise
undenkbar, Menschen wegen einvernehmlicher homose-
xueller Handlungen strafrechtlich zu verfolgen .
(Johannes Kahrs [SPD]: Na immerhin!)
Trotzdem halte ich es für falsch, in diesem Kon-
text, wie es etwa die Grünen tun, von Unrechtsurteilen
zu sprechen . Ja, wir halten die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts von 1957 heute für falsch, aber
wenn die Legislative die letztverbindlichen Judikate des
Bundesverfassungsgerichts zu der Frage, ob ein Gesetz
dem Grundgesetz entspricht oder es ihm widerspricht,
zu Unrechtsurteilen erklärt, dann ist dies in hohem Maße
problematisch .
Bitte erlauben Sie mir, kurz auf den Inhalt des Ge-
setzes der Koalition einzugehen . Für uns als Union war
klar – das haben wir auch durchgesetzt –: Es dürfen nur
Urteile aufgehoben werden, die einvernehmliche sexu-
elle Handlungen betrafen . Handlungen, die auch heute
strafbar wären, weil sie etwa mit Kindern, Schutzbefoh-
lenen oder unter Zwang erfolgt sind, dürfen nicht reha-
bilitiert werden .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Kinder fallen unter den § 175
schon mal nicht!)
Für die Union ist auch wichtig – das haben wir eben-
falls umgesetzt –: Urteile dürfen nur insoweit aufgehoben
werden, als die im Gesetz genannten, einvernehmlichen
homosexuellen Handlungen betroffen sind . Wenn damals
im selben Urteil noch über andere Taten mitgeurteilt wur-
de, die auch heute noch strafbar sind, dann dürfen diese
nicht einfach mit aufgehoben werden; denn das hieße,
neue Ungleichheiten zu schaffen .
(Zuruf des Abg . Volker Beck [Köln] [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Die Betroffenen sollen ihren Rechtsfrieden finden kön-
nen . Dabei wollen wir aber nicht andere in Unfrieden
stürzen .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Herr Kollege Harbarth, gestatten Sie eine Zwischen-
frage eines Kollegen der SPD-Fraktion?
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Ich würde gerne im Zusammenhang ausführen .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Danke schön .
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Der Entwurf der Grünen sieht hingegen vor, Urteile
vollumfänglich aufzuheben, auch wenn außer aufgrund
des § 175 noch wegen anderer Delikte verurteilt wurde .
Dies soll gelten, wenn die Verurteilung nach § 175 nicht
nur untergeordnete Bedeutung hat . Es mag nachvollzieh-
bar sein, aber wann soll das konkret der Fall sein?
(Zuruf des Abg . Volker Beck [Köln] [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
Wie ist es etwa zu beurteilen, wenn ein Betroffener da-
mals mit einem anderen Mann in einer Beziehung gelebt
hat? Er wurde dann vielleicht wegen § 175 in mehreren
Hundert Fällen verurteilt, und in einem Fall kam es zu
einem körperlichen Übergriff . Soll dann die Körperver-
letzung mitrehabilitiert werden? Dies wollen wir nicht .
Jeder andere, der solche Taten wie Körperverletzung be-
gangen hatte, aber keine gleichzeitige Verurteilung we-
gen § 175 aufzuweisen hatte, würde nicht rehabilitiert
werden . Deshalb wäre das nach unserer Überzeugung
rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigen . Es wäre das Ge-
genteil von gerecht .
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Widerstand gegen die Staatsge-
walt bei der Verhaftung zum Beispiel? Was ist
damit?)
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist richtig, dass
wir jetzt den Mut aufbringen, zu handeln . Es ist richtig,
dass wir den häufig hochbetagten Betroffenen noch die
Bestätigung geben, dass Verurteilungen aufgehoben wer-
den . Und es ist richtig, dass wir eine Entschädigung für
die Betroffenen vorsehen .
(Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben es ja lange
genug verhindert!)
Indem wir jetzt handeln, stärken wir den Rechtsstaat . Der
Rechtsstaat setzt sein Werteverständnis, das er in den ver-
gangenen Jahrzehnten entwickelt hat und das heute ein
gefestigtes Werteverständnis ist, nun in aller Konsequenz
um .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs
[SPD]: Eine selten schlechte Rede!)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Als Nächstes hat Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Wort .
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Menschenwürde steht den Homosexuellen unter Einbe-
ziehung ihrer sexuellen Identität zu . Nicht weniger ist die
Botschaft der heutigen Debatte .
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Ich will die Betroffenen begrüßen und auch Frau
Lüders, die ich hier auf der Zuschauertribüne sehe . Es
ist schade, dass es nur noch so wenige Betroffene gibt,
die den heutigen Tag und den Beginn der Rehabilitierung
und Entschädigung der in der Bundesrepublik und in der
DDR verfolgten Homosexuellen erleben können .
Beispielhaft für 64 000 Fälle möchte ich an einen Fall
erinnern . Man nannte sie damals die 175er:
Dr. Stephan Harbarth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23459
(A) (C)
(B) (D)
Klaus Born kann sich erinnern, erinnert sich, ob er
will oder nicht …
Born hat die Jahreszahlen, Monate, Tage genau
noch im Kopf …
… Klaus Born … haben sie von der Baustelle ab-
geholt, 1963, mit 18, Elektrikerlehrling war er da,
drei Mann haben ihn „in ein Auto geschmissen, und
dann war ich weg, Jugendknast“, derselbe Paragraf,
BRD hin oder her, 175 .
– Übrigens derselbe Paragraf wie in der Zeit des Natio-
nalsozialismus . –
Und dann noch einmal, 1965, schon in Berlin, mit
20, da hatte er einen kennengelernt am Zoo, „nicht
in der Klappe unten, sondern oben, durch Zufall“,
mit dem war er im Auto in der Kantstraße, auf ei-
nem Parkplatz, aber die Polizei, „die stand schon
fertig da, mit der grünen Minna und einem Käfer,
als hätten sie auf uns gewartet“ . Da kam Freude auf,
sagt Born, er kam nach Moabit, noch einmal 175,
Einzelhaft, sechseinhalb Wochen .
Ja, unser Staat, die demokratische Bundesrepublik
Deutschland, unser Rechtsstaat, hat Fehler gemacht .
Aber Demokratie und Rechtsstaat zeichnen sich eben
nicht dadurch aus, dass wir keine falschen Entscheidun-
gen treffen, weder wir als Gesetzgeber noch unsere un-
abhängige Justiz, sondern wir zeichnen uns dadurch als
allen anderen Staatsformen überlegene Staatsform aus,
dass wir Fehler erkennen können, sie eingestehen und
Unrecht wieder beseitigen und die Opfer von Unrecht
entschädigen können .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab-
geordneten der CDU/CSU)
Das sage ich auch allen Verfassungsjuristen, die sagen:
Es waren doch rechtsstaatliche Gerichte, die entschieden
haben . – Nein, wir sollten nicht mit dem Anspruch der
Unfehlbarkeit unsere Rechtskultur bestimmen, sondern
wir sollten sie mit dem Anspruch der Verwirklichung der
Menschenrechte definieren. Das tun wir heute. Das ist
vielen schwergefallen . Aber für mich ist es wirklich eine
große Genugtuung, weil wir um diese Rehabilitierung
schon seit Jahrzehnten kämpfen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der
LINKEN)
Ich sage Ihnen das auch als einer der älteren Herren,
der seine Jugend noch unter § 175 StGB verbracht hat .
Ich war 1994 in meiner Eigenschaft als Schwulenver-
bandssprecher von der FDP-Fraktion geladener Sachver-
ständiger bei einer Rechtsausschussanhörung über die
Aufhebung des § 175 StGB . § 175 StGB war eine Gene-
ralklausel für die gesellschaftliche Ächtung der Homose-
xualität . Er hat viele Menschen, die in die strafrechtliche
Mühle kamen und dann verurteilt wurden, betroffen, er
hat aber auch allen Homosexuellen das Leben versauert
und uns ein Stück weit die Jugend gestohlen .
Er war eine Generalklausel auch für die Justiz . Noch
1990 hat der Bundesgerichtshof homosexuellen Paa-
ren im Mietrecht nicht die gleichen Rechte wie nichte-
helichen heterosexuellen Paaren gegeben . Er war ein
Vorwand, um der Homosexuellenbewegung keine bür-
gerlichen und politischen Rechte zu gewähren . Er war
Grundlage für die Verbote von Informationsständen in
der Fußgängerzone; denn es wurde gesagt, dass all das
jugendgefährdend sei .
Meine Damen und Herren, ich erinnere mich auch
noch an die Diskussion über das NS-Unrechtsurteile-
aufhebungsgesetz . Sie haben es angesprochen . Aber die
Geschichte muss ich ein bisschen genauer darstellen . Wir
haben das NS-Unrechtsurteileaufhebungsgesetz 1998
unter der Kohl/Kinkel-Regierung verabschiedet . Zwei
Gruppen hatte damals die schwarz-gelbe Mehrheit aus-
gespart: die Homosexuellen und die Wehrmachtsdeser-
teure . Man wollte nicht darüber sprechen, dass es bei den
Homosexuellen eine Kontinuität des Unrechts gab und
dass es mit der Befreiung vom Nationalsozialismus kei-
ne Diskontinuität bei der Verfolgung dieser Gruppe gab,
was übrigens auch der Grund war, dass jahrzehntelang
homosexuelle KZ-Opfer überhaupt keine Entschädigung
für ihren KZ-Aufenthalt bekamen .
Wir haben das mit Rot-Grün 2002 korrigiert – da gab
es auch erhebliche Widerstände aus Ihrem Haus, Herr
Maas; dafür können Sie nichts –, und zwar mit der Ar-
gumentation: Wenn wir die rehabilitieren, dann wird der
Tag, den wir heute erleben, irgendwann kommen . – Ich
bin froh, dass er gekommen ist und dass wir damals die-
sen Schritt gemacht haben; denn Unrecht darf keinen Be-
stand haben .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN sowie bei Ab-
geordneten der CDU/CSU)
Herr Kollege Harbarth, Sie haben vorhin die unter-
schiedlichen Entwürfe angesprochen, die in diesem
Haus auf dem Tisch liegen . Ich muss sagen: Ich verstehe
nicht, warum Sie sich nicht an der Regelungstechnik des
NS-Unrechtsurteileaufhebungsgesetzes orientieren wol-
len . Da haben wir nämlich gesagt: Auf Normen, die Un-
recht waren, kann kein rechtmäßiges Urteil erfolgen . –
Wenn Sie das semantisch nicht überzeugt, dann lassen
Sie sich doch vielleicht praktisch überzeugen: Wie wol-
len Sie denn Ihre Rückausnahmeklausel in der Realität
ohne Gerichtsakten praktizieren? Wenn es Gerichtsakten
gibt, wollen Sie dann neu in die Beweisaufnahme ein-
steigen? Wollen Sie das den Opfern zumuten? Nein, was
damals für heterosexuelle Beziehungen und lesbische
Beziehungen straflos war, muss für homosexuelle Bezie-
hungen unter den Bedingungen des Gleichheitsgrundsat-
zes als Unrecht im Sinne von Diskriminierung erkannt
werden, auch wenn wir heute ein differenzierteres Ver-
hältnis zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung von
Jugendlichen haben als der historische Gesetzgeber der
60er-, 70er- und 80er-Jahre. Ich finde, da sollten Sie nicht
durch Verkomplizierungsvorschläge ein bisschen Galle
in den Rehabilitierungsakt bringen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg .
Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE])
Volker Beck (Köln)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723460
(A) (C)
(B) (D)
Wichtiger ist mir allerdings die Frage der Entschädi-
gung. Ich finde, da springen Sie zu kurz in der Wahrneh-
mung, was diese Urteile für die Menschen bedeuten und
was die Strafverfolgung für die Menschen bedeutet hat .
Es war nicht nur so, dass Menschen ihre Freiheit verlo-
ren haben und dass sie gesellschaftlich geächtet wurden .
Schon mit der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens
und auch im Falle eines Freispruchs aus Mangel an Be-
weisen – in dubio pro reo – war die Person, wenn klar
wurde, dass es sich um einen Homosexuellen handelt,
gesellschaftlich in ihrer Existenz vernichtet . Man musste
zwar eine Tat nachweisen, aber im Verfahren kam heraus,
dass es sich um einen homosexuellen Menschen handelt,
wobei die Identität per se ohne Handlung nicht strafbar
war . Aber aus dem Beamtenverhältnis wurden sie den-
noch entlassen; ihnen wurde gekündigt vom Arbeitgeber,
gekündigt vom Wohnungsbesitzer; die Existenzen waren
oftmals vernichtet, und das wirkt sich heute noch aus .
Diese Menschen, die jahrelang nicht ihrer Ausbildung
entsprechend Karriere machen konnten, haben heute
niedrigere Renten .
Im Entschädigungsrecht zum Nationalsozialismus,
selbst in dem etwas lumpig gestalteten Allgemeinen
Kriegsfolgengesetz, über das die Homosexuellen ent-
schädigt wurden, hat man Berufs- und Rentenschäden
neben den Freiheits- und Gesundheitsschäden selbstver-
ständlich als eigenständige Schadenstatbestände aner-
kannt .
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Herr Kollege Beck .
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich bitte Sie – ein letztes Wort, Frau Präsidentin –:
Lassen Sie uns in den Ausschussberatungen da noch ein-
mal genauer hinschauen . Lassen Sie uns auch von der
bisherigen Entschädigungspraxis der Bundesrepublik
Deutschland lernen und diese Opfergruppe nicht mutwil-
lig schlechterstellen . Ich hoffe da auf offene, konsensuel-
le Beratungen im Sinne der Betroffenen . Ich glaube, Sie
haben einen Anspruch darauf .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der LINKEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Nächste Rednerin für die SPD-Frakti-
on ist die Kollegin Eva Högl .
(Beifall bei der SPD)
Dr. Eva Högl (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Liebe Zu-
schauerinnen und Zuschauer dieser wichtigen Debatte!
Homosexualität ist weder unnormal noch sittenwidrig
noch rechtswidrig . Das ist heute ein klarer Satz, eine kla-
re Aussage und glücklicherweise heute hier in Berlin eine
Selbstverständlichkeit .
(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Dr . Jan-
Marco Luczak [CDU/CSU])
Es hat aber so unglaublich lange gedauert, bis wir das
sagen konnten, und, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
sage hier auch ganz deutlich: Wir sind noch nicht am Ziel
bei dem Abbau von Diskriminierung von Schwulen und
Lesben und bei vollständiger Gleichberechtigung und
Gleichstellung .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Es ist nahezu unvorstellbar – ich kann mich noch
gut daran erinnern, wie das in den politischen Debatten
war –, dass Homosexualität bis 1994 – das muss man
sich einmal vorstellen! – noch unter Strafe stand . Und es
hat noch einmal 23 Jahre bis zum heutigen Tag gedauert,
an dem wir nun über Rehabilitierung und Entschädigung
sprechen können .
Die Zahlen unterscheiden sich . Ich will sie aber noch
einmal nennen, weil sie so eindrücklich sind . Und hin-
ter jeder einzelnen Zahl steckt ja auch ein Schicksal . Die
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld sagt, dass zwischen
1949 und 1994 in der BRD rund 64 000 Homosexuelle
verurteilt wurden, 50 000 davon allein zwischen 1949
und 1969, sowie 4 300 in der DDR . Das sind nach dieser
Statistik 68 000 Verurteilungen . Die Strafverfolgungssta-
tistik weist 54 000 Personen aus . Wir müssen uns darüber
jetzt nicht streiten; jede einzelne Person ist eine Person
zu viel . Für jede dieser Personen ist das jedoch mit weit-
reichenden Einschränkungen in allen Lebensbereichen
verbunden gewesen .
Es ist heute schon gesagt worden, dass damit eine
gesellschaftliche Stigmatisierung einherging . Familien
haben sich zum Teil abgewandt . Wohnungen gingen ver-
loren . Es wurde kein Arbeitsplatz gefunden, oder er ging
verloren . Das ist eigentlich ein Unrecht, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, das uns nicht nur sprachlos macht und
uns entsetzt, sondern auch eines, das wir eigentlich kaum
wiedergutmachen können . Deswegen haben wir uns lan-
ge Gedanken darüber gemacht, wie wir einen Beitrag
leisten können . Wir haben lange darum gerungen, natür-
lich unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten .
Wir haben uns es nicht einfach gemacht . Aber wir sind
zu dem Ergebnis gekommen: Wir müssen diese Urteile
aufheben, wir müssen die betroffenen Personen rehabi-
litieren und entschädigen . Das folgte der Einsicht, dass
nicht die homosexuellen Handlungen rechtswidrig wa-
ren, sondern die Urteile .
(Beifall bei der SPD und der LINKEN so-
wie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie verstoßen gegen unser Grundgesetz, sie verstoßen
gegen die Menschenrechte . Deswegen sind sie verfas-
sungswidrig und müssen aufgehoben werden . Und ja, es
ist allerhöchste Zeit; das ist auch schon gesagt worden . Es
ist eigentlich viel zu spät . Ich sagte schon, dass 23 Jahre
Volker Beck (Köln)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23461
(A) (C)
(B) (D)
vergangen sind . Viele Betroffene sind schon verstorben
oder hochbetagt .
Ich finde es vor diesem Hintergrund sehr richtig, dass
wir uns darauf verständigt haben – das besagt auch der
Gesetzentwurf –, dass ein pauschalisierter Schadens-
ersatzanspruch vorgesehen wird und es eben kein auf-
wendiges und langwieriges Verfahren geben wird . Die
Anregungen, die jetzt noch von Volker Beck und Harald
Petzold gekommen sind, werden wir in den Beratungen
im Ausschuss und hier im Plenum sorgfältig prüfen . Wir
werden schauen, ob wir den Gesetzentwurf an der einen
oder anderen Stelle noch verbessern können .
Ich will aber auch etwas dazu sagen, dass wir noch
nicht am Ziel sind, und in diesem Zusammenhang drei
Punkte erwähnen .
Selbst wenn wir jetzt die Rehabilitierung auf den Weg
bringen, haben wir es in unserer Gesellschaft noch im-
mer nicht ganz geschafft; denn Homosexualität begegnet
noch immer Vorurteilen . Homosexuelle werden stigmati-
siert . Sie werden beschimpft oder sogar körperlich atta-
ckiert . Sogar hier in dieser weltoffenen Stadt Berlin gibt
es leider entsprechende Übergriffe . Wir müssen also in
unserer Gesellschaft – in den Familien, in den Schulen
und an allen anderen Stellen – noch viel mehr tun . Und
da sind wir alle gefragt, dafür zu sorgen, dass Homosexu-
elle nicht diskriminiert und stigmatisiert werden .
Auch wir als Gesetzgeber, liebe Kolleginnen und Kol-
legen – und da gucke ich vor allem in Richtung der CDU/
CSU-Fraktion –, haben noch nicht unsere Hausaufgaben
gemacht . Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart,
dass wir die Diskriminierung vollständig abbauen wol-
len . Sie wissen, was jetzt kommt, aber ich sage es heute
in dieser Debatte ausdrücklich noch einmal so deutlich:
(Johannes Kahrs [SPD]: Und das ist auch gut
so!)
Wir sind es bisher schuldig geblieben, auch die Ehe für
alle zu öffnen .
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das könnten wir – schnips! – sofort machen, wenn es da-
für eine Bereitschaft gäbe. Ich finde, es wäre ein wirklich
wichtiges Signal, das jetzt auch hier im Deutschen Bun-
destag auf den Weg zu bringen .
Ich will noch etwas anderes anführen, was meiner
Meinung nach in der nächsten Legislaturperiode auf der
Agenda stehen sollte . Wir sollten auch unser Grundge-
setz im Artikel 3 ergänzen,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nämlich die Diskriminierung wegen sexueller Orientie-
rung ganz ausdrücklich untersagen .
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie
des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE
LINKE])
Wir schaffen also heute viel, indem wir die Rehabi-
litierung auf den Weg bringen . Wir gehen einen großen
Schritt . Ich hoffe auf gute Beratungen im Ausschuss und
hier im Plenum . Ich hoffe, dass wir uns hier im Parlament
einig sind, dass wir erst am Ziel sind, wenn die rechtliche
und gesellschaftliche Diskriminierung vollständig besei-
tigt ist und alle gleichgestellt sind .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN und des Abg . Dr . Jan-Marco
Luczak [CDU/CSU])
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Für die CDU/CSU-Fraktion hat die
Kollegin Dr . Sabine Sütterlin-Waack das Wort .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD)
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wissen ja,
viele unserer Reden beginnen hier mit dem Standardsatz:
Ich freue mich, dass wir heute das Gesetz XY nach langer
Vorbereitung in erster Lesung beraten . – Heute kann ich
voller Überzeugung sagen, dass es mir eine große Freu-
de, ja eine Herzensangelegenheit ist, dass wir das Gesetz
zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8 . Mai
1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlun-
gen verurteilten Personen im Bundestag beraten können .
(Johannes Kahrs [SPD]: Ihnen glauben
wir das auch! – Beifall der Abg . Elisabeth
Winkelmeier-Becker [CDU/CSU])
– Danke .
Es gibt schon lange von Betroffenenverbänden, von
Mitgliedern verschiedener deutscher Parlamente Forde-
rungen nach Rehabilitierung . Viele andere Kollegen vor
mir haben in diesem Hohen Haus bei anderen Gelegen-
heiten oft auf die Notwendigkeit dieses nun vorliegenden
Gesetzentwurfs hingewiesen . Wir haben es schon gehört:
Uns liegen zwei Gesetzentwürfe vor, die in die gleiche
Richtung zielen und die sich lediglich in der Ausgestal-
tung unterscheiden . Ich will später einmal kurz darauf
eingehen .
Der irische Dramatiker und Satiriker George Bernard
Shaw sagte einmal:
Der einzige Mensch, der sich vernünftig benimmt,
ist mein Schneider . Er nimmt jedes Mal neu Maß,
wenn er mich trifft, während alle anderen immer die
alten Maßstäbe anlegen in der Meinung, sie passten
auch heute noch .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und der Abg . Ulle Schauws
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf verhält es
sich ähnlich: Was die ehemals rechtliche Bewertung der
Kriminalisierung und Stigmatisierung homosexueller
Handlungen betrifft, müssen wir heute neue Maßstäbe
anlegen . Es ist ein einmaliger und einzigartiger Schritt
in der rechtspolitischen Geschichte der Bundesrepublik
Dr. Eva Högl
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723462
(A) (C)
(B) (D)
Deutschland, der dennoch keinen Präzedenzfall schafft .
Das möchte ich genauso klarstellen und hervorheben wie
die außergewöhnlichen Gründe, die uns zu diesem be-
sonderen Vorhaben veranlassen .
Wir haben es heute schon öfter gehört: Wir haben es
hier mit nach 1945 ergangenen Verurteilungen von ho-
mosexuellen Männern wegen Straftaten nach den §§ 175
und 175a Strafgesetzbuch alte Fassung in der Bundes-
republik und nach dem § 151 des Strafgesetzbuchs der
DDR zu tun . Bis ins Jahr 1969 waren demnach im al-
ten Bundesgebiet einfache homosexuelle Handlungen
kriminalisiert und strafbewehrt, bis 1994 galten diskri-
minierende Jugendschutzbestimmungen . Wenn ich das
heute vor Schülergruppen erzähle, schaue ich in völlig
ungläubige und erschrockene Gesichter . Diese Reakti-
onen zeigen mir, wie sehr wir uns als Gesellschaft von
dieser Rechtsauffassung entfernt haben .
Zumindest für die junge Bundesrepublik kann man
sagen, dass die durch den nationalsozialistischen Ge-
setzgeber drastisch verschärften Strafrechtsparagrafen
unverändert in das Strafgesetzbuch Eingang fanden . Das
Bundesjustizministerium hat sich im Rahmen des Pro-
jekts „Die Akte Rosenburg“ mit seiner Vergangenheit
auseinandergesetzt . Zu dieser gehört auch, dass es in den
50er- und 60er-Jahren keinen nennenswerten personellen
Austausch in den Fachabteilungen, insbesondere in der
Strafrechtsabteilung, gab . Dies ist sicherlich nur ein Teil
der Erklärung . Zur deutschen Rechtsgeschichte gehört
aber auch, dass das Bundesverfassungsgericht in einem
aufsehenerregenden Urteil vom 10 . Mai 1957 die Ver-
einbarkeit des § 175 StGB mit dem jungen Grundgesetz
bestätigte . Wenn ich mir heute die damalige Begründung
durchlese, erscheint sie mir teilweise sehr befremdlich .
(Johannes Kahrs [SPD]: Ja!)
Trotz meines heutigen Gefühls und meiner rechtlichen
Bewertung kann ich nicht sagen, dass das Bundesverfas-
sungsgericht damals ein Unrechtsurteil gesprochen hat .
Hier unterscheiden wir uns im Umgang mit der Thema-
tik von dem, was im Gesetzentwurf der Grünen gefordert
wird . Ich will deutlich darauf hinweisen: Die damaligen
Gerichtsentscheidungen waren ebenso wenig falsch wie
das Handeln unserer parlamentarischen Vorgänger . Bes-
ser, als es Ovid ursprünglich einmal ausdrückte, kann
man es kaum sagen: Die Zeiten ändern sich, und wir än-
dern uns in ihnen . – Für uns war das unter verfassungs-
rechtlichen Gesichtspunkten einer der kritischen Punkte,
auf den wir bei der Entstehung des vorliegenden Geset-
zes besonderen Wert legten .
Ich habe aber auch schon darauf hingewiesen: Wir ha-
ben es mit einer Ausnahmesituation zu tun, in der sich
die Verurteilten befanden und immer noch befinden. Das
strafrechtliche Verbot des einvernehmlichen homose-
xuellen Verhaltens ist aus heutiger Sicht im besonderen
Maße grund- und menschenrechtswidrig . Die Betroffe-
nen wurden allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung
verurteilt . Damals waren viele noch der Ansicht, dies sei
ein selbstgewähltes Schicksal – welch ein Fehlschluss .
Die besondere Ausgangssituation ergibt sich überdies
aus der Lebenssituation der Betroffenen, ihrer drohenden
gesellschaftlichen Stigmatisierung, der tatsächlichen und
sehr intensiven Verfolgung durch die Behörden . Hiervon
zeugt die Statistik der Verurteilten, die bis 1969 einen
recht konstanten und hohen Verlauf zeigt . Für die damals
verurteilten Männer bedeutete der Richterspruch oftmals
das Ende ihres gesellschaftlichen Lebens . Eine Verurtei-
lung war nicht nur ein Strafmakel, sondern markierte in
den meisten Fällen das Ende der beruflichen Laufbahn
und soziale Ächtung . Wessen homosexuelle Identität in
der Nachkriegszeit durch Prozess oder Verurteilung of-
fenbart wurde, war mehrfach bestraft . Zum damaligen
Gesamtbild zählten deshalb auch die Scheinehen, Erpres-
sungen, die ständige Angst des Entdecktwerdens und der
Enttarnung .
Nichtsdestotrotz haben wir mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf verfassungsrechtliches Neuland betreten .
Die Diskussion währt schon lange; das stimmt . Die Fra-
gen nach Rechtssicherheit und Gewaltenteilung haben
uns auch in der CDU/CSU-Fraktion im Vorfeld der Ent-
stehung des Gesetzentwurfs beschäftigt
(Johannes Kahrs [SPD]: Jahrzehntelang!)
und dazu veranlasst, die Problematik mit Verfassungs-
rechtlern intensiv zu diskutieren, mit dem Ergebnis, dass
aus unserer Sicht die verfassungsrechtlichen Prinzipien
Gewaltenteilung und Rechtssicherheit keine Hindernisse
für das Rehabilitierungsgesetz darstellen .
(Johannes Kahrs [SPD]: Was lange währt,
wird endlich gut!)
– Sie sagen es, Herr Kollege Kahrs .
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Es ist die spezifische Aufgabe des Gesetzgebers, ab-
strakt generelle Entscheidungen zu treffen . Der Vertrau-
ensschutz, meine Damen und Herren, einer der Pfeiler des
Rechtsstaats, ist nicht verletzt, wenn die angesprochenen
Urteile aufgehoben werden; denn es handelt sich ja um
begünstigende staatliche Maßnahmen . Zu den schon vor
längerer Zeit ebenfalls aufgehobenen Straftatbeständen,
wie zum Beispiel Ehebruch oder schwere Kuppelei, las-
sen sich die sanktionierten homosexuellen Handlungen
klar und deutlich abgrenzen . Weder beim Ehebruch noch
bei der Kuppelei haben wir es mit einem massiven Ein-
griff in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts zu
tun . Zudem ist auch der Personenkreis der Betroffenen
eng umgrenzt . Opfer, die sich auf die mit dem Urteil ver-
schaffte Genugtuung verlassen dürfen, gibt es beim alten
§ 175 StGB ebenfalls nicht, da es sich hier um einver-
nehmliche Handlungen zwischen Erwachsenen handelt .
Die vorliegende Aufhebungslösung berührt weder die
Gewaltenteilung noch die richterliche Unabhängigkeit .
Dies wäre der Fall, wenn eine Aufhebung eine direkte
Reaktion auf ein bestimmtes Urteil oder ein einzelnes
Strafverfahren wäre . Beim vorliegenden Gesetzentwurf
geht es um eine generelle Aufhebung, nicht um den Ein-
zelfall . Wir korrigieren durch die Aufhebung der Gesetze
nur uns selbst und nicht die Justiz, die zur Gesetzesan-
wendung verpflichtet war und ist.
Auch die bereits erwähnte Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts steht einer Aufhebung nicht ent-
gegen, da das oberste Gericht damals feststellte, dass
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23463
(A) (C)
(B) (D)
der Gesetzgeber den umstrittenen Paragrafen so erlassen
durfte . Umgekehrt lässt sich daraus aber auch nicht ab-
leiten, dass der Gesetzgeber die Vorschrift nicht ändern,
aufheben oder die Betroffenen rehabilitieren darf .
Uns war besonders wichtig, dass keine Rehabilitie-
rung für Handlungen erfolgt, die nach dem damaligen
Recht auch für heterosexuelle Handlungen strafbar wa-
ren oder nach heutigem Recht strafbar sind . Das gelingt
dem Gesetzentwurf weitgehend . Wir sehen an einer Stel-
le noch eine Ungleichbehandlung . Die werden wir im
parlamentarischen Verfahren sicher beseitigen .
Ich denke, es ist bereits deutlich geworden, aber ich
möchte es noch einmal hervorheben, dass wir den Ge-
setzentwurf begrüßen . Wir begrüßen ihn als konsequente
Weiterführung der Resolution des Deutschen Bundes-
tages aus dem Jahr 2000 . Auf die überfraktionelle Ent-
schuldigung folgt nun auch die Rehabilitierung der ho-
mosexuellen Personen, die allein wegen ihrer sexuellen
Orientierung nach 1945 strafrechtlich verurteilt wurden .
Die Rehabilitierung ist ein wichtiges, moralisches, poli-
tisches und gesellschaftliches Anliegen . Wir werden uns
dafür einsetzen, dass der Gesetzentwurf noch vor Ende
der laufenden Legislaturperiode abgeschlossen wird .
Vielen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so-
wie bei Abgeordneten der LINKEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kol-
lege Johannes Kahrs das Wort .
(Beifall bei der SPD)
Johannes Kahrs (SPD):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Debatte klang, wenn man ihr gelauscht
hat, in vielen Teilen sehr theoretisch und auch etwas ab-
gehoben . Ich glaube, die Realität war für viele Menschen
damals eine andere . Ich selber habe es nicht mehr erlebt,
aber wir haben viel davon gehört: Wenn man durch die
einschlägigen Kneipen und Bars gezogen ist, hat man
viele kennengelernt, die unter den Paragrafen § 175 ge-
fallen sind, und man hat gesehen, dass Menschen daran
zerbrochen sind, dass sie im Leben gescheitert sind, dass
sie sich auch selber als gescheitert angesehen haben . Ei-
nige sind daran gewachsen, aber ganz viele sind einfach
elendig daran zugrunde gegangen .
Es betraf nicht nur diejenigen, die verurteilt worden
sind . Viele Hundertausende haben aufgrund dieser Ge-
setzgebung anders gelebt, haben sich anders orientie-
ren müssen, sind damit nie glücklich geworden . Es hat
geschiedene Ehen gegeben, es hat unglückliche Kinder
gegeben . All das waren Sachen, die einen Teil der Bevöl-
kerung ins Unglück gestürzt haben, und das werden wir
heute nicht wiedergutmachen können . Wir können heute
den Versuch wagen, zu sagen: Wir haben als Parlament
verstanden .
An dieser Stelle muss ich einfach sagen, dass ich
Heiko Maas und seinem Haus sehr dankbar bin .
(Beifall bei der SPD)
Ich weiß, lieber Heiko, wie schwierig es in deinem Haus
war . Da sind viele über ihren Schatten gesprungen, und
es war ein langer Prozess . Wer die Kollegin Sütterlin-
Waack eben gehört hat, der ich alles glaube, was sie ge-
sagt hat, muss wissen, dass sie leider nicht für große Teile
der CDU/CSU steht .
(Mechthild Rawert [SPD]: Leider, leider,
leider!)
Da weiß man, dass das ein mühsamer Prozess war .
Volker Beck, der in diesem Zusammenhang sehr große
Verdienste erworben hat, hat es hier eben noch einmal
geschildert .
Im Kern ist es so: Wir alle hätten das gerne schon et-
was eher gehabt; denn viele Betroffene werden die Reha-
bilitierung nun nicht mehr erleben . Insofern geht es bei
der Entschädigungsregelung nicht so sehr darum, ob man
einen Euro mehr oder weniger bekommt, sondern darum,
wie man behandelt wird . Das hat etwas mit Anerkennung
und Respekt zu tun . Es hat nichts damit zu tun, ob man
dann mehr oder weniger Geld hat . Eine Wiedergutma-
chung für ein gescheitertes Leben lässt sich gar nicht in
Euro ausdrücken . Ich glaube, eines dürfen wir, wenn wir
das jetzt in den Ausschüssen beraten, nie vergessen – das
ist mir wichtig –: Man kann zwar jedes Komma neu dis-
kutieren, und wir haben ja schon seit Jahren diskutiert,
aber trotzdem müssen wir es am Ende gemeinschaftlich
hinbekommen .
Ich möchte an dieser Stelle unserem Berichterstatter
Karl-Heinz Brunner danken, der im Klein-Klein wirklich
lange und hart daran gearbeitet hat .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ehrlicherweise muss man sagen: Du hast da dicke Bretter
gebohrt . Politik ist ja das Bohren dicker Bretter, und mit
diesem Koalitionspartner war es nun wirklich nicht ein-
fach . Deswegen: Ganz herzlichen Dank, dass du dir das
angetan hast . In der Sache ist das Ergebnis gut, und ich
glaube, dass das für uns alle wichtig ist .
Man muss aber auch zur Kenntnis nehmen, dass wir
einen Koalitionsvertrag haben, in dem steht – ich zitiere
es immer wieder gern –:
Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche
Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden
wir beseitigen .
Das gilt natürlich auch für die Öffnung der Ehe .
(Beifall bei der SPD)
Das darf man nicht vergessen .
Jetzt wird in der Union immer gesagt: Na ja, von der
Öffnung der Ehe steht da gar nichts drin . Wie könnt ihr
das so sehen? – Ehrlicherweise: Die Rehabilitierung der
nach § 175 Verurteilten steht da auch nicht drin, und
trotzdem beschließen wir sie . Und warum? Weil es rich-
tig ist, weil es von dieser Formulierung im Koalitionsver-
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723464
(A) (C)
(B) (D)
trag abgedeckt ist . Insofern muss man schauen, wie man
das eine macht, ohne das andere zu lassen .
Wir haben nur noch den Rest von heute – ich gebe zu,
das ist nicht mehr viel –, und wir haben auch nur noch
vier Sitzungswochen . Aber mein Appell an die Union ist:
Es gibt fertige Gesetzentwürfe, es gibt die Unterstützung
des Bundesrates, es liegt eigentlich alles vor – wir kön-
nen das alles ganz schnell und vernünftig regeln .
(Beifall bei der SPD sowie der Abg . Harald
Petzold [Havelland] [DIE LINKE] und Volker
Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir können allerdings auch schauen, ob wir es anders
regeln . Ich persönlich würde es vorziehen, wenn man es
so machte, wie es bei Gewissensentscheidungen in die-
sem Haus üblich ist: Man gibt eine Abstimmung frei .
Leider sagt der Koalitionsvertrag, dass beide Koalitions-
partner dieser Regelung zustimmen müssen . Die Union
hat dem bisher nicht zugestimmt . Deswegen wird die Ab-
stimmung im Deutschen Bundestag nicht freigegeben .
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Gebt den Kahrs frei!)
Ich bin mir sicher: Wenn diese Abstimmung freige-
geben würde, dann würde es hier eine Zweidrittel- oder
Dreiviertelmehrheit dafür geben . Im Moment hängt es
davon ab, ob wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass die
Union über ihren Schatten springt und nicht mehr Men-
schen diskriminiert, damit nicht mehr das Bauchgefühl
der Bundeskanzlerin gilt, sondern das, was recht und an-
ständig ist .
Vielen Dank .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Danke schön . – Als Nächste hat Gudrun Zollner,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Gudrun Zollner (CDU/CSU):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine lieben Gäste, besonders auf der
Ehrentribüne! Ich durfte im vergangenen Jahr auf einer
Veranstaltung einen älteren Mann kennenlernen, der sag-
te: Ich möchte in Frieden mit meinem Vaterland sterben
dürfen . – Dieser Mann war ein nach § 175 StGB verur-
teilter Homosexueller . Es war dieser Paragraf, der diesen
Mann zum Verbrecher machte . Durch diesen Paragrafen
haben viele ihre Arbeit und ihr Ansehen verloren; an ihm
zerbrachen viele Familien und Existenzen . Für viele war
eine Verurteilung der soziale Tod, und manchen trieb es
tatsächlich in den Suizid .
Wenn man im „Archiv der anderen Erinnerungen“ der
Magnus-Hirschfeld-Stiftung die Schicksale der Zeitzeu-
gen verfolgt, dann macht das tief betroffen . Aus dieser
Betroffenheit heraus war es der Unionsfraktion, meiner
Kollegin Dr . Sabine Sütterlin-Waack und mir ein großes
Anliegen, die Rehabilitierung dieser Männer moralisch,
gesellschaftlich, politisch und jetzt auch endlich rechtlich
voranzubringen .
(Beifall im ganzen Hause)
Die auch nach 1945 fortgesetzte Kriminalisierung
und Stigmatisierung Homosexueller und ihre drastische
Behinderung in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit ver-
stößt aus heutiger Sicht klar gegen das freiheitliche Men-
schenbild unseres Grundgesetzes . Deshalb war es auch
richtig, dass nach der Abschaffung des Straftatbestandes
im Jahr 1994 der Deutsche Bundestag sich im Jahr 2000
mit einer einstimmig verabschiedeten Resolution bei den
verfolgten Homosexuellen für das erlittene Unrecht ent-
schuldigte . Nachdem nun im vergangenen Jahr das Gut-
achten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ebenso
wie ein unionsinternes Expertengespräch der AG Recht
und der AG Familie Möglichkeiten zur verfassungsmä-
ßigen Umsetzung aufgezeigt haben, machen wir nun den
nächsten Schritt mit dem Gesetz zur Rehabilitierung .
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf betreten wir verfassungsrecht-
liches Neuland . Es muss klar sein, dass eine gesetzliche
Regelung dem Gewaltenteilungsgrundsatz gerecht wird;
denn Rechtssicherheit gehört zu den Grundpfeilern un-
seres Rechtsstaats . Und gerade in Zeiten wie diesen ist
es besonders wichtig, diese nicht aus den Augen zu ver-
lieren .
So müssen wir beispielsweise darauf achten, dass der
Kreis der aufzuhebenden Urteile nicht zu Wertungswi-
dersprüchen mit Verurteilungen aufgrund von anderen
Strafvorschriften führt . Wichtig ist auch, dass wir keinen
Präzedenzfall schaffen . Für die Urteile nach § 175 StGB
ist unser Vorgehen aber auch deshalb ausnahmsweise
gerechtfertigt, weil es ausschließlich um die sexuelle
Orientierung und um einvernehmliche Handlungen geht .
Das heißt, die Verurteilten haben niemanden geschädigt,
es gibt keine Opfer, außer den Verurteilten selbst .
Es ist wichtig, die äußerst schwierigen und kompli-
zierten verfassungsrechtlichen Voraussetzungen, die mit
diesem Gesetzentwurf verbunden sind, zu beachten . Sehr
viel hat der bayerische Justizminister Professor Winfried
Bausback dazu beigetragen, dessen Empfehlungen wir
im vorliegenden Gesetzentwurf wiederfinden.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich freue
mich sehr, dass wir die Rehabilitierung der betroffenen
Männer noch in dieser Legislaturperiode auf den Weg
bringen können . Es hat lange genug gedauert .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so-
wie bei Abgeordneten der LINKEN und der
Abg . Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN])
Ich bin stolz, als Mitglied dieses Bundestags dazu ein
bisschen beitragen zu dürfen . Danke, dass ich heute hier
als Nichtjuristin und als CSU-Politikerin sprechen durfte .
(Johannes Kahrs [SPD]: Mit einem so schö-
nen Schal!)
– Danke schön .
Johannes Kahrs
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23465
(A) (C)
(B) (D)
Danke auch an die CDU/CSU-Fraktion und an die
Mitglieder der interfraktionellen Arbeitsgruppe, ganz
speziell aber an meine Kolleginnen Dr . Sabine Sütterlin-
Waack und Lisa Winkelmeier-Becker für die tolle Unter-
stützung . Sie haben mir geholfen, diese Rehabilitierung
auf den Weg zu bringen .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ein schönes
verlängertes Wochenende .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so-
wie bei Abgeordneten der LINKEN und des
Abg . Dr . Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN])
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Damit ist die Aussprache beendet .
Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, dass
die Vorlagen auf den Drucksachen 18/12038, 18/10117
und 18/10118 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden . Sind Sie damit einver-
standen? – Ich sehe, das ist der Fall . Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen .
Wir kommen damit zu Zusatzpunkt 9:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Bekämpfung von Kinderehen
Drucksache 18/12086
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei-
nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache . Für die Bundesregierung
erhält das Wort Bundesminister Heiko Maas .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Kinderehen sind ein globales Pro-
blem . 15 Millionen Mädchen sind nach Schätzungen von
UNICEF weltweit jedes Jahr davon betroffen .
Die Folgen für die Mädchen sind in aller Regel fa-
tal . Sie werden ihrer Kindheit beraubt, sie werden um
Bildungschancen gebracht, ihnen wird das Recht ge-
nommen, ein wirklich selbstbestimmtes Leben zu füh-
ren . Kinder sollen spielen, lernen, selbstständig werden .
Wenn sie erwachsen sind, dann sollen sie selbst und frei
entscheiden, ob und wen sie heiraten wollen . Bis dahin
aber gehören Kinder weder vor einen Traualtar noch in
ein Standesamt .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Wir haben festgestellt, dass im Zuge der Aufnahme
von Flüchtlingen die Zahl minderjähriger Verheirateter
in Deutschland ansteigt . Die Behörden haben im ver-
gangenen Jahr fast 500 ausländische Jugendliche unter
16 Jahren registriert, die bereits verheiratet waren . Der
Entwurf, den die Koalitionsfraktionen heute in den Bun-
destag einbringen, legt daher für die Zukunft ausnahms-
los fest: Heiraten darf erst, wer 18 Jahre alt ist . Damit
setzen wir auch international ein klares Zeichen gegen
Kinderehen, damit stärken wir die Selbstbestimmung der
Jugendlichen, die hier in Deutschland leben .
Meine Damen und Herren, der Entwurf sieht vor,
nicht nur die Altersgrenze für künftige Ehen anzuhe-
ben, auch bereits geschlossene Kinderehen sollen erfasst
werden . Ehen mit unter 16-Jährigen sollen grundsätzlich
unwirksam sein . Solche Verbindungen sind mit unseren
Vorstellungen von Kindeswohl völlig unvereinbar . Über
Ehen mit 16- oder 17-Jährigen muss künftig das Famili-
engericht entscheiden . In der Regel werden solche Ehen
dann auch aufzuheben sein .
Diese neuen Vorschriften sollen auch für Auslandse-
hen gelten . Gerade für Ehen von Minderjährigen, die im
Ausland geschlossen wurden, gilt: Wir wissen schlicht
nicht, ob sie freiwillig geschlossen wurden oder etwa auf
Druck der Familie zustande gekommen sind . Aber ehr-
lich gesagt, unter Berücksichtigung des gesunden Men-
schenverstandes kommt man eigentlich zu dem Ergebnis:
Kinder heiraten nicht, Kinder werden verheiratet . Das
wollen wir nicht länger akzeptieren .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vor erzwungenen Ehen können wir die Minderjährigen
eben nur dann wirksam schützen, wenn wir klare Vorga-
ben machen für die Unwirksamkeit und die Aufhebbar-
keit solcher Verbindungen .
Wir bleiben aber nicht bei einer Änderung des Ehe-
rechtes stehen . Mit unserem Entwurf wollen wir das
Wohl dieser besonders schutzbedürftigen Jugendlichen
umfassend sichern . Dazu schlagen wir zusätzlich dreier-
lei vor:
Erstens . Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge muss
das Jugendamt auch dann unverzüglich in Obhut neh-
men, wenn sie verheiratet sind . Das Jugendamt prüft
dann, ob es besser ist, den verheirateten Minderjährigen
von seinem Ehegatten zu trennen, und welche weiteren
Schritte notwendig sind, um seiner besonderen Lage ge-
recht zu werden .
Zweitens . Kein Jugendlicher soll wegen der Unwirk-
samkeit oder der Aufhebung einer Ehe asyl- oder aufent-
haltsrechtliche Nachteile erleiden müssen .
Drittens sorgen wir dafür, dass die neuen Schutzvor-
schriften nicht umgangen werden . Auch vertragliche, tra-
ditionelle oder religiöse Handlungen mit vergleichbaren
Bindungen verbieten wir . Wer sich an dieses Verbot nicht
hält, der muss künftig mit einer empfindlichen Geldbuße
rechnen .
Meine Damen und Herren, alle Kinder, alle Frauen
und Mädchen haben das Recht auf ein selbstbestimmtes
Leben . Dieses Recht darf nicht dadurch vereitelt werden,
Gudrun Zollner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723466
(A) (C)
(B) (D)
dass ihnen schon im Kindesalter Entscheidungen fürs Le-
ben aufgezwungen werden . Über seinen Lebenspartner
soll jeder Mensch selbst und frei entscheiden . Es ist nicht
Sache der Familie, der Tradition oder der Religion, dem
Einzelnen eine solche Entscheidung abzunehmen . Diese
Freiheit der Entscheidung des Einzelnen wollen wir noch
besser schützen . Deshalb muss in Zukunft ein junger
Mensch volljährig sein, bevor er eine Ehe eingeht . Ich
bitte Sie um Unterstützung dieses Gesetzentwurfs .
Vielen Dank .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Jetzt hat der Kollege Harald Petzold
für die Fraktion Die Linke das Wort .
(Beifall bei der LINKEN)
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Herr
Minister und liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen, was um alles in der Welt hat Sie ge-
ritten, als Sie den Gesetzentwurf zu diesem Thema – das
haben Sie ja ganz sachlich vorgetragen – mit der Über-
schrift „Bekämpfung von Kinderehen“ versehen haben?
Der Name des Gesetzentwurfs verrät doch sozusagen die
geistige Urheberschaft .
(Dr . Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Also!
Entschuldigung!)
Erstens . Anstatt Ihren Vorschlag für eine Neuregelung
so zu gestalten, dass er hier im Parlament sachlich disku-
tierbar ist, wählen Sie einen Titel, mit dem Sie die Spra-
che der rechten Populisten aufgreifen und so in dieses
Parlament tragen .
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Sie tun so, als ob wir es mit einer Flut von Dingen zu tun
haben, die bekämpft werden müssten .
(Dr . Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Kin-
derehen sind leider traurige Realität, Herr
Kollege!)
Zweitens . In der bisherigen öffentlichen Debatte über
die, wie Sie es nennen, „Bekämpfung von Kinderehen“ –
ich würde eher „Neuregelung von im Ausland geschlos-
senen Ehen zwischen Ehepartnern unter 18 Jahren“ oder
etwas Ähnliches sagen wollen –
(Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]:
Das ändert ja alles!)
geht völlig unter, welche Umstände im Einzelfall zu sol-
chen Ehen geführt haben können .
(Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]:
Gerade so eine gute Rede und dann so was!)
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: In meinem Wahl-
kreis lebt ein junges Mädchen . Sie wird demnächst
16 Jahre alt . Sie kommt aus Syrien . Ihre Eltern sind tot .
Kurz vor ihrer Flucht hat sie sich dazu entschlossen, ih-
ren 26-jährigen
(Zuruf von der CDU/CSU: Bruder!)
– nicht Bruder – Onkel zu heiraten .
(Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]:
Das macht es nicht besser!)
Sie ist von ihrer Großmutter darin bestärkt worden, einer-
seits natürlich, weil solche Ehen in dem Herkunftsland
nicht unüblich sind, und andererseits, weil die Großmut-
ter angesichts der Fluchtpläne in dieser Ehe eine wichtige
Möglichkeit gesehen hat, dass dieses Mädchen vor Über-
griffen geschützt werden kann . Es hat lange gedauert,
bis das Mädchen darüber gesprochen hat . Dann hat sie
zugegeben, dass da natürlich am Anfang keine Liebe war,
dass aber diese gemeinsame Fluchterfahrung die beiden
zusammengeschweißt habe . Ihr Mann habe sie beschützt,
wie es niemand besser gekonnt hätte .
(Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]:
Das ist ein Grund zu heiraten? Dann muss
man ja nicht heiraten!)
Jetzt kann sie sich durchaus eine gemeinsame Zukunft
mit ihm vorstellen . Sie hat Angst, von ihm getrennt zu
werden . Sie sind zwar im Moment noch in der gleichen
Einrichtung untergebracht,
(Dr . Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist
wirklich abstrus!)
weil sie verwandt sind, aber niemand weiß etwas von
dieser Ehe, weil beide Angst davor haben, getrennt zu
werden .
(Dr . Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das sind
genau die Fälle, die wir verbieten wollen!)
Natürlich hat dieses Mädchen ungeheure Angst davor,
alleine und schutzlos zu sein .
Ich sage Ihnen: Darauf gibt es keine einfache Antwort,
wie der Minister das hier vorgetragen hat: Ehen von unter
16-Jährigen werden annulliert . Sie seien, wie der Minis-
ter es sagt, unwirksam .
(Beifall bei der LINKEN)
Wir müssen uns einen differenzierten Umgang angewöh-
nen, weil jede Ehe ein Einzelfall ist und es dafür keine
einfache Antwort gibt .
Wir alle sind uns einig – an der Stelle gibt es über-
haupt kein Vertun –, dass Zwangsehen völlig zu Recht
verboten sind
(Beifall bei der LINKEN)
und dass sie unter Strafe stehen, unter anderem auch,
weil wir nicht wollen, dass Kinder – meistens sind es
junge Mädchen – ihrer Kindheit beraubt und in eine Ehe
gedrängt oder gezwungen werden . Wir alle sind uns ei-
nig – das ist völlig klar –, dass eine Ehe mit unter 14-Jäh-
rigen nicht möglich ist und der Geschlechtsverkehr mit
Kindern unter 14 Jahren verboten ist .
(Beifall des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE
LINKE])
Bundesminister Heiko Maas
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23467
(A) (C)
(B) (D)
Es ist für uns auch unstrittig, dass es in Deutschland
keine Eheschließung außerhalb deutschen Rechts geben
darf . Aber den vorgeschlagenen Weg zur Bewertung be-
reits bestehender Ehen – darum muss es uns heute ge-
hen – finden wir als Linke höchst bedenklich. Das will
ich deutlich sagen .
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Das sehen nicht nur wir so . Das Deutsche Institut für
Menschenrechte hat in seiner Stellungnahme zu diesem
Gesetzentwurf geschrieben – ich zitiere –:
Eine Regelung, die die Unwirksamkeit jeder Ehe
zur Folge hätte, würde weitreichende Nachteile für
die Minderjährigen nach sich ziehen . Die Ehe hätte
nie bestanden, sodass nicht automatisch Unterhalts-
ansprüche bestehen, sondern diese müssten erst
durch gerichtliche Verfahren geklärt werden . Kinder
aus solchen Ehen würden als nichteheliche Kinder
angesehen . Das damit verbundene soziale Stigma
könnte auch für viele die Bereitschaft zur Rückkehr
in ihre Heimatländer erschweren .
(Dr . Stephan Harbarth [CDU/CSU]: Das gibt
es überhaupt nicht mehr, das soziale Stigma
für nichteheliche Kinder!)
Weitere Folgen wären Existenzprobleme in den Her-
kunftsländern, verlorengegangene Erbschaftsansprüche
sowie der Verlust renten- und sozialrechtlicher Ansprü-
che . Darum kann es uns nicht gehen .
Deswegen bitte ich darum, dass wir auf diese Stel-
lungnahme hören und es uns hier nicht zu einfach ma-
chen . Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der Ko-
alition darum, umzukehren: von einer Bekämpfung von
Kinderehen auf einen Weg des differenzierten Umgangs
mit bestehenden Ehen .
Vielen Dank .
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Ulla Schmidt:
Vielen Dank . – Nächster Redner ist Dr . Stephan
Harbarth, CDU/CSU-Fraktion .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Damit in einem
vergleichsweise kleinen Land wie Deutschland 80 Mil-
lionen Menschen ganz unterschiedlicher Hautfarbe, Re-
ligion und Staatsangehörigkeit weitgehend friedlich und
konfliktfrei miteinander leben, müssen für alle die glei-
chen Regeln gelten . Das kann nur die Rechts- und Werte-
ordnung der Bundesrepublik Deutschland sein .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Zu den Merkmalen, die unsere Werteordnung prägen,
gehört ganz entscheidend die Gleichberechtigung von
Frauen und Männern . Das gilt nicht nur in Sonntagsre-
den, sondern dem müssen wir auch in der gesellschaftli-
chen Realität Rechnung tragen .
Von genau dieser Gleichberechtigung von Männern
und Frauen kann nicht gesprochen werden, wenn Kinder
verheiratet werden . Dies betrifft in aller Regel Mädchen .
In den allermeisten Fällen werden die Mädchen ihrer Le-
bensperspektiven beraubt . Wenn ein Mädchen im Alter
von 12 oder 14 Jahren verheiratet wird, dann hat es regel-
mäßig keine Chance auf Bildung, weder auf schulische
Bildung noch auf berufliche Bildung, keine Chance auf
ein eigenes selbstbestimmtes Leben, keine Chance auf
eine Zukunft, die es selbst gestalten kann . Deshalb ist es
aus meiner Sicht auch für die Integration der Mädchen in
Deutschland ganz essenziell, dass wir ihnen zeigen, dass
sie in Deutschland in einem Land leben, in dem Frauen
dieselben Rechte haben wie Männer .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir treffen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
eine klare Wertentscheidung: Kinderehen werden wir in
Deutschland nicht akzeptieren . – Herr Kollege Petzold,
es macht mich zugegebenermaßen etwas sprachlos, wenn
Sie erklären, die Formulierung, dass wir Kinderehen be-
kämpfen wollen, sei eine rechte Sprache, die wir in die-
sem Haus salonfähig machen . Ich glaube, es ist anders-
herum: Ihr Vorwurf – Sie sind anscheinend der Meinung,
dass die Menschen in unserem Land keine Bekämpfung
von Kinderehen wünschen – zeigt, wie eklatant Sie sich
von der gesellschaftlichen Mitte unseres Landes entfernt
haben .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dieses Projekt ist der Union – deshalb haben wir es
im vergangenen Sommer nach problematischen Ge-
richtsentscheidungen auf die Tagesordnung unserer Vor-
standsklausur gesetzt – wahrlich eine Herzensangelegen-
heit . Es ist aber in der Umsetzung nicht einfach . Wie soll
mit im Ausland geschlossenen Kinderehen in Deutsch-
land konkret verfahren werden? Das Problem resultiert
daraus, dass auf solche Ehen regelmäßig das Recht des
Staates Anwendung findet, dessen Staatsangehörigkeit
die Eheschließenden besitzen .
Wir sehen nun eine klare Regelung vor . War eine
Person zum Zeitpunkt der Eheeingehung unter 16 Jah-
re alt, handelt es sich bei dieser Ehe um eine Nichtehe .
Das bedeutet, dass die Ehe von Anfang an ohne weitere
Entscheidung unwirksam ist; die Ehe wird behandelt, als
hätte es sie nie gegeben . Ist eine Person hingegen zum
Zeitpunkt der Eingehung der Ehe mindestens 16, aber
unter 18 Jahre alt, so ist diese Ehe aufhebbar . Ein Gericht
überprüft auf Antrag der Ehegatten oder der zuständigen
Behörde, ob die Ehe aufzuheben ist, wobei wir die Be-
hörden zur Antragstellung verpflichtet sind.
Die Überprüfung dieser Fälle vor Gericht wird im
beschleunigten Verfahren erfolgen, um den Betroffenen
möglichst schnell Rechtsklarheit zu geben . In aller Regel
sind die Kinderehen dann aufzuheben . In gravierenden
Einzelfällen mag es aus Kindeswohlgründen geboten
sein, die Ehe ausnahmsweise aufrechtzuerhalten, bzw .
kann die Ehe durch die inzwischen volljährigen Ehepart-
ner bestätigt werden .
Beide Modelle, das Nichtigkeitsmodell und das Auf-
hebungsmodell, sind besser als die geltende Rechtsla-
Harald Petzold (Havelland)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723468
(A) (C)
(B) (D)
ge . Ich persönlich halte das Aufhebungsmodell für das
rechtspolitisch beste Modell .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN)
Weil aber beide Modelle besser sind als die gegenwär-
tige Rechtslage, haben wir uns in der Koalition, in den
beiden Koalitionsfraktionen einvernehmlich auf diesen
Kompromiss verständigt .
Damit die verheirateten Kinder nach Grenzübertritt
betreut werden können, stellen wir in dem Gesetzentwurf
klar, dass die Minderjährigen zu ihrem Schutz vorläufig
vom Jugendamt in Obhut genommen und vom Ehegatten
getrennt werden müssen . Wir stellen außerdem sicher,
dass den Kindern durch die Nichtigkeit oder Aufhebung
ihrer Ehe keine aufenthaltsrechtlichen Nachteile entste-
hen .
Wir konkretisieren mit diesen Änderungen gleichsam
den Ordre-public-Vorbehalt . Damit machen wir klar, dass
unsere Wertvorstellungen hier in Deutschland auch für
Zuziehende gelten . Es hat das Kindeswohl Vorrang, und
es gilt die Gleichberechtigung von Mann und Frau, egal
ob man in Deutschland oder andernorts geheiratet hat .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Diese grundsätzlichen Wertentscheidungen begleiten
wir mit einem Verbot traditioneller oder religiöser Trau-
ungen für Minderjährige . Wir bewehren dieses Verbot
auch mit Sanktionen . Um ein klares Signal zu senden,
regeln wir auch das Recht der Eheschließung in Deutsch-
land neu . Eine Ehe darf künftig nicht mehr vor Eintritt
der Volljährigkeit geschlossen werden . Die bisher vor-
gesehene Befreiungsmöglichkeit – Ehen können bislang
in Deutschland mit Genehmigung des Familiengerichts
schon im Alter von 16 bis 18 Jahren eingegangen wer-
den, sofern ein Partner volljährig ist – schaffen wir ab .
Meine Damen und Herren, nach meiner Überzeugung
wird es mit dieser nationalen Maßnahme nicht getan sein .
Was wir auch brauchen werden, ist ein internationaler
Standard, nach dem es in einigen Jahren hoffentlich eine
Selbstverständlichkeit sein wird, dass Kinderehen nicht
nur in Deutschland verboten sind, sondern dass wir welt-
weit sagen: Wir wollen auf diesem Globus keine Kin-
derehen haben .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD)
Meine Damen und Herren, es ist meine Hoffnung und
auch mein Appell, dass wir dieses Gesetzgebungsverfah-
ren nach den intensiven Vorarbeiten nun zügig durchlau-
fen . Jeder Tag, den ein Mädchen bzw . ein Kind in einer
Kinderehe verbringen muss, ist ein Tag zu viel .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Keul, Bünd-
nis 90/Die Grünen .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei aller Aufregung über dieses medial sehr
beachtete Thema will ich eines ganz klar vorausschicken:
Wir sind uns alle einig, dass Kinder und Jugendliche
weltweit nicht heiraten sollten und schon gar nicht von
ihren Eltern verheiratet werden dürfen .
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
Ich gehe bei allen Unterschieden davon aus, dass es in
dieser Debatte allen ernsthaft um das Kindeswohl geht .
Ob dieser Gesetzentwurf allerdings tatsächlich dem Kin-
deswohl dient, darüber sind wir uns nicht einig .
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Fangen wir mit dem einfachen und unstrittigen Teil
an . Die Ausnahmevorschrift im BGB, nach der man in
Deutschland auch zwischen 16 und 18 Jahren heiraten
kann, ist überflüssig. Es gibt heutzutage keinen vernünf-
tigen Grund, warum eine Ehe vor dem 18 . Geburtstag
geschlossen werden müsste . Die Streichung dieser Aus-
nahme ist also richtig .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Stellt sich dennoch heraus, dass ein Ehegatte minderjäh-
rig war, ist die Ehe nach § 1314 BGB aufhebbar . In diesem
Fall stellt also einer der Ehegatten oder die zuständige
Behörde einen gerichtlichen Antrag . Das Familienge-
richt prüft dann, ob die Aufhebung der Ehe sachgerecht
und im Interesse und zum Wohle der Betroffenen ist . Im
gerichtlichen Verfahren werden die Beteiligten selbstver-
ständlich angehört . – So ist die bisherige Rechtslage .
Das gleiche Verfahren findet übrigens Anwendung,
wenn jemand widerrechtlich durch Drohung zur Ehe-
schließung gezwungen worden ist . Da Zwangs- und
Kinderehen in dieser Debatte immer gerne vermischt
werden, sei klargestellt: Zwangsehen sind nicht nur auf-
zuheben, sondern immer auch eine Straftat .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Künftig sollen Eheschließungen von Kindern unter
16 Jahren nicht mehr aufhebbar, sondern nichtig sein .
Dass ein deutscher Standesbeamter versehentlich Ju-
gendliche unter 16 Jahren verheiratet, dürfte ein eher fik-
tiver Fall sein . Praktisch relevant wird die Änderung vor
allem bei Auslandsehen .
Nichtigkeit bedeutet, dass diese Ehen von Gesetzes
wegen von Anfang als unwirksam gelten, ohne dass ir-
gendein Gericht darüber entscheiden müsste . Es gibt also
auch keine Anhörung, und niemand fragt die Betroffenen
nach ihrer Meinung . Auch nach Erreichen der Volljäh-
rigkeit ist und bleibt diese Ehe nichtig . Das kann auch
nicht einmal durch die Bestätigung der Volljährigen ge-
heilt werden .
Ein Fallbeispiel: M . und F . haben in New York ge-
heiratet, als sie 18 und 15 Jahre alt waren . – Ja, in New
Dr. Stephan Harbarth
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23469
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(B) (D)
York darf noch immer mit 14 Jahren geheiratet werden .
In 27 US-Staaten gibt es überhaupt keine Altersbegren-
zung . Dort werden sogar 12-Jährige verheiratet . Alleine
von 2000 bis 2010 wurden in den USA 176 000 Kinder
verheiratet . Wir brauchen also nicht immer nur klischee-
haft auf die arabische Welt zu blicken .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Zurück zu unserem Beispielsfall: Zwei Jahre nach der
Heirat siedeln M . und F . kurz vor dem 18 . Geburtstag der
F . gemeinsam mit ihrem Kind nach Deutschland über . In
diesem Fall ist und bleibt die Ehe nichtig, auch wenn die
F . nach ihrem 18 . Geburtstag bestätigt, dass sie die Ehe
fortführen will . M . und F . merken das möglicherweise
jahrelang auch gar nicht, weil keine Behörde einen An-
lass hat, die Wirksamkeit dieser Ehe zu überprüfen .
Sollte der Vater sterben, müsste das Kind erst einmal
die Vaterschaft nachweisen, bevor es erben kann, da kei-
ne förmliche Vaterschaftsanerkennung vorliegt . Wenn
die Beziehung scheitert, werden die Eheleute vielleicht
zunächst erfreut feststellen, dass sie keinen Scheidungs-
anwalt brauchen, aber auch, dass weder Unterhalts-
ansprüche entstanden sind noch ein Versorgungsaus-
gleich stattfindet. Das dürfte im Zweifelsfall wiederum
zulasten der Jüngeren gehen, also derjenigen, die Sie mit
Ihrem Gesetzentwurf gerade schützen wollen .
Die Scheidungsfolgen würden sich eigentlich nach
amerikanischem Recht richten, weil die Ehe dort ge-
schlossen wurde und die beiden US-Bürger sind . Mit Ih-
rem Gesetzentwurf sperren Sie trotzdem alle Ansprüche
für die F .; denn eine nichtige Ehe kann auch nicht ge-
schieden werden . Das deutsche Familiengericht müsste
den Scheidungsantrag der F . als unzulässig zurückwei-
sen .
Wir zwingen sie so möglicherweise, in die USA zu-
rückzugehen, um dort ihren Scheidungsantrag zu stellen .
Dazu müsste sie wahrscheinlich auch ihr Kind mitneh-
men, weil sonst die deutschen Gerichte international zu-
ständig blieben . Das wiederum hätte zur Folge, dass das
Kind sein Umgangsrecht mit dem Vater nicht mehr aus-
üben könnte . Und was ist, wenn sie jetzt doch aus Syrien
kommen? Wollen wir sie hinsichtlich der Scheidungsfol-
gen darauf verweisen, dass sie wegen des Scheidungsan-
trags zurück nach Damaskus muss?
Wir würden also genau diejenigen, die wir schützen
wollen, schutzlos stellen, und zwar nicht nur, weil sie die
Ehe nie mehr bestätigen können, sondern auch, weil sie
bei einer Trennung keine Ansprüche haben . Die Nichtig-
keit ist also kein gangbarer Weg und schon gar nicht im
Interesse der Betroffenen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Das sehen nicht nur die Grünen so, sondern unter an-
derem auch der Deutsche Juristinnenbund, der Deutsche
Notarverein, der Deutsche Anwaltverein und das Deut-
sche Institut für Menschenrechte . Auch der Landtag von
Nordrhein-Westfalen hat fraktionsübergreifend mit den
Stimmen von CDU und SPD einen entsprechenden ver-
nünftigen Entschließungsantrag beschlossen, und wenn
Sie ehrlich sind, dann geben Sie zu, dass das bis auf die
CSU letztlich auch alle hier im Deutschen Bundestag
vertretenen Parteien erkannt haben .
Lassen Sie sich in dieser Frage bitte nicht schon wie-
der durch diese bayerische Regionalpartei aufgrund de-
ren Profilierungssucht vorführen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Dr . Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Ach
Gott!)
Verheiratete Minderjährige haben es schon schwer ge-
nug . Sie müssen in der Folge nicht noch weiter bestraft
werden .
(Beifall der Abg . Ulle Schauws [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN] und Harald Petzold
[Havelland] [DIE LINKE])
Lassen Sie uns im Sinne des Kindeswohles eine Ko-
alition der Vernunft bilden und die unselige Nichtigkeit
wieder aus dem Gesetzentwurf streichen .
Vielen Dank .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN – Dr . Jan-Marco Luczak
[CDU/CSU]: Sie hatten schon bessere Reden,
Frau Kollegin!)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Der Kollege Dr . Johannes Fechner spricht jetzt für die
SPD .
(Beifall bei der SPD)
Dr. Johannes Fechner (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-
be Zuhörerinnen und Zuhörer auf den Tribünen! Im ver-
gangenen Jahr entschied das OLG Bamberg, dass eine
Ehe zwischen einer 14-Jährigen und einem 21-Jährigen
zulässig sein soll . Das war der Auslöser für eine breite
Diskussion in Deutschland darüber, ob es bei uns weiter
Minderjährigenehen geben darf .
Hält man sich vor Augen, dass die Hälfte der in den
Flüchtlingslagern im Nahen Osten eingegangenen Ehen,
wie wir vom Deutschen Institut für Menschenrechte er-
fahren haben, unter Beteiligung von mindestens einem
Minderjährigen geschlossen wurde, dann stellt man fest,
dass auch hier bei uns erheblicher gesellschaftlicher
Handlungsbedarf besteht .
Oft hat der Druck aus der Familie auf ein Mädchen,
die Ehe mit einem älteren Mann einzugehen, nichts mit
dem Islam zu tun, sondern dahinter steckt meistens der
Wunsch, die wirtschaftliche Existenz dieses Mädchens
zu sichern . Das, meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, halte ich für eine fatale Entwicklung: Wenn ein min-
derjähriges Mädchen aus einem anderen Land zu uns
kommt, dann muss es doch die Antwort eines modernen
Sozialstaats sein, diesem jungen Menschen genügend
Angebote zu machen, ihm Sozialarbeiter zur Seite zu
stellen und die Jugendämter personell gut auszustatten .
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und
von den Linken, die Antwort eines modernen Sozialstaa-
Katja Keul
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723470
(A) (C)
(B) (D)
tes kann dann doch nicht die Empfehlung sein, diese Ehe
zwischen einem minderjährigen Mädchen und einem al-
ten Mann zu akzeptieren, damit das Mädchen dadurch
abgesichert ist .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Harald Petzold [Havelland]
[DIE LINKE]: Das hat auch niemand von uns
gefordert! – Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das hat doch keiner gesagt!
Sie haben gar nicht zugehört! – Katja Keul
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das
behauptet?)
Wir werden mit diesem Gesetzentwurf das Ehemün-
digkeitsalter für Ehen, die in Deutschland geschlossen
wurden, ausnahmslos von 16 auf 18 Jahre heraufsetzen .
Ehen von unter 16-Jährigen sind nichtig, ohne dass es
hierfür eines Aufhebungsverfahrens bedarf . Beson-
ders praktische Relevanz hat das für die im Ausland
geschlossenen Ehen . Ehen von Menschen zwischen 16
und 18 Jahren sind durch richterliche Entscheidung auf-
zuheben . Nur in besonderen Ausnahmefällen – da haben
wir durch unsere Formulierung die Hürden sehr hoch
gelegt – kann ein Gericht von der Aufhebung der Ehe
absehen .
Intensiv haben wir in der Tat darüber diskutiert, ob
nicht alle Ehen von Minderjährigen nichtig sein sollten
oder ob wir uns für das Aufhebungsmodell entscheiden .
Ich finde, wir haben hier einen guten Kompromiss gefun-
den, der darin besteht, die Jugendämter in die Pflicht zu
nehmen . Die Jugendämter müssen ab dem Zeitpunkt der
Kenntnis von der Beteiligung eines Minderjährigen an
der Ehe zwingend einen Aufhebungsantrag stellen . Das
ist eine Mussvorschrift, keine Sollvorschrift . Damit ist
gewährleistet, dass diese Minderjährigenehen auf jeden
Fall von einem Familiengericht überprüft werden .
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Aber nicht für die unter 16-Jährigen! Da stellt
gar keiner mehr einen Antrag!)
Insbesondere für diesen Personenkreis gibt es die Mög-
lichkeit, Frau Kollegin Keul, dass die Ehegatten sagen:
Wir sind zwar als unter 18-Jährige getraut worden, aber
wir führen eine glückliche Ehe . – Diese Entscheidung
können sie als Volljährige treffen .
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das stimmt nicht! Nicht, wenn sie unter 16
waren!)
Dann findet kein Aufhebungsverfahren statt, sodass etwa
die Gastarbeiterfamilien keine Sorge haben müssen, dass
ihre Ehe gerichtlich überprüft wird .
Ein letzter Punkt . Wir gehen mit diesem Gesetz nicht
nur gegen die standesamtlichen Trauungen vor, sondern
wir führen auch ein Verbot für religiöse Trauungen ein,
weil oft der Druck auf Mädchen, sich an einen älteren
Mann zu binden, dann, wenn sie durch eine religiöse
Handlung oder eine traditionelle Handlung getraut wer-
den, genauso hoch ist wie bei einer standesamtlichen
Ehe . Deswegen führen wir ein Bußgeld ein . Wer also
eine solche religiöse Trauung vornimmt, obwohl eine
standesamtliche Ehe nicht möglich ist, der wird mit ei-
nem Bußgeld von bis zu 5 000 Euro belegt .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz
folgen wir nicht irgendwelchen rechtspopulistischen
Sprüchen, sondern wir nehmen die Empfehlungen von
vielen Organisationen, denen der Kinderschutz am Her-
zen liegt, auf . Hiermit schützen wir die Mädchen .
(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die schützen Sie nicht alle! Sie lassen
auch Schutz aus!)
Das ist ein wichtiges Ziel . Deswegen sollten wir diesem
Gesetz zustimmen .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-
Becker für die CDU/CSU .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie-
be Zuhörer und Zuhörerinnen! Es ist gut, dass wir bei
dem wichtigen Vorhaben, Kinderehen zu bekämpfen,
endlich in die parlamentarischen Beratungen eintreten .
Ich halte das für wichtig .
In Deutschland sind Kinderehen sicherlich bisher Ein-
zelfälle . Aber so richtig auf die Agenda gesetzt hat sich
dieses Thema dadurch, dass mit den vielen Menschen,
die als Flüchtlinge und Migranten zu uns gekommen
sind, eben auch verheiratete Minderjährige zu uns ge-
kommen sind . Deshalb müssen wir uns darum kümmern,
wie wir diesen Menschen – meistens sind es junge Mäd-
chen – helfen können, sich aus einer Lage zu befreien, in
die sie sich nicht freiwillig begeben haben .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD)
Denn zum Phänomen der Kinderehe gehört, dass es sich
dabei oft um Zwangsehen handelt – das ist nicht das
Gleiche, aber die Schnittmenge ist groß –, also Ehen, die
nicht freiwillig eingegangen worden sind .
Hinzu kommt häufig, dass das Paar nach unseren Vor-
stellungen nicht zusammenpasst . Dass deutlich ältere
Männer jüngere Frauen heiraten, passt nicht in unsere
Vorstellung hinein und scheint auch besonders zu unter-
streichen, dass es dabei nicht um eine freiwillig einge-
gangene Ehe mit einem selbstgewählten Partner geht .
In manchen Fällen mag der Grund dafür gewesen sein,
dass man auf der Flucht einen Schutz vor Übergriffen
hatte . Aber ich denke, das macht es nicht besser . Gerade
was das von Ihnen genannte Beispiel angeht, Herr Kolle-
ge Petzold, finde ich, dass ein Onkel seiner Nichte auch
dann Schutz gewähren kann, wenn es nicht gleichzeitig
zu einer Ehe zwischen Verwandten kommt .
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Dr. Johannes Fechner
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23471
(A) (C)
(B) (D)
Noch ein Grund kommt typischerweise dazu, nämlich
dass eine solche Ehe in diesem Kulturkreis auch ein an-
deres Bild von Ehe mit sich bringt . Dabei wird von an-
deren ehelichen Pflichten ausgegangen als nach unseren
Vorstellungen .
Wir haben uns letztes Jahr sehr ausführlich mit der
Frage befasst, welche ehelichen Pflichten es gibt, als wir
unter dem Schlagwort „Nein heißt nein“ eindeutig klar-
gestellt haben – darin waren wir uns einig –, dass auch
eine Ehe kein Recht auf sexuelle Übergriffe gibt . Die
Ehen, mit denen wir es in diesem Zusammenhang zu tun
haben, beruhen häufig auf einem anderen Bild der Ehe,
als es bei uns der Fall ist . Deshalb müssen wir hier ein-
greifen . Wir können das so nicht hinnehmen .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Solche Ehen sind für uns aus zwei Gründen nicht
tragbar: Sie sind nicht mit unseren Werten, unseren Vor-
stellungen von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung,
Schutz des Kindes und freier Entfaltung und dem Bild
der Ehe vereinbar, das bei uns darauf beruht, dass zwei
Menschen aus Zuneigung zueinander freiwillig die Ehe
eingehen . Es geht darum, klarzumachen, was bei uns
geht und was nicht .
Noch wichtiger ist aber, dass wir die für die betroffe-
nen Mädchen unerträgliche Situation beenden . Deshalb
schaffen wir zum einen eine sichere Rechtsgrundlage
dafür, dass das Jugendamt sehr schnell und beherzt ein-
greifen kann, und zwar unabhängig davon, ob wir je nach
rechtlicher Konstellation noch eine Ehe nach dem Hei-
matrecht des Paares annehmen .
Zum anderen schaffen wir die rechtliche Grundlage
dafür, diese Ehen zu beenden . Es gab bereits eine leb-
hafte Diskussion darüber, welche rechtliche Konstrukti-
on die bessere ist: die Annahme der Nichtigkeit oder die
Aufhebung im Einzelfall .
(Ulle Schauws [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist der Streitpunkt! Um nichts an-
deres geht es! Und das müssen Sie auch sehr
klar sagen!)
– Das ist der Streitpunkt .
Einigen erscheint die Nichtigkeit richtig . Ich glaube,
dabei spielt häufig eine Rolle, dass man das für das noch
stärkere Verdikt hält; es ist ein noch stärkeres Unwertur-
teil, das für null und nichtig zu erklären . Aber ich denke,
das ist zu kurz gesprungen .
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Ulle Schauws
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es führt zu
Schutzlosigkeit!)
Ich denke, dass die Aufhebung im Einzelfall mit dem
Hoheitsakt durch den Richter, der auch Klarheit darüber
schafft, dass jetzt diese Ehe aufgehoben ist, der bessere
Weg ist . Es wurden bereits einige Nachteile der ange-
nommenen Nichtigkeit genannt . Dazu gehört unter ande-
rem: Sie schafft Unsicherheit für die Kinder, und es gibt
keine Behörde, die verbindlich feststellt, was eigentlich
gilt . Im Vergleich dazu lässt die Aufhebbarkeit auch Platz
für Einzelfallentscheidungen .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte aber auch sagen, welche Begründungen
ich im Rahmen dieser Einzelfallentscheidungen akzep-
tieren könnte und welche nicht. Häufig wird gesagt, dass
man dann, wenn schon ein Kind da ist, die Aufhebbarkeit
der Ehe anders betrachten muss . Solche Gründe kann ich
nicht akzeptieren .
Ich kann auch nicht als Begründung akzeptieren, dass
der Mann das Mädchen unter seinen Schutz genommen
habe . Dazu sage ich ganz klar: Die Zeit, in der der Deal
„eheliche Pflichten gegen männlichen Schutz“ galt, sind
in Deutschland lange vorbei .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD)
Deshalb kann es nur einen einzigen Grund für eine
Ausnahme geben, und das ist die Beziehung selber . Wenn
es eine Beziehung ist, die freiwillig eingegangen wurde
und auf Zuneigung beruht, dann braucht sich der Staat
wirklich nicht darum zu kümmern . Dann muss er sich
zurücknehmen und es akzeptieren . Gerade dann, wenn
die Betroffenen möglicherweise schon nahe an der Voll-
jährigkeit sind, kann man sicherlich eine Ausnahme ma-
chen .
In dem Gesetzentwurf, den wir jetzt in die Beratungen
nehmen, wird noch von einer Kombination ausgegangen:
bei Minderjährigen, die vor dem 16 . Geburtstag geheira-
tet haben, gilt die Nichtigkeit, in den anderen Fällen die
Aufhebbarkeit . Wie gesagt, wir werden uns da auch noch
einmal beraten lassen und dann vielleicht zu noch besse-
ren Erkenntnissen kommen . – Das ist das Kernstück des
Gesetzentwurfs .
Dazu kommen dann die Eingriffsbefugnisse des Ju-
gendamts . Wir setzen das Heiratsalter in Deutschland
konsequent herauf .
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir das Voraus-
trauungsverbot für Religionsgemeinschaften bzw . religi-
öse Ehen und kulturelle Ehen, die vor dem 18 . Geburts-
tag stattfinden, wieder einführen. Das ist sogar mit einer
Ordnungsvorschrift abgesichert . Ich denke, dass wir da-
mit eine gute Basis für die Beratungen haben .
Abschließend möchte ich noch eines sagen: Ich habe
im Herbst 2015 ein Interview mit einem jungen Mädchen
gesehen, das aus Syrien kam und sagte: Ich bin sehr froh,
jetzt in Deutschland zu sein; denn ich habe gehört, dass
junge Mädchen hier nicht von ihren Vätern verheiratet
werden . – Sie hat dieses Glück . Für diejenigen, die das
bisher nicht haben, wollen wir es schaffen .
Vielen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Elisabeth Winkelmeier-Becker
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723472
(A) (C)
(B) (D)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Der Kollege Dr . Fritz Felgentreu spricht jetzt für die
SPD .
(Beifall bei der SPD)
Dr. Fritz Felgentreu (SPD):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Jung gefreit hat nie gereut“ sagt man gerne . Ich kann
bestätigen: Das gibt es auch heute noch . Meine Frau und
ich sind ein Paar, seit sie 16 war und ich 18, und wir kom-
men immer noch ganz gut miteinander aus . Geheiratet
haben wir allerdings erst mit Mitte 20 . Da wussten wir
schon, worauf wir uns einließen .
Wenn wir jetzt im deutschen Recht die Minderjähri-
genehe abschaffen, dann tun wir das deswegen, weil wir
überzeugt sind: Eine so wichtige Entscheidung sollen
nur Erwachsene treffen . Jüngeren Menschen, die sich ih-
rer Liebe sicher sind, können wir abverlangen, mit der
Hochzeit bis zum 18 . Geburtstag zu warten .
Eine Notwendigkeit, schon Minderjährige zu verhei-
raten, verspüren nur Gesellschaften, in denen Jungfräu-
lichkeit und die Familienehre eine höhere Bedeutung
haben als der Jugendschutz und die sexuelle Selbstbe-
stimmung .
Als das BGB geschrieben wurde, dachte man in
Deutschland in vielen Regionen auch noch so . Inzwi-
schen sind wir zum Glück weiter . Deswegen hätten wir
längst den Empfehlungen der Vereinten Nationen, des
Kinderschutzbundes und von Terre des Femmes folgen
sollen, die Minderjährigenehe abzuschaffen .
Davon, dass wir damit nicht mehr warten dürfen, hat
mich eine 14-jährige Berlinerin aus dem Bezirk Neukölln
überzeugt . Die Jugendliche erklärte mir in ganz unschul-
diger Selbstverständlichkeit, dass es in ihrem Umfeld
völlig normal sei, mit 14 zu heiraten – nicht in Syrien,
nicht in Afghanistan und auch nicht in Kentucky, sondern
hier in Berlin, mitten in Europa . Sie sah darin auch gar
kein Problem . Es gehe schließlich darum, dass sich ihr
Vater nicht für sie schämen müsse . Und außerdem werde
sie ja nicht zu der Ehe gezwungen .
Mir hat dieses Gespräch klargemacht: Es geht bei
der Ehe ab 18 nicht um eine Rechtskorrektur, die durch
gesellschaftliche Entwicklungen überfällig war . Es geht
auch nicht nur um Jugendschutz und Rechte von Mäd-
chen und Frauen in Verbindung mit Einwanderung, son-
dern es geht auch um die Rechte von Mädchen und Frau-
en, die bei uns geboren und aufgewachsen sind . Unsere
Einwanderungsgesellschaft mit ihren unzähligen ver-
schiedenen Erfahrungs- und Wertehorizonten braucht da,
wo es um fundamentale Rechte und Werte geht, eindeu-
tige und leicht verständliche Regeln, die für alle gleich
sind und die möglichst keine Ausnahmen kennen .
Einen Kulturrabatt dürfen wir beim Jugendschutz und
bei den Rechten von Mädchen und Frauen nicht gewäh-
ren .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Sonst versündigen wir uns an unserer Jugend und poten-
zieren die Probleme in der nächsten Generation .
Deshalb halte ich den Gesetzentwurf von Justizminis-
ter Heiko Maas für einen wichtigen Fortschritt zum rich-
tigen Zeitpunkt . Ich bedanke mich dafür und freue mich
auf die parlamentarische Beratung .
Vielen Dank .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Zum Abschluss dieser Aussprache hat der Kollege
Alexander Hoffmann für die CDU/CSU das Wort .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Alexander Hoffmann (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatten über Kinderehen in unse-
rem Land wecken seit Monaten Emotionen . Die Gründe
liegen auf der Hand . Es geht um den Schutz von Min-
derjährigen, das Kindeswohl und den Schutz von Frau-
en . Am Ende geht es aber auch um die banale, nackte
Frage: Welche Regeln gelten, wenn Tausende Menschen
in unser Land kommen? Ich will es vorwegnehmen . In
unserem Rechtsstaat kann die Antwort nur lauten: Unse-
re Regeln gelten . – Ich möchte davor warnen, dass wir in
dieser Debatte versuchen, dieses Problem zu relativieren,
es mit wortreichen Argumenten, wie es die Opposition
macht, kleinzureden .
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das haben Sie von mir nicht gehört!)
Kollege Fechner hat vorhin geschildert, wie es in Flücht-
lingslagern ausschaut . Mit Stand September 2016 waren
laut Ausländerzentralregister 1 475 minderjährige Men-
schen verheiratet . Davon waren 994 zwischen 16 und
18 Jahre, 120 zwischen 14 und 16 Jahre sowie sage und
schreibe 361 unter 14 Jahre alt, also Kinder .
Unsere Regeln gelten . Die Rechtslage in unserem
Land sieht vor, dass die Ehemündigkeit erst mit 18 Jah-
ren erreicht wird . Mit unter 16 Jahren kann keine Ehe
wirksam geschlossen werden . Wenn die Betreffenden
zwischen 16 und unter 18 Jahre alt sind, ist eine Ehe-
schließung nur im Einzelfall und mit Genehmigung des
Familiengerichts möglich . Ich bin froh, dass der vorlie-
gende Gesetzentwurf genau diesen Ansatzpunkt dem
Grunde nach aufgreift und festlegt, dass Ehen bei unter
16-Jährigen grundsätzlich nichtig sind und dass Ehen,
bei denen die Betreffenden zwischen 16 und 18 Jahre alt
sind, aufhebbar sind .
Justizminister Heiko Maas hat am Anfang für die
Aufhebungslösung geworben . Danach sollten Ehen von
Kindern zunächst einmal Geltung beanspruchen . Eine
Aufhebung sollte dann im Einzelfallverfahren überprüft
werden . Aber ich glaube – das will ich Ihnen im Fol-
genden zeigen –, dass die Nichtigkeitslösung die einzig
zwingende Konsequenz sein kann, wenn wir uns mit der
Herausforderung in dieser Größenordnung tiefer befas-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23473
(A) (C)
(B) (D)
sen und den Fokus auf das Kindeswohl und den Schutz
junger Mädchen legen .
Das Argument für die Aufhebungslösung lautet, eine
Auflösung habe weitreichende Folgen, die beispielswei-
se Unterhaltsansprüche und Erbschaftsansprüche betref-
fen . Diese Ansprüche würden den betreffenden Frauen
verlustig gehen, wenn von Anfang an von der Nichtigkeit
ausgegangen werde . Aber diese Argumentation ist wahr-
scheinlich im Wesentlichen theoretischer Natur;
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Hä?)
denn bei den Ehen, die wir im Auge haben, und den Kon-
stellationen, denen wir begegnen wollen, handelt es sich
vor allem um Flüchtlinge, die ohne Hab und Gut in unser
Land gekommen sind . In diesen Fällen stellt sich die Un-
terhaltsfrage nicht ernsthaft, weil im Wesentlichen alles
von der öffentlichen Hand übernommen wird .
(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Was ist das für eine Einstellung? – Maria
Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir reden doch hier über Rechte, nicht
über Statistiken!)
Wir sollten zudem die Signalwirkung der Nichtigkeitslö-
sung nicht unterschätzen .
Befassen wir uns einmal mit einem möglichen Auf-
hebungsverfahren . Es gibt Experten, die sagen, dass ein
Aufhebungsverfahren zwischen drei und sechs Monaten
dauern könnte, und zwar allein schon deswegen, weil die
Zuständigkeit deutscher Gerichte in der Regel erst nach
drei bis sechs Monaten begründet ist . Der gewöhnliche
Aufenthalt in Deutschland muss nämlich begründet sein .
Dafür sieht die Rechtsprechung eine Aufenthaltsdauer
von drei bis sechs Monaten vor . So lange soll die Ehe ei-
nes Kindes in unserem Land fortbestehen, einschließlich
aller ehelichen Rechte und Pflichten? Ich bin dem baye-
rischen Justizminister Winfried Bausback sehr dankbar,
dass er diese Diskussion angefacht hat, dieser schwieri-
gen Frage nicht aus dem Weg gegangen ist und immer
wieder Werbung für die Nichtigkeitslösung gemacht hat,
die in meinen Augen das einzig richtige Signal ist .
Ich will Ihnen am Ende meines Redebeitrags noch sa-
gen, dass ich die Hoffnung habe, dass wir uns im parla-
mentarischen Verfahren mit einer Nichtigkeitslösung so-
gar in der Altersspanne von 16 bis 18 Jahre anfreunden,
wenn die Ehe in einem Land geschlossen wurde, bei dem
wir schon von vornherein ausschließen können, dass dort
ein ausreichender Schutz von Frauen gewährleistet ist .
Wenn heutzutage ein Mädchen im Alter von 16 Jahren
in einem Flüchtlingslager oder in Syrien oder Afghanis-
tan verheiratet wird, dann können wir, wenn wir ehrlich
sind, mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent aus-
schließen, dass es sich um eine freiwillige Eheschließung
handelt . Vielmehr wird diese junge Frau durch gesell-
schaftliche Konventionen und religiöse Erwartungen in
diese Ehe gezwungen . Dafür sollten wir die eindeutige
Antwort der Nichtigkeit parat haben .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich freue mich auf die weiteren parlamentarischen Bera-
tungen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg .
Dr . Fritz Felgentreu [SPD])
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Mit diesem Beitrag sind wir zum Ende dieser Aus-
sprache gekommen, die ich hiermit schließe .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf der Drucksache 18/12086 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . – Andere Vor-
schläge sehe ich nicht . Dann ist die Überweisung so be-
schlossen .
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 41 a und 41 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Jetzt verbindliche Personalbemessung in den
Krankenhäusern durchsetzen
Drucksache 18/11749
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Gesundheit (14 . Aus-
schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann (Zwickau),
Matthias W . Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Krankenhäuser gemeinwohlorientiert und be-
darfsgerecht finanzieren
Drucksachen 18/6326, 18/12142
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Widerspruch
dagegen erhebt sich keiner . Dann ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Harald Weinberg für die Fraktion Die
Linke das Wort .
(Beifall bei der LINKEN)
Harald Weinberg (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Präsident . – Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! In der De-
batte unter den Pflegekräften in den Krankenhäusern – es
gibt so etwas wie eine Widerstandsbewegung gegen den
Pflegenotstand – ist ein neuer Begriff geprägt worden.
Es ist der Begriff „Pflexit“. Das hängt stark mit der nach
wie vor unerträglichen Situation in der stationären Pflege
zusammen . Zwei Zitate aus einem der vielen Berichte,
die mich in den letzten Wochen erreicht haben, mögen
das verdeutlichen .
Ich zitiere:
Meine Kollegen und ich versorgen überwiegend
Menschen, die dem Tod näher sind als dem Leben .
Sie können nicht aufstehen, sich nicht aufsetzen,
sich nicht selbst auf die Seite drehen . Sie können
Alexander Hoffmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723474
(A) (C)
(B) (D)
nicht selbst essen, sich nicht bemerkbar machen,
ihre Ausscheidungen nicht kontrollieren, oftmals
wissen sie nicht, wo sie sind . Sie haben Angst,
oftmals Schmerzen . Sie wiegen zwischen 60 und
120 Kilogramm . Ich habe heute neun dieser Men-
schen allein gewaschen, gelagert, von ihren Aus-
scheidungen befreit, ihnen den Schleim, den sie
nicht abhusten können, aus den Atemwegen ge-
saugt, teelöffelweise Brei und Flüssigkeit gereicht,
erkannt, ob sie Schmerzen haben, und darauf ent-
sprechend reagiert .
Dieser Bericht endet:
Nur die Fallzahlen sind wichtig . Krankenhäuser
müssen Geld verdienen . Ob Menschen deshalb
Schaden nehmen, gleichgültig ob nun zu Pflegende
oder Pflegende, kümmert niemanden. Meine Kolle-
gen und ich haben zu viel Schaden genommen . Uns
bleibt nur der Pflexit.
Das ist ein Beispiel, das zeigt, wie sich die Situation
zugespitzt hat . Der Druck ist enorm . Es gibt keine Zeit
mehr, zu warten . Ich weiß, jetzt kommt der Verweis auf
das Krankenhausstrukturgesetz und darauf, dass man
schon so viel getan habe .
(Mechthild Rawert [SPD]: Hat!)
Mir geht es wie den Pflegekräften selber: Ich kann das
fast nicht mehr hören . Aber für die Öffentlichkeit muss
ich natürlich trotzdem auf die einzelnen Punkte eingehen .
Der Versorgungszuschlag in Höhe von 500 Milli-
onen Euro, den es vorher schon gab, wurde zu einem
Pflegezuschlag umetikettiert. Das ist ein schöner Erfolg
für die Krankenhäuser, mit Sicherheit . Deren Protest hat
sich gelohnt . Die können das Geld sicher gut gebrau-
chen . Aber es gibt nach wie vor keine Zweckbindung .
Das heißt, das Krankenhaus kann das Geld auch für ganz
andere Dinge als die Pflege nehmen. Das ist erst einmal
die Situation . Insofern ist das am Ende eigentlich ein Eti-
kettenschwindel .
(Beifall bei der LINKEN)
Sie haben ein Pflegeförderprogramm aufgelegt. Nun,
das ist schon besser, aber es ist viel zu gering dimensio-
niert . Es gibt einen Eigenanteil von 10 Prozent, den die
Krankenhäuser selber aufbringen müssen und den viele
wirtschaftlich klamme Häuser nicht aufbringen können
oder wollen. Viele finden das Verfahren recht kompli-
ziert . Besonders in kleinen und mittleren Häusern wurde
mir mehrmals berichtet, dass sie das Programm deswe-
gen nicht wahrnehmen . Deswegen wird die Wirkung hier
sehr bescheiden bleiben . Wenn das Programm vollstän-
dig ausgeschöpft würde, könnten damit 6 500 Stellen
finanziert werden. Wir haben aber Informationen von
Professor Simon, dass 100 000 Stellen fehlen . Das ist
eine riesengroße Lücke . Das heißt, das Programm ist ein
Tropfen auf den heißen Stein .
Dann haben Sie eine Expertenkommission eingerich-
tet . Ja, die hat mehrmals getagt . Nun wurde auch noch
ein Gutachten erstellt, und – tata – die Personalunter-
grenzen sollen kommen . Das ist schon einmal ein Erfolg
des Protests, auf jeden Fall . Das muss man an der Stelle
festhalten .
(Beifall bei der LINKEN)
Das Problem ist zumindest angekommen . Aber wann
sollen die Personaluntergrenzen kommen? Frühestens
greifen werden diese Untergrenzen Anfang 2019 . Wie
sollen sie kommen? Sie wollen diejenigen, die bereits
öffentlich bekundet haben, dass sie eigentlich kein In-
teresse an den Pflegeuntergrenzen haben, nämlich die
Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Kassen, dazu
verpflichten, gemeinsam darüber zu verhandeln, wie sie
etwas zustande bringen, woran sie kein Interesse haben .
Das ist eine bemerkenswerte Geschichte .
Natürlich kann man sagen: Die Selbstverwaltung im
Gesundheitswesen ist immer etwas extrem Wichtiges . Es
sollen auch noch weitere gesellschaftliche Gruppen hin-
zugezogen werden . Ich war gestern auf einer Podiums-
diskussion . Da hat ein Vertreter des Verbandes Christ-
liche Krankenhäuser in Deutschland mir gegenüber
gesagt, er gehe davon aus, es werde auf jeden Fall eine
Ersatzvornahme geben müssen .
Nur, wir verlieren Zeit; denn Sie geben den Selbst-
verwaltungspartnern bis Juni 2018 Zeit, darüber zu ver-
handeln . Erst dann, wenn die Verhandlungen scheitern
sollten, soll das Bundesgesundheitsministerium eine
Ersatzvornahme durchführen, die dann zum Januar 2019
wirkt . Diese Zeit haben wir nicht mehr .
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
So etwas nennt man im Volksmund auch: auf die lange
Bank schieben . – Aber dazu gibt es eben keine Zeit mehr .
Die Wurzel des Übels, nämlich die völlig falsche Fi-
nanzierung der Krankenhäuser, die Profitorientierung der
Privaten, die Privatisierungen, die diagnoseorientierten
Fallpauschalen, die die in den Krankenhäusern Beschäf-
tigten stets in einen Konflikt zwischen medizinischer
Ethik auf der einen Seite und Monetik auf der anderen
Seite bringen, wollen Sie nicht beseitigen . Das haben
wir schon gemerkt; schließlich haben Sie im Ausschuss
unseren Antrag, Krankenhäuser gemeinwohlorientiert zu
finanzieren, sang- und klanglos abgelehnt.
Aber in Bezug auf den Personalnotstand brauchen wir
jetzt sofort Abhilfe .
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN – Mechthild Rawert
[SPD]: Das stimmt!)
Daher geben wir Ihnen die Chance, unserem Antrag auf
Sofortmaßnahmen jetzt sofort zuzustimmen . Deswegen
haben wir ihn vorgelegt .
(Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert
[SPD]: Ein bisschen Ausbildung brauchen wir
aber auch noch!)
Liebe sozialdemokratische Kolleginnen und Kolle-
gen, ich weiß sehr wohl, dass viele von euch Erstunter-
zeichner eines Appells von Verdi für mehr Krankenhaus-
personal sind . Mir liegt die entsprechende Ausgabe für
Franken vor . Sie wurde von vielen sozialdemokratischen
Harald Weinberg
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23475
(A) (C)
(B) (D)
Abgeordneten unterzeichnet . Ich sage einmal: Es ist
wichtig, als Erstunterzeichner einen solchen Appell zu
unterstützen . Aber jetzt müsst ihr auch mutig sein, Butter
bei die Fische zu tun . Nicht allein an den Worten, auch an
den Taten sollt ihr sie erkennen .
(Beifall bei der LINKEN)
Insofern fordere ich alle auf, die Erstunterzeichner dieses
Appells sind, mit uns für diesen Antrag zu stimmen .
Vielen Dank .
(Beifall bei der LINKEN – Mechthild Rawert
[SPD]: Was für eine Enttäuschung, dass wir
nicht zustimmen werden!)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Lothar
Riebsamen .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Lothar Riebsamen (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
unterhalten uns heute über zwei Anträge der Fraktion der
Linken . Der erste Antrag befasst sich mit der Kranken-
hausfinanzierung, und der zweite Antrag befasst sich mit
dem Thema Pflegepersonal. Ich gestehe Ihnen zu, dass
das in gewisser Weise durchaus folgerichtig, vielleicht
sogar wohl überlegt ist; denn Sie haben erkannt, dass wir
mit dem Krankenhausstrukturgesetz – Herr Weinberg,
Sie haben das gerade richtig ausgeführt – das Thema
Krankenhausfinanzierung im laufenden Betrieb so gut
bewältigt haben, wie wir, der Bund, es bewältigen kön-
nen. Wir haben zunächst einmal die finanziellen Voraus-
setzungen dafür geschaffen, dass Sie einen Antrag stellen
können . Dies wäre allerdings nicht nötig gewesen, weil
das Krankenhausstrukturgesetz schon alle notwendigen
Regelungen enthält . Jetzt ist es möglich, sich auch mit
dem Thema „mehr Pflegepersonal“ auseinanderzusetzen.
Ich denke, dass wir mit dem Krankenhausstrukturge-
setz unsere Hausaufgaben gemacht haben, dass wir uns
aber auch schon vorher mit dem Thema Pflege intensiv
auseinandergesetzt haben . Es ist richtig: Es gab Ende der
90er-Jahre 350 000 Vollzeitpflegekräfte. Die Anzahl der
Pflegekräfte ist auf 300 000 Vollzeitpflegekräfte zurück-
gegangen. Das war dramatisch. Dass wir 50 000 Pflege-
kräfte verloren haben, war – das räume ich ein – der An-
wendung der DRG und anderer Sachverhalte geschuldet .
Aber bereits seit 2009 sind wieder 50 000 Pflegekräfte
mehr an Bord – deswegen ist dieser Verlust von damals
kein aktuelles Thema –; allerdings sind insgesamt immer
noch zu wenige Pflegekräfte vorhanden.
Wir haben schwerere Fälle als damals . Wir haben mehr
Fälle als damals .
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: In viel kürzerer Zeit!)
Deswegen brauchen wir in der Tat über die 350 000 hi-
naus zusätzliche Pflegekräfte.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Es ist nicht nur der Gesetzgebung zu verdanken, dass
diese Stellen aufgebaut wurden; auch die Krankenhäu-
ser – das muss man schon auch einmal positiv herausstel-
len – haben ein Interesse daran, gute Qualität zu leisten,
und das konnten sie in der Vergangenheit schlicht und
ergreifend nicht mehr, haben da auch aktuell Probleme .
Deswegen haben die Krankenhäuser durchaus ein Eigen-
interesse daran gehabt, das Thema Qualität und auch das
Thema Qualitätswettbewerb bei sich in den Vordergrund
zu stellen .
Die Gründe, warum gespart wurde – da gebe ich Ihnen
teilweise recht –: Es geht zum Teil um Renditeerwartun-
gen . Es geht um Minimierung von Verlusten; das gehört
mit dazu . Aber es gibt noch einen Punkt, den Sie nicht
angesprochen haben, den ich aber für den wichtigsten
halte: Nach wie vor werden dem laufenden Betrieb Mit-
tel entzogen, auch natürlich beim Pflegepersonal, um zu
investieren . Das liegt daran, dass die Länder ihrer Aufga-
be, die Investitionskosten zu 100 Prozent zu tragen, nicht
nachkommen .
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja, da haben Sie bei der Kranken-
hausreform versagt!)
Das muss abgestellt werden . Das ist der allerwichtigste
Punkt, um im Pflegebereich voranzukommen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Harald Weinberg
[DIE LINKE]: Das hätten Sie bei den letzten
Haushaltsberatungen machen können!)
Nun haben wir eine Expertenkommission, die auch
nach dem Inkrafttreten des Krankenhausstrukturgeset-
zes tätig ist . Was den Versorgungszuschlag angeht, die
Umwandlung des Versorgungszuschlags in einen Pflege-
zuschlag, muss ich schon noch etwas korrigieren, Herr
Weinberg . In der Tat, die Mehreinnahmen können auch
für andere Dinge verwendet werden . Aber das Geld be-
kommen nur die Krankenhäuser, die ordentlich mit Pfle-
gepersonal ausgestattet sind . Es werden die Krankenhäu-
ser belohnt, die gut mit Pflegepersonal ausgestattet sind.
Darauf haben wir unser Augenmerk gelegt .
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wie stellen Sie denn fest, ob die
gut ausgestattet sind?)
Nun zur Expertenkommission . Auch hier haben wir
bereits Sofortmaßnahmen ergriffen . Es geht gar nicht
allein um die Dinge, die Sie aufgezählt haben . Einiges
ist sogar schon in Kraft . Bereits seit Januar 2017 ist die
Regelung in Kraft, dass hochaufwendige Pflege in den
DRGs abgebildet wird . Dafür brauchen wir kein Gesetz .
Das hat die Selbstverwaltung erledigt . In den DRGs ist
die hochaufwendige Pflege eingepreist.
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist ein Minimalausschnitt
von Pflege! Ein minimaler Ausschnitt!)
Dann haben wir die Sachkosten deutlich abgesenkt –
zugunsten der Personalkosten, zugunsten des Pflegeper-
sonals . Auch das ist schon erledigt .
Wie Sie wissen, haben wir im SGB XI die Pflegegrade
eingeführt . Jetzt hat die Selbstverwaltung den Auftrag,
Harald Weinberg
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723476
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zum 1. Januar 2018 die Pflegegrade, Stichwort „Demenz
im Krankenhaus“, unmittelbar in den DRGs abzubilden .
Das hat mit der Expertenkommission gar nichts zu tun .
Das sind Dinge, die sofort wirken .
Nun komme ich zu den Mindestausstattungen in der
Pflege. Ich halte es für das Normalste der Welt, dass wir
diejenigen damit beauftragen, sich damit auseinanderzu-
setzen, die dafür in unserem Land zuständig sind, auch
gesetzlich dafür zuständig sind, und das ist die Selbst-
verwaltung, in dem Fall die Deutsche Krankenhausge-
sellschaft und der GKV-Spitzenverband . Die haben sich
nicht irgendwann, sondern fristgerecht auf eine Min-
destausstattung in der Pflege, in sensitiven Bereichen,
im Intensivbereich und im Bereich der Nachtwachen, die
auch dazugehören, zu einigen . Wenn die nicht zu Pot-
te kommen, kommt es zu einer Ersatzvornahme . Wenn
sich Krankenhäuser nicht daran halten, dann gibt es ei-
nen Abschlag . Da wird ganz eindeutig auch sanktioniert .
Es wird sich zukünftig keiner in den Krankenhäusern der
Mindestausstattung in der Pflege entziehen können. Dies
ist ein wichtiger Schritt .
Was Sie vorschlagen – Selbstkostendeckung, An-
haltszahlen –, hatten wir alles schon . Das haben wir hier
bereits vor 20 oder 30 Jahren diskutiert und dann abge-
schafft, weil es nicht funktioniert hat,
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Weil es zu
teuer wurde!)
weil auch Anhaltszahlen dazu führen, dass man Mehr-
leistungen erbringt, um mehr Personal einstellen zu kön-
nen. Es war nicht finanzierbar. Deswegen wird dies mit
Sicherheit nicht der Weg für die Zukunft sein . Es ist rück-
wärtsgewandte Politik, und wir wenden uns nach vorn .
Wir denken, wir haben einen guten Weg, vor allem ei-
nen ehrlichen Weg, einen realistischen Weg eingeschla-
gen, haben die richtigen Leitplanken gesetzt bzw . wer-
den sie mit der Mindestausstattung in der Pflege setzen,
sodass wir auch in Zukunft eine gute Pflege in unseren
Krankenhäusern haben werden .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elisabeth
Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen .
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Vielen Dank . – Sehr geehrter Herr Präsident! Frau
Staatssekretärin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir alle hier wol-
len eine hochwertige Versorgung der Patientinnen und
Patienten in deutschen Krankenhäusern . Ich glaube, auf
dieses Ziel können wir uns auch alle hier im Haus immer
verständigen . Bei der Umsetzung wird es dann schon ein
bisschen schwieriger . Dazu muss man klären: Was ist
denn überhaupt gute Versorgung? Was darf gute Versor-
gung kosten? Und wie soll sie bezahlt werden?
Die Vorschläge der Linken zur Reform der Kranken-
hausfinanzierung zeichnen das Bild eines staatlichen
Gesundheitssystems . Leider ist die Perspektive der Pa-
tientinnen und Patienten für uns hier nicht ausreichend
abgebildet . Es bleiben viele Fragen offen . Die kranken-
hausindividuellen Kosten sollen erstattet werden . Aber
wie werden diese Istkosten denn eigentlich festgestellt?
Das erfordert einen enormen bürokratischen Aufwand .
Und wie kann man verhindern, dass dadurch die Ausga-
ben ins Unermessliche steigen und das dann am Ende des
Tages zulasten der Beitragszahlerinnen und Beitragszah-
ler geht?
Das DRG-System ist nicht schuld an der prekären
Lage mancher Kliniken . Schuld daran trägt vor allem
die unzureichende Investitionskostenfinanzierung durch
die Länder . Die Kliniken sind gezwungen, notwendige
Investitionen aus laufenden Betriebskosten oder eben
auch durch die Aufnahme von Krediten zu finanzieren.
Das geht auch zulasten der Pflegekräfte, und es schadet
letztendlich den Patientinnen und Patienten .
Die Koalition hat dieses heikle Thema bei ihrer Kran-
kenhausreform einfach ignoriert .
(Mechthild Rawert [SPD]: So ein Quatsch!)
Wir schlagen seit langem vor, die Investitionskosten hälf-
tig zwischen Ländern und Kassen zu teilen . Im Gegenzug
sollen die Kassen ein Mitspracherecht bei der Kranken-
hausplanung bekommen .
Eine gute Versorgung im Krankenhaus funktioniert
nur mit einer ausreichenden Anzahl gut ausgebildeter
Pflegekräfte. Von den Kompetenzen dieser Pflegekräf-
te hängt es wesentlich ab, ob nach einer Operation bei-
spielsweise eine Infektion auftritt oder eben auch nicht,
ob eine Wunde gut verheilt oder nicht und ob sich Wund-
geschwüre entwickeln oder nicht . Von ihnen hängt ab,
ob Patientinnen und Patienten wieder zügig mobilisiert
werden können .
Die Realität sieht oft ganz anders aus . Der Arbeits-
druck steigt permanent, und es gibt viel zu wenige Pfle-
gekräfte . Das ist uns allen hier seit langem bekannt . Und
doch passiert seit vielen Jahren viel zu wenig . Ja, es gibt
das Pflegestellenförderprogramm, und es gibt den Pfle-
gezuschlag . Doch all das ist nur ein Tropfen auf den
heißen Stein ohne große Wirkung . Und dieser Tropfen
ist, ehrlich gesagt, schon verdampft, bevor er überhaupt
bemerkt wird .
Das sehen auch die Pflegekräfte in den Kliniken so.
Sie melden sich – und das im besten Sinne – lautstark
zu Wort . Sie streiken sogar für ihre Rechte . Und das ist
gut so . Beispielsweise geschah das im letzten Jahr an der
Berliner Charité .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
Jetzt, kurz vor Schluss der Wahlperiode, hat die Kom-
mission zur Pflege im Krankenhaus ihre Vorschläge
vorgelegt . Das sind enttäuschende Vorschläge . Es gibt
kein wissenschaftlich basiertes Instrument, mit dem die
Zahl der notwendigen Fachkräfte ermittelt werden kann .
Stattdessen sollen die Kassen und die Krankenhäuser
Lothar Riebsamen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23477
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Personaluntergrenzen in pflegesensitiven Bereichen fest-
legen . Das sind gleich drei Fehler . Da wird der Bock zum
Gärtner gemacht; denn Kassen und Krankenhäuser sind
absolut die Falschen, wenn es darum geht, diese Dinge
festzulegen. Sie verfolgen finanzielle Interessen und sind
nicht zwangsläufig darauf ausgerichtet, mehr Geld für
Personal auszugeben . Und Untergrenzen bedeuten „das
Mindeste“ und nicht „das Optimale“ .
Wir brauchen überall mehr Personal – nicht nur in be-
stimmten Bereichen . Wir brauchen – wie es auch von den
Kliniken gefordert wird – bundesweit verbindliche Per-
sonalbemessungszahlen, die von Expertinnen und Exper-
ten festgelegt werden .
Die Bundesregierung geht zudem davon aus, dass das
derzeit für die Pflege im Krankenhaus vorgesehene Geld
aus Sonderprogrammen und Pflegezuschlag für die Fi-
nanzierung von mehr Pflegepersonal ausreicht. Das heißt,
es erfolgt keine Verbesserung gegenüber dem Status quo .
Auch wird nach wie vor nicht geklärt, wie das Geld auch
wirklich sicher bei dem Pflegepersonal ankommen soll.
Die Ergebnisse der Arbeit der Pflegekommission, die
noch vor der Wahl mit viel Getöse umgesetzt werden sol-
len, sind nicht mehr als ein warmer Händedruck für die
vielen überlasteten Pflegerinnen und Pfleger in den deut-
schen Krankenhäusern . Ich empfehle Ihnen: Kommen
Sie mit der Pflege direkt ins Gespräch.
(Mechthild Rawert [SPD]: Immerzu!)
In der übernächsten Woche, am 12 . Mai, ist der Inter-
nationale Tag der Pflege.
(Mechthild Rawert [SPD]: Ich bin Laudatorin
am Tag der Pflege!)
Ich empfehle Ihnen: Gehen Sie zum Brandenburger Tor .
Da gibt es eine Kundgebung von „Pflege in Bewegung“.
Da haben Sie ausreichend Gelegenheit, mit den Kräften
ins Gespräch zu kommen . Da werden Sie eine direkte
Rückmeldung auf Ihre Politik kriegen .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN –
Mechthild Rawert [SPD]: Um 12 Uhr ist der
Fototermin!)
Mein bitteres Fazit: Diese Vorschläge werden nicht für
mehr Fachkräfte sorgen und darum am Ende des Tages
auch nicht die Versorgung der Patientinnen und Patienten
verbessern .
Vielen Dank .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marina Kermer für die
SPD .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Marina Kermer (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich den-
ke, wir alle sind uns einig, dass ausreichendes und gut
qualifiziertes Pflegepersonal der Schlüssel zu qualitativ
hochwertiger Pflege ist.
(Mechthild Rawert [SPD]: Jawohl!)
Denn ein komplexer und hochprofessioneller operativer
Eingriff kann nur erfolgreich sein, wenn eine gute Wund-
versorgung und die Einhaltung von Hygienevorschriften
garantiert sind . Insofern ist das Anliegen der uns vorlie-
genden Anträge ja nicht falsch . Im Gegenteil: Es ist gut
und richtig, den Finger immer wieder in die Wunde zu
legen und auf die Probleme des Pflegepersonals hinzu-
weisen .
(Beifall bei der SPD)
In vielen Krankenhäusern und Kliniken klagen die
Pflegerinnen und Pfleger über zu wenig Personal und zu
viel Arbeit bei der Pflege am Bett, direkt beim Patien-
ten . Als Regierungskoalition haben wir in dieser Legis-
latur mit verschiedenen Gesetzen, insbesondere mit dem
Krankenhausstrukturgesetz in 2015, aktiv begonnen, Ab-
hilfe zu schaffen . Mit anderen Worten: Damit sind wir
erheblich weiter als in den Anträgen gefordert . Wir sind
nämlich bereits auf dem Lösungsweg .
(Beifall bei der SPD)
Aktuell beraten wir die Einführung von verbindlichen
Pflegepersonaluntergrenzen in pflegesensitiven Berei-
chen. Das ist ein wichtiges Zeichen für die Pflegerinnen
und Pfleger in unseren Krankenhäusern, und es ist ein
wesentlicher Baustein, um langfristig zu generellen Per-
sonalbemessungsstandards zu kommen .
(Beifall bei der SPD)
Warum? Mit dem Krankenhausstrukturgesetz wurden
umfassende Maßnahmen zur Sicherung der Kranken-
hausversorgung in Deutschland beschlossen . Seit 2016
können die Krankenhäuser erhebliche Mittel für mehr
Personal abrufen . Nur: Mehr Geld für Personal allein hilft
nicht, den Pflegenotstand in vielen Regionen aufzulösen.
Es braucht strukturelle Veränderungen und Strategien,
um mit den verfügbaren Fachkräften auch die Qualität
zu sichern . Mit dem Krankenhausstrukturgesetz wurde
die Einsetzung einer Expertenkommission beschlossen,
deren Aufgabe es ist, bis Ende 2017 erstens die erhöh-
ten Pflegebedarfe durch demenzielle oder sonstige Ein-
schränkungen der Patienten darzustellen, zweitens Ver-
besserungen des allgemeinen Pflegebedarfs aufzuzeigen
und drittens die Gelder aus dem Pflegestellen-Förderpro-
gramm auf Dauer zu sichern . Meine Damen und Herren,
das Ergebnis liegt bereits vor – ein Zeichen, wie intensiv
die Kommission gearbeitet hat . Vielen Dank dafür allen
Beteiligten!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ein Ergebnis der Arbeit der Expertenkommission ist
die Feststellung, dass wir Pflegepersonaluntergrenzen
besonders in pflegesensitiven Bereichen brauchen. Das
wollen wir umsetzen; denn Pflegepersonaluntergrenzen
legen fest, wie viele Pflegekräfte pro Patient in pflege-
sensitiven Bereichen arbeiten müssen . Damit werden wir
die Pflegekräfte in diesen Bereichen aus dem Zustand der
Elisabeth Scharfenberg
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Dauerüberlastung befreien und ihnen das zurückgeben,
was den eigentlichen Sinn ihrer Arbeit ausmacht: Zeit
für die Versorgung der Patientinnen und Patienten . Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern seit
langem eine generelle Personalbemessung . In dieser Wo-
che sind wir diesbezüglich einen entscheidenden Schritt
weitergekommen .
(Beifall bei der SPD)
Wer allerdings einwendet, Pflegepersonaluntergren-
zen seien keine generellen Personalbemessungsstan-
dards, hat recht; denn generelle Personalstandards bein-
halten Vorgaben für alle Stationen . Es fehlt derzeit das
Personal, das dafür benötigt würde . Das wurde heute
auch schon mehrfach dargestellt . Schon allein deshalb
sind die Forderungen des Antrags unrealistisch .
Ja, wir haben einen Fachkräftemangel bei den Pfle-
gekräften . Deshalb müssen wir heute nach Dringlichkeit
entscheiden . In einem ersten Schritt wollen wir Mindest-
standards festlegen, um die Sicherheit der Patientinnen
und Patienten zu verbessern . Um langfristig die Perso-
naldecke in allen Krankenhäusern zu sichern, haben wir
mit dem Reformpaket Krankenhausstrukturgesetz die
gesamte Krankenhauslandschaft in Deutschland in den
Blick genommen .
Die Situation in den einzelnen Bundesländern ist sehr
unterschiedlich . Es gibt Regionen, in denen zu viele
Krankenhäuser auf dem Markt sind, die um Patienten
konkurrieren . Deshalb haben wir mit dem Krankenhaus-
strukturgesetz verschiedene Steuerungsmöglichkeiten
beschlossen . Zum Beispiel können Krankenhäuser, die
dauerhaft schlecht behandeln und keine gute Qualität
gewähren, zum Schutz der Patienten aus dem Kranken-
hausplan herausgenommen werden; denn wir wollen,
dass in allen Krankenhäusern gut behandelt und gut ver-
sorgt wird . Neben den überversorgten Regionen gibt es
Gebiete, in denen nur wenige Einwohner leben . Auch
dort brauchen Menschen keine Sorge zu haben; denn es
gibt den Sicherstellungszuschlag . Damit können Kran-
kenhäuser unterstützt werden, die in strukturschwachen
Regionen ein stationäres Versorgungsangebot gewähr-
leisten .
Wir haben viele Verbesserungen angestoßen, aber Re-
formen brauchen auch Zeit und Geduld . Noch sind nicht
alle Maßnahmen wirksam . Allerdings dürfen wir es auch
nicht zulassen, dass Teile der Reform verschleppt wer-
den. Das gilt insbesondere beim Pflegestellen-Förderpro-
gramm . Die Neueinstellung von Personal mit Förderung
kann erst erfolgen, wenn Krankenkassen und Kranken-
häuser ihre Budgetverhandlungen abgeschlossen haben .
Einige verhandeln das Budget von 2016 noch immer . Es
ist dringend an der Zeit, hier endlich zum Abschluss zu
kommen .
(Beifall des Abg . Harald Weinberg [DIE
LINKE])
Es ist schwer vermittelbar, dass der Bundestag zwar
große finanzielle Unterstützung für die Pflegerinnen und
Pfleger beschließt, aber die Partner der Selbstverwaltung,
Kassen und Krankenhäuser, diese nicht schnellstmöglich
spürbar umsetzen . Deshalb ist es gut, für die Einführung
von Pflegepersonaluntergrenzen feste Fristen aufzuer-
legen . Wenn sich die Kassen und Krankenhäuser nicht
einigen können, wird das Bundesgesundheitsministerium
die notwendigen Entscheidungen fällen .
Wir werden darauf achten, dass erstens das Pflegeper-
sonal nicht innerhalb eines Krankenhauses verschoben
wird – es dürfen keine Engpässe auf der einen Station
neue Engpässe auf einer anderen Station verursachen –,
dass zweitens die Mindeststandards vor Ort von ausrei-
chend gut qualifiziertem Personal erfüllt werden und dass
drittens die Nichteinhaltung von Standards entsprechend
sanktioniert wird .
(Beifall der Abg . Sabine Dittmar [SPD])
Der Wille des Gesetzgebers darf nicht durch zu viele
Ausnahmetatbestände unterlaufen werden .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
In dieser Legislatur haben wir viele Gesetze mit dem
Auftrag und dem Ziel auf den Weg gebracht, unsere Ge-
sundheitsversorgung für die Zukunft zu sichern . Dass
uns das gelungen ist, war und ist nur durch eine kritische,
konstruktive und zielorientierte Beteiligung, Zusammen-
arbeit und auch Transparenz möglich . Dafür danke ich
Ihnen .
Vielen Dank .
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Reiner
Meier .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Reiner Meier (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, uns alle eint der Wille, unsere Krankenhäuser
mit ausreichendem Personal auszustatten . Die Frage ist
allerdings, wie der Weg aussieht, der dorthin führt . Über
Nacht wird uns das mit keinem Antrag gelingen .
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Fragen Sie
einmal Ihren Kollegen Hermann Imhof!)
Wenn ich mir Ihre Anträge, die uns vorliegen, ansehe,
dann kommen sie mir vor wie Geister aus der Vergangen-
heit, Herr Kollege .
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Fragen Sie
doch einmal Hermann Imhof!)
Vor anderthalb Jahren haben wir die Krankenhausreform
beschlossen, deren Verbesserungen nun immer mehr in
den Klinikalltag hineinwirken. Ich sage nur: Pflegezu-
schlag, Hygieneprogramm und Qualitätsoffensive . Mit
dem Krankenhausreformgesetz investieren wir bis zum
Jahr 2020 knapp 10 Milliarden Euro zusätzlich in die
Krankenhäuser .
(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Bis 2020! Was machen wir pro
Jahr?)
Marina Kermer
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Das ist wirklich eine gute Nachricht für die Patientinnen
und Patienten in unserem Land .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sie aber wenden den Blick lieber zurück in die Vergan-
genheit und fordern heute einmal mehr die Rückkehr zu
Strukturen aus dem letzten Jahrhundert .
Meine Damen und Herren, als der Gesetzgeber das
Kostendeckungsprinzip abschaffte, geschah das, weil
die Kosten in den Krankenhäusern oft nicht mehr nach-
vollziehbar waren . Nur weil ein Krankenhaus teuer war,
musste das nicht heißen, dass es auch gut war . Es hat
mit Gemeinwohl herzlich wenig zu tun, einem teuren
Krankenhaus unreflektiert auch teure Preise zu bezahlen.
Stattdessen ist es richtig, Leistung zu belohnen . Häuser,
die mit hohem Behandlungsaufwand für die Patienten
wichtige Leistungen erbringen, müssen wir gezielt und
gerecht finanzieren.
Genau das haben wir mit dem Krankenhausstruktur-
gesetz getan: Wir haben für die betroffenen Krankenhäu-
ser Zuschläge für besondere Situationen vorgesehen und
ausgebaut, etwa für Zentren, aber auch für notwendige
Landkrankenhäuser . Genauso haben wir den Investiti-
onskostenabschlag bei Hochschulkrankenhäusern abge-
schafft und die Hochschulambulanzen entscheidend ge-
stärkt . Damit haben wir eine faire und leistungsgerechte
Vergütung unserer Krankenhäuser auf die Beine gestellt .
Denn das DRG-System ist, anders als mancher Antrag-
steller, ein lernendes System, meine Damen und Herren .
Genauso richtig ist, dass die Bundesregierung Anfang
des Monats einen Vorschlag für Personaluntergrenzen
gemacht hat . Künftig soll die Selbstverwaltung in be-
sonders sensiblen Bereichen, wie zum Beispiel im Falle
von Intensivstationen, Personalvorgaben festlegen . Wir
schließen damit nahtlos an den Pflegezuschlag und an
das Pflegestellen-Förderprogramm an, die wir bereits
im vorletzten Jahr beschlossen haben . Ich erwarte, dass
die Selbstverwaltung bis Mitte nächsten Jahres eine gute
und ausgewogene Regelung im Interesse der Patienten
trifft . Gerade im Krankenhausbereich wäre das eine gute
Gelegenheit, die Effektivität und die Funktionsfähigkeit
der Strukturen unserer Selbstverwaltung unter Beweis zu
stellen .
Meine Damen und Herren, es ist schon angesprochen
worden – lassen Sie auch mich ein paar Worte zur Inves-
titionsfinanzierung bei unseren Krankenhäusern sagen.
Hier sind die Länder zuständig . Es ist für manche Länder
immer sehr einfach und bequem, lauthals nach Steuer-
oder Versichertengeldern zu rufen . Die Wahrheit ist aber:
Wenn der Freistaat Bayern pro Kopf fast 40 Prozent mehr
Investitionsgelder für seine Krankenhäuser bereitstellt
als Nordrhein-Westfalen, dann gibt es dafür keine ver-
nünftige Erklärung mehr .
(Beifall bei der CDU/CSU – Maria Klein-
Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Mangelndes Geld! Fragen Sie mal den Patien-
tenbeauftragten!)
Ich kann daraus nur den Schluss ziehen, dass sich man-
che Länder schlicht und einfach aus ihrer Finanzierungs-
verantwortung stehlen . Das können und das werden wir
nicht auch noch belohnen, schon gar nicht mit Versicher-
ten- und Steuergeldern .
Meine Damen und Herren, die Große Koalition hat in
dieser Legislatur die Krankenhausstrukturen umfassend
reformiert . Wir haben deutliche Akzente gesetzt: bei der
Qualität, bei der Hygiene, bei der Pflege am Bett. Das
alles tun wir in einem Rahmen, der Innovation und Wett-
bewerbsfähigkeit belohnt, und das ist auch richtig so . Ihr
Antrag hat für all das nichts übrig . Wettbewerb ist für
Sie Teufelszeug . Innovationen erwähnen Sie nicht ein
einziges Mal . Stattdessen sprechen Sie auf vier Seiten
21-mal von Planen und Planung . Das zeigt doch mehr
als deutlich, was Ihnen wirklich vorschwebt, nämlich
Planwirtschaft .
(Beifall des Abg . Harald Petzold [Havelland]
[DIE LINKE])
Gerade Sie müssen doch wissen, dass durch Planwirt-
schaft ganze Staaten zugrunde gegangen sind .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Für Planwirtschaft, meine Damen und Herren, stehen wir
als Union nicht zur Verfügung .
Danke .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Die Kollegin Bärbel Bas spricht jetzt für die SPD .
(Beifall bei der SPD)
Bärbel Bas (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will ein paar Dinge aus
der Debatte aufgreifen . Meine Kollegin Marina Kermer
hat ja bereits geschildert, welche Schritte wir schon ge-
tan haben . Sie hat auch deutlich gemacht, dass wir als
SPD-Fraktion sagen: Das sind in der Tat erste wichtige
Schritte, die wir gegangen sind, aber wir dürfen jetzt bitte
nicht so tun, als wären sie für die Patientinnen und Pati-
enten und für die Beschäftigten in der Pflege ausreichend.
(Beifall der Abg . Sabine Dittmar [SPD] –
Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist ja schon mal gut, dass das
hier deutlich wird!)
Insofern will ich sagen, was mich an den Anträgen
der Linken ein bisschen stört . Der Analyse bzw . der Pro-
blembeschreibung stimme ich in großen Teilen zu . Aber
das DRG-System, das wir jetzt haben, wieder aufzulösen
und ein anderes Konstrukt zu suchen, halte ich für wirk-
lich sehr problematisch . Denn Sie schreiben in Ihrem An-
trag ja selber, es müsse bedarfsorientiert gestaltet sein, es
müsse ein Kontrollorgan geben, das den Bedarf festlegt .
Ich finde, Sie verkennen, dass das DRG-System – bei al-
ler Kritik, die es am Anfang gab – zwischenzeitlich viele
Aspekte der Vergütung aufgenommen hat .
Das Grundproblem an dem System DRG sind nicht
die Fallpauschalen an sich; denn wir stellen fest, dass
Krankenhäuser Gewinne machen, dass wir viele Kos-
Reiner Meier
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tenanteile für die Pflege eingepreist haben. Ich glaube,
uns fehlt ein Kontrollinstrument, um sichergehen zu kön-
nen, dass die Mittel, die wir zur Verfügung stellen, auch
an den richtigen Stellen ausgegeben werden . Das ist der
entscheidende Punkt .
(Beifall bei der SPD)
Wenn wir Mittel für intensive Pflege einpreisen, dann
erwarte ich, dass die Häuser diese Mittel auch dafür ein-
setzen – im Sinne der Pflege, für die Beschäftigten, für
die Pflegebedürftigen. Das ist der entscheidende Punkt,
auf den wir unser Augenmerk legen müssen: Wird das
Geld, das wir dem System zur Verfügung stellen, dem
Zweck entsprechend ausgegeben?
Dass wir Personalbemessungsgrenzen für die Berei-
che intensiver Pflege einführen, ist ein sehr wichtiger ers-
ter Schritt . Das ist auch den Beschäftigten zu verdanken,
die endlich deutlich gesagt haben, dass sie das brauchen .
(Beifall bei der SPD)
Sie fühlen sich oft alleine gelassen, auch von der Politik .
Heute können wir beweisen, dass wir einen Schritt in die
richtige Richtung gehen . Aber wir als SPD sagen auch
deutlich: Wir wollen eine entsprechende Regelung für
alle Bereiche der Pflege, nicht nur auf der Intensivstati-
on, nicht nur in den Nachtstunden, sondern auch in den
Seniorenheimen, also überall dort, wo Pflege stattfindet.
Deshalb sage ich: Das ist ein erster Schritt . Wir sind
noch lange nicht am Ende . Wir haben noch viele Aufga-
ben vor uns . Das Thema wird uns auch in der nächsten
Legislatur beschäftigen .
Herr Meier, ganz grundsätzlich: Ich habe nichts gegen
Wettbewerb . Aber der Wettbewerb darf nicht zulasten der
Pflege und der Beschäftigten gehen.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg . Harald
Petzold [Havelland] [DIE LINKE])
Deshalb bin ich froh, dass wir diesen Schritt jetzt gemein-
sam gehen . Wir sollten uns aber auch überlegen – das
ist der Ansatz, den ich vorhin nannte –: Machen wir das
an der Stelle auch richtig? Wird das Geld da eingesetzt,
wo wir das politisch wollen? Das ist ein ganz wichtiger
Punkt . Das betrifft das Qualitätsmanagement .
(Tino Sorge [CDU/CSU]: Das ist Qualitäts-
wettbewerb!)
Wir müssen genau hinschauen, ob die Mittel entspre-
chend verwendet werden .
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen .
Es geht um die Kritik, dass die Selbstverwaltung diesen
ersten Schritt jetzt umsetzen soll. Ich finde, wir können
nicht immer für mehr Selbstverwaltung streiten und sa-
gen, wie wichtig sie uns ist, aber dann, wenn es uns nicht
gefällt, sagen: Nein, in diesem Bereich wollen wir kei-
ne Selbstverwaltung . – Ich stehe zur Selbstverwaltung .
Auch wenn uns manchmal die Entscheidungen nicht ge-
fallen – das mag ja so sein; ich habe auch viel Kritik an
vielen Dingen –, finde ich es richtig, dass wir gemeinsam
entschieden haben, dass wir eine Frist setzen . Es gibt vie-
le Verfahren in der Selbstverwaltung, die seit zehn, zwölf
Jahren laufen, wir aber keine Entscheidung bekommen .
(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist zu lang!)
Deshalb finde ich es richtig, dass wir jetzt gesagt haben:
Wir setzen euch eine Frist, und wenn ihr nicht zu Potte
kommt, dann werden wir eine Ersatzvornahme einleiten .
Ich wünsche mir übrigens auch für andere Bereiche
der Selbstverwaltung, dass wir sagen: Ihr habt den Auf-
trag von uns, ihr seid ein wichtiges Element in der Sozial-
versicherung, aber ihr müsst dann auch Entscheidungen
treffen . Wenn ihr das nicht innerhalb einer bestimmten
Frist macht, dann werden wir gesetzlich nacharbeiten . –
Das finde ich richtig.
In diesem Sinne sollten wir in die nächsten Beratun-
gen gehen . Ich sage: Wir sind noch nicht am Ende . Das
ist ein erster Schritt . Wir haben noch viel vor uns – im
Sinne der Patientinnen und Patienten und der Pflegenden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Vielen Dank . – Zu einem abschließenden Beitrag in
dieser Aussprache hat der Kollege Dietrich Monstadt für
die CDU/CSU das Wort .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dietrich Monstadt (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Staatssekretärin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Der heutige Tag, der
28 . April 2017, ist der Welttag für Sicherheit und Ge-
sundheit am Arbeitsplatz;
(Mechthild Rawert [SPD]: Richtig!)
ein Aktionstag, der eingeführt wurde, um weltweit siche-
re, gesunde und menschenwürdige Arbeit zu fördern, ein
Tag, der, wie ich finde, wie kein anderer geeignet ist, eine
solch wichtige Debatte über bestimmte Personalbemes-
sungsgrenzen und eine Debatte über bessere Arbeitsbe-
dingungen in der Stationspflege zu führen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Erfahrungen anderer Staaten mit Personalmindeststan-
dards haben gezeigt, dass diese zu einer wesentlichen
Entlastung des Pflegepersonals in den Krankenhäusern
beitragen können .
Aktuell werden rund 20 Millionen Menschen von
Pflegerinnen und Pflegern jährlich in den Krankenhäu-
sern medizinisch betreut . Diese Fachkräfte sind überaus
engagiert und leisten Tag für Tag eine qualitativ herausra-
gende Arbeit . Von mir an dieser Stelle meinen ausdrück-
lichen Dank dafür . Liebe Kolleginnen und Kollegen, um
sicherzustellen, dass dies künftig auch so bleibt, haben
wir in dieser Legislatur in diesem Bereich viel getan . Ich
darf erinnern an die große Pflegereform mit den Pflege-
stärkungsgesetzen I bis III, das Krankenhausstrukturge-
setz mit einer Erhöhung der Mittel von 500 Millionen
Euro auf 830 Millionen Euro . Ich denke, wir werden
Bärbel Bas
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23481
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beim Pflegeberufereformgesetz noch zu einer Einigung
kommen . Auch darüber ist bereits gesprochen worden .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich selbst vertrete mit Mecklenburg-Vorpommern ein
Bundesland, das sich in kürzester Zeit von einem Land
mit einer der jüngsten Bevölkerungen zu einem mit der
ältesten Bevölkerung im Bundesvergleich entwickelt hat .
Über 30 Prozent der Bevölkerung sind 60 Jahre alt oder
älter . Das ist auch die Perspektive für ganz Deutschland .
Das bedeutet konkret: Wir brauchen mehr Pflegekräf-
te. Dazu muss vor allem die Attraktivität der Pflegeberu-
fe erhöht werden, dazu muss die Pflege in der Wertschät-
zung der Gesellschaft einen höheren Stellenwert erhalten .
Aber genau das Gegenteil bewirken Sie mit Ihren Anträ-
gen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken . In
einem Ihrer Anträge sprechen Sie von Personalnotstand,
in einem anderen Antrag reden Sie von „krank machen-
den Arbeitsplätzen“ der Beschäftigten im Krankenhaus .
(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]:
Richtig, weil das so ist! – Maria Klein-
Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist statistisch belegt!)
Wollen Sie mit dieser Diktion ernsthaft junge Leute
motivieren, in die Pflege zu gehen? Ist Ihnen überhaupt
klar, was Sie damit anrichten, wie demotivierend eine
solche Diktion ist? Sie diffamieren pauschal die Arbeits-
bedingungen von Pflegenden und stellen Krankenhäuser
per se als schlechte Arbeitsorte dar .
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Das ist Be-
trachtung der Wirklichkeit!)
Dass Krankenhäuser sichere Arbeitgeber sind, leugnen
Sie komplett . Damit erreichen Sie genau das Gegenteil:
Kein einziger junger Mensch wird sich so für die Kran-
ken-, Alten- oder Kinderkrankenpflege entscheiden.
(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]:
Aber nicht, weil wir das kritisieren, sondern
weil die Wirklichkeit so ist!)
Hören Sie endlich damit auf, wenn es Ihnen wirklich um
die Sache geht!
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, klar ist: Eine qualitativ
hochwertige Versorgung in Krankenhäusern gelingt nur,
wenn ausreichend Personal zur Verfügung steht . Wir als
Koalition wollen ein gestuftes Verfahren der Personal-
bemessung auf den Weg bringen . Mein Kollege Lothar
Riebsamen hat dazu bereits ausgeführt .
Die Auswirkungen sollen spätestens im Jahr 2022
wissenschaftlich evaluiert werden . Erst dann können wir
die in Ihrem Antrag angesprochene Angemessenheit der
Personalbemessung bewerten . Auch nach meiner Über-
zeugung können wir nur so sicherstellen, dass die ent-
scheidenden Entlastungen und die Unterstützung für das
Pflegepersonal dort ankommen, wo sie am dringendsten
benötigt werden .
Die Linke jedoch fordert in ihrem Antrag Personal-
mindeststandards nach dem Gießkannenprinzip: sofort
und für alle Bereiche . Die Antwort auf das Wie der Um-
setzung bleiben Sie uns wie immer schuldig . Wie und
welche Sofortmaßnahmen gedenken Sie konkret vor-
zunehmen? Wie sollen diese Maßnahmen nachhaltig fi-
nanziert werden? Wie und wo wollen Sie die Frauen und
Männer, die diese Arbeit leisten sollen, finden? Viele Fra-
gen, aber wie immer: keine Konzepte, keine Antworten .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Auch beim Thema Bürgerversicherung sind wir diese
Ansätze von Ihnen gewohnt . Das ist nichts weiter als
reines Wahlkampfgetöse . So sieht eine verlässliche Ge-
sundheitspolitik nicht aus – jedenfalls definitiv nicht für
uns .
(Widerspruch bei der LINKEN – Gegenruf
des Abg . Tino Sorge [CDU/CSU]: Deshalb
seid ihr auch nicht in der Regierung!)
Meine Damen und Herren, wir haben uns gezielt
entschieden, die konkrete Ausgestaltung der verbind-
lichen Personaluntergrenzen in bestimmten Bereichen
des Krankenhauses den Selbstverwaltungspartnern zu
überlassen . Damit setzen wir als CDU/CSU-Fraktion auf
eine Kultur des Vertrauens und auf die Bereitschaft zur
Übernahme von Verantwortung im selbstverwalteten Ge-
sundheitswesen . Wir halten an diesem erfolgreichen und
bewährten System fest . Genau das ist der richtige Weg .
Die unionsgeführte Gesundheitspolitik ist eine Poli-
tik mit Augenmaß – für mehr Qualität, mehr finanzielle
Nachhaltigkeit und mehr Sicherheit . Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen von den Linken, machen genau das
Gegenteil . Deswegen lehnen wir Ihre Anträge ab .
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Jelpke [DIE
LINKE]: Langweilig! – Dr . Kirsten Tackmann
[DIE LINKE]: Das war ja sehr originell!)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Damit schließe ich die Aussprache .
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/11749 mit
dem Titel „Jetzt verbindliche Personalbemessung in den
Krankenhäusern durchsetzen“ . Wer für diesen Antrag der
Linken stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt .
Tagesordnungspunkt 41 b . Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Kran-
kenhäuser gemeinwohlorientiert und bedarfsgerecht fi-
nanzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf der Drucksache 18/12142, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf der Drucksache 18/6326 abzuleh-
nen . Wer für die Beschlussempfehlung des Ausschusses
stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen . – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD sowie
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke angenommen .
Dietrich Monstadt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723482
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(B) (D)
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
der Straftaten gegen ausländische Staaten
Drucksachen 18/11243, 18/11616
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f)
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Dagegen er-
hebt sich keinerlei Anzeichen eines Widerspruchs . Dann
ist das so beschlossen .
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner für die Bundesregierung das Wort Herrn Bundesmi-
nister Heiko Maas .
(Beifall bei der SPD sowie der Abg .
Dr . Sabine Sütterlin-Waack [CDU/CSU])
Heiko Maas, Bundesminister der Justiz und für Ver-
braucherschutz:
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Der Tatbestand, um den es heute
geht, hieß früher „Beleidigung fremder Landesherren“ .
Der Alliierte Kontrollrat hatte ihn schon 1946 gestrichen;
aber die junge Bundesrepublik führte ihn 1953 wieder
ein . Zum Glück hat dieser Paragraf viele Jahre keine Rol-
le gespielt . Die Erkenntnis, dass er überhaupt noch exis-
tiert, verdanken wir vor allem dem türkischen Staatsprä-
sidenten und seinem Vorgehen gegen Jan Böhmermann;
aber das ist auch so ziemlich das Einzige, was wir Herrn
Erdogan verdanken .
Meine Damen und Herren, der Fall Böhmermann, der
ja der Ursprung der Debatte über diesen Paragrafen ist,
hat gezeigt, wie überholt diese Strafvorschrift ist . Ja, es
geht zum einen um Rechtsgleichheit, vor allem aber auch
um die Meinungs- und die Pressefreiheit . Die Bundesre-
gierung hat die Einschränkung und die Eingriffe in die
Pressefreiheit schon mehrfach kritisiert, auch die, die wir
ganz aktuell in der Türkei erleben . Gerade deshalb darf
das deutsche Strafrecht kein Vehikel sein, um Kritiker
von Präsident Erdogan mundtot zu machen .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir als Bundesregierung verbinden die Abschaffung
dieser Strafnorm deshalb mit einem erneuten Appell an
die türkische Regierung und den dortigen Staatspräsi-
denten: Hören Sie auf, politische Kritik als persönliche
Beleidigung zu empfinden! Hören Sie auf, die Meinungs-
freiheit mit dem Strafrecht zu unterdrücken, und lassen
Sie unabhängige Journalisten endlich wieder ihre Arbeit
machen! Und die, die Sie in Haft genommen haben, wie
Deniz Yücel, sollen freikommen .
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, in Frankreich, in Großbri-
tannien, in Österreich oder in Tschechien – nirgendwo
gibt es eine Sondervorschrift, die die Beleidigung frem-
der Staatsoberhäupter strenger bestraft als verbale An-
griffe auf Normalbürger . Wir tun gut daran, dieses Über-
bleibsel des deutschen Obrigkeitsstaates aus unserem
Strafgesetzbuch nun endgültig zu streichen .
Eine Schutzlücke in unserem Recht entsteht dadurch
nicht . Diese Reform ist kein Freibrief für sprachliche
Verrohung, ganz und gar nicht: Beleidigungen und Ver-
leumdungen bleiben weiterhin strafbar . Aber unsere Ge-
setze sollen jeden und jede vor Angriffen auf ihre persön-
liche Ehre schützen, ohne Sonderrecht für die Mächtigen,
sondern alle gleich: Die Ehre von Deniz Yücel soll dem
deutschen Strafrecht in Zukunft nicht weniger wert sein
als die Ehre von Herrn Erdogan .
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das höre ich
gern!)
Meine Damen und Herren, ohne Meinungsfreiheit
gibt es keine Demokratie . Nur wenn der geistige Kampf,
wenn der Austausch der Ideen frei ist, werden Menschen
Bürger statt Untertanen . In der Demokratie ist Freiheit
stets gleiche Freiheit . Deshalb wollen wir mit diesem Ge-
setz überholte Privilegien abschaffen und die Meinungs-
freiheit und die Pressefreiheit aller dadurch stärken .
Herzlichen Dank .
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Das Wort hat jetzt der Kollege Harald Petzold für die
Fraktion Die Linke .
(Beifall bei der LINKEN)
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Wir reden
heute über den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der
Straftaten gegen ausländische Staaten . Wir reformieren
natürlich keine Straftaten . Vielmehr geht es darum, einen
Sonderbeleidigungstatbestand abzuschaffen . Das sollten
wir klar sagen, damit die Menschen wissen, worüber wir
hier diskutieren . Das möchte ich vorwegschicken .
Vor ungefähr einem Jahr hatten wir vor dem Hinter-
grund, den der Minister gerade genannt hat – es geht
um diese absurde Auseinandersetzung zwischen dem
türkischen Staatspräsidenten und Herrn Böhmermann –,
schon einmal über das Thema diskutiert . Ich bin sehr
froh, dass Sie, Herr Minister, wenigstens einen Teil der
vielen öffentlichen Versprechungen, die Sie damals ge-
macht haben, mit diesem Gesetzentwurf umsetzen und
diesen sogenannten Majestätsbeleidigungsparagrafen ab-
schaffen wollen .
(Beifall bei der LINKEN)
Es stellt sich die Frage, warum Sie nicht die Möglich-
keit nutzen – in Ihrer Rede haben Sie gesagt: es muss da-
Vizepräsident Johannes Singhammer
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23483
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rum gehen, dass es keine Sonderrechte für die Mächtigen
mehr gibt –, die Ungleichbehandlung zwischen der Be-
leidigung im normalen menschlichen Bereich und diesen
Sonderbeleidigungstatbeständen gleich mit abzuräumen .
Wozu brauchen wir weiterhin einen Paragrafen, durch
den die Verunglimpfung des Bundespräsidenten unter
Strafe gestellt wird? Wozu brauchen wir weiterhin einen
Paragrafen, durch den üble Nachrede und Verleumdung
gegen Personen des öffentlichen Lebens unter Strafe ge-
stellt werden?
(Beifall bei der LINKEN)
Ich finde, dass wir das nicht brauchen. Im Grundgesetz
steht der Grundsatz: Vor dem Gesetz sind alle gleich . –
Das muss für uns der Maßstab sein . Das bedeutet, dass
sämtliche Sonderbeleidigungstatbestände abzuschaffen
sind – Punktum . Deswegen wiederhole ich das, was ich
vor einem Jahr schon einmal gesagt habe, und unterbreite
Ihnen erneut unsere Vorschläge: Die Linke fordert, dass
die §§ 90, 103 und 188 des Strafgesetzbuches ersatzlos
gestrichen werden .
(Beifall bei der LINKEN)
Damit würden Sie tatsächlich erreichen, dass die über-
holte Privilegierung der Mächtigen abgeschafft wird .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir hätten noch eine Reihe von
anderen Vorschlägen!)
Darüber hinaus wollen wir, dass durch die Änderung
weiterer Paragrafen des Strafgesetzbuches die Verfol-
gungsermächtigung gestrichen wird . Das hätte zur Kon-
sequenz, dass keine politische Instanz mehr darüber
befinden kann, ob ein Ermittlungsverfahren tatsächlich
eröffnet wird oder ob es eine Verfolgung dieser Straftaten
gibt . Damit befreien wir das Rechtswesen von politischer
Einflussnahme. Ich finde, dass das wichtig ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Das sollten wir bei dieser Gelegenheit mit regeln .
Wir Politiker und Politikerinnen wundern uns immer
über den Frust und die Verdrossenheit der Bürgerinnen
und Bürger über die Politik . Wir jammern darüber, dass
sich Menschen von Populisten beeindrucken lassen oder
sie sogar wählen . Aber wir brauchen uns über so etwas
nicht zu wundern, solange wir zulassen, dass manche
eben gleicher sind als andere . Wenn dann diese bevor-
zugten Personen auch noch aus dem Kreis der Politik
kommen und wir als Politiker sozusagen über uns selbst
zu befinden haben, dann brauchen wir uns nicht zu wun-
dern, dass es diesen Frust und diese Verdrossenheit gibt .
Das ist aus meiner Sicht geradezu folgerichtig . Die Un-
gleichbehandlung muss endlich aufhören .
(Beifall bei der LINKEN)
Deswegen sage ich Ihnen: Nehmen Sie sich einfach
noch einmal den Gesetzentwurf meiner Fraktion, den wir
Ihnen vor einem Jahr vorgelegt haben – ich nenne Ihnen
noch einmal den Titel: „Änderung des Strafgesetzbu-
ches – Neuordnung der Beleidigungsdelikte“ –, vor, und
lesen Sie darin nach . Für einen solchen Gesetzentwurf
könnte auch meine Fraktion ganz entspannt die Hand he-
ben . Für den jetzigen können wir das im Moment noch
nicht . Deswegen muss er weiter überarbeitet werden .
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit .
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuhörer! Erneut darf ich Sie heute zu
einer Rede am Freitagmittag begrüßen . Wir starten in die
Beratungen zur Abschaffung von § 103 StGB, der die
Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter in beson-
derer Weise unter Strafe stellt . Die Vorgeschichte dieser
politischen Idee ist ja schon angesprochen worden . Diese
setze ich als bekannt voraus . Sie war ja an dieser Stelle
auch schon Gegenstand ausführlicher wörtlicher Zitate .
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU
und der SPD)
Es ging in dem Verfahren hier, bei der Staatsanwalt-
schaft in Koblenz und in dem Zivilverfahren in Hamburg
um die Fragen: Was ist noch Kunst, und was ist Satire?
Wo fängt Beleidigung an? Was darf man noch sagen,
wenn man es denn sagen würde? Was muss sich derjeni-
ge, der selber gerne austeilt, vielleicht auch sagen lassen?
Die ganze Republik hat aufgeregt mitdiskutiert, und die
Sympathien waren klar verteilt .
Wir werden es zwar nie erfahren, aber ich glaube, wir
würden diese Sitzungswoche nicht mit diesem Tagesord-
nungspunkt „Abschaffung von § 103 StGB“ beenden,
wenn es andere handelnde Personen gewesen wären .
Stellen Sie sich einmal vor, ein rechtsgerichteter Journa-
list, Satiriker oder gar Politiker wäre ein anderes Staats-
oberhaupt, das vielleicht mehr Sympathien genießt, mit
einem solchen Elaborat angegangen . Stellen Sie sich
zum Beispiel vor, es wäre um Wladimir Putin, Alexis
Tsipras, Benjamin Netanjahu oder wen auch immer ge-
gangen . Dann sähe die ganze Sache anders aus .
(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ach ja?)
Ich glaube, dann wäre eine andere öffentliche Reaktion
erfolgt . Die Bundesregierung hätte ohne weitere Auf-
merksamkeit die Ermächtigung erteilt, und niemand wäre
auf die Idee gekommen, deshalb § 103 StGB aufzuheben .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das wäre umgedeutet worden! –
Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist aber schon eine recht
merkwürdige Auffassung!)
Die Diskussion, die damals geführt wurde, war po-
litisch aufgeladen, juristisch aber nicht ganz korrekt .
Es war von Majestätsbeleidigung und ihrem Anachro-
nismus die Rede . Es hieß, dass Staatsoberhäupter doch
keine besseren Menschen sind, die einen umfassenderen
Harald Petzold (Havelland)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723484
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(B) (D)
Schutz brauchen . Insofern ging die Diskussion einiger-
maßen an der Sache vorbei . Denn bei § 103 StGB geht es
nicht um die persönliche Ehre eines Staatsoberhaupts . Es
geht auch nicht um Ehrfurcht und Ehrfurchtsverletzung
gegenüber einer Majestät oder um ein anachronistisches
Obrigkeitsdenken . Deshalb ist das, was wir hier tun, noch
nicht wirklich konsistent .
Das Vorhaben, § 103 aus dem Strafgesetzbuch zu strei-
chen, reibt sich damit, dass wir solche Vorschriften auch
an anderen Stellen haben, wenn eine bestimmte Person
wegen einer bestimmten Funktion besonders geschützt
wird . Wir haben schon angesprochen, dass der Bundes-
präsident durch § 90 StGB stärker vor Verunglimpfung
geschützt ist als der normale Bürger .
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Oder die Bundes-
kanzlerin!)
– Oder die Bundeskanzlerin, genau . – Dabei sind wir uns
sicherlich einig, dass die Wahl zum Bundespräsidenten
aus der betreffenden Person keinen besseren Menschen
macht . Diejenigen, die dieses Amt zuletzt hatten, würden
dies für sich auch nicht in Anspruch nehmen .
Es gibt ja diese Sondervorschriften . Zu beachten ist,
dass es hier auch um eine bestimmte Funktion geht, die
der Anlass für die Beleidigung ist . Von daher wäre es
nicht ganz frei von Widersprüchen, um es einmal neutral
auszudrücken, wenn dann in Zukunft ein ausländischer
Staatschef hinsichtlich einer Beleidigung nur nach § 185
geschützt ist, wonach nur eine Strafe von bis zu einem
Jahr verhängt werden kann .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: „Nur“? Ganz schön wacker!)
Gerade bei Beleidigungen via digitale Medien, Fern-
sehen usw . wirkt dieses Strafmaß fast als zu gering . Hier
würde ich gerne noch einmal den Vorschlag ansprechen –
er ist in unserem Koalitionsvertrag erwähnt, aber bisher
noch unerledigt geblieben –, dass wir dann, wenn Be-
leidigungen über solche Medien sozusagen uneinholbar
erfolgen, eine Strafverschärfung vornehmen und einen
Qualifikationstatbestand schaffen sollten, dann aber ger-
ne für alle Bürger .
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr . Konstantin
von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ach, das kommt in dieser Legislatur sowieso
nicht mehr!)
Es bleiben, wie gesagt, einige Widersprüche . Aber
Rechtspolitik ist manchmal nicht frei von Widersprü-
chen; dafür gibt es auch andere Beispiele .
(Heiterkeit des Abg . Dr . Konstantin von Notz
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Wir sollten aber nicht nur das nicht tun, was zu Wi-
dersprüchen führt, und lassen das, was vielleicht das
größere politische Problem darstellt, unverändert . Zu den
tragenden Säulen unseres Rechtsstaates – auch darüber
haben wir heute schon häufiger gesprochen – gehören
die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz .
Sie allein prüft und entscheidet, welches Verfahren sie
einleitet und zu welchem Strafmaß sie kommt . Nur in
ganz wenigen Fällen – § 104a StGB ist nicht der einzi-
ge, aber einer von wenigen – hat die Bundesregierung
die Möglichkeit, aus politischen Gründen ein Verfahren
zu verhindern . Wir machen deshalb die Einleitung eines
solchen Verfahrens von einer Ermächtigung durch die
Bundesregierung abhängig .
Man muss hier klar sehen: Eine Ermächtigung ist
kein Strafantrag, den man stellt, weil man Interesse an
einer Verurteilung hat . Sie hat nur die Bedeutung, dass
aus Sicht der Bundesregierung keine außenpolitischen
Gründe gegen ein Verfahren sprechen . Es soll gerade
der Normalfall herbeigeführt werden, dass nämlich die
Staatsanwaltschaft und das Gericht ihre Entscheidungen
in eigener Zuständigkeit treffen . Die Staatsanwaltschaft
wird also nicht wegen der Ermächtigung, sondern nur
aufgrund ihres eigenen Prüfungsergebnisses dazu kom-
men, ein Verfahren einzuleiten . Wenn die Staatsanwalt-
schaft zu dem Ergebnis kommt, dass sie kein Verfahren
will, dann folgt aus der Ermächtigung nichts, null Kom-
ma null . Das hat sich damit erledigt .
Man muss sich das noch einmal vor Augen halten:
Die Ermächtigung nicht zu erteilen, wäre eine politische
Entscheidung . Wenn alles normal laufen soll, wie im-
mer, lautet die Entscheidung: Wir erteilen die Ermächti-
gung . – Dann können die zuständigen Stellen in diesem
Staat ihre Entscheidungen treffen . Weil das etwas kom-
pliziert ist, ist die politische Wirkung komplett anders . In
die Erteilung der Ermächtigung wird hineininterpretiert,
damit sei eine Verurteilung gewünscht . Damit kommt
man natürlich in eine politische Diskussion, die am Kern
der Sache völlig vorbeigeht . Ich denke, das sollten wir
uns noch genauer anschauen . Es gibt ja auch noch §§ 102
und 104, für die diese Ermächtigung auch relevant ist .
Das heißt, die Sache hätte sich hiermit nicht erledigt .
Erledigt hat sich dagegen das Verfahren gegen Jan
Böhmermann in unserem Ausgangsfall . Die Staatsan-
waltschaft hat bekanntlich entschieden, die Sache einzu-
stellen, und zwar ohne jeden politischen Einfluss. Damit
ist das erledigt . Wir werden unser Verfahren hier auch
zügig erledigen .
Ich danke Ihnen .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt
der Kollege Hans-Christian Ströbele .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
hat lange gedauert, aber es wird endlich gut . Jedenfalls
haben wir jetzt die Chance dazu .
Es liegen weitgehend gleichlautende Vorlagen der
Bundesregierung, des Bundesrates und der Grünen vor .
Wir waren die Ersten .
(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]:
Unsere lassen Sie mal wieder unter den Tisch
fallen!)
Elisabeth Winkelmeier-Becker
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23485
(A) (C)
(B) (D)
Sie hätten also schon vor mehr als einem Jahr die Ge-
legenheit gehabt, diesen Paragrafen abzuschaffen, Herr
Maas . Sie hätten sich nur dafür einsetzen müssen, dass
unserem Gesetzentwurf zur Wirkung verholfen wird . Da-
mit hätten Sie übrigens nicht nur Gutes getan, sondern
auch der eigenen Kanzlerin manch schwierigen Auftritt
und auch manch schwierige Entscheidung erspart .
(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]:
Viel Rücksichtnahme, Herr Kollege!)
Das war damals aus politischen Gründen offensichtlich
nicht gewollt, weil man auf Herrn Erdogan, der jetzt in
Ihrer Rede schlecht weggekommen ist, Rücksicht neh-
men wollte . Man wollte ihm das nicht antun und hat
gesagt: Mit der ganzen Schärfe des deutschen Gesetzes
wird versucht, ihm Recht zu verschaffen .
Ich setze mich seit mehr als 50 Jahren für die Abschaf-
fung dieses Paragrafen ein .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Heiko Maas, Bundesminister: Da kann ich de-
finitiv nicht mithalten! – Dr. Johannes Fechner
[SPD]: Wie soll ich das toppen?)
Es stimmt also nicht, dass das erst jetzt der Fall ist . Sie
meinten, das spielte vorher keine Rolle . Ich kann Ihnen
sagen: Ende der 60er-Jahre und auch schon davor hieß
der Paragraf zur Majestätsbeleidigung „Schah-Paragraf“ .
Warum war das so? Ich will es Ihnen sagen; das lockert
die Atmosphäre vielleicht ein bisschen auf .
Damals ging das schreckliche Schicksal der
Schah-Gattin Soraya durch alle Medien . Sie war deut-
scher Abstammung und sicherlich der Star der Sensati-
onsmedien und der Berichterstattung in den Zeitungen .
Warum? Nicht nur, weil sie die Gattin des Schahs war,
sondern auch, weil sie ihm keinen Nachfolger gebären
konnte – oder wollte; ich weiß es nicht . Damals jeden-
falls wurde unendlich viel darüber gerätselt, woran es
denn liegen könnte . Der Schah hat sich dann scheiden
lassen und Farah Diba geheiratet . Bevor er sich aber hat
scheiden lassen, hat Soraya in ihrer Not den Papst auf-
gesucht und mit ihm möglicherweise auch über dieses
Problem geredet . Ich weiß es nicht genau; ich war nicht
dabei . Jedenfalls hat damals ein Kabarettist, der danach
legendär war – Wolfgang Neuss hieß er –, in einem Ka-
barettprogramm, ähnlich wie bei Böhmermann, den Satz
geprägt, es sei gerade vom Vatikan gemeldet worden:
Der Papst hat sich verlobt; Soraya bekommt ein Kind .
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN)
Das hat zu einer ungeheuren Aufregung geführt und
zu dem Versuch der Anwendung dieses Paragrafen . Dazu
ist es nicht gekommen; aber das zeigt, worum es ging .
Auch damals ging es um einen Despoten, den Schah von
Persien, der sein Volk unterdrückte . Diese Tatsache war
aber für die deutsche Öffentlichkeit nicht interessant; es
ging nicht darum, dagegen etwas zu tun . Vielmehr hat
das Schicksal dieser kaiserlichen Hoheit viele Deutsche
beschäftigt, vor allem die Medien .
So etwas wollen wir nicht . Das darf in Zukunft über-
haupt nicht erwogen werden .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Es darf immer nur darum gehen: Ist die Ehre eines Men-
schen verletzt? Leidet er deswegen vielleicht? Leiden
vielleicht auch die Angehörigen? Das wollen wir alle
nicht . Dafür gibt es für alle Menschen § 185 StGB . In die
Beurteilung wird dann alles einfließen: die Position, die
Frage, wie stark er getroffen ist, wie das einzuschätzen
ist . Für uns ist der entscheidende Grund, warum dieser
Paragraf abgeschafft werden muss – deshalb haben wir
schon damals für die Abschaffung demonstriert –, dass
es vorrangigere Rechte gibt: Es gibt das Grundrecht auf
Pressefreiheit, das Grundrecht auf Satirefreiheit und
das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, und zwar für alle
Deutschen, ohne Unterschied, auch für Kabarettisten .
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN und bei der LINKEN sowie des Abg .
Dr . Matthias Bartke [SPD])
Dafür setzen wir uns ein . Deshalb: Schaffen Sie die-
sen Paragrafen wenigstens jetzt, nachdem Sie lange ge-
nug Zeit hatten, sich dazu zu entschließen, entsprechend
unserer Vorlage und der Vorlage des Bundesrates ab; der
Bundesrat hat sich uns freundlicherweise angeschlossen .
Lassen Sie das Gesetz sofort in Kraft treten! Wir brau-
chen keine Anhörung . Wir sollten dieses Gesetz in zwei-
ter und dritter Beratung möglichst schnell verabschieden
und es sofort in Kraft treten lassen . Es gibt überhaupt
keinen Grund, damit bis zum 1 . Januar 2018 zu warten .
Das ist der einzige Unterschied zwischen unseren Vorla-
gen . Folgen Sie unserem Gesetzentwurf! Tun Sie etwas
Gutes – spät, aber immerhin!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Als nächster Redner hat der Kollege Dr . Matthias
Bartke für die SPD das Wort .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Matthias Bartke (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Zu-
schauerinnen und Zuschauer auf der Tribüne! Wir alle
kennen das: Ab und zu muss man zu Hause entrümpeln .
Wir können unser Hab und Gut nicht immer weiter an-
häufen . So geht es uns im Grunde genommen auch als
Gesetzgeber . Wir beschließen am laufenden Meter neue
Gesetze; aber wir müssen Gesetze auch hin und wieder
überprüfen und gegebenenfalls abschaffen .
(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja!)
Heute befassen wir uns mit § 103 Strafgesetzbuch,
der besonderen Strafbarkeit – das wurde gesagt – der
Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer
Hans-Christian Ströbele
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723486
(A) (C)
(B) (D)
Staaten . Diese Vorschrift wollen wir ersatzlos streichen .
Punkt!
(Beifall bei der SPD)
Künftig werden solche Äußerungen unter die allgemei-
nen Beleidigungstatbestände fallen . Es gäbe auch keinen
höheren Strafrahmen mehr .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wenn überhaupt!)
Ich finde das absolut richtig; auch die meisten Bürge-
rinnen und Bürger werden das so sehen . Aber wie es so
ist beim Entrümpeln: Man sieht sich die alten Dinge an
und macht sich Gedanken, warum man sie einst ange-
schafft hat . Solch ein Blick lohnt auch bei § 103 StGB;
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Den hätte ich längst abgeschafft!)
denn hinter dieser Vorschrift kann man durchaus ein sehr
sympathisches Anliegen entdecken und nicht nur den
Schutz des Schahs und von Soraya .
Der historische Gesetzgeber wollte die diplomatischen
Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten be-
sonders schützen . Das ist im Grunde ehrenwert . Deutsch-
land braucht und unterhält diplomatische Beziehungen
in die ganze Welt . Ausländische Regierungsmitglieder,
die sich dienstlich in Deutschland aufhalten und unsere
Staatsgäste sind, wollte man durch diese Norm vor be-
wussten und nicht gerechtfertigten Herabwürdigungen
ohne sachlichen Hintergrund besonders schützen . Der
Grund: Wenn ein Staatsoberhaupt beleidigt wird, hat das
größere Auswirkungen, als wenn eine normale Person
beleidigt wird; denn oft fühlen sich viele Menschen in
den Staaten gleich mit beleidigt . Diese größere Reich-
weite einer Beleidigung wollte man strafrechtlich be-
rücksichtigen . Alles verständlich .
Aber: § 103 Strafgesetzbuch ist misslungen . Das ha-
ben wir sehr deutlich am Fall Böhmermann gesehen; das
wurde bereits angesprochen . Denn die Konstruktion hat
genau das Gegenteil dessen erreicht, was sie eigentlich
bezwecken wollte . Die Bundesregierung musste zur
Strafverfolgung ermächtigen – was für ein Irrwitz –, und
das nach einem Strafantrag des türkischen Präsidenten .
Egal wie die Regierung da entscheidet, es sieht immer
dumm aus .
Frau Winkelmeier-Becker, die Vorschrift garantiert
förmlich, dass jede auch nur möglicherweise beleidigen-
de Äußerung politisch überhöht wird . Sie bekommt eine
unangemessene Bedeutung für den Staat und seine Be-
ziehungen . Außerdem weckt der Straftatbestand offen-
bar falsche Erwartungen bei ausländischen Staatsober-
häuptern, gerade bei solchen, die Meinungsfreiheit nicht
schätzen, die Gewaltenteilung nicht kennen, die kritische
Journalisten einsperren und missliebige Richter entlas-
sen, die im eigenen Land Kritik an der eigenen Person
massenhaft strafrechtlich verfolgen lassen . Sie alle wis-
sen offenbar nicht, dass sich in Deutschland gerade Poli-
tiker in besonderer Weise öffentlicher Kritik stellen müs-
sen, dass Kritik zulässig ist, wenn sie einen sachlichen
Hintergrund hat, auch wenn sie hart, unhöflich, harsch
und überzogen formuliert wird .
Solche Staatsoberhäupter erwarten dann, dass sie hier
von Kritik verschont werden, oder – noch schlimmer –
sie schüren die Empörung in ihrer eigenen Bevölkerung
gegenüber Deutschland, das sie angeblich nicht vor bö-
sen Beleidigungen schützen will . Und wir geben ihnen
mit § 103 Strafgesetzbuch auch noch einen wunderbaren
Hebel dafür . Aber vor freien Meinungsäußerungen wol-
len wir niemanden beschützen, auch nicht im Interes-
se der Diplomatie . Deshalb ist es gut, wenn wir § 103
ersatzlos streichen . Die Regelung ist verkorkst, und die
Praxis ist völlig überdreht .
Wir müssen in der Tat noch darüber beraten, wann die
Abschaffung in Kraft treten soll . Der Gesetzentwurf sieht
hierfür den 1 . Januar 2018 vor . Der Bundesrat schlägt
vor, dass die Abschaffung sofort in Kraft treten soll, und
Herrn Ströbele habe ich auch so verstanden .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Wir waren die ersten!)
Ich finde eigentlich auch: Abschaffung heißt, dass wir
die Bürger in solchen Fällen nicht mehr unter besondere
Strafandrohung stellen wollen, und das muss im Grunde
sofort gelten .
Ich hoffe, dass die Beratungen zu diesem Ergebnis
kommen werden, und danke Ihnen .
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Alexander
Hoffmann .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Alexander Hoffmann (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kollegin-
nen und Kollegen! Der politische Weg des § 103 StGB
scheint vorgezeichnet: Wir werden ihn aller Wahrschein-
lichkeit nach aufheben . Gestatten Sie mir aber, die Debat-
te zu nutzen, das, was wir hier tun, auch einmal rechts-
politisch zu beleuchten . Dabei getraue ich mir, die Frage
zu stellen – das kann jeder für sich beantworten –, ob
wir diese Debatte auch dann führen würden, wenn Herr
Böhmermann mit seinem Schmähgedicht nicht Erdogan
bedacht hätte, sondern zum Beispiel Obama .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dafür gibt es ja keinen Grund!)
Das ist etwas, was der Rechtsstaat nicht machen darf: Bei
der Entscheidung, welche Reaktion man einer möglichen
Beleidigung folgen lässt, darf man in einem Rechtsstaat
nicht danach gehen, ob Erdogan beleidigt worden ist, der
nicht besonders hoch im Kurs steht, oder jemand, der
sehr viel beliebter ist .
(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]:
Der Rechtsstaat soll alle gleich behandeln!
Das ist der Punkt!)
Dr. Matthias Bartke
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23487
(A) (C)
(B) (D)
Das unterscheidet den Rechtsstaat von der Bananenrepu-
blik, Kollege Petzold .
(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Die Frage ist, ob Obama Strafan-
zeige erstattet hätte!)
Es wurde gesagt, § 103 StGB sei überflüssig, weil
§ 185 die Ehre ausreichend schütze .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Auch von Obama!)
Das ist, was die Ehre angeht, richtig . Kollege Bartke, ich
bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sehr viel differenzierter
aufgedröselt haben, was ich mir heute vom Minister und
auch vom Gesetzentwurf gewünscht hätte . Es ist nämlich
so, dass § 103 StGB die Ehre dieses Landes schützt und
letztendlich auch die diplomatischen Beziehungen der
Bundesrepublik Deutschland . Man will vermeiden, dass
unter Umständen über Monate oder Jahre hinweg ein di-
plomatischer Faden geknüpft wird – auch zu schwieri-
gen Protagonisten – und dann mit einer Beleidigung alles
zunichtegemacht wird und wichtige Folgefragen in eine
vollkommen falsche Richtung laufen .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Dann muss man ihnen beibrin-
gen, was Pressefreiheit ist!)
Ich habe bislang noch nicht eine Erklärung bekommen,
warum es diesen Schutzbedarf weiterhin nicht mehr ge-
ben sollte .
Die zweite Frage, die mich rechtspolitisch bewegt,
lautet: Ist denn bei den Ermittlungen gegen Böhmermann
irgendetwas geschehen, zu dem wir heute in der Rück-
schau sagen, dass das mit einem Rechtsstaat nicht ver-
einbar ist? Zugegeben: Bundesjustizminister Heiko Maas
hat erklärt, er halte die Entscheidung der Kanzlerin für
die Zulassung der Ermittlungen für falsch . Eine juristi-
sche Begründung, die ich sowohl beim Kollegen Fechner
als auch im Rechtsausschuss beim Parlamentarischen
Staatssekretär Lange erfragt habe, habe ich dafür nicht
bekommen .
Vizepräsident Johannes Singhammer:
Herr Kollege Hoffmann, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr . von Notz?
Alexander Hoffmann (CDU/CSU):
Ja, aber mit großem Vergnügen, Herr Präsident .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Vielen Dank, Herr Präsident . Vielen Dank auch, Herr
Kollege Hoffmann, für das Genehmigen der Zwischen-
frage . Es wird auch keine Majestätsbeleidigung .
Ich wollte Sie nur fragen: Ist Ihre Rede jetzt als Rück-
holung dessen zu verstehen, was hier eingebracht ist?
Denn ich habe bisher kein Argument für die Vorlage ge-
hört, auf der, glaube ich, auch Ihre Fraktion draufsteht .
Deswegen frage ich Sie: Ist das ein Minderheitenvotum,
oder sprechen Sie sich doch für diese Vorlage aus? Sonst
verstehe ich den Gesetzentwurf der Großen Koalition gar
nicht .
(Zuruf von der CDU/CSU: Die Rede ist ja
noch gar nicht zu Ende gewesen!)
– Ach so . Der Spannungsbogen wird bis zum Schluss
gehalten, und dann heißt es: „Trotzdem machen wir das
mit“?
Alexander Hoffmann (CDU/CSU):
Danke für die Frage, Kollege Notz . – Wenn es ein An-
trag wäre, würde ich das auch so formulieren . Als Jurist
weiß ich ja, wie man Anträge formuliert . Nein, es geht
um etwas anderes . Wie ich vorangestellt habe, möchte ich
die aktuelle Frage, mit der wir uns beschäftigen, rechts-
politisch beleuchten . Bei dieser Gelegenheit möchte ich
natürlich meine Meinung sagen . Ich bin freier Abgeord-
neter . Ein freier Abgeordneter darf eine Meinung haben .
(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Ja, natürlich! – Hans-Christian
Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Hoffentlich!)
Das ist selbstverständlich nicht damit zu verwechseln,
dass die Regierungskoalition jetzt eine andere Meinung
hat . Das Mandat lässt eine freie Meinungsäußerung zu .
(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Auf jeden Fall!)
Wir stehen vor einer parlamentarischen Beratung, in
der wir – Kollegin Winkelmeier-Becker hat das anklin-
gen lassen – auf die Systematik dieses Abschnitts wei-
terhin werden achten müssen . Deswegen sind das alles
wichtige Impulse, die ich für die weitere parlamentari-
sche Beratung geben will .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich will fortfahren: Das Verfahren wurde damals ein-
gestellt . Heute sind große Teile dieses Gedichts verboten,
(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist noch nicht entschieden!
Es ist noch nicht rechtskräftig!)
was ja dem Grunde nach dafür spricht, dass die Rechts-
einschätzung des Ministers damals eine falsche gewesen
ist .
(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist noch nicht rechtskräftig!)
Ich weiß nicht, wer sich daran erinnern kann bzw . wer
von Ihnen da war, als der Kollege Seif dieses Gedicht in
diesem Haus vorgelesen hat .
(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]:
Nein! Bitte nicht! – Zurufe von der SPD:
Nein! – Wiederholen Sie das nicht!)
– Nein, keine Angst . – Die Reaktionen waren bemerkens-
wert; denn wir waren alle peinlich berührt, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen,
(Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]:
Aber vom Kollegen Seif vor allen Dingen! –
Alexander Hoffmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723488
(A) (C)
(B) (D)
Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: So ist Satire, Herr Kollege!)
und zwar aus einem ganz einfachen Grund: In Kenntnis
der Dinge, die da formuliert worden sind, ist es nämlich
so gut wie unmöglich, zu erklären, dass das noch unter
Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit fallen soll;
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das müssen Sie dem Künstler sa-
gen!)
denn das war nichts anderes als eine Aneinanderreihung
von Beleidigungen .
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist selbstverständlich
wichtig, dass wir Erdogan ein deutliches Signal senden,
wie wir Kunstfreiheit, Meinungsfreiheit und Presse-
freiheit verstehen . Aber ich persönlich glaube, dass das
Schmähgedicht von Böhmermann dafür definitiv das fal-
sche Beispiel ist .
Kollege Bartke, ich habe Ihren Ausführungen sehr viel
abgewinnen können . Ich bin auch der Meinung, dass die-
se Anreizwirkung durchaus ein Punkt ist, den wir disku-
tieren sollten . Dann könnten wir allerdings auch darüber
nachdenken, ob wir die Ermächtigungsnorm von § 104a
StGB in den Fokus setzen . Das soll aber den weiteren
Beratungen vorbehalten bleiben, liebe Kolleginnen und
Kollegen .
Ich freue mich auf die weitere Auseinandersetzung in
dieser spannenden Sache und bedanke mich für die Auf-
merksamkeit .
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn:
Als nächster Redner hat Thorsten Frei für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort .
Thorsten Frei (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben schon vielfach über die Geschichte dieses Ge-
setzentwurfs gesprochen und darüber, dass wir vor ziem-
lich genau einem Jahr hier an dieser Stelle über die Ge-
setzentwürfe von Grünen und Linken diskutiert haben .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Leider nicht angenommen!)
Natürlich haben wir die Diskussion im Lichte der dama-
ligen Situation, des Schmähgedichts von Böhmermann
und der Reaktion von Erdogan, geführt . Es ist richtig –
das hat die bisherige Debatte gezeigt –, dass wir damals
auf dem Höhepunkt der öffentlichen Debatte keine Lex
Erdogan beschlossen haben, sondern dass wir uns hier im
Parlament mit diesem Thema ausführlich auseinanderge-
setzt und das Für und Wider abgewogen haben .
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Die Kanzlerin hat es damals
schon gesagt!)
– Herr Ströbele, Sie machen jedes Mal die gleichen Zu-
rufe . Hören Sie einfach einmal zu! Es wäre wichtig, dass
Sie zuhören .
Die Kollegen haben bereits darauf hingewiesen, dass
es hier keine 100 : 0-Entscheidung geben kann, sondern
dass es Argumente sowohl dafür als auch dagegen gibt .
Es gibt juristische und gesetzgeberische Argumente, aber
durchaus auch außenpolitische Erwägungen . Es wurde
bereits darauf hingewiesen, dass das Schutzgut des § 103
StGB nicht in allererster Linie die angegriffene Ehre des
Organs oder des Vertreters eines ausländischen Staats ist .
Es handelt sich auch nicht um Goodwill gegenüber an-
deren Staaten . Vielmehr dient dieser Paragraf aus meiner
Sicht in allererster Linie dem Schutz unserer auswärtigen
und diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten .
Insofern liegt diese Regelung in unserem Interesse . Wir
müssen uns jedenfalls mit den damit zusammenhängen-
den Fragen befassen und auseinandersetzen . Schließlich
liegt es nicht in unserem Interesse, dass jemand aus un-
serem Land mit irgendwelchen unsäglichen Bemerkun-
gen oder Pamphleten die diplomatischen Beziehungen
Deutschlands zu anderen Staaten beeinträchtigt . Trotz-
dem ist die Frage zu beantworten, ob wir eine Regelung,
die aus dem 19 . Jahrhundert stammt, heute tatsächlich
noch brauchen oder ob die allgemeinen Normen der
§§ 185 ff . ausreichend sind .
Was den ersten Punkt anbelangt, ist die Antwort klar .
Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich; das ist rich-
tig . Deswegen brauchen wir keine erhöhte Strafandro-
hung für Vertreter anderer Staaten oder deren Organe . Ich
glaube zudem, dass sich die Verhältnisse seit 1871 bzw .
im Vergleich zu noch älteren Landesstrafgesetzbüchern,
aus denen die infragestehende Formulierung stammt,
grundlegend verändert haben . Damals wurde die Belei-
digung des Souveräns, des Staatsoberhauptes, mit einer
Beleidigung des Staates gleichgesetzt. Das hat häufig den
Ausbruch von Kriegen mit hohem Blutzoll zur Folge ge-
habt . Staatspolitisch ist daher durchaus nachvollziehbar,
dass man der Meinung war, die Verhinderung größerer
Schäden rechtfertige, den Einzelnen härter zu bestrafen .
(Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist also ein Kriegsverhinde-
rungsparagraf? Leute!)
Das ist aus meiner Sicht heute nicht mehr der Fall . Das
hat sich grundlegend verändert . So gesehen brauchen wir
die Vorschrift des § 103 nicht mehr .
Vieles kann uns darin durchaus bestärken . Das zeigt
ein Blick in die Geschichte . Wie oft ist denn § 103 ein-
schlägig bzw . angewandt worden?
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Und in welchen Fällen!)
Sie haben das Beispiel aus dem Jahr 1964 mit dem Schah
genannt . Des Weiteren hat dieser Paragraf 1975 im Zu-
sammenhang mit der chilenischen Militärdiktatur und
2006 im Zusammenhang mit Papst Benedikt eine Rolle
gespielt . Aber es handelt sich insgesamt um nur wenige
Fälle . Das, was man im 19 . Jahrhundert als Hintergrund
für diese Vorschrift gesehen hat, ist heute kaum mehr
denkbar und vorstellbar . Deswegen sind wir im Ergeb-
Alexander Hoffmann
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23489
(A) (C)
(B) (D)
nis der Auffassung, dass man § 103 abschaffen kann .
Wir wären damit nicht alleine auf der Welt . Wenn wir in
die europäische Nachbarschaft schauen, dann stellen wir
fest, dass ähnliche Regelungen beispielsweise in Frank-
reich, Schweden und Finnland abgeschafft wurden . Das
ist auch vertretbar .
Der Fall Erdogan hat uns vor einem Jahr gezeigt, dass
diese Vorschrift in ihr Gegenteil verkehrt werden kann –
Herr Dr . Bartke, Sie haben das angesprochen –, dass sie
anderen Staatschefs als Einfallstor dazu dienen kann, ihre
innenpolitischen Probleme zu uns zu tragen . Wenn es
sich dabei um jemanden wie Herrn Erdogan handelt, der
vorgibt, einen größeren Teil unserer Bevölkerung, näm-
lich die Türken und die Türkischstämmigen, zu repräsen-
tieren, dann kann das Desintegration in unserer Gesell-
schaft zur Folge haben . Das kann dann auch die Folge
von Destabilisierung in unserer Gesellschaft haben . Das
ist das Gegenteil unseres Interesses . Deswegen glaube
ich, dass es im Endeffekt richtig ist, § 103 abzuschaffen .
Das ist das Ergebnis einer ausführlichen Debatte auch bei
uns in der Fraktion . Das ist keine 100 : 0-Entscheidung,
wie oft im Leben, aber mindestens eine 70 : 30-Entschei-
dung . Deswegen ist dieser Gesetzentwurf richtig .
Vielen Dank .
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
ordneten der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn:
Damit schließe ich die Debatte .
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 18/11243 und 18/11616 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen . Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der
Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen .
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am
Ende unserer Tagesordnung angekommen .
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 17 . Mai 2017, 13 Uhr, ein .
Ich wünsche Ihnen ein sehr schönes Wochenende; er-
holen Sie sich gut . Die Sitzung ist geschlossen .
(Schluss: 14:56 Uhr)
Thorsten Frei
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23491
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 28 .04 .2017
De Ridder, Dr . Daniela SPD 28 .04 .2017
Dobrindt, Alexander CDU/CSU 28 .04 .2017
Dörner, Katja BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
28 .04 .2017
Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
28 .04 .2017
Ehrmann, Siegmund SPD 28 .04 .2017
Fabritius, Dr . Bernd CDU/CSU 28 .04 .2017
Flachsbarth, Dr . Maria CDU/CSU 28 .04 .2017
Freudenstein, Dr . Astrid CDU/CSU 28 .04 .2017
Gabriel, Sigmar SPD 28 .04 .2017
Gröhe, Hermann CDU/CSU 28 .04 .2017
Hein, Dr . Rosemarie DIE LINKE 28 .04 .2017
Hellmich, Wolfgang SPD 28 .04 .2017
Hirte, Dr . Heribert CDU/CSU 28 .04 .2017
Hofreiter, Dr . Anton BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
28 .04 .2017
Hornhues, Bettina CDU/CSU 28 .04 .2017
Irlstorfer, Erich CDU/CSU 28 .04 .2017
Jung, Xaver CDU/CSU 28 .04 .2017
Kauder, Volker CDU/CSU 28 .04 .2017
Kiesewetter, Roderich CDU/CSU 28 .04 .2017
Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
28 .04 .2017
Krings, Dr . Günter CDU/CSU 28 .04 .2017
Kudla, Bettina CDU/CSU 28 .04 .2017
Kühn (Tübingen),
Christian
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
28 .04 .2017
Lach, Günter CDU/CSU 28 .04 .2017
Lay, Caren DIE LINKE 28 .04 .2017
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 28 .04 .2017
Leutert, Michael DIE LINKE 28 .04 .2017
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Leyen, Dr . Ursula von
der
CDU/CSU 28 .04 .2017
Liebing, Ingbert CDU/CSU 28 .04 .2017
Malecha-Nissen, Dr .
Birgit
SPD 28 .04 .2017
Meister, Dr . Michael CDU/CSU 28 .04 .2017
Middelberg, Dr . Mathias CDU/CSU 28 .04 .2017
Möring, Karsten CDU/CSU 28 .04 .2017
Obermeier, Julia CDU/CSU 28 .04 .2017
Pau, Petra DIE LINKE 28 .04 .2017
Pflugradt, Jeannine SPD 28 .04 .2017
Post, Florian SPD 28 .04 .2017
Pronold, Florian SPD 28 .04 .2017
Rösel, Kathrin CDU/CSU 28 .04 .2017
Schlecht, Michael DIE LINKE 28 .04 .2017
Schmidt (Fürth),
Christian
CDU/CSU 28 .04 .2017
Schön (St . Wendel),
Nadine
CDU/CSU 28 .04 .2017
Schröder (Wiesbaden),
Dr . Kristina
CDU/CSU 28 .04 .2017
Schwabe, Frank SPD 28 .04 .2017
Sendker, Reinhold CDU/CSU 28 .04 .2017
Siebert, Bernd CDU/CSU 28 .04 .2017
Steinbach, Erika fraktionslos 28 .04 .2017
Stockhofe, Rita CDU/CSU 28 .04 .2017
Stritzl, Thomas CDU/CSU 28 .04 .2017
Tank, Azize DIE LINKE 28 .04 .2017
Terpe, Dr . Harald BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
28 .04 .2017
Thews, Michael SPD 28 .04 .2017
Thönnes, Franz SPD 28 .04 .2017
Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 28 .04 .2017
Zertik, Heinrich CDU/CSU 28 .04 .2017
*aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723492
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 2
Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung
Der Bundesrat hat in seiner 956 . Sitzung am 31 . März
2017 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu-
stimmen bzw . einen Antrag gemäß Artikel 77 Absatz 2
des Grundgesetzes nicht zu stellen:
– Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung
in der GKV (GKV-Arzneimittelversorgungsstär-
kungsgesetz – AMVSG)
– Gesetz zur Verbesserung der Fahndung bei beson-
deren Gefahrenlagen und zum Schutz von Beam-
tinnen und Beamten der Bundespolizei durch den
Einsatz von mobiler Videotechnik
– Gesetz zur Änderung des Bundesdatenschutzgeset-
zes – Erhöhung der Sicherheit in öffentlich zugäng-
lichen großflächigen Anlagen und im öffentlichen
Personenverkehr durch optisch-elektronische Ein-
richtungen (Videoüberwachungsverbesserungsge-
setz)
– Gesetz zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union zur Arbeits-
migration
– Gesetz zur Reform des Bauvertragsrechts, zur Än-
derung der kaufrechtlichen Mängelhaftung, zur
Stärkung des zivilprozessualen Rechtsschutzes
und zum maschinellen Siegel im Grundbuch- und
Schiffsregisterverfahren
Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung ge-
fasst:
a) Der Bundesrat begrüßt die Bemühungen der Bundesre-
gierung, durch das Vorsehen von Spezialkammern und
-senaten eine häufige Befassung eines Spruchkörpers
mit einer bestimmten Rechtsmaterie sicherzustellen
und hierdurch eine Steigerung der Rechtsprechungs-
qualität zu erzielen .
b) Allerdings mahnt der Bundesrat ein an den Usancen
ausgerichtetes Gesetzgebungsverfahren an, das – ge-
rade bei derartigen Eingriffen in das Gerichtsorganisa-
tions- und Verfahrensrecht – eine adäquate Einbezie-
hung der gerichtlichen Praxis des Geschäftsbereichs
ermöglicht . Ein Grund für ein derart abgekürztes Ver-
fahren über parlamentarische Änderungsanträge ist
nicht ersichtlich . Der Bundesrat bittet die Bundesre-
gierung daher, zukünftig dafür Sorge zu tragen, dass
die Landesjustizverwaltungen in derartigen Gesetzes-
vorhaben so frühzeitig einbezogen werden, dass eine
Beteiligung des Geschäftsbereichs erfolgen kann .
c) Zugleich bittet der Bundesrat die Bundesregierung, die
nunmehr vorgelegten Regelungen zur Spezialisierung
nicht als Abschluss der gesetzgeberischen Tätigkeit
zu dieser Thematik zu begreifen . Eine weitergehende
Diskussion wird insbesondere hinsichtlich der folgen-
den Punkte für notwendig erachtet:
– Umfang der Spezialisierung,
– Konzentrationsermächtigung für die in den §§
72a, 119a GVG-E genannten Spezialgebiete und
– Änderung des § 348a ZPO .
Begründung:
Erst im Januar diesen Jahres wurde seitens des BMJV
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die
unter anderem Gelegenheit geben sollte, sich mit dem
Thema der Spezialisierung intensiver zu befassen . Die
aufgrund der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Recht und Verbraucherschutz des Deutschen Bundes-
tages (vgl . BT-Drucksache 18/11437) erfolgten Ände-
rungen nehmen den Landesjustizverwaltungen jegliche
Möglichkeit, unter Beteiligung der gerichtlichen Praxis
und der Einbeziehung der dort vorhandenen Expertise
die Auswahl der in Rede stehenden Sachgebiete mit zu
gestalten .
Eine wirkliche Spezialisierung mit der damit an-
gestrebten Verbesserung der fachlichen Expertise, der
besonderen Erfahrung im Umgang mit der jeweiligen
Rechtsmaterie und einer Steigerung der Rechtspre-
chungsqualität dürfte voraussetzen, dass auch in den
Präsidien und den Spruchkörpern des jeweiligen Ge-
richts die grundlegende Überzeugung und der Wille zur
Spezialisierung bestehen . Andernfalls sind mannigfalti-
ge Varianten einer „Spezialzuweisung auf dem Papier“
denkbar (etwa durch eine Verteilung der Spezialgebiete
auf nahezu alle Zivilkammern), die im Ergebnis indes
nicht zu den erwünschten Vorteilen der Spezialisierung
führen werden .
Neben den in den §§ 72a und 119a GVG genannten
und dem Katalog des § 348 Absatz 1 Nummer 2 ZPO
entnommenen Rechtsgebieten macht eine obligatorische
Spezialisierung gegebenenfalls auch in weiteren Berei-
chen Sinn, beispielsweise für Streitigkeiten über Ansprü-
che aus Veröffentlichungen durch Druckerzeugnisse,
Bild- und Tonträger jeder Art, insbesondere in Presse,
Rundfunk, Film und Fernsehen (vgl . § 348 Absatz 1
Nummer 2a ZPO), für Streitigkeiten aus der Berufstä-
tigkeit der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Steu-
erberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer und
vereidigten Buchprüfer (vgl . § 348 Absatz 1 Nummer 2d
ZPO), für Anfechtungssachen nach dem Anfechtungs-
gesetz und der Insolvenzordnung, für Insolvenzsachen,
für gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten, für Erbschafts-
streitigkeiten oder für Streitigkeiten aus dem EEG . Auch
über eine Spezialisierung in den Kammern für Handels-
sachen oder an den Amtsgerichten sollte zumindest nach-
gedacht werden .
Zu kritisieren ist, dass die §§ 72a, 119a GVG nicht die
Ermächtigung der Landesregierungen zur Konzentration
durch Rechtsverordnung vorsehen . Gerade an den klei-
neren und ländlichen Standorten kann voraussichtlich
nur durch Zusammenziehung sämtlicher Verfahren meh-
rerer Landgerichtsbezirke ein ausreichend hohes Fallauf-
kommen generiert werden, um überhaupt eine „echte“
Spezialisierung für einzelne Spruchkörper zu erreichen .
Auch auf der Ebene der Oberlandesgerichte sind Zustän-
digkeitskonzentrationen besonders geeignet, ein Höchst-
maß an Qualität und Rechtssicherheit zu gewährleisten .
Das Gesetz befasst sich in keiner Weise mit der Frage,
ob im Zusammenhang mit der vorgesehenen obligato-
rischen Spezialisierung an den Landgerichten nicht zu-
gleich auch die Regelung des § 348a ZPO einer Überprü-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23493
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fung und Änderung bedarf . Zwar stellt die Begründung
des dem Gesetz zugrunde liegenden Gesetzentwurfes
darauf ab, dass für die spezialisierten Sachgebiete die
originäre Zuständigkeit der Kammer begründet sein soll,
§ 348a Absatz 1 ZPO bleibt hingegen unberührt . Da-
durch wird es auch in den spezialisierten Sachgebieten
weiterhin möglich sein, durch Beschluss den Rechtsstreit
einem Kammermitglied zur Verhandlung und Entschei-
dung zu übertragen . Die bisherige Praxis an zahlreichen
Landgerichten zeigt, dass auch dort, wo bereits spezi-
alisierte Spruchkörper im Rahmen des § 348 Absatz 1
Satz 2 Nummer 2 ZPO eingerichtet sind, von den Über-
tragungsmöglichkeiten in großem Umfang Gebrauch ge-
macht wird und damit trotz grundsätzlicher Geltung des
Kammerprinzips gleichwohl faktisch häufig Einzelrich-
ter entscheiden . Die Vorteile des Kammerprinzips, gera-
de auch für die Einarbeitung dienstjunger Richterinnen
und Richter, gehen dadurch aber weitgehend verloren .
Entsprechendes gilt in der Folge auch im Rahmen des
§ 526 ZPO, wobei hier weniger die Einarbeitung junger
Richterinnen und Richter, als vielmehr die hohe Qualität
und Einheitlichkeit der Rechtsprechung im Vordergrund
stehen dürften .
– … Gesetz zu Änderung des Strafgesetzbuches –
Strafbarkeit von Sportwettbetrug und der Mani-
pulation von berufssportlichen Wettbewerben
– Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Bericht-
erstattung der Unternehmen in ihren Lage- und
Konzernlageberichten (CSR-Richtlinie-Umset-
zungsgesetz)
– Gesetz zu dem Übereinkommen vom 19. Februar
2013 über ein Einheitliches Patentgericht
– Gesetz zur Anpassung patentrechtlicher Vorschrif-
ten auf Grund der europäischen Patentreform
– Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von
Konzerninsolvenzen
– Gesetz zur Änderung des Güterkraftverkehrsge-
setzes, des Fahrpersonalgesetzes, des Gesetzes zur
Regelung der Arbeitszeit von selbständigen Kraft-
fahrern, des Straßenverkehrsgesetzes und des Ge-
setzes über die Errichtung eines Kraftfahrt-Bun-
desamtes
– Drittes Gesetz zur Änderung des Binnenschiff-
fahrtsaufgabengesetzes
– Neuntes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen
Wettbewerbsbeschränkungen
Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung ge-
fasst:
1 . Der Bundesrat begrüßt das Gesetz grundsätzlich . Die
vom Bundesrat geforderten Ausnahmen vom Kartell-
verbot im Bereich des öffentlich-rechtlichen Rund-
funks (vgl . Beschluss des Bundesrates vom 25 . No-
vember 2016, BR-Drucksache 606/16 (B) Nummer
4) wurden jedoch bedauerlicherweise nicht aufge-
nommen . Der Bundestag ist dabei der Einschätzung
des Bundeswirtschaftsministeriums gefolgt, wonach
aus kartellrechtlicher Sicht die geforderte Bereichs-
ausnahme für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
nicht erforderlich sei und die bekannt gewordenen
Kooperationsvorhaben der öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten, insbesondere Kooperationen in-
nerhalb der ARD (zwischen den ARD-Gesellschaften)
und zwischen ARD und ZDF, unproblematisch seien .
Demnach würden die gewünschten Kooperationen der
öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten weder in
Konflikt mit dem Kartellverbot des § 1 GWB bezie-
hungsweise Artikel 101 Absatz 1 AEUV geraten kön-
nen noch im Fall eines Verstoßes es auf eine Freistel-
lungsfähigkeit nach § 2 GWB beziehungsweise § 101
Absatz 3 AEUV ankommen .
Der Bundesrat sieht gleichwohl Planungsunsicher-
heiten für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk . Diese
hätten ohne weiteres dadurch reduziert werden kön-
nen, dass solche Vereinbarungen analog zur entspre-
chenden Regelung für die Presse in § 30 Absatz 2b
GWB von § 1 GWB freigestellt werden würden . Dabei
hätte die Regelung nur für die Erfüllung des öffent-
lich-rechtlichen Rundfunkauftrags Anwendung finden
müssen, nicht aber für kommerzielle Aktivitäten wie
insbesondere den E-Commerce-Bereich, die Werbung,
das Sponsoring sowie das Merchandising . Der Bun-
desrat bedauert, dass die vorhandenen Gestaltungs-
möglichkeiten im Rahmen der 9 . GWB-Novelle nicht
genutzt worden sind, um größtmögliche Planungssi-
cherheit für die Rundfunkanstalten zu schaffen .
Die Bundesregierung wird deshalb gebeten, Sorge
dafür zu tragen, dass bei etwaigen kartellrechtlichen
Hindernissen bei den gewünschten Kooperationen der
Rundfunkanstalten eine Lösung gefunden wird, mit
der insbesondere den Grund-sätzen der Wirtschaft-
lichkeit und Sparsamkeit beim öffentlich-rechtlichen
Rundfunk genüge getan werden kann .
2 . Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, wei-
tere Maßnahmen zu ergreifen, die die Macht und die
Missbrauchsmöglichkeiten der marktbeherrschenden
Lebensmitteleinzelhändler insbesondere auf der Nach-
frageseite eindämmen .
Begründung:
Das Bundeskartellamt hat in seiner Sektorenuntersu-
chung zum Lebensmitteleinzelhandel vom September
2014 festgestellt, dass der deutsche Lebensmittelmarkt zu
85 Prozent von vier Unternehmen beherrscht wird . Dies
gilt sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfra-
geseite . Seither hat sich der Konzentrationsprozess im
Lebensmitteleinzelhandel weiter fortgesetzt . Die damit
verbundene Marktmacht hat erheblichen Einfluss auf die
Einkaufspreise . Die marktbeherrschenden Unternehmen
diktieren schon allein auf Grund ihrer Marktmacht Her-
steller- und Erzeugerpreise . Konkurrierende kleinere und
mittelständische Lebensmitteleinzelhändler haben dage-
gen schlechtere Einkaufskonditionen als die marktbeherr-
schenden Unternehmen und verlieren mittel- bis langfristig
ihre Wettbewerbsfähigkeit . Folge ist ein weiterer Konzen-
trationsprozess im Lebensmitteleinzelhandel mit all seinen
negativen Begleiterscheinungen . Zudem kann sich diese
Situation als existenzgefährdend für Hersteller und Erzeu-
ger auswirken . Die jüngsten Entwicklungen in der Bran-
che haben diese Situation verschärft . Die Regelungen zum
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 201723494
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so genannten Anzapfverbot und zum Verbot zum Verkauf
von unter Einstandspreisen haben sich insoweit als wir-
kungslos erwiesen . Die entsprechenden Neuregelungen
im Rahmen dieser Gesetzesnovelle werden daran nichts
ändern . Leidtragende der Konzentrationsprozesse sind
nicht nur kleine und mittlere Unternehmen auf Handels-
und Herstellerseite . Leidtragende sind insbesondere Ver-
braucherinnen und Verbraucher, die immer weniger Mög-
lichkeiten haben, sich der Preis- und der Angebotspolitik
der vier großen Einzelhandelskonzerne zu entziehen . Der
aktuelle Zustand im Lebensmitteleinzelhandel erfordert
daher Regelungen, die die Marktmacht und Missbrauchs-
möglichkeiten marktbeherrschender Lebensmitteleinzel-
händler in Deutschland eindämmen .
– Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU
im Städtebaurecht und zur Stärkung des neuen
Zusammenlebens in der Stadt
– Gesetz zur Änderung raumordnungsrechtlicher
Vorschriften
– Gesetz zu dem Abkommen vom 19. Februar 2016
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Finnland zur Vermeidung der Doppel-
besteuerung und zur Verhinderung der Steuerver-
kürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom-
men
– Erstes Gesetz zur Änderung des Infrastrukturab-
gabengesetzes
– Gesetz zur Änderung des Zweiten Verkehrsteu-
eränderungsgesetzes
– Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermö-
gensabschöpfung
– Gesetz zur Umsetzung der Berufsanerkennungs-
richtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften
im Bereich der rechtsberatenden Berufe
– Gesetz zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Suche
und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für
Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und an-
derer Gesetze
Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie
gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von
einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen
absehen:
Auswärtiger Ausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des
Europarats im Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni
2016
Drucksachen 18/11623, 18/11822 Nr. 7
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des
Europarats im Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezem-
ber 2016
Drucksachen 18/11624, 18/11822 Nr. 8
Innenausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Auswirkungen der §§ 30a und 42a
des Bundesdatenschutzgesetzes
Drucksachen 17/12319, 18/770 Nr. 5
– Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den
Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht 2011 und 2012 des Bundesbeauf-
tragten für den Datenschutz und die Informations-
freiheit
– 24. Tätigkeitsbericht –
Drucksachen 17/13000, 18/770 Nr. 6
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Auswirkun-
gen der Änderungen der §§ 28 und 29 des Bundes-
datenschutzgesetzes (BSDG) im Rahmen der zwei-
ten BDSG-Novelle
Drucksachen 18/3707, 18/3890 Nr. 1
– Unterrichtung durch die Bundesbeauftragte für den
Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht 2013 und 2014 der Bundesbeauf-
tragten für den Datenschutz und die Informations-
freiheit
– 25. Tätigkeitsbericht –
Drucksachen 18/5300, 18/5458 Nr. 2
Haushaltsausschuss
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsführung 2017
Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaus-
haltsordnung über die Kenntnisnahme einer über-
planmäßigen Ausgabe bei Kapitel 0603 Titel 532 14
– Betrieb von besonderen Aufnahmeeinrichtungen
– bis zur Höhe von 36,522 Mio. Euro
Drucksachen 18/11593, 18/11822 Nr. 3
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Fünfter Monitoring-Bericht „Energie der Zukunft“
Drucksachen 18/10708, 18/10924 Nr. 1.10
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 232 . Sitzung . Berlin, Freitag, den 28 . April 2017 23495
(A) (C)
(B) (D)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak-
torsicherheit
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung nach § 37g des Bun-
des-Immissionsschutzgesetzes über die Umsetzung
und Effekte der Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsver-
ordnung respektive der Biomassestrom-Nachhal-
tigkeitsverordnung für den Berichtszeitraum 2013
bis 2014
Drucksachen 18/10041, 18/10307 Nr. 6
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016
Drucksache 18/8825
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni-
onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer
Beratung abgesehen hat .
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Drucksache 18/11229 Nr . A .20
Ratsdokument 15811/16
Ausschuss für Ernährung
und Landwirtschaft
Drucksache 18/11693 Nr . A .11
EP P8_TA-PROV(2017)0042
Drucksache 18/11693 Nr . A .12
Ratsdokument 6575/17
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Drucksache 18/10932 Nr . A .24
Ratsdokument 15203/16
Drucksache 18/11229 Nr . A .26
Ratsdokument 5074/17
Drucksache 18/11484 Nr . A .17
Ratsdokument 5671/17
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung
Drucksache 18/10932 Nr . A .29
Ratsdokument 14773/16
Drucksache 18/10932 Nr . A .30
Ratsdokument 15159/16
Ausschuss für Kultur und Medien
Drucksache 18/8936 Nr . A .28
Ratsdokument 9479/16
Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
232. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 37, ZP 6 Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
ZP 7 u. 8 Ausfuhr von Brennelementen
TOP 39 Strafrechtliche Rehabilitierung - Homosexualität
ZP 9 Bekämpfung von Kinderehen
TOP 41 Personalbemessung in den Krankenhäusern
TOP 40 Straftaten gegen ausländische Staaten
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2