3) Anlage 6
4) Anlage 7
Vizepräsidentin Claudia Roth
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21907
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16 .02 .2017
Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16 .02 .2017
Ebner, Harald BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16 .02 .2017
Gabriel, Sigmar SPD 16 .02 .2017
Groth, Annette DIE LINKE 16 .02 .2017
Heil (Peine), Hubertus SPD 16 .02 .2017
Künast, Renate BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16 .02 .2017
Lanzinger, Barbara CDU/CSU 16 .02 .2017
Leutert, Michael DIE LINKE 16 .02 .2017
Lotze, Hiltrud SPD 16 .02 .2017
Noll, Michaela CDU/CSU 16 .02 .2017
Obermeier, Julia CDU/CSU 16 .02 .2017
Oppermann, Thomas SPD 16 .02 .2017
Ripsam, Iris CDU/CSU 16 .02 .2017
Rüthrich, Susann * SPD 16 .02 .2017
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16 .02 .2017
Schlecht, Michael DIE LINKE 16 .02 .2017
Schmidt, Dr . Frithjof BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
16 .02 .2017
Sitte, Dr . Petra DIE LINKE 16 .02 .2017
Strenz, Karin CDU/CSU 16 .02 .2017
Thissen, Dr . Karin SPD 16 .02 .2017
Vogt, Ute SPD 16 .02 .2017
Wawzyniak, Halina DIE LINKE 16 .02 .2017
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Werner, Katrin DIE LINKE 16 .02 .2017
Ziegler, Dagmar SPD 16 .02 .2017
Zollner, Gudrun CDU/CSU 16 .02 .2017
*aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
rung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach
der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungs-
gesetz (Zusatztagesordnungspunkt 7)
Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): 1 . Mit dem heute –
endlich – zum Ende kommenden Gesetzgebungsverfah-
ren werden wir entsprechend unserer Koalitionsverein-
barung das Insolvenzanfechtungsrecht im Interesse der
Planungssicherheit des Geschäftsverkehrs sowie des Ver-
trauens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in aus-
gezahlte Löhne reformieren. Gleichzeitig wird die Effizi-
enz von Insolvenzverfahren gesteigert, und es wird eine
frühere Insolvenzantragstellung gefördert . Dabei besteht
zwischen uns Rechtspolitikern auch Einigkeit, dass öf-
fentliche Gläubiger grundsätzlich in gleichem Maße von
der Reform profitieren wie private Gläubiger und für die-
se keine Schlechterstellung gegenüber dem Status quo
vorgenommen wird .
2. Eine Besserstellung öffentlicher Gläubiger über das
Maß hinaus, in welchem diese bereits wie alle anderen
Gläubiger von der vorgeschlagenen Neuregelung profi-
tieren, haben wir dabei aber andererseits als nicht gebo-
ten angesehen. Unzutreffend erscheint es dabei vor al-
len Dingen, einen besonderen Schaden des Fiskus allein
mit den an diesen aufgrund von Insolvenzanfechtungen
abfließenden Beträgen zu begründen. Denn dabei wird
nicht berücksichtigt, dass diese der Masse zufließenden
Beträge die Befriedigungschancen aller Insolvenzgläubi-
ger – und zunächst der Massegläubiger – erhöhen . Da der
Fiskus aber in der Regel mit Umsatzsteuerforderungen
in erheblichem Umfang auch Massegläubiger ist, würde
eine Reduktion von Anfechtungsmöglichkeiten zu seinen
Lasten gleichzeitig seine Befriedigungschancen als Mas-
segläubiger verringern. Dieser Effekt wäre daher auch in
den entsprechenden Berechnungen zu berücksichtigen .
Zudem führt die infolge von Insolvenzanfechtungen
steigende Quote zu entsprechenden Mehreinnahmen der
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Insolvenzgläubiger und damit bei diesen zu – in aller Re-
gel steuerpflichtigen – Gewinnen bzw. zu einer entspre-
chenden Verringerung früherer Verluste (infolge von Ab-
schreibungen). Auch dieser Effekt ist in einer allein auf
den einmaligen Zahlungseffekt abstellenden Betrachtung
nicht berücksichtigt .
Schließlich führt eine Erhöhung der Insolvenzmasse
auch zu einer Erhöhung der Vergütung des Insolvenz-
verwalters, die wiederum ebenfalls zu entsprechenden
Mehreinnahmen bei Ertrags- und Umsatzsteuer führt .
Auch dies müsste bei einer allein auf einen Mittelab-
fluss an den Insolvenzverwalter abstellenden Betrach-
tung berücksichtigt werden . Dabei kann man durchaus
zu Recht Vorbehalte gegen die erheblichen Kosten eines
Insolvenz verfahrens haben, weil die aktuelle insolvenz-
rechtliche Vergütungspraxis Fehlanreize in Bezug auf
die Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen setzt .
Denn es besteht ein Missverhältnis in Bezug auf die an-
gefochtenen Zahlungen zwischen den aus Anfechtung
stammenden Einnahmen und der daraus resultierenden
Erhöhung der Quote für die Gläubiger .
Der (bloßen) Gleich(und nicht: Besser-)behandlung
des Fiskus im Bereich der Insolvenzanfechtung kann
auch nicht entgegengehalten werden, dass es letztlich nur
in einer geringen Zahl von Insolvenzverfahren zu einer
Betriebsfortführung kommt (Eröffnet im Jahr 2009, be-
endet bis 31 . Dezember 2013: 1058 von 13 600, Quelle:
Destatis) . Vielmehr muss darauf abgestellt werden, dass
es bei 628 dieser 1058 Betriebsfortführungen zu einer
erfolgreichen Sanierung kam . Darüber hinaus ist zu be-
rücksichtigen, dass eine asymmetrische Bevorzugung
des Fiskus sogar zu einer überproportionalen Verkleine-
rung der Zahl dieser (erfolgreichen) Betriebsfortführun-
gen führen würde .
Im Einzelnen:
3 . Die jetzt vorgeschlagene Änderung des § 14 InsO
stellt sicher, dass sich ein Schuldner nicht durch die ge-
zielte Bedienung von bestimmten Forderungen einem
geordneten Insolvenzverfahren entziehen kann . Das ist
nachdrücklich zu begrüßen .
4 . Die im Regierungsentwurf vorgeschlagene Re-
gelung des § 131 Absatz 1 InsO haben wir jedoch als
verfehlt angesehen und deshalb gestrichen . Eine Quali-
fikation von Handlungen, bei denen die Sicherung oder
Befriedigung durch Zwangsvollstreckung oder zu deren
Abwendung bewirkt wurde, als kongruent ist schon be-
zogen auf rein gerichtlich erworbene Titel, wie es noch
im Referentenentwurf vorgesehen war, nicht angezeigt .
Insbesondere würde dies zu früheren und schnelleren
Einzelzwangsvollstreckungen führen und so gerade den
Wettlauf der Gläubiger erneut befeuern . Dadurch würden
gerade besonders gut informierte Gläubiger davon abge-
halten, möglichst früh einen Insolvenzantrag zu stellen .
Zudem wäre die Masse bei einem letztendlich gestellten
Insolvenzantrag so weit ausgehöhlt, dass die Finanzie-
rung des Verfahrens, jedenfalls aber die Finanzierung ei-
ner soliden Restrukturierung, sehr fraglich wäre .
Eine Erweiterung dieses Privilegs – wie dann im Re-
gierungsentwurf vorgeschlagen – auf sämtliche Titel
einschließlich derer des Fiskus und der Sozialversiche-
rungsträger ist daher noch deutlicher abzulehnen . Die
Möglichkeit, Titel selbst zu erstellen, ohne vorher ein Ge-
richtsverfahren zu durchlaufen, würde diesen gegenüber
privaten Gläubigern einen nicht unerheblichen Zeitvor-
sprung verschaffen. Durch den faktisch früheren Zugriff
auf die Masse würde diese Gläubigergruppe gegenüber
privaten Gläubigern daher signifikant bevorzugt.
In diesem Zusammenhang geht auch der Verweis auf
die Möglichkeit privater Gläubiger, relativ schnell einen
Mahnbescheid zu erlangen, fehl . Denn die Vollstreckbar-
keit aus einem Mahn- bzw . Vollstreckungsbescheid kann
durch schlichten, nicht einmal begründeten und ohne Be-
teiligung eines Rechtsanwalts möglichen Widerspruch
blockiert werden (§ 694 ZPO) . Bei einem Steuer- oder
Abgabenbescheid ist angesichts der fehlenden aufschie-
benden Wirkung eines Einspruchs die Vollstreckbarkeit
demgegenüber nur mit einem gerichtlichen Verfahren zu
verhindern. Damit ist der „zeitliche Vorteil“ von Fiskus
und Sozialversicherungsträgern auch nicht etwa nur auf
einige Monate beschränkt .
Auch ein mehrfach in der Literatur diskutierter Ver-
weis des Verwalters auf eine Anfechtung ebendieser Zah-
lungen nach § 130 InsO geht fehl: denn es würde sich
die Rückzahlung der Beträge – selbst bei Kenntnis des
Gläubigers von der Zahlungsunfähigkeit – aufgrund der
erhöhten Beweisanforderungen deutlich verzögern und
so einem Insolvenzverfahren die gerade zu Beginn benö-
tigte Liquidität entziehen .
5 . Die im Regierungsentwurf vorgeschlagene Reform
des § 133 Absatz 2 InsO ist grundsätzlich positiv zu se-
hen, weil sie in erheblichem Maße die Rechtssicherheit
für Gläubiger in Bezug auf Insolvenzanfechtungen ver-
bessert. Bereits durch die Anknüpfung an den Begriff der
eingetretenen Zahlungsunfähigkeit bei der Anfechtung
von kongruenten Deckungen – statt wie bisher schon
an eine bloß drohende Zahlungsunfähigkeit – wird der
Kreis der Anfechtungsgegner deutlich reduziert . Auch
durch diese deutlich höhere Beweisanforderung wird die
Zahl der Anfechtungsversuche von Insolvenzverwaltern,
welche heute häufig in außergerichtlichen Vergleichen
enden, stark zurückgehen .
Insbesondere die vorgesehene Regelung, nach der
Zahlungsvereinbarungen oder sonstige Zahlungser-
leichterungen für sich genommen nicht als Indiz für
die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit gewertet werden
dürfen, wird dazu führen, dass heute übliche Zahlungs-
erleichterungen insolvenzfest sein werden . Insbesonde-
re übliche Stundungsvereinbarungen von Finanzämtern
oder Inkassounternehmen werden ohne das Hinzutreten
weiterer Umstände in Zukunft nicht mehr dazu führen,
dass Rückzahlungsansprüche gegenüber Insolvenzver-
waltern bestehen .
Die vorgenommene Fristverkürzung für kongruen-
te Deckungen auf vier Jahre ist sachgerecht und sollte
auch nicht weiter reduziert werden . Insbesondere wurden
die von verschiedenen Industrie- und Handelskammern
vorgetragenen Vergleiche mit entsprechenden auslän-
dischen Regelungen nach ausführlicher Diskussion als
nicht durchgreifend bewertet . Die vorgetragenen aus-
ländischen Anfechtungsregelungen sind nur schwer mit
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21909
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den deutschen vergleichbar und entstammen zudem völ-
lig anderen Systemen, die auch bei anderen Regelungen
andere Wertentscheidungen getroffen haben; gerade An-
fechtungsfristen müssen jedoch im Kontext des gesam-
ten Systems gesehen werden und sollten nicht isoliert
betrachtet werden .
6 . Wir konnten uns auch nicht die Forderung des Bun-
desrates zu eigen machen, im Rahmen der Änderung
von § 142 InsO statt wie bislang auf den an den Arbeit-
nehmer ausgezahlten Nettolohn auf den Bruttolohn ab-
zustellen – und damit die bislang mögliche Anfechtung
von Lohnsteuerzahlungen und Sozialabgaben seitens des
Arbeitgebers an das Finanzamt bzw . die Einzugsstelle
auszuschließen bzw . zu begrenzen . Dabei ist zunächst
hervorzuheben, dass die Stellung des Fiskus und der
Sozialversicherungsträger insoweit nicht mit der der Ar-
beitnehmer vergleichbar ist . Entscheidend ist zunächst,
dass ihre Leistungen nicht in einem Gegenseitigkeits-
verhältnis zur Arbeitsleistung des Arbeitnehmers stehen .
Deshalb sind sie zwar „Zwangsgläubiger“, aber es gibt
andererseits auch keinen im Gegenseitigkeitsverhältnis
stehenden „Anspruch“ der gesetzlichen Gläubiger da-
rauf, dass überhaupt Arbeitsplätze geschaffen werden.
Schließlich dient die Insolvenzanfechtung der Einbezie-
hung von Zahlungen, die zu einem Zeitpunkt geleistet
wurden, in dem der Schuldner bereits materiell insolvent
war, in das formelle Insolvenzverfahren . Und das bedeu-
tet, dass die gesetzlichen Gläubiger im hypothetischen
Fall, dass rechtzeitig und früher ein Insolvenzantrag
gestellt worden wäre, ebenfalls und erst recht keine An-
sprüche hätten .
Auch das Argument, dass der Fiskus bei einer gegen
ihn gerichteten Anfechtung einer Lohnsteuerzahlung
die entsprechende Steuer unter Umständen „zweimal“
erstatten müsste, nämlich einmal an den Insolvenzver-
walter und ein zweites Mal im Rahmen der Berücksich-
tigung im Lohnsteuerjahresausgleich, ist falsch . Denn
hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer korrekt einbehalten,
so hat dieser den Lohnsteueranspruch des Fiskus gegen
den Arbeitnehmer erfüllt . Die Lohnsteuer-Schuld des
Arbeitnehmers erlischt nach § 47 AO (BFH I R 102/99
v . 29 .11 .2000, BStBl . II 2001, 195; VI R 57/04 v .
13 .12 .2007, BStBl . II 2008, 434) . Die Rechtslage ist so,
wie sie wäre, wenn der Arbeitnehmer an den Arbeitge-
ber zum Zwecke der Erfüllung geleistet hätte . Die einbe-
haltene Lohnsteuer ist damit i . S . v . § 36 Absatz 2 Num-
mer 2 EStG „erhoben“ (BFH VI R 67/90 v. 18.6.1993,
BStBl . II 1993, 182; so für die KapSt BFH VIII R 30/93
v . 23 .4 .1996, DB 1996, 2061) und muss deshalb auf die
Einkommensteuer angerechnet werden, und zwar unab-
hängig davon, ob sie an das Finanzamt abgeführt wur-
de (Wagner in: Blümich, Kommentar zum EStG § 42d
Rn . 88) . Würde man – was durchaus erwogen werden
könnte – diese Regelung für den Insolvenzfall ändern,
hätte dies zur Folge, dass der Arbeitnehmer selbst für die
Zahlung seiner Lohnsteuer haften würde . Das ist aber ein
sozialpolitisch untragbares Ergebnis .
Auf der Grundlage der Vorstellung des Bundesrates
würde es sich – auch hier – um ein Fiskusprivileg durch
die Hintertür handeln, das den Fiskus nur dann, dann
aber besonders privilegieren würde, wenn das insolvente
Unternehmen Arbeitnehmer beschäftigte, und es würde
zugleich auch die gerade in diesem Fall im Interesse ei-
nes Erhalts von Arbeitsplätzen besonders erforderliche
Massesicherung überproportional einschränken . Das ist
meines Erachtens weder sozialpolitisch akzeptabel noch
verfassungsrechtlich zulässig .
Dass andererseits den Fiskus auf der Basis der ver-
einnahmten, später aber aufgrund einer Anfechtung zu-
rückzuzahlenden Beträge Pflichten treffen, entspricht
den Risiken, die auch andere Anfechtungsschuldner tref-
fen . Damit steht der Fiskus insbesondere auch hier nicht
schlechter als ein privater Gläubiger; denn eine Rück-
zahlung an den Steuerbürger hätte in jedem Fall erfolgen
müssen . Der Fiskus hat also in diesem Fall nur einmal
aufgrund der Insolvenz eine Rückzahlung erbringen
müssen . Bei einem Lohnsteuererstattungsanspruch von
0 Prozent fällt außerhalb der Insolvenz eine Zahlung von
0 an und in der Insolvenz aufgrund einer Anfechtung eine
Zahlung von 100 Prozent; bei einem Rückerstattungsan-
spruch des Steuerbürgers außerhalb der Insolvenz fällt
eine Zahlung von 100 Prozent an, innerhalb der Insol-
venz nach einer Anfechtung von zusätzlichen 100 Pro-
zent, mithin in diesem Fall von 200 Prozent . Der Unter-
schied zwischen Zahlungsfluss außerhalb und innerhalb
beträgt jedoch in jedem Fall 100 Prozent – wie auch bei
einem privaten Gläubiger, der 100 Prozent der empfan-
genen Leistung zurückerstatten muss .
Im Bereich des § 142 InsO haben wir andererseits
aber klargestellt, dass auch „Drittzahlungen“ zumindest
in Bezug auf Arbeitnehmer anfechtungsfest sein können .
Ob die hier jetzt vorgesehene Regelung noch weiter zu
verallgemeinern (und dann unter Umständen in § 129
InsO zu verschieben) ist, wird später zu prüfen sein .
7 . Auch die in § 143 InsO vorgesehene veränderte Re-
gelung zum Fristbeginn bei Zinsansprüchen wird zu einer
massiven und zugleich kassenwirksamen Entlastung von
Gläubigern führen; insbesondere ist für diese nun auch
nachvollziehbar geregelt, dass ein Zinsanspruch erst be-
steht, sobald der Anspruch ernsthaft eingefordert wurde .
Dadurch werden Situationen vermieden, in denen bisher
ein Insolvenzverwalter einen grundsätzlich berechtigten
Anspruch bewusst erst kurz vor Ablauf der Verjährungs-
frist geltend gemacht hat, um in der aktuellen Niedrig-
zinsphase einen entsprechend großen zusätzlichen Zins-
ertrag für die Masse zu generieren .
Besonders freut mich, dass wir die Übergangsrege-
lung zum Gesetz so ausgestalten konnten, dass die Neu-
regelung bezüglich des Zinslaufs auch schon für laufen-
de Insolvenzverfahren gilt . Der typische mittelständische
Anfechtungsgegner, aber ebenso Arbeitnehmer wie Fis-
kus und Sozialversicherungsträger als Anfechtungsgeg-
ner erhalten damit eine unmittelbar mit Inkrafttreten des
Gesetzes wirkende Entlastung .
8 . Die Mühe hat sich gelohnt: Wir haben ein gutes Ge-
setz, und ich freue mich, dass auch Teile der Opposition
ihre Zustimmung angekündigt haben .
Dass es Fragen gibt, die wir jetzt nicht lösen konn-
ten, versteht sich von selbst . Dazu gehört etwa die Be-
handlung von Honoraren aus Beraterverträgen, die des-
halb besondere Schwierigkeiten macht, weil ein Berater
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zwangsläufig Kenntnis von der gesamten wirtschaftli-
chen Situation des zu beratenden Unternehmens hat . Ent-
scheidend dürfte hier sein, dass die Leistung (dokumen-
tierbar) einen ernsthaften Sanierungsversuch betraf .
Gleiches gilt für die eigentlich notwendige Einpassung
von § 64 (früher Absatz 1) GmbHG und § 93 Absatz 3
Nummer 6 AktG (der Sache nach anfechtungsrechtliche
Normen) in das System des Insolvenzanfechtungsrechts .
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Wenn ein Pri-
vatmann oder eine Firma in Insolvenz gerät, dann stehen
viele widerstreitende Interessen im Raum: Da sind die
Interessen der Gläubiger bezüglich ihrer Forderungen,
daneben aber auch zum Beispiel Interessen von Lieferan-
ten, die Ware geliefert haben, sich nun aber der Anfech-
tung der erhaltenen Bezahlung durch den Insolvenzver-
walter gegenübersehen . Aber denken wir zum Beispiel
auch an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen die
Anfechtung ausgezahlten Arbeitsentgelts droht . All diese
Interessen gilt es zu einem gerechten Ausgleich zu brin-
gen, und ich bin sehr froh, dass wir heute konstatieren
können, dass dies mit dem vorliegenden Entwurf gelingt .
Vor drei Jahren besuchte mich ein Baustoffhändler
in meiner Bürgersprechstunde . Er berichtete über einen
Kunden aus jahrelanger Geschäftsbeziehung . Den belie-
ferte er mit Waren im Wert von mehreren Hunderttausend
Euro – das auch regelmäßig unter Gewährung von Zah-
lungserleichterungen, was er als durchaus branchenüb-
lich bezeichnete . Zudem seien in der Baubranche in der
Übergangszeit viele Unternehmen „knapper bei Kasse“,
da die Saison erst richtig mit dem Frühjahr beginnt . Der
Bauunternehmer musste Insolvenz anmelden, und der
Insolvenzverwalter fordere jetzt vom Baustofflieferanten
über 400 000 Euro zurück . Er begründet dies damit, dass
dem Baustoffhändler die Zahlungsunfähigkeit faktisch
bekannt war, allein durch die Zahlungsaufschübe .
Bereits beim Zuhören merken wir, dass nach dem
Bauchgefühl da etwas nicht stimmen kann . Eine uner-
trägliche Situation der Rechtsunsicherheit für Lieferan-
ten! Das war allerdings Ergebnis einer Rechtsprechung,
die in den letzten Jahren sogar noch ausgeweitet wurde,
zumal die Vorsatzanfechtung in diesen Fällen bis zu zehn
Jahre zurück möglich ist . Daher ist es der einzig richtige
Weg, dass wir diese Schieflage der Interessen heute kor-
rigieren .
Nach der Neuregelung, die wir nun beschließen, soll
die Anfechtung in solchen Fällen nur vier Jahre zurück
ab Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mög-
lich sein . Zudem haben wir im Gesetz nun ausdrücklich
klargestellt, dass bei Gewährung von Zahlungserleich-
terungen zunächst einmal vermutet wird, dass die Zah-
lungsunfähigkeit nicht bekannt war . Das ist auch das Ein-
zige, was sachgerecht sein kann . Jemand, der von einer
Zahlungsunfähigkeit weiß, wird wohl kaum für mehrere
Hunderttausend Euro Ware liefern .
Ein zu hohes Maß an Rechtsunsicherheit gab es je-
doch auch aufseiten der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer . Uns allen aus dem Rechtsausschuss ist die
konkretisierende Rechtsprechung des BAG zu diesem
Themenfeld bekannt . Zum Schutze der Arbeitnehmer-
interessen wurde dort von anfechtungsausschließenden
Bargeschäften ausgegangen, wenn zwischen Arbeitser-
bringung und Zahlung des Entgelts nicht mehr als drei
Monate lagen . Darüber hinaus gab es weitere Bemühun-
gen des Bundesarbeitsgerichts, die Interessen der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen . Dem ist al-
lerdings spätestens mit der Rechtsprechung des BGH aus
dem Jahr 2014 ein Riegel vorgeschoben . Der zuständige
Senat sah damals die Grenzen der richterlichen Rechts-
fortbildung überschritten . Deshalb ist es wichtig, dass
wir auch in diesem Bereich heute für Klarheit sorgen .
Nun kann innerhalb von drei Monaten nach Leistungs-
erbringung ausgezahltes Arbeitsentgelt durch den Insol-
venzverwalter nur dann zurückgefordert werden, wenn
der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin wusste, dass
der Arbeitgeber mit der Auszahlung unlauter handelte .
Abschließend möchte ich Ihr Augenmerk noch auf
einen letzten Aspekt lenken: Zukünftig wird es Zinsen
für Rückgewähransprüche nach der Anfechtung nur noch
nach dem Eintritt des Verzugs geben . Denn man muss
feststellen, dass die bisherige Rechtslage in der Praxis
Fehlanreize schaffte. Nicht selten wurde der Rückforde-
rungsanspruch möglichst spät geltend gemacht, um die
Zinsforderung nach oben zu treiben . Das ist aber mit
dem Grundgedanken des Insolvenzrechts unvereinbar;
denn hier soll nur das zurückfließen, was den Gläubi-
gern tatsächlich entzogen wurde . Und der Verzug setzt
ohnehin voraus, dass dem Anfechtungsgegner der Rück-
forderungsanspruch bekannt ist . Das bedeutet, auch aus
dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit besteht hier kein
schutzwürdiges Interesse mehr .
Sie sehen: Das ist ein Gesetzentwurf, der den ausge-
wogenen Interessenausgleich in der Praxis erheblich ver-
bessert . Deshalb bitte ich um Zustimmung .
Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Hätte mir jemand
zu Beginn dieser Legislatur gesagt, dass die Beratungen
über wenige Paragraphen der Insolvenzordnung fast vier
Jahren dauern würden, hätte ich gesagt, dass der oder die
spinnt . Die Realität hat aber gezeigt, dass man aus dem
eigentlich rein technischen Thema große Politik machen
kann, vor allem, wenn man alles mit allem verknüpfen
will – ob es passt oder nicht . Aber das nennt man dann
wohl Politik .
Um was gehtʼs? Ein kleiner oder mittelständischer
Betrieb hat einen langjährigen Kunden . Er beliefert ihn
seit Jahren, bekommt sein Geld mal pünktlich und mal
mit Verzug . Gleiches gilt für Arbeitnehmer . Gut so, könn-
te man sagen . Ist nicht besonders schön, aber Hauptsache
bezahlt . Nun aber wird dieser Kunde oder Arbeitgeber
insolvent . Nicht schön, aber es passiert . Was jedoch dann
passiert, versteht kein Arbeitnehmer, kein Handwerker,
nur noch der Jurist . Denn plötzlich kommt ein dicker
Schriftsatz eines Insolvenzverwalters, in dem behauptet
wird, dass er ja von den Zahlungsschwierigkeiten des
Kunden gewusst haben müsse, zumindest nach den An-
gaben, die er aus den ihm übergegebenen Unterlagen und
Aussagen des Schuldners erschließen kann, und deshalb
müsse er jetzt alles das zurückfordern, was bis jetzt be-
zahlt wurde, und zwar bis zu zehn Jahre zurück; denn er
hätte ja wissen müssen, dass Insolvenz droht .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21911
(A) (C)
(B) (D)
Da wir die Problematik erkannten, haben wir im Ko-
alitionsvertrag vereinbart, im Interesse der Planungs-
sicherheit des Geschäftsverkehrs sowie des Vertrauens
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ausgezahlte
Löhne dies neu zu regeln. Denn immer häufiger bedienen
sich findige Verwalter und erhöhen die Insolvenzmasse,
indem sie bezahlte Rechnungen, ja sogar gezahlte Gehäl-
ter zurückfordern, auch das, was mühevoll über gerichtli-
ches Mahnverfahren oder Urteil im Wege der Teilzahlung
durch den Gerichtsvollzieher erstritten wurde . Mehrere
Monate begleiten wir Insolvenzverläufe, erleben, wie
Menschen und Existenzen an den Auswirkungen dieser
Regelung zerbrechen .
Mit dem heute zur Entscheidung anstehenden Gesetz
kann man leben, wenngleich es hinter dem durch den
Bundesjustizminister erarbeiteten Referentenentwurf
weit zurückbleibt . Trotzdem haben sich die langen und
mühsamen Verhandlungen, die zahlreichen Gesprächs-
runden mit unserem Koalitionspartner gelohnt, um letzt-
lich dieses Ergebnis zu erzielen .
Durch unsere Korrekturen wird die Praxis der Vorsatz-
anfechtung endlich wieder kalkulierbarer . Wir verkürzen
die Anfechtungsfrist von zehn auf vier Jahre . Unterneh-
men und Arbeitnehmer müssen nicht mehr fürchten,
rückwirkend Leistungen zurückzahlen zu müssen, die
sie vor zehn Jahren erhalten haben . Auch werden An-
fechtungen zurückliegender Geschäfte dadurch wesent-
lich erschwert, dass der Insolvenzverwalter zukünftig
nachweisen muss, dass der Gläubiger wusste, dass der
Schuldner zum Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses zah-
lungsunfähig war .
Der bessere Schutz von Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern ist mir als Sozialdemokrat dabei ein beson-
deres Anliegen . Mit den Änderungen schützen wir sie
davor, den verdienten Arbeitslohn wieder an den Insol-
venzverwalter zurückzahlen zu müssen . Lohnzahlungen
können künftig nicht mehr angefochten werden, wenn sie
spätestens drei Monate nach der Arbeitsleistung erfolgen .
Durch eine neue Zinsregelung beseitigen wir beste-
hende Fehlanreize zu einer schleppenden Durchsetzung
von Anfechtungsansprüchen und schützen Gläubiger
besser vor einer übermäßigen Zinsbelastung . Auch das
Prinzip der Gleichbehandlung aller Gläubiger konnte er-
halten bleiben .
So weit, so gut . Eine Gläubigergruppe bleibt jedoch
auf der Strecke: die, die sich einen gerichtlichen Titel
erstritten hatten, die hierfür auch nicht wenig Geld aus-
geben mussten . Ihnen einen besonderen Schutz zu ge-
währen, gelang uns leider nicht, da der Fiskus, der nicht
den Umweg über Gerichte gehen muss, das gleiche Recht
einforderte . Nachvollziehen kann ich dieses Interesse;
richtig und gerecht finde ich es nicht. Deshalb haben wir
es hier schweren Herzens bei der „Altregelung“ belassen,
um der Hintertür einen Riegel vorzuschieben .
Zum Schluss bedanke ich mich bei meinen Mitbericht-
erstattern für die Zusammenarbeit und erwarte – dies an
unseren Koalitionspartner gerichtet –, dass, wie verein-
bart, nächste Sitzungswoche die CSR-Richtlinie sowie
das Gesetz zur Bewältigung von Konzerninsolvenzen
vereinbarungsgemäß beraten und entschieden werden .
Dr. Johannes Fechner (SPD): Zugegeben: Die Re-
form des Anfechtungsrechtes in der Insolvenzordnung
haben wir sehr intensiv und lange diskutiert in der Koali-
tion. Aber ich finde, es hat sich gelohnt, wir haben wirk-
lich viele Verbesserungen für Unternehmen, vor allem
und gerade auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer in diesem Gesetz erreicht .
Wir beseitigen erhebliche Rechtsunsicherheiten, die in
den letzten Jahren sowohl für die Unternehmen als auch
für die Arbeitnehmer entstanden sind .
So verkürzen wir die Anfechtungsfrist von zehn auf
vier Jahre, das heißt, Unternehmen und Arbeitnehmer
müssen nicht mehr fürchten, rückwirkend die erhaltenen
Leistungen infolge einer Anfechtung zurückgewähren zu
müssen, schlimmstenfalls, nachdem sie selber ihre Leis-
tungen schon erbracht haben und die Geschäfte schon
viele Jahre zurückliegen .
Auch werden wir die Anfechtung von zurückliegen-
den Geschäften erschweren, indem wir zukünftig vom
Insolvenzverwalter fordern, dass er beweisen muss, dass
wiederum der Gläubiger des angefochtenen Geschäfts
die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners kannte . Bisher
musste der Insolvenzverwalter nur nachweisen, dass
der Gläubiger von einer drohenden Zahlungsunfähig-
keit wusste, was viel einfacher nachzuweisen ist . Durch
die jetzige Klarstellung schaffen wir ein hohes Maß an
Rechtssicherheit gerade für kleine und mittlere Unter-
nehmen .
Und wir stellen klar, dass die bloße Erleichterung von
Zahlungserleichterungen alleine keine Anfechtung ge-
rechtfertigt . Auch das ist eine wichtige Neuregelung zur
Schaffung von mehr Rechtssicherheit gerade für kleine
und mittlere Unternehmen .
Und durch eine weitere Neuregelung schützen wir
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, den verdienten
Arbeitslohn nicht wieder an den Insolvenzverwalter zu-
rückzahlen zu müssen . Lohnzahlungen können künftig
nicht mehr angefochten werden, wenn sie spätestens drei
Monate nach der Arbeitsleistung an den Arbeitnehmer
ausbezahlt wurden – und das insbesondere auch dann,
wenn die Lohnzahlung durch einen Dritten erbracht wird,
etwa wenn Beschäftigte in einem Konzern angestellt sind
und die Lohnzahlung durch ein anderes Unternehmen als
das Unternehmen aus dem Arbeitsvertrag erbracht wird .
Lange beraten haben wir auch die Einführung des so-
genannten Fiskusprivilegs, wobei für uns als SPD klar
war, dass wir kein Fiskusprivileg einführen wollen . Die
Diskussion hierüber war der Grund, warum sich die De-
batte so lange hingezogen hat . Wir meinen, dass auch im
Insolvenzverfahren gleiches Recht für alle gelten muss
und deshalb die Sozialkassen oder auch die Finanzämter
eben nicht den frühen Zugriff durch eigen geschaffene
Titel und auch dann noch in voller Höhe haben sollen
zulasten der Insolvenzmasse . Wenn wir dieses Fiskuspri-
vileg, wie etwa vom Finanzministerium gewünscht,
eingeführt hätten, dann hätte dies viele Arbeitsplätze ge-
fährdet, weil dann viele Insolvenzverfahren gar nicht erst
eröffnet worden wären, mit der Folge, dass Unterneh-
men, die eine Zukunftsperspektive gehabt hätten, nicht
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hätten saniert werden können, mit der Folge, dass dort
die Jobs verloren gehen .
Insofern ist das heute ein guter Tag für Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer gleichermaßen wie für die
Unternehmen . Es wird für Insolvenzverwalter einfacher
werden, Unternehmen zu sanieren, mit der Folge, dass
es bessere Chancen gibt, die Arbeitsplätze in insolventen
Unternehmen zu erhalten . Darüber hinaus erhalten Ar-
beitnehmer wie Unternehmer Rechtssicherheit dadurch,
dass erhaltende Leistungen bei weitem nicht mehr so ein-
fach angefochten werden können, wie dies in der Vergan-
genheit der Fall war .
Auch wenn wir lange diskutiert haben, dies ist ein gu-
tes Gesetz, stimmen Sie deshalb diesem Gesetz zu, meine
sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Im Jahr 2014 eska-
lierte ein seit der Einführung der Insolvenzordnung im
Jahr 1999 schon lange schwelender Streit unter Rechts-
gelehrten zwischen dem Bundesarbeitsgericht und dem
Bundesgerichtshof in Zivilsachen . Beide Gerichte hatten
unabhängig darüber zu befinden, unter welchen Voraus-
setzungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren
Arbeitslohn im Falle der Insolvenz ihres Arbeitgebers
behalten dürfen .
Ja, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Sie haben rich-
tig gehört . Leider dürfen Sie sich nicht darauf verlassen,
dass Sie für Ihre Arbeit auch entlohnt werden, wenn
erstmal der Kuckuck am Schreibtisch Ihres Chefs klebt .
Wenn die Insolvenz eintritt, spielt es keine Rolle mehr,
ob Sie sich für Ihren Chef und das Unternehmen Monate
vorher von früh bis spät bis zum Burn-out abgerackert
haben, um den Rubel am Rollen zu halten . Dann heißt
es Pech gehabt – Geld zurück, hinten anstellen und mit
Banken und anderen Geschäftspartnern um die wenigen
guten Linsen im Töpfchen streiten .
So profan formuliert es das Gesetz natürlich nicht .
Salbungsvoll ist von Insolvenzanfechtung, kongruenter
Deckung oder Bargeschäftsprivileg die Rede – ein Ge-
setz, das für betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in etwa so verständlich ist wie die Einstein’sche
Relativitätstheorie . Und über allem schwebt der Grund-
satz der Gläubigergleichbehandlung vom Elfenbeinturm
herunter . Ein Prinzip, das nicht zwischen den Starken
und Schwachen differenziert, sondern einfach alle über
den gleichen Kamm schert und daher wenig mit dem
verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz und
dem Sozialstaatsprinzip gemein hat .
Das Bundesarbeitsgericht kennt die Sorgen und Nöte
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus der Praxis .
Es entscheidet im Gegensatz zum Bundesgerichtshof mit
Unterstützung von ehrenamtlichen Richtern aus den Rei-
hen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber . Und das Bundes-
arbeitsgericht hat sich 2012 – gegen die überwältigende
Mehrheit der Stimmen in der juristischen Welt – dafür
stark gemacht, Arbeitslohn im Falle der Insolvenz bes-
ser als bisher zu schützen . Der Bundesgerichtshof hat die
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mit techno-
kratischer Kälte in der Luft zerrissen und damit große
Rechtsunsicherheit bei allen hinterlassen .
Ende 2015 sind die Sorgen und Nöte der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer endlich auch bei der
Bundesregierung angekommen . Mit dem vorliegenden
Gesetz hat man sich entschlossen, dem Bundesarbeits-
gericht zu folgen. Ein langer Zeitraum der Hilflosigkeit,
wenn man bedenkt, dass 9 von 10 Unternehmensinsol-
venzen Klein- und Kleinstbetriebe betreffen, in denen die
Wertschöpfung fast ausschließlich aus der Arbeitskraft
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern folgt .
Dass es auch schneller gehen kann, hat die große Ko-
alition erst kürzlich bei der Änderung der Insolvenzord-
nung zum Schutz der Finanzindustrie beim sogenannten
Liquidationsnetting gezeigt: Es dauerte nicht einmal ein
halbes Jahr vom Problem zum verabschiedeten Gesetz .
Wir begrüßen, dass das vorliegende Gesetz den Ar-
beitslohn der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu-
künftig endlich besser schützt als bisher . Dennoch müs-
sen wir uns enthalten . Ihr Gesetz reicht eben nicht aus,
den Arbeitslohn dem Zugriff des Insolvenzverwalters
zu entziehen . Auch zukünftig gibt es Mittel und Wege,
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Lohn zu
bringen .
Für die Linke ist das nicht akzeptabel . Arbeitslohn
darf niemals zur Disposition von Gläubigern und In-
solvenzverwaltern stehen . Ohne das Engagement der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gäbe es schlicht
keine Unternehmen . Schützen Sie den Arbeitslohn und
Arbeitnehmerinnen wie Arbeitnehmer bedingungslos vor
Gläubigern, und Sie können auf unsere Unterstützung
zählen .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was lange
währt, wird endlich gut – oder zumindest deutlich besser .
Nachdem ich es zwischenzeitlich schon nicht mehr für
möglich gehalten habe, haben Sie diesem Gesetz durch
Ihren im Ausschuss eingebrachten Änderungsantrag jetzt
doch noch die entscheidende Wendung verpasst . Sie ha-
ben die vom Finanzressort gewünschte Fiskusprivilegie-
rung wieder gestrichen . Herzlichen Glückwunsch!
Das war offenbar ein schwerer Kraftakt, bei dem sich
die Rechtspolitik gegenüber dem Finanzressort durchset-
zen musste . Im Referentenentwurf war ja ursprünglich
vorgesehen, dass die Zwangsvollstreckung aus gericht-
lichen Titeln nur noch beschränkt anfechtbar sein sollte .
Das war eigentlich ein guter Vorschlag . Gläubiger, die
nach langwierigen Prozessen endlich erfolgreich aus ei-
nem Urteil vollstreckt haben, wären anschließend vor der
Insolvenzanfechtung geschützt gewesen .
Was dann aber im Regierungsentwurf drinstand, ging
weit darüber hinaus: Nun sollten alle Arten von Zwangs-
vollstreckungen im Rahmen der Anfechtung privilegiert
werden: auch die der Finanzverwaltung und der Sozial-
versicherungsträger . Der Haken an dieser Privilegierung:
Diese Behörden können ihre vollstreckbaren Titel selbst
erstellen und sind gar nicht auf ein Gerichtsverfahren an-
gewiesen . So hätten Finanz- und Sozialversicherungsbe-
hörden quasi direkten Zugriff auf das noch vorhandene
Vermögen des Schuldners gehabt, was die Insolvenz-
masse erheblich geschmälert hätte und letztlich zulasten
aller anderen Gläubiger gegangen wäre . Der Gläubiger-
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gleichbehandlungsgrundsatz im Insolvenzrecht wäre da-
mit faktisch erledigt gewesen . Nach einhelliger Kritik in
der öffentlichen Anhörung haben Sie das also mühsam
wieder abräumen können .
Allerdings haben Sie mit dem Änderungsantrag das
Privileg jetzt wieder für alle Zwangsvollstreckungen ge-
strichen – also auch die aus gerichtlichen Titeln . Schade
eigentlich! Aber wenn es denn nicht anders möglich war,
bleibt eben alles, wie es immer war – auf jeden Fall bes-
ser als die Privilegierung des Fiskus .
Andere Regelungen hatten wir schon in der ersten Le-
sung begrüßt:
Da ist zunächst einmal die Verkürzung der Anfech-
tungsfrist von zehn auf vier Jahre ab Insolvenzantragstel-
lung, wenn der Schuldner Sicherung oder Befriedigung
gewährt hat . Das sorgt für Rechtssicherheit .
Auch die Konkretisierung von Bargeschäften ist sinn-
voll .
Gerade in Bezug auf den Lohn von Arbeitnehmern ist
die Neuregelung hilfreich . Der Lohn für die Arbeitsleis-
tungen der letzten drei Monate soll vor der Anfechtung
sicher sein . Das ist damit auch im Gesetz klargestellt .
Nicht gelungen bleibt aber die Ausnahmeregelung .
Danach soll der Schutz vor Anfechtung nicht gelten,
wenn der Arbeitnehmer wusste, dass der Arbeitgeber
„unlauter“ handelte. Was genau das sein soll, erschließt
sich mir nach wie vor nicht . Hier wird die Rechtssicher-
heit, die das Gesetz eigentlich bringt, gleich wieder kon-
terkariert .
Was mir wiederum zu weit geht, ist die gesetzliche
Vermutung, dass jemand die Zahlungsunfähigkeit des
Schuldners nicht kennt, wenn Ratenzahlung vereinbart
wird . Bislang galt das Gegenteil: Bei jeder Ratenzahlung
wurde unterstellt, dass der Gläubiger die Zahlungsun-
fähigkeit kennt . Das ist sicherlich nicht zwingend . Das
Gesetz geht aber nun den umgekehrten Weg, indem ge-
rade bei Vereinbarung von Zahlungserleichterungen die
Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit vermutet wird . Das
ist auch nicht wirklich plausibel .
Es hätte gereicht, wenn Sie sich hier an den vom Bun-
desgerichtshof entwickelten Grundsätzen orientiert hät-
ten, nach denen eine Zahlungsvereinbarung allein nicht
die Kenntnis des Gläubigers begründet, sondern dass
weitere Indikatoren dazukommen müssen – wie die Er-
klärung des Schuldners, seine fälligen Verbindlichkeiten
nicht begleichen zu können oder Ähnliches .
Trotz dieser Kritikpunkte sehen wir ein berechtigtes
Bedürfnis für diese Reform des Anfechtungsrechts und
stimmen dem Gesetz in der nun vorliegenden Form zu .
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Petzold
(Havelland), Sigrid Hupach, Nicole Gohlke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Nachhaltige Bewahrung, Sicherung und Zugäng-
lichkeit des deutschen Filmerbes gewährleisten
(Tagesordnungspunkt 18)
Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir alle hier
sind uns bewusst, dass die Bewahrung des Filmerbes eine
riesige organisatorische und finanzielle Herausforderung
für die drei Hauptakteure – Bund, Länder und Film-
branche – ist . Wir alle sind uns eigentlich auch bewusst,
dass der Bund die Aufgabe deshalb nicht alleine gestal-
ten kann . Da können wir noch so viele Anträge hier be-
schließen – wenn die anderen Akteure nicht mitmachen,
wird das nichts . Die Linkspartei könnte ja beispielswei-
se schon einmal dafür sorgen, dass das Land Thüringen
sich einem gemeinsamen Konzept der Digitalisierung
des Filmerbes nicht verschließt . Denn an einem solchen
wird momentan gearbeitet . Das würde mehr helfen, als
hier Absichtserklärungen abzugeben – unrealistische Ab-
sichtserklärungen .
Denn neben den grundsätzlichen Feststellungen im
Antrag, denen zuzustimmen ist, entlarvt sich die Links-
partei als filmpolitischer Messie. Sie will schlicht alle
Filme ab 1895 sammeln und archivieren . Nur unter
ferner liefen wird eine weitgefasste Priorisierung er-
wähnt . Mit Blick auf die riesigen Filmbestände und die
Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Mittel und
Kapazitäten ist eine enge Priorisierung jedoch schlicht-
weg eine absolute Notwendigkeit . Man wird entscheiden
müssen, welche Filme archivwürdig sind – und welche
eben nicht. Um eine solche Entscheidung zu treffen, sind
neben dem filmwirtschaftlichen Auswertungsinteresse
auch der kuratorische Bedarf aus filmhistorischer Sicht
und die Notwendigkeit der konservatorischen Sicherung
zu beachten . Natürlich wird nicht jeder mit einer solchen
Entscheidung zufrieden sein . Das liegt in der Natur der
Sache .
Aber auch an anderen Stellen wird der Antrag der
Linkspartei unrealistisch . Zwar beruft man sich auf das
PwC-Gutachten und die darin enthaltenen Zahlen und
Fakten . Auf der anderen Seite bezieht man jedoch so
viele weitere Wünsche mit in den Antrag ein, dass die
Berechnungen schlicht ihre Grundlage verlieren . Dies ist
beispielsweise der Fall, wenn ganz am Rande gefordert
wird, dass neben der Digitalisierung und Zugänglichma-
chung des Filmerbes auch noch die Originale erhalten
werden sollen . Hätte die Studie dies mit in ihre Ergebnis-
se einbezogen, wäre sie noch auf ganz andere Ergebnisse
gekommen .
Ebenso wirklichkeitsfern ist die Idee, die öffent-
lich-rechtlichen Rundfunkanbieter über eine Selbstver-
pflichtung dazu zu bringen, regelmäßig Archivfilme in
ihre Programme aufzunehmen .
Einig bin ich dann wieder mit der Linkspartei bei der
Feststellung, dass wir erst am Anfang einer dauerhaften
Aufgabe stehen . Zu Beginn sind große Aufwendungen
nötig, weil wir in den vergangenen 120 Jahren ja schon
einiges angesammelt haben . Nach und nach sollte die
Sicherung unseres Filmerbes dann jedoch zur Routine
werden .
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Dem Antrag kann man deshalb trotzdem nicht zustim-
men . Er weist in die richtige Richtung, stellt aber illuso-
rische Forderungen auf . Ich bin zuversichtlich, dass wir
auch so in Kürze zu einer gemeinsamen Lösung mit Län-
dern und Filmwirtschaft kommen .
Johannes Selle (CDU/CSU): Seit nunmehr über
hundert Jahren haben wir das bewegte Bild – den Film .
Den französischen Brüdern Lumière, Filmpionieren
der ersten Stunde, ist es zu verdanken, dass sie mit ihrer
Erfindung des Kinematographen nicht nur die Filmtech-
nik revolutionierten, sondern dem Kino zu seinem Na-
men verhalfen .
Bereits vor der ersten Filmvorführung der Brüder
Lumière am 28 . Dezember 1895, in Paris, zeigten die
deutschen Brüder Skladanowsky im Wintergartenpalais
zu Berlin am 1 . November 1895 kurze Filme auf einem
Überblendprojektor mit einer sogenannten Handkurbel-
kamera . Diese Technik konnte sich in der Praxis nicht
durchsetzen, da die Abfolge auf 24 Bilder in Folge be-
schränkt war . Zweifelsohne zählen sie zu den Pionieren
der weltweiten Filmgeschichte .
Seiter erleben wir eine rasante Entwicklung der Film-
technik bis hin zur heutigen Digitalisierung . Mit der
Fortentwicklung der Technik haben sich auch die Film-
gattungen gewandelt: von Stummfilmen zu animierten
Filmen bis zu den 3D-Filmen .
Filme sind Wirtschafts- und Kulturgut . Sie geben –
seit es sie gibt – am eindrücklichsten die Entwicklung
der Gesellschaft in ihren Facetten wieder . Mit dem Film
lassen sich Menschen am leichtesten ansprechen . Filme
sind Zeitzeugen unserer Geschichte, und sie tragen zu
unserer kulturellen Identität bei . Sie sind bis heute Mas-
senmedium im wahrsten Sinne des Wortes . All das sind
Gründe, unser filmisches Erbe zu bewahren und zugäng-
lich zu machen .
Wir stellen uns der großen Verantwortung, der Jahr-
hundertaufgabe, so wie sie zu Recht von Staatsministerin
Monika Grütters bewertet wird . Insgesamt rund 4,3 Mil-
lionen Minuten, das sind circa 170 000 Titel von Lang-
und Kurzfilmen, umfasst der deutsche Bestand des filmi-
schen Erbes . Leider, und dass muss man auch in diesem
Zusammenhang sagen, sind uns bereits schon zu viele
Filme verloren gegangen . Vor allem aus der Epoche des
Stummfilms sind es rund 85 Prozent. An den Zahlen wird
nicht nur erkennbar, was für eine gewaltige Aufgabe vor
uns liegt, sondern welche Bedeutung der Film als Medi-
um bereits im späten 19 . und überwiegend im 20 . Jahr-
hundert einnahm .
Einher geht dies mit der Frage nach der Archivierung
des Trägermaterials . Das analoge Material zu sichern, ist
mit großen technischen Herausforderungen verbunden .
Der Zerfall der Materialen kann nicht aufgehalten, son-
dern nur hinausgezögert werden . Davon hat der Leiter
des Bundesarchivs, Michael Hollmann, uns in der Anhö-
rung zum Filmerbe berichtet . Vor allem Filme, deren Trä-
germaterial aus Nitrozellulose besteht, sind sehr aufwen-
dig und kostenintensiv zu lagern . Die Filmrollen müssen
in klimatisierten sowie feuer- und explosionsgeschützten
Räumlichkeiten aufbewahrt werden .
Grundsätzlich sind wir überfraktionell einig, das deut-
sche Filmerbe zu bewahren und öffentlich verfügbar zu
machen. Jedoch sind Unterschiede im Detail offenbar,
wie der Antrag der Linksfraktion zeigt . Darüber hinaus
gibt es eine Reihe von Punkten in dem Antrag, die wir
nicht unterstützen können .
Zum Ersten:
Sie behaupten, die Bundesregierung habe keine Stra-
tegie . Das ist schlichtweg falsch! Die Grundlage für die
Digitalisierungsstrategie ist das PwC-Gutachten . Im
Zeitraum von zehn Jahren sollen jeweils 10 Millionen
Euro von Bund, Ländern und Filmwirtschaft zur Verfü-
gung gestellt werden .
Es gibt Kriterien, die festlegen, was digitalisiert wer-
den soll . Gegenstand der Digitalisierungsstrategie sind
grundsätzlich gattungs- und formübergreifende deut-
sche Kinofilme, die auf analogem Material vorliegen.
Die Kriterien für die Digitalisierung beruhen auf einem
Dreisäulenmodell, bestehend aus: erstens dem filmwirt-
schaftlichen Auswertungsinteresse, zweitens dem kura-
torischen Bedarf (aus filmhistorischer Sicht), drittens der
notwenigen konservatorischen Sicherung (wegen Mate-
rialgefährdung) .
Alle priorisierten und digitalisierten Filme sollen der
Öffentlichkeit zugänglich sein. Daher sollen sie in einer
Auflösung digitalisiert werden, die sämtliche Auswer-
tungsarten ermöglicht .
Nur noch wenige Kinos sind in der Lage, analoge Fil-
me aus den Archiven vorzuführen . Staatlich zu subven-
tionieren, dass Kinos veraltete Vorführtechnik pflegen,
ergibt keinen Sinn .
Zum Zweiten:
Wir bezweifeln die Aussage, dass die Linksfraktion
in den letzten beiden Wahlperioden als einzige Fraktion
konkrete Finanzierungsvorschläge für die Sicherung des
Filmerbes gemacht hat .
Im Gegengenteil: Sie fordern die Bundesregierung
auf, 30 Millionen Euro jährlich zu fördern, ohne hierzu
belastbare Vorschläge zu machen, wie die Summe zu fi-
nanzieren wäre . Tatschälich ist es schwer genug, 10 Mil-
lionen Euro jährlich zusammenzubringen, die Bund,
Länder und Filmwirtschaft gemeinsam schultern .
Wir befinden uns in einem Spannungsverhältnis zwi-
schen filmaffinen und nicht filmaffinen Ländern. Zu unse-
rem Bedauern wurden die Länder bisher nicht einig und
damit ihrer Verantwortung für die Kultur nicht gerecht .
Die Bundesregierung und wir als Koalitionsparteien
sind weiterhin in intensiven Gesprächen und guter Din-
ge, dass wir noch in dieser Legislaturperiode einen Wurf
mit den Ländern schaffen werden. Denn das deutsche
Filmerbe endet nicht an den jeweiligen Landesgrenzen,
sondern betrifft die gesamte Bundesrepublik sowie die
deutsche Filmwirtschaft .
Der Bund hat im Kulturetat wie auch die Filmförde-
rungsanstalt seit 2012 jährlich 1 Million Euro in die Digi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21915
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talisierung investiert . In diesem Jahr steigt der BKM-An-
teil um eine weitere Million Euro . Des Weiteren haben
wir Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von je 3 Mil-
lionen Euro für die Jahre 2018 und 2019 hinterlegt . Im
gleichen Zug hat auch die FFA ihren Anteil auf 2 Mil-
lionen Euro angehoben . Es liegt nun bei den Ländern,
nachzuziehen . Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich
dafür werben .
Darüber hinaus hat die Unionsfraktion bereits 2008
und 2010 Anträge zur Sicherung des Filmerbes in den
Bundestag eingebracht .
Unserer Fraktion geht es darum, das Kulturgut Film
dauerhaft zu sichern und zugänglich zu machen . Ihr An-
trag, so verstehe ich das, möchte alles archivieren, was je
auf Film gebannt wurde . Wenn Sie das umsetzen wollen,
kann ich Ihnen sagen, dass auch die 30 Millionen Euro
jährlich nicht ausreichen werden .
Und Drittens:
Sie fordern die Subventionierung für die noch exis-
tierenden Filmkopierwerke . Dann gehört konsequen-
terweise die Forderung dazu, die Filmmaterialhersteller
mit Steuergeld zu erhalten und entsprechendes Personal
auszubilden . Das ist leider so nicht möglich, und diese
Tatsachen erkennen sie nicht an .
Und Zuletzt:
Sie machen in Ihrem Antrag eine Vielzahl von Forde-
rungen auf, die die Bundesregierung bereits umgesetzt
hat .
Der Aufbau des Bestandskatalogs wurde von der Bun-
desregierung in Höhe von 400 000 Euro gefördert . Die
Bestände der Deutschen Kinemathek und des Deutschen
Filminstituts wurden erfolgreich zusammengeführt . Die
Ergebnisse sind im Filmportal eingestellt und bereits öf-
fentlich unter filmportal.de . Als Nächstes werden die Be-
stände des Bundesarchivs folgen . Die Zusammenführung
dieser beiden großen Filmbestände ist nun in der finalen
Phase . Rainer Rother vom Kinematheksverbund sowie
Michael Hollmann vom Bundesarchiv haben dies auch
in der Anhörung im Ausschuss bestätigt .
Im neuen Filmfördergesetz, das seit 1 . Januar 2017 in
Kraft ist, haben wir im § 49 für die Filmwirtschaft einen
rechtlichen Rahmen geschaffen. Hersteller und Verlei-
her sind verpflichtet, einen nach dem FFG geförderten
Film, eine technisch einwandfreie analoge oder unkom-
primierte digtale Kopie des Films in einem archivfähi-
gen Format unentgeltlich dem Bundesarchiv zu überge-
ben. Darüber hinaus sind die Hersteller verpflichtet, eine
Registrierung beim Bundesarchiv vorzunehmen . Diese
Pflichtregistrierung haben wir bereits im Zuge der No-
vellierung des Bundesarchivgesetzes 2013 ins Gesetz
geschrieben . Dadurch haben wir einen Überblick über
den Gesamtumfang der jährlichen Filmproduktion in
Deutschland gewonnen . Der ist vorher nicht vollständig
bekannt gewesen .
Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass wir zügig mit
der Umsetzung der Digitalisierungsstrategie des Film-
erbes vorankommen . Hierzu müssen weitere Strukturen
geschaffen werden. Wir brauchen auf der einen Seite das
technische Know-how, und auf der anderen Seite müssen
wir das Bundesarchiv und die Deutsche Kinemathek per-
sonell stärken . Diesen Institutionen wird bei der Digita-
lisierung des Filmerbes eine wichtige Rolle zugewiesen .
Uns muss klar sein, dass die Zugänglichkeit des deut-
schen filmischen Erbes nur digital erfolgen kann.
Jedoch sind wir noch in der Diskussion, ob und wie
wir in der Zukunft die Originalfilmträger weiter erhal-
ten können . Auch in der Anhörung zum Filmerbe haben
uns die Fachleute auf diese Problematik aufmerksam ge-
macht . Hierzu werden weitere Gespräche geführt .
Aus den bereits genannten Gründen, werden wir dem
vorliegenden Antrag nicht zu stimmen .
Burkhard Blienert (SPD): In diesen Tagen können
wir wieder erleben, wie die Berlinale mit ihren zahlrei-
chen Filmreihen das filmische Fenster in die Welt öffnet.
Eine großartige Gelegenheit, in die unermessliche Viel-
falt des Filmschaffens ganz unterschiedlichen kulturellen
Ursprungs einzutauchen .
Eine besondere Reihe, die „Retrospektive“ – maß-
geblich unterstützt von der Deutschen Kinemathek –,
gewährt darüber hinaus einen spannenden Einblick in
Filmwerke, die zum filmischen Erbe ausgewählter Län-
der gehören . In diesem Jahr geht es um das spannende
Thema „Science-Fiction“.
Zusammen mit den „Berlinale Classics“ führt uns die
„Retrospektive“ die kulturelle Bedeutung des alten Film-
bestands plastisch vor Augen . Indem das Zeitgenössische
in einen filmhistorischen Zusammenhang gestellt wird,
wird Filmgeschichte überhaupt erst erfahrbar .
Das filmische Erbe ist nicht nur Teil einer lebendigen
Filmkultur, es ist zugleich Ausdruck kulturellen Reich-
tums und kultureller Vielfalt . Über die künstlerische Be-
deutung hinaus bieten Filme mit der Lebendigkeit ihrer
bewegten Bilder ganz eigene Zugänge zu Zeitgeschichte
und Kultur . Sie veranschaulichen Zeitumstände, histori-
sche Situationen und gesellschaftliche Vorstellungen der
verschiedenen Epochen . Damit sind sie Zeitzeugen und
lebendiges Gedächtnis zugleich . Als solche sind sie un-
verzichtbarer Bestandteil unseres kulturellen Erbes über-
haupt .
Hieraus leitet sich unsere Verantwortung für den Er-
halt und die Verbreitung des überlieferten Filmbestands
ab .
Die dringlichsten Herausforderungen bestehen darin,
Filme vor dem chemischen Verfall zu retten, und darin,
die analogen Filmrollen zu digitalisieren, um sie in Zei-
ten digitalisierter Kinos und allgegenwärtiger Internet-
nutzung überhaupt sichtbar machen zu können .
Ich freue mich, dass sich darin alle Fraktionen einig
sind . Insofern begrüße ich auch den vorliegenden Antrag
der Linkenfraktion .
Die Experten haben uns in der Ausschussanhörung
bestätigt, dass es zusätzlichen Handlungsdruck gibt:
Ohne Digitalisierungsoffensive drohen die erforderlichen
Kompetenzen für analoge und digitale Filmbearbeitung
http://www.filmportal.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721916
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und die entsprechende Infrastruktur bei uns verloren zu
gehen. Denn ohne Nachfrage können die filmtechnischen
Betriebe und Dienstleister die entsprechenden personel-
len und technischen Kapazitäten nicht vorhalten . Mit der
Folge, dass die Digitalisierung an Unternehmen im Aus-
land vergeben werden müsste .
Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass wir nach
einem langen Vorlauf jetzt endlich die letzten Hinder-
nisse, die einer Digitalisierungsoffensive bisher im Weg
gestanden haben, wegräumen können . Ich bin sehr zuver-
sichtlich, dass das noch vor Abschluss der Wahlperiode
gelingt .
Im Koalitionsvertrag hatten wir verabredet, eine Digi-
talisierungsförderung von Bund, Ländern und Filmwirt-
schaft auf der Grundlage eines gemeinsamen Konzepts
auf die Beine zu stellen .
Gemeinsame Verantwortung erfordert gemeinsame
Umsetzung und gemeinsame Finanzierung .
Der Bund, die Branche, aber auch einzelne Länder wie
Berlin sind hier bereits vorangegangen . Für das laufende
Jahr hat der Bundestag die Mittel für die Digitalisierung
des Filmerbes auf 2 Millionen Euro verdoppelt . Darüber
hinaus haben wir Verpflichtungsermächtigungen für die
Folgejahre in Höhe von jeweils 3 Millionen Euro be-
schlossen .
Auch die Filmwirtschaft zeigt Verantwortung . Über
den Haushalt der Filmförderungsanstalt stellt sie seit die-
sem Jahr ebenfalls 2 Millionen Euro bereit und will wei-
ter aufstocken, wenn sich auch die Länder entsprechend
einbringen .
Der Bund hat sich mit den beteiligten Ländervertre-
tern inzwischen über das Digitalisierungskonzept ver-
ständigt . Wir haben geklärt, was wir digitalisieren, wie
wir es digitalisieren, und wir haben Eckpunkte für die
Förderung formuliert . Grundsätzlich einig ist man sich
auch, dass Bund, Länder und Branche zu gleichen Teilen
finanzieren.
Jetzt warten wir nur noch darauf, dass sich die Länder
untereinander verabreden, wie sie ihren Finanzierungs-
anteil aufbringen . Auch hier vernehme ich ermutigende
Signale .
Bei der Erarbeitung der Digitalisierungsstrategie sind
wir strikt danach verfahren, was machbar und was am
dringlichsten ist . Und wir haben uns an den Empfehlun-
gen der PwC-Studie zur „Ermittlung des Finanzbedarfs
zum Erhalt des filmischen Erbes“ orientiert: Wir wollen
gemeinsam 10 Millionen Euro aufbringen und das zu-
nächst zehn Jahre lang .
Demgegenüber formuliert der Antrag der Linkenfrak-
tion Forderungen, die alle Beteiligten finanziell überfor-
dern, sodass am Ende wieder gar nichts passieren würde .
Die Sache möglichst schnell und pragmatisch anzuge-
hen, das war auch der einhellige Appell der Sachverstän-
digen in der Anhörung im Ausschuss – und daran wollen
wir uns halten .
Dass wir mit dem Digitalisierungskonzept nicht alle
Herausforderungen, die mit unserem Filmerbe verbunden
sind, beantworten, darüber bin ich mir im Klaren . Noch
zu klären sind so wichtige Fragen wie die Langzeitsiche-
rung der Digitalisate und des analogen Ausgangsmateri-
als, aber auch der originär digitalen Produktionen, wie
sie seit etwa 2010 die Regel sind. Offen sind vor allem
die Punkte Haltbarkeit und Lagerkapazitäten .
Natürlich steht auch hierbei über allem die Frage der
Finanzierbarkeit . Es wird darauf hinauslaufen, dass wir
auch hier zunächst selektiv und nach Prioritäten vorge-
hen müssen .
Entscheidend ist es nun aber, dass wir mit der Digi-
talisierungsoffensive den ersten großen Schritt machen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch einen nach-
drücklichen Appell an die öffentlich-rechtlichen Sender
richten . Auch sie tragen als Produzenten, Rechteinha-
ber und Verwerter eine Verantwortung für das filmische
Erbe . Ich möchte daran erinnern, dass auch der Rund-
funkstaatsvertrag darauf Bezug nimmt .
Diese Verantwortung konkretisiert sich in der Vermitt-
lung unseres Filmerbes im Rahmen des Bildungs- und
Kulturauftrags der Rundfunkveranstalter . Deshalb sollte
die Aufnahme von Werken aus unserem Filmerbe – über
angekaufte Lizenzen – wieder zum festen Bestandteil der
Programmgestaltung gehören .
Ich komme zum Schluss . Der vorliegende Antrag ist
in seinem Grundanliegen unstrittig . Allerdings schießt er
insbesondere bei seinen finanziellen Forderungen weit
über das Machbare hinaus . In anderen Punkten hat er
sich inzwischen erledigt . Deshalb kann meine Fraktion
nur ablehnen .
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Berlina-
le-Zeit ist jedes Jahr nicht nur die Zeit des berühmten
Roten Teppichs, der Stars und der Sternchen . Sie ist auch
die Zeit der Verteilung nachträglicher oder vorgezoge-
ner „Weihnachtsgeschenke“ durch die Politik – so hat
sich Frau Kulturstaatsministerin Grütters für zusätzliche
25 Millionen Euro Filmförderung feiern lassen; Geld,
das durch die Bundesregierung am Haushaltsgesetzgeber
vorbei beschlossen wurde; Geld, das „einen zusätzlichen
Anreiz für internationale Aufträge an deutsche Produk-
tionsdienstleister schaffen und die deutschen Standorte
wettbewerbsfähig halten“ soll, so heißt es in der entspre-
chenden Erklärung der Kulturstaatsministerin – also nicht
etwa Geld für faire Entlohnung der Filmschaffenden, für
mehr Filme von Frauen oder mehr Genrevielfalt – die
(angeblichen) Schwerpunkte des erst kürzlich beschlos-
senen neuen Filmförderungsgesetzes . Und schon gar
nicht Geld zur dringend notwendigen Bewahrung, Siche-
rung und Zugänglichmachung des deutschen Filmerbes .
Aber ich will nicht den Eindruck erwecken, immer
nur zu meckern und zu kritisieren . Der Fairness halber
sei hiermit festgestellt, dass der Filmförderungs-Fonds
DFFF erstmals 75 Millionen Euro enthalten und damit
um 5 Millionen Euro höher sein wird als die von der
Linken seit Jahren geforderten mindestens 70 Millionen
Euro . Damit haben Sie uns, Frau Grütters, erstmals in der
Höhe der Ausstattung des Filmförderungsfonds in dieser
Wahlperiode übertroffen. Herzlichen Glückwunsch.
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21917
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Trotzdem kann ich Ihnen leider den Rest meiner Rede,
der viel Kritik enthalten wird, nicht ersparen . Denn: Ber-
linale-Zeit ist auch jedes Jahr Zeit, um Filme zu präsen-
tieren, die zum Filmerbe und damit zum cineastischen,
kulturellen und künstlerischen Gedächtnis unseres Lan-
des gehören . Ein beispielloser Schatz künstlerischen und
kreativen Schaffens. Ein integraler Bestandteil unseres
Kulturkanons . Und so wurde im Rahmen der „Berlina-
le Special“ eine restaurierte Fassung der fünfteiligen,
1972 vom WDR produzierten Familienserie „Acht Stun-
den sind kein Tag“ von Rainer Werner Fassbinder welt-
uraufgeführt . Erstmals war seinerzeit eine alternative
Produktion zum „Heile-Welt-Fernsehen“ entstanden, die
im Arbeitermilieu angesiedelt war, sozialpolitische und
ökonomische Aufklärung mit Alltagsgeschichten voll
Spannung und Unterhaltungswert verband – wie es im
Presseheft des Films heißt . „Fassbinder rückte Diskus-
sionen über Mitbestimmung und Solidarität am Arbeits-
platz, hohe Mieten, antiautoritäre Erziehung und vieles
mehr in den Mittelpunkt.“ Ein Film also über und für die
„kleinen Leute“, die Beitragszahlerinnen und -zahler des
öffentlich-rechtlichen Fernsehens im besten Sinne. Ein-
schaltquoten von circa 60 Prozent je Folge – „allein bei
der ersten Folge gab es fünfundzwanzig Millionen Zu-
schauer, Ostdeutsche nicht mit eingerechnet“ – dürften
heutigen Produzenten wie ein Märchen traumhaft vor-
kommen .
Die erhalten gebliebenen 16-mm-Umkehrpositiv-Ori-
ginale mussten – um den Film überhaupt wieder auffüh-
ren zu können – werkgetreu in 2K-Auflösung digitalisiert
und restauriert werden, denn die Farben des Original-Ma-
terials waren trotz vorbildlicher Lagerung im WDR-Ar-
chiv inzwischen an einigen Stellen ausgeblichen . Ebenso
musste der Ton, der auf 16-mm-Original-Mischtonbän-
dern vorlag, aber auch an einigen Stellen beschädigt
war, restauriert und von einer früheren Überspielung auf
DA88 ersetzt werden . „Deutliche Knackser und Störge-
räusche, die durch die Lagerung entstanden, wurden re-
duziert und die Originalmischung szenenweise behutsam
in der Klangfarbe und Dynamik an die heutigen Hörge-
wohnheiten angepasst.“
478 Minuten Film entstanden so de facto neu . Zu-
sätzlich zu den dadurch entstehenden Kosten mussten
für jeden einzelnen Bestandteil des Films, der ja für
das Fernsehen produziert worden war und nun auch für
Kinoaufführungen zur Verfügung stehen soll, die Urhe-
berrechte neu geklärt und einzeln erworben werden . Ich
schildere das deshalb so ausführlich, weil viele Menschen
glauben, Digitalisierung bedeute einfach: Filmrolle ein-
legen, Kopier-Taste drücken, fertig! Aber so einfach ist
die Bewahrung, Sicherung, Digitalisierung und Zugäng-
lichmachung des Filmerbes nicht einmal ansatzweise .
Insgesamt entstand für „Acht Stunden sind kein Tag“
ein Finanzbedarf im oberen sechsstelligen Euro-Bereich .
Förderung durch die Filmförderungsanstalt – also öf-
fentliche Förderung – hat die Rainer-Werner-Fassbin-
der-Foundation lediglich in Höhe von 15 000 Euro pro
Filmfolge erhalten – also insgesamt 75 000 Euro . Gerade
einmal circa 10 Prozent des Gesamtbudgets . Der Rest der
benötigten Finanzmittel musste über weitere Stiftungen,
private Geldgeber und das MoMA New York besorgt
werden sowie durch die Vorabverpfändung erhoffter Ver-
wertungs-Einnahmen .
Politik, die so mit dem Filmerbe umgeht, versündigt
sich an ihm .
Deshalb ist der aktuelle Umgang dieser Bundesregie-
rung mit dem Filmerbe dieses Landes nicht zu akzeptie-
ren .
Und deshalb begeht die Große Koalition einen schwe-
ren kulturpolitischen Frevel und politischen Fehler, unse-
ren Antrag heute hier einfach nur abzulehnen, noch dazu,
ohne die Spur eines eigenen Vorschlags für die Zukunft
vorzulegen .
Nun höre ich natürlich als aktiver Berlinale-Besucher,
dass angeblich Durchbrüche zwischen der Kulturstaats-
ministerin, den Ländern und der Filmwirtschaft erreicht
worden wären, was die Sicherung des Filmerbes und sei-
ne Zugänglichmachung betrifft. Und, wie gesagt, Berli-
nale-Zeit ist ja jedes Jahr auch die Zeit der Versprechen
und nachträglichen oder vorgezogenen Weihnachtsge-
schenke der Politik . Und die klingen in diesem Fall so:
Vielleicht könnten ab 2018 jährlich wenigstens 10 Mil-
lionen Euro für die Sicherung und Zugänglichmachung
des Filmerbes zur Verfügung stehen . Vielleicht könnte es
endlich eine Digitalisierungsstrategie für das Filmerbe
geben . Vielleicht könnten endlich Schwerpunkte gesetzt
werden – die damit befassten Experten und Akteure ste-
hen ja seit Jahren in den Startlöchern .
Allein: Es sind bisher nur Gerüchte . Zu viele „Viel-
leichts“. Verbindliche Zusagen: bisher Fehlanzeige.
Deshalb bleibt Die Linke bei ihrer Forderung: Wir for-
dern Bund, Länder und Filmwirtschaft dazu auf, in den
nächsten 10 Jahre jährlich 30 Millionen Euro für die Be-
wahrung, Sicherung/Digitalisierung und Zugänglichma-
chung des Filmerbes bereitzustellen . Dies soll im Sinne
einer Doppelstrategie erfolgen: Analoges Material sollte
mit Hilfe der Verwendung neuester Restaurationsver-
fahren so gut es geht erhalten werden, bei gleichzeitiger
schrittweiser Digitalisierung des Gesamtbestandes zur
vollen Zugänglichmachung . Dazu müssen natürlich die
analogen Kopierwerke erhalten bleiben . Es kann nach
Stand der Technik gegenwärtig davon ausgegangen wer-
den, dass bei einer analogen Bewahrung vorhandenen
Filmmaterials dieses Material für weitere circa 500 Jahre
erhalten werden kann .
Und ein zweiter Vorteil, wenn Sie den Vorschlägen der
Linken folgen würden: Möglicherweise brauchen wir als
öffentliche Hand dabei auch nicht auf 10 Jahre den Bä-
renanteil tragen, wenn der Fonds so angelegt wird, dass
er sich langfristig in einen revolvierenden Fonds verwan-
delt, indem aus künftigen Verwertungen auch Fördermit-
tel zurückerstattet werden können . Wir fordern ein Kon-
zept zur Sicherung und Digitalisierung des Filmerbes .
Und wir fordern eine pro-aktive Verwertungsoffensive
für das Filmerbe – von den Öffentlich-Rechtlichen über
die Kinos, über Festivals, über Spezialveranstaltungsrei-
hen bis hin zur Medienbildung usw . usf .
Es ist gut und richtig, wenn die BKM, wenn Monika
Grütters den Kinofilm als „ein unersetzliches Gedächtnis
aller Facetten unserer Kultur und Geschichte“ bezeich-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721918
(A) (C)
(B) (D)
net . Aber Sonntagsreden nützen dem Filmerbe nichts . Ta-
ten sind endlich gefragt! Die Linke steht für Taten bereit .
Und sie dankt all denjenigen, die sich in den vergangenen
Jahren für die Bewahrung, Sicherung und Zugänglich-
machung des Filmerbes eingesetzt haben .
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was
das Filmerbe betrifft, erreichen uns seit geraumer Zeit
Hilferufe der Fachleute . Und auch bei der Anhörung im
Ausschuss konnten wir es wieder hören: An jedem Tag,
an dem wir nichts unternehmen, um Filmmaterial zu di-
gitalisieren oder auch in analoger Form zu bewahren,
geht uns deutsches Filmerbe aufgrund der fortschreiten-
den chemischen Zersetzungsprozesse unwiederbringlich
verloren .
Aber das Filmerbe-Thema scheint der Koalition nicht
mehr als nur ein paar warme Worte wert zu sein . Was es
hier braucht, ist ernstgemeintes Engagement, und zwar
in finanzieller Form. Dass das prinzipiell geht, hat Frau
Grütters ja vergangene Woche schön beim Deutschen
Filmförderfonds gezeigt: Wenn ihr etwas wichtig ist,
dann findet sich auch Geld dafür. Pünktlich im Wahljahr
hat sie für den DFFF 25 Millionen Euro hervorgezaubert .
Bei den Haushaltsverhandlungen wurden für die Digi-
talisierung des Filmerbes aber gerade mal 2 Millionen
Euro eingestellt . Und das reicht absolut nicht aus .
Jetzt könnte man sagen: Ach hätten wir nur eine un-
abhängige Untersuchung, die uns sagt, wie viel Geld für
die Digitalisierung des Filmerbes nötig wäre! – Da habe
ich gute Neuigkeiten für Sie: Die FFA hat hierfür bereits
2015 PricewaterhouseCoopers mit einer Studie beauf-
tragt . Und diese kommt zu dem Schluss, dass eine Sum-
me von 10 Millionen Euro pro Jahr über einen Zeitraum
von zehn Jahren sachgerecht wäre . Hierbei ist bereits ein-
gerechnet, dass man aus dem Gesamtbestand auswählen
und priorisieren muss: Was will man unbedingt behalten,
was nicht? Ich finde es schade, dass Frau Grütters die
Ergebnisse dieser Studie nicht nutzt, um stärker bei den
Ländern für eine finanzielle Einigung zu werben.
Dabei sind Klassiker der Filmgeschichte nicht nur et-
was für Fachnerds . In der diesjährigen Berlinale-Sektion
werden restaurierte Science-Fiction-Filme neu aufge-
führt, die vielleicht so mancher von Ihnen noch im Kino
gesehen hat . Viele Filme wie Die Feuerzangenbowle
oder die DEFA-Märchenfilme sind noch heute zeitlose
Klassiker, die Groß und Klein begeistern . Deutschland
ist ein Land mit einer international bedeutsamen Filmge-
schichte . Gerade wir sollten dieses Erbe bewahren!
Aus diesem Grund finden wir auch zahlreiche der For-
derungen aus dem Antrag der Linke sinnvoll . Allerdings
plädieren wir dafür, bei den finanziellen Forderungen ein
bisschen auf dem Teppich zu bleiben . Wenn wir uns an
den Zahlen der Studie von PwC orientieren würden, wäre
der Sache aus unserer Sicht schon sehr geholfen . Aber
wir sehen auch die Bundesregierung in der Pflicht, end-
lich ihr Versprechen einer Digitalisierungsstrategie ein-
zulösen und sich bei den finanziellen Fragen nicht weiter
hinter der Behauptung zu verstecken, man habe sich noch
nicht mit den Ländern und der Filmwirtschaft darüber
einigen können, wer wie viel in den Erhalt des Filmer-
bes steckt . Während Sie das Thema vor sich herschie-
ben, zerfällt jeden Augenblick Filmmaterial und damit
ein Teil der deutschen Kulturgeschichte . Die 2 Millionen
Euro, die Sie dieses Jahr für die Digitalisierung des Film-
erbes vorgesehen haben, sind angesichts dieser dramati-
schen Situation wirklich einfach nur beschämend!
Würden Sie dem Thema nur ein klein wenig mehr Be-
deutung beimessen, könnten im Kopierwerk in Hoppe-
garten die Personalstellen erhalten werden, die für den
Erhalt analogen Filmmaterials zuständig sind . Wir könn-
ten Filme digitalisieren und der Öffentlichkeit wieder zu-
gänglich machen .
Frau Grütters, beim DFFF haben Sie gezeigt, dass Sie
für Überraschungen gut sind . Jetzt überraschen Sie uns
doch bitte mal damit, dass Sie die Hilferufe in Sachen
Filmerbe erhören und hier endlich den dringend benötig-
ten finanziellen Rettungsring auswerfen.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-
setzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union zur Arbeitsmigration (Tages-
ordnungspunkt 13)
Andrea Lindholz (CDU/CSU): Mit dem vorlie-
genden Gesetzentwurf erfüllt die Bundesregierung
ihre europarechtliche Pflicht, drei EU-Richtlinien zur
Arbeitsmigration umzusetzen . Konkret sollen die Sai-
sonarbeitnehmerrichtlinie, die ICT-Richtlinie und die
REST-Richtlinie im deutschen Aufenthaltsrecht umge-
setzt werden .
Zentrales Ziel der drei Richtlinien ist es, dass Men-
schen, die keine EU-Bürger sind, unbürokratischer in der
EU arbeiten, forschen und studieren können . Insbeson-
dere soll mit der Aufenthaltserlaubnis für einen EU-Staat
auch ein Arbeits- oder Forschungsaufenthalt in einem
anderen EU-Staat erlaubt werden .
Die Saisonarbeitnehmerrichtlinie ermöglicht es Un-
ternehmen, kurzfristigen Arbeitskräftebedarf auch mit
Nicht-EU-Bürgern zu decken . Vor allem in der Landwirt-
schaft, der Gastronomie und der Bauindustrie werden seit
Jahren zusätzliche saisonale Arbeitskräfte gebraucht . Die
Neuregelung ermöglicht Drittstaatlern Kurzaufenthalte
bis zu 90 Tage oder längere Aufenthalte bis zu 6 Mona-
te, um in Deutschland vorübergehend zu arbeiten . Dafür
müssen die Saisonarbeiter einen gültigen Arbeitsvertrag
und eine bezahlbare Unterkunft nachweisen . Um Aus-
beutung zu verhindern, wurden die Schutzstandards und
die Rechte der Saisonarbeitnehmer verbessert .
Die ICT-Richtlinie regelt unternehmensinterne Trans-
fers von Drittstaatlern innerhalb der EU . Bereits nach
geltendem deutschem Recht haben Ausländer die Mög-
lichkeit, im Rahmen eines Personalaustauschs innerhalb
eines internationalen Unternehmens nach Deutschland
einzureisen und hier zu arbeiten . Das Gleiche gilt für aus-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21919
(A) (C)
(B) (D)
ländische Führungskräfte, für leitende Angestellte und
für Spezialisten . Mit dem Gesetzentwurf werden die ver-
schiedenen Möglichkeiten vereinheitlicht . Zudem wird
die Möglichkeit geschaffen, auf der Basis eines Aufent-
haltstitels eines EU-Staates unternehmensintern in ei-
nen anderen EU-Staat zu wechseln, um zum Beispiel in
Deutschland zu arbeiten . Das stärkt die Attraktivität der
EU für Unternehmen und somit auch den Wirtschafts-
standort Deutschland .
Die REST-Richtlinie regelt die Einreise und den Auf-
enthalt von Forschern, Studenten und Praktikanten aus
Drittländern . Künftig soll ein indischer Forscher, der ein
Forschungsvisum nur für Frankreich hat, unkompliziert
auch in Deutschland forschen dürfen . Ein chilenischer
Student mit Visum für Spanien soll die Möglichkeit be-
kommen, auch ein Semester in Deutschland zu absol-
vieren und umgekehrt . Gerade in Wissenschaft und For-
schung ist ein unkomplizierter internationaler Austausch
eine wichtige Triebfeder für den Fortschritt .
Die Bundesregierung verzichtet zu Recht darauf, die
optionalen Vorschriften für Schüler, Au Pairs und Teil-
nehmer an nationalen Freiwilligendiensten umzusetzen .
Hierzu besteht weder materieller Rechtsänderungsbedarf
noch sollten wir das Aufenthaltsgesetz, die Aufenthalts-
verordnung und die Beschäftigungsverordnung noch
weiter aufblähen .
Die drei EU-Richtlinien sind in der Sache sinnvoll,
insbesondere im Hinblick auf den Brexit . Britische
EU-Bürger werden durch den Austritt aller Voraussicht
nach zu Drittstaatsangehörigen . Angesichts der tiefen
Verflechtung der britischen mit der kontinentaleuro-
päischen Wirtschaft wird uns der aufenthaltsrechtli-
che Status britischer Staatsbürger in der EU noch eini-
ge Zeit beschäftigen . Jede Regelung aufseiten der EU,
die es Drittstaatsangehörigen erleichtert, zwischen den
EU-Staaten zu wechseln, ist aus Sicht von Bildung, For-
schung und Wirtschaft in Europa zu begrüßen .
Die EU-Freizügigkeit ist zweifellos eine gute Ant-
wort auf die Herausforderungen der Globalisierung .
Menschen, Universitäten und Unternehmen können in
der EU grenzüberschreitend lernen, lehren, forschen und
arbeiten . Allerdings muss die Freizügigkeit in Europa
vernünftig geregelt werden. Negative Nebeneffekte der
Freizügigkeit, wie grenzüberschreitende Kriminalität,
Armutsmigration oder unkontrollierte Asylmigration,
müssen wirksam unterbunden werden . Dafür braucht
es mehr Zusammenarbeit und verbindliche Regeln in
Europa, aber auch mehr Handlungsspielraum für die
Nationalstaaten . Ein Beispiel ist die jahrelange Debatte
über das Kindergeld für EU-Bürger, deren Kinder nicht
in Deutschland leben . Die EU ist keine Sozialunion . Die
Mitgliedstaaten haben ein Recht, ihre Sozialkassen zu
schützen .
Migration in Europa muss nicht nur effektiv kontrol-
liert und gesteuert, sondern auch verständlich geregelt
werden, um den grenzfreien Schengen-Raum dauerhaft
zu erhalten . In Deutschland wird oft beklagt, unser Zu-
wanderungsrecht sei zu unübersichtlich . Das mag sein .
Diese Unübersichtlichkeit ist aber auch den komplexen
EU-Vorgaben geschuldet und weniger dem deutschen
Gesetzgeber . Die Umsetzung dieser drei Richtlinien wird
das deutsche Aufenthaltsgesetz noch unübersichtlicher
machen .
Wer also ein neues Einwanderungsgesetz und einfache
Regeln fordert, der sollte sich die komplexen EU-Vorga-
ben ansehen, die Deutschland zwingend umsetzen muss .
Eine substanzielle Vereinfachung der Einwanderungsre-
geln ist nur machbar, wenn sie gleichzeitig auf EU-Ebene
diskutiert und umgesetzt wird .
Im Wesentlichen gibt es drei große Migrationskanä-
le nach Deutschland: erstens die EU-Binnenmigration,
zweitens die Asylmigration und drittens die Migration
aus Drittstaaten, um hier zu arbeiten, zu studieren oder als
Familiennachzug . Anstatt für relativ kleine Gruppen wie
Saisonarbeiter, Forscher, Studenten und Firmenmitarbei-
ter eigene Richtlinien umzusetzen, wäre es sinnvoller,
die EU-Vorgaben zu Aufenthaltstiteln für Nicht-EU-Bür-
ger stärker zu bündeln . Die Reform der EU-Blue-Card
und das neue Einreise-Ausreise-Register schaffen dafür
wesentliche Grundlagen . Europa muss das verlorene Ver-
trauen in die EU-Freizügigkeit und den Schengen-Raum
wiederherstellen. In diesem Sinne hoffe ich auf eine kon-
struktive Beratung des insgesamt guten Gesetzentwurfes .
Sebastian Hartmann (SPD): Ohne Einwanderung
wäre Deutschland wirtschaftlich und kulturell ärmer .
Unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unser Staat wer-
den im nächsten Jahrzehnt massiv vom demografischen
Wandel betroffen sein. Sinkende Geburtenraten und eine
alternde Bevölkerung stellen die deutsche Wirtschaft,
die Sozial-, die Gesundheits- und die Rentensysteme vor
enorme Herausforderungen . Einwanderung allein aus der
Europäischen Union wird in vielen Branchen und Man-
gelberufen nicht ausreichen . In den nächsten zehn Jahren
verliert Deutschland über 6 Millionen Erwerbstätige .
Deutschland ist ein Einwanderungsland . Arbeitskräf-
te, die in den nächsten Jahren zuwandern, werden unse-
ren Wohlstand sichern und tragen unser wirtschaftliches
Wachstum . Arbeitsmigration ist ein Gewinn für den deut-
schen Arbeitsmarkt, denn wir profitieren vom sozialen
Kapital ebenso wie von Erfahrungen und Qualifikationen
von Drittstaatsangehörigen . Um diese Entwicklung zu
befördern, müssen wir die Grundvoraussetzungen schaf-
fen . Der vorliegende Gesetzentwurf hilft dabei, dass der
Zugang zum und die Arbeitsbedingungen auf dem deut-
schen Arbeitsmarkt transparent und fair gestaltet werden .
Drei EU-Richtlinien zur Arbeitsmigration setzen wir
in deutsches Recht um: Erstens regeln wir den Aufenthalt
von Nicht-EU-Ausländern in Deutschland als Saisonar-
beitnehmer . Zweitens werden die Bedingungen für aus-
ländische Studenten, Wissenschaftler, die in Deutschland
forschen oder Studien absolvieren möchten, Praktikan-
ten und Au-pair-Kräfte definiert. Und drittens wird die
Richtlinie für ausländische Arbeitnehmer umgesetzt, die
innerhalb ihres internationalen Unternehmens zeitweise
in Deutschland arbeiten möchten .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Auf-
enthaltsregelungen vereinfacht und Möglichkeiten des
Aufenthaltswechsels innerhalb der EU deutlich verbes-
sert . So war es beispielsweise für Forschende aus Dritt-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721920
(A) (C)
(B) (D)
staaten bisher so, dass die Aufenthaltserlaubnis zum For-
schen an einer europäischen Uni nicht für Deutschland
galt und sie auch für kurze Forschungsaufenthalte einen
eigenen deutschen Aufenthaltstitel beantragen mussten .
Zukünftig wird der internationale Austausch von Wissen-
schaftlern oder Studenten deutlich einfacher, es muss bei
der zuständigen Behörde lediglich eine Mitteilung über
den geplanten Aufenthalt erfolgen . Dies entlastet sowohl
die deutsche Verwaltung als auch die einzelnen Perso-
nen. Damit schaffen wir die benötigte Transparenz, mehr
Rechtssicherheit und eine bessere Nachvollziehbarkeit
für ausländische Personen, die bei uns studieren, for-
schen oder arbeiten möchten .
Zu erinnern ist an die jüngst am 16 . Dezember 2016
im Deutschen Bundestag beschlossene Umsetzung der
EU-Richtlinie zur qualifizierten Migration in die EU,
besser bekannt als Blue Card . Die Zulassung von be-
ruflich qualifizierten Fachkräften in den Mitgliedstaaten
war Gegenstand dieser europaweiten Regelung – und in
der Debatte dazu war bereits erkennbar, dass bezogen
auf den voraussichtlichen Bedarf an beruflich qualifizier-
ten Fachkräften in bestimmten Wirtschaftszweigen die
Zuwanderung gar nicht ausreicht . Um gegen die beste-
henden und künftigen Arbeitskräfte- und Qualifikations-
defizite in der EU vorzugehen, müssen wir also weitere
Anreize schaffen. Auch dazu trägt der vorliegende Ge-
setzentwurf bei .
Die Arbeitsmigration nach Deutschland ist für unsere
Gesellschaft eine Erfolgsgeschichte . Ohne erstmaliges
Gastarbeiterabkommen mit Italien 1955 und türkische
Arbeitsmigration in den 60er-Jahren stünde Deutschland
nicht dort, wo wir jetzt sind . Internationale Arbeitskräfte,
etwa aus dem angelsächsischen oder asiatischen Raum,
tragen maßgeblich zur deutschen Wirtschaft bei – weil
wir das wissen, beunruhigen uns Entwicklungen wie der
Einreisestopp in die USA und der unklare Status briti-
scher Staatsangehöriger nach dem Brexit umso mehr .
Die Wirtschaft sieht das genauso . Zu Donald Trumps
Einreisestopp für Bürger bestimmter Staaten haben sich
127 Unternehmen, darunter Flaggschiffe der amerikani-
schen Wirtschaft wie Microsoft, Google, Apple, mah-
nend geäußert: „Unsere Möglichkeiten zum Wachstum
und zur Schaffung neuer Jobs fußen auf den Beiträgen
von Migranten unterschiedlichster Herkunft.“ Das gilt in
Deutschland ebenso . Neue Ideen, Innovation und schließ-
lich Wachstum entstehen gemeinsam und im Austausch
zwischen Deutschen und Ausländern . Verschiedene kul-
turelle Hintergründe, international besetzte Forschungs-
teams regen zur Zusammenarbeit und gemeinsamer Ver-
änderung an .
Schon heute haben wir 1 Million offene Stellen. Uns
fehlen Altenpfleger genauso wie IT-Expertinnen. Der
Mangel an Fachkräften führt bereits dazu, dass Un-
ternehmen nicht expandieren und das wirtschaftliche
Wachstum kleiner ausfällt, als es möglich ist . Wenn ab
2020 die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, wird
sich diese Entwicklung weiter zuspitzen . Dann fehlen in-
nerhalb weniger Jahre bis zu 6 Millionen Fachkräfte . Die
können wir nicht allein aus den eigenen Reihen ersetzen .
Weil aber der Bedarf davon abhängig ist, wie viele Ein-
wanderer aus der EU kommen, muss die Einwanderung
aus Drittstaaten bedarfsorientiert und flexibel nach ei-
nem transparenten Punktesystem gesteuert werden . Wir
setzen uns als SPD aus Überzeugung für ein Einwande-
rungsgesetz ein . Für eine zeitgemäße Migrationspolitik
brauchen wir ein solches Einwanderungsgesetz . Die
Notwendigkeit liegt auf der Hand: Wenn in einem Ein-
wanderungsland verständliche Regeln fehlen, führt das
zu ungeregelter Einwanderung . Wir müssen auch deshalb
endlich Klarheit schaffen, wer aus wirtschaftlichen Grün-
den nach Deutschland einwandern kann und wer nicht .
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die Europäische
Union ist in keiner guten Verfassung. Seit Jahren befindet
sie sich im Krisenmodus, und statt weniger, werden es
immer mehr Krisen, die sich zudem vertiefen . Deutsch-
land ist im Vergleich zu den Ländern im Süden Europas,
in denen die Sozial-, Renten- und Tarifsysteme nicht ein-
fach nur zusammengebrochen, sondern vielmehr gezielt
zerstört worden sind, bislang vergleichsweise glimpflich
davongekommen .
Verantwortlich dafür ist auch und vor allem eine ri-
gide Austeritätspolitik, die maßgeblich durch die Bun-
desregierung durchgesetzt wurde . Es ist nicht zuletzt
die Bundesregierung, die die Wirtschaftskrise zulasten
einer massiven Sozialkrise beheben will. So klafft die
Schere zwischen Arm und Reich nicht nur erheblich zwi-
schen den EU-Mitgliedstaaten seit dem Krisenausbruch
im September 2008 immer weiter auseinander, sondern
auch innerhalb diesen . Regionale Unterschiede werden
nicht ausgeglichen, sondern weiter ausgeweitet . Die Fol-
gen sind vor allem die steigende Jugendarbeitslosigkeit
in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien, etc . Diese
wiederum treiben die unfreiwillige Migration auch in-
nerhalb der EU weiter voran . Vielen bleibt gar nichts
anderes übrig, als in reicheren EU-Staaten ihr Glück zu
versuchen . So ist es kein Wunder, dass das Vertrauen der
Bürger in das vielbeschworene vermeintliche Integrati-
onsprojekt EU und ihre Institutionen und ihr uneingelös-
tes Wohlstandsversprechen unablässig schwindet . Doch
nicht nur der Integrationsfähigkeit der EU wird zuneh-
mend misstraut . Zugleich erodiert die Solidarität zwi-
schen den EU-Mitgliedstaaten, und der Zusammenhalt
innerhalb der Gesellschaften bröckelt immer weiter und
befeuert den aufflammenden Nationalismus, Rassismus
und Neonazismus .
Erst heute Mittag sprachen wir im Bundestag im Zu-
sammenhang mit dem Antrag der Linksfraktion „Eine
erfolgreiche Integrationspolitik erfordert eine soziale Of-
fensive für alle“, Drucksache 18/9190, dass statt sicherer
Arbeitsplätze, guter Löhne und damit natürlich auch gu-
ter Renten, 1-Euro-Jobs, Leiharbeit, Dauerbefristungen
und auch Werkverträge zunehmen . Das Ergebnis sind
Hunderttausende, die von ihrer Arbeit nicht leben und
ihre Familien schlicht nicht ernähren können .
Auch die drei Richtlinien, die die Bundesregierung
mit ihrem heute vorliegenden Gesetzentwurf umsetzen
will, setzen an einem integrationspolitisch und arbeits-
marktpolitisch verfehlten Konzept an . Dabei geht es um
die Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
Europäischen Union zu Saisonarbeitnehmern, unterneh-
mensintern Transferierten sowie Forschern, Studenten,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21921
(A) (C)
(B) (D)
Praktikanten und europäischen Freiwilligen . Den Vor-
schlag für die Richtlinie hatte die Europäische Kommis-
sion im Jahr 2010 vorgelegt . Der aktuelle Text wurde im
Februar 2014 vom Europäischen Parlament verabschie-
det, diese Fassung wurde vom Rat nun ohne Diskussion
angenommen .
Die Richtlinien machen deutlich, dass der Ansatz eine
Fortsetzung des Konzeptes der „zirkulären Migration“
ist. Mit diesem soll flexibel auf die europäischen Ar-
beitsmarktbedürfnisse der Unternehmen reagiert werden .
Das Prinzip der „zirkulären Migration“ soll durch die
Richtlinien gefördert werden . So können die Mitglied-
staaten vereinfachte oder beschleunigte Zulassungsver-
fahren für Personen einführen, die jedes Jahr beispiels-
weise zur Saisonarbeit einreisen . Statt ein vermeintliches
oder tatsächlich bestehendes Defizit an bestimmten Ar-
beitskräften über eine Qualifizierungsoffensive bei der
vorhandenen erwerbsfähigen Bevölkerung anzugehen,
sollen gezielt ausgewählte Migrantinnen und Migranten
als Arbeitsmarktpuffer missbraucht werden.
Die Strategie, Arbeitsmarktengpässe kurzfristig
und flexibel zu überwinden, erinnert dabei stark an das
„Gastarbeiterkonzept“, das ebenfalls mit der Rückkehr
der Arbeitskräfte kalkulierte, ohne deren sozialen Be-
dürfnisse im Land ausreichend zu berücksichtigen und
Integrationsangebote zu machen . Die Versäumnisse des
„Gastarbeitermodells“ müssen in erster Linie die Betrof-
fenen und zum Teil ihre Nachfahren bis heute „ausba-
den“.
Auch die umzusetzenden Richtlinien gehen von einer
temporären und kurzfristigen Migration aus, die Integra-
tionsmaßnahmen unnötig machen sollen . Doch in vielen
Fällen werden die Personen in dem jeweiligen Mitglied-
staat bleiben und weiterhin dort leben . Es stellen sich da-
her weitere Fragen, wie mit dieser Situation umgegangen
werden soll . Damit verbunden ist natürlich die Frage des
Familiennachzugs, die umso relevanter wird, wenn aus
der geplanten temporären Migration dauerhafte Einwan-
derung werden sollte .
Fragwürdig war und ist beispielsweise bei der Sai-
sonarbeiterrichtlinie, worin eigentlich der Bedarf an
diesbezüglichen Arbeitserlaubnissen oder Zulassungen
bestehen soll, angesichts der Tatsache, dass der derzei-
tige Bedarf durch Saisonarbeitskräfte aus EU-Mitglied-
staaten gedeckt und die Möglichkeit der Anwerbung von
Saisonarbeitskräften aus Drittstaaten zumindest derzeit
nicht genutzt wird .
Eine Besonderheit gilt aber auch bezüglich des Min-
destlohngesetzes für den Fall der Saisonarbeit . Mit dem
Mindestlohngesetz ist ein gesetzlicher Anspruch auf
Zahlung eines Bruttomindestentgelts je Stunde einge-
führt worden . Nach seinem Wortlaut wird der gesetzliche
Mindestlohn als Geldbetrag geschuldet . Auch wenn vom
Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Verpflegung und
Unterkunft einen in Geld bezifferbaren Wert haben, sind
sie keine Geld-, sondern Sachleistungen und als solche
grundsätzlich nicht unmittelbar im Sinne einer Anrech-
nung auf den Mindestlohnanspruch berücksichtigungsfä-
hig . Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
und das Bundesministerium der Finanzen hatten sich
aber während des Gesetzgebungsverfahrens zur Einfüh-
rung eines Mindestlohngesetzes darauf verständigt, dass
im Bereich der Saisonarbeit die Möglichkeit bestehen
soll, Kost und Logis auf den gesetzlichen Mindestlohn
nach dem Mindestlohngesetz anzurechnen .
Laut Bundesregierung ist diese Ausnahme nicht bran-
chenbezogen, sondern knüpft an die Beschäftigung von
Saisonarbeitnehmern an . Saisonarbeitnehmer sind nach
dem Verständnis der Bundesregierung Arbeitnehmer, die
befristet bei einem im Inland ansässigen Arbeitgeber an-
gestellt sind und Tätigkeiten ausüben, die aufgrund ei-
nes immer wiederkehrenden saisonbedingten Ereignisses
oder einer immer wiederkehrenden Abfolge saisonbe-
dingter Ereignisse an eine Jahreszeit gebunden sind, wäh-
rend derer der Bedarf an Arbeitskräften den für gewöhn-
lich durchgeführte Tätigkeiten erforderlichen Bedarf in
erheblichem Maße übersteigt. Das trifft insbesondere in
den Bereichen der Land- und Forstwirtschaft sowie im
Gartenbau insbesondere auf Erntehelfer zu, zudem auf
bestimmte Beschäftigte im Tourismus, insbesondere in
Gaststätten und Hotels und in Betrieben, die ihrer Na-
tur nach nicht ganzjährig geöffnet sind oder die während
bestimmter befristeter Zeiträume einen erhöhten Arbeits-
kräftebedarf abdecken müssen . Der DGB fordert eine
klare Begrenzung der Beschäftigungssektoren, in denen
die Saisonarbeit im Sinne der Richtlinie zugelassen wer-
den soll . Sichergestellt werden soll, dass Branchen wie
die Bauwirtschaft und das Gebäudereinigerhandwerk
von der Saisonarbeit ausgeschlossen bleiben, da sie keine
saisonabhängigen Tätigkeiten umfassen .
Die Regelungen zum Versagen oder Entzug der Ar-
beitserlaubnis bzw . der Zustimmung dürfen nicht die
betroffenen Saisonarbeitskräfte, sondern müssen den
Arbeitgeber treffen. Bei Missbrauch muss es für diesen
härtere Sanktionen bis hin zum Entzug der Gewerbeer-
laubnis sowie bessere Kontrollen der Arbeitsbedingun-
gen und Beratungsmöglichkeiten für Beschäftigte geben .
Dass es letztlich bei der EU vordergründig um einen
Standortwettbewerb geht, zeigt der Umstand, dass die
Parlamente aus elf Mitgliedstaaten Subsidiaritätsrügen
nach Protokoll Nummer 2 zum Vertrag von Lissabon
bezüglich der Revision der Entsenderichtlinie erhoben
und damit das Verfahren der sogenannten „gelben Karte“
ausgelöst hatten . Dabei dürfte es den überwiegend ost-
europäischen EU-Ländern in erster Linie darum gehen,
ihre heimische Wirtschaft zu schützen . Durch die niedri-
gen Löhne, die sie ihren entsendeten Mitarbeitern zahlen,
waren ihre Unternehmen besonders „wettbewerbsfähig“.
Denn erst nach zwei Jahren sollen entsandte Arbeits-
kräfte einheimischen Arbeitskräften vollständig gleich-
gestellt werden . Kettenentsendungen muss ein Riegel
vorgeschoben werden, um sicherzustellen, dass Arbeit-
nehmerentsendungen einen befristeten Charakter behal-
ten und gerade nicht als Instrument ausschließlich zur
Senkung der Lohnkosten genutzt werden . Doch werden
die Löhne nach zwei Jahren angeglichen, schwindet der
Wettbewerbsvorteil .
Wenn auch die Europäische Kommission im Rahmen
der verpflichtenden Prüfung der Subsidiaritätsbedenken
an ihrem Vorschlag festhält; das Prinzip des gleichen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721922
(A) (C)
(B) (D)
Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsplatz wird
nicht gewährleistet . Entsandte Beschäftigte bleiben mas-
siv gefährdet von Lohndumping, Sozialversicherungsbe-
trug, Entsendungen über Briefkastenfirmen oder miss-
bräuchliche Praktiken hinsichtlich der Zahlung der ihnen
zustehenden Löhne und Gehälter . Es muss sichergestellt
sein, dass die Arbeitsbedingungen inklusive Entlohnung
mindestens jenen in Tarifverträgen oder ortsüblichen Ge-
pflogenheiten entsprechen. Auch die Anwendung nicht
allgemeinverbindlicher, repräsentativer Tarifverträge für
Branchen, Regionen oder einzelne Unternehmen müssen
von der Bundesagentur für Arbeit zwingend zur Bewer-
tung der Zulassungsvoraussetzungen herangezogen wer-
den . Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass die
Beschäftigten auch in Bezug auf ihren Sozialversiche-
rungsschutz den Beschäftigten in Deutschland gleichge-
stellt werden . Das fordert der DGB . Und die Linksfrakti-
on schließt sich dieser Forderung an .
Ein ernsthafter Versuch, mit den Richtlinien Sozi-
aldumping zu begrenzen, ist nicht bzw . nur nachrangig
erkennbar . Im Unterschied zur neoliberalen Strategie
der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Arbeitsmigration im
Sinne des Standortwettbewerbs und der Konkurrenz von
Arbeitsmärkten, wird die Linksfraktion die Richtlinien
bezüglich ihrer Wirkung auf gleiche Rechte für Migran-
tinnen und Migranten sowie Einheimische und der Stär-
kung des sozialen Zusammenhalts bewerten . Uns geht es
dabei darum, wie allgemeingültige tarifliche und soziale
Standards für alle – also für einheimische Erwerbslose
und sozial Ausgegrenzte, Migrantinnen und Migranten,
sprich für alle – verankert werden (können) . Davon sind
die Richtlinien weit entfernt .
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es wäre schön, wenn die Bundesregierung bei der Um-
setzung der Aufnahmerichtlinie, der Qualifikationsricht-
linie und der Verfahrensrichtlinie ebenso emsig wäre wie
bei der Umsetzung der Richtlinien zur Arbeitsmigration .
Auf die Umsetzung des Beratungsanspruchs für Asylsu-
chende im Verfahren, auf die Einhaltung der Vorgaben
zur Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten und auf so
manch andere Verbesserung der Situation für Schutzsu-
chende in Deutschland warten wir jedoch seit geraumer
Zeit vergebens .
Dennoch begrüßt meine Fraktion, dass die Bundesre-
gierung bemüht ist, im Bereich der Arbeitsmigration die
Vorgaben des europäischen Rechts umzusetzen – auch
wenn wir es bedauern, dass die Gelegenheit nicht genutzt
wurde, um das Recht der Arbeitsmigration endlich deut-
lich zu liberalisieren, zu systematisieren und zu entbü-
rokratisieren. Das wäre angesichts des demografischen
Wandels und des zunehmenden Fachkräftemangels in
vielen Sektoren und Regionen notwendig . Die SPD hat
das ja auch erkannt . Aber liebe Genossen: Wann bringen
Sie denn Ihren Entwurf eines Einwanderungsgesetzes
endlich in den Bundestag ein, damit wir ihn sinnvoll be-
raten können? Und wo bleibt Ihr Vorschlag zur Umset-
zung des Shanghaier Kugelfischabkommens? Sie trauen
sich wohl einfach nicht!
Doch wenden wir uns dem vorliegenden Gesetzent-
wurf zu . Meine Fraktion begrüßt, dass der Gesetzentwurf
unter anderem Verbesserungen beim Zugang zum Studi-
um vorsieht sowie das Aufenthaltsrecht von Forschenden
neu regelt . Allerdings – und insofern stimmen wir mit
dem Bundesrat überein – sollten Personen, die in einem
anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz im Sinne
der Richtlinie 2011/95/EU genießen, von der Möglich-
keit des studien- oder forschungsbezogenen nationalen
Aufenthaltsrechts nicht ausgeschlossen werden . Das ist
integrationspolitisch, aber auch arbeitsmarkt- und for-
schungspolitisch das falsche Signal . Hier müssen wir
mehr wagen . Die sogenannte REST-Richtlinie sieht im
Erwägungsgrund 29 die Möglichkeit der Erteilung nati-
onaler Aufenthaltstitel zu Studien- und Forschungszwe-
cken ausdrücklich vor . Von dieser Möglichkeit hat die
Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf nur unzurei-
chend Gebrauch gemacht . Es ist – wie der Bundesrat es
formuliert – nicht nachvollziehbar, warum Studieninte-
ressierte oder Forschende, die gerade erst internationa-
len Schutz erhalten haben, im Vergleich zu Personen mit
der gleichen Staatsangehörigkeit, die sich aber noch im
Herkunftsland befinden, schlechtergestellt werden sol-
len . Angesichts der hohen Anforderungen an die Titel-
erteilung – Stichwort: Sicherung des Lebensunterhalts
bei Studierenden, Kostenübernahme der Forschungsein-
richtung bis zu sechs Monaten nach der Aufnahmever-
einbarung bei Forschenden – ist ein Missbrauch nicht zu
befürchten .
Ich wünsche mir, dass die Koalition im weiteren Ge-
setzgebungsverfahren die Vorschläge des Bundesrates
aufgreift . Damit wäre schon viel gewonnen . Obwohl die
Gestaltung unserer Einwanderungsgesellschaft damit si-
cherlich auch in gesetzgeberischer Hinsicht nicht abge-
schlossen sein wird: Wir brauchen endlich – ich wieder-
hole es – den Mut zu einem neuen Einwanderungsgesetz,
das die Regelungen der Arbeitsmigration liberalisiert,
systematisiert, entbürokratisiert und durch die Möglich-
keit der angebotsorientierten, das heißt vom Nachweis
eines Arbeitsangebots unabhängigen Einwanderung er-
gänzt . Nur so können wir den Herausforderungen des de-
mografischen Wandels, des Fachkräftemangels und der
zunehmenden internationalen Mobilität von Fachkräften,
Studierenden, Forscherinnen und Forschern und ihrer Fa-
milien gerecht werden . In diesem Sinne wünsche ich uns
gute Beratungen .
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Das Ziel der Bundesregierung
ist die wirksame Steuerung der Zuwanderung nach
Deutschland . In den letzten Monaten haben wir uns vor
allem mit der Eindämmung der illegalen Migration und
der Einschränkung der humanitären Zuwanderung nach
Deutschland befasst .
Mit diesem Gesetzespaket, das wir heute beraten, leis-
ten wir nun einen Beitrag zur europaweiten Steuerung
der Zuwanderung von Arbeitskräften aus Staaten außer-
halb Europas nach Deutschland .
Das deutsche Zuwanderungsrecht stellt schon jetzt
weltweit eine der offensten und effizientesten Regelun-
gen für Fachkräfte aus Drittstaaten dar . Deutschland
gehört laut OECD zu den Ländern mit den geringsten
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21923
(A) (C)
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Hürden für die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeits-
kräfte .
Mit diesem Gesetz geht es vor allem darum, den Fach-
kräften, die zu uns kommen, auch die Möglichkeiten des
Binnenmarktes zu eröffnen und zudem einen einheitli-
chen EU-Rechtsrahmen zum Beispiel für Saisonarbeits-
kräfte und Au-pairs zu schaffen. Das Ganze fußt auf drei
EU-Richtlinien, die in innerdeutsches Recht umgesetzt
werden .
Konkret werden die Möglichkeiten des Zugangs zum
europäischen Markt verbessert für:
1. Internationale Unternehmen, die hochqualifizierte
Mitarbeiter von außerhalb der EU in eine Niederlassung
innerhalb der EU versetzen möchten . (Das ist in der so-
genannten ICT-Richtlinie festgelegt .)
2 . Forscher und Studenten, die (mit der Umsetzung
der sogenannten REST-Richtlinie) verbesserte Möglich-
keiten erhalten, den Forschungs- und Wissenschaftssek-
tor in Deutschland zu stärken. Ergänzend hierzu öffnen
wir uns auch für Praktikanten und Teilnehmer am Euro-
päischen Freiwilligendienst .
3 . Saisonarbeitskräfte, die für ein paar Monate im Jahr
nach Deutschland kommen möchten, um in der Land-
wirtschaft oder der Tourismusbranche zu arbeiten . Dies
ist geregelt in der Saisonarbeitnehmerrichtlinie .
Der Einsatz internationalen Personals spielt für unsere
exportorientierte Wirtschaft eine sehr wichtige Rolle .
Allein im ersten Halbjahr 2016 wurden gut
45 000 Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken erteilt . Für
die Wirtschaft in unserem Land leisten all die Personen,
die hinter diesen Aufenthaltstiteln stecken, einen wesent-
lichen Beitrag .
Unternehmen bekommen nun die Möglichkeit, ihr
Personal an unterschiedlichen Standorten einzusetzen .
Wir schaffen einen neuen Aufenthaltstitel für Ar-
beitnehmer, die innerhalb ihres Unternehmens vorüber-
gehend nach Deutschland abgeordnet werden . Damit
werden derartige Abordnungen gegenüber der bisher gel-
tenden Möglichkeit deutlich erleichtert . Die Regelungen
gelten für Führungskräfte, Spezialisten und Trainees –
also für genau die Arbeitnehmer, die gebraucht werden,
damit wir leistungs- und wettbewerbsfähig bleiben .
Dazu schaffen wir Möglichkeiten der innereuropäi-
schen Mobilität . Es soll unkompliziert möglich sein, dass
Arbeitnehmer an mehreren Standorten ihres Unterneh-
mens innerhalb Europas arbeiten . Für kurzfristige Auf-
enthalte reicht es deshalb aus, wenn der Arbeitnehmer ei-
nen Aufenthaltstitel aus einem anderen EU-Mitgliedstaat
hat – wenn er nur für bis zu drei Monate in Deutschland
bleiben will, braucht er dann keinen deutschen Aufent-
haltstitel .
Auch bei längeren Aufenthalten von mehr als drei
Monaten wird das Verfahren deutlich vereinfacht, wenn
die Person bereits einen Aufenthaltstitel aus einem ande-
ren Mitgliedstaat hat .
So schaffen wir für Unternehmen und Arbeitnehmer
die nötige Flexibilität, ohne dabei unsere Steuerungs-
möglichkeiten aufzugeben .
Verbesserte Zugangsmöglichkeiten gibt es künftig
auch im Bereich von Studium und Forschung .
Ausländer, die zum Studium zu uns kommen möchten,
haben künftig einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel,
wenn ihre Hochschule sie zum Studium zugelassen hat .
Studenten haben – vergleichbar den unternehmensin-
tern transferierten Arbeitnehmern – in Zukunft verbes-
serte Möglichkeiten der Mobilität innerhalb der EU .
Sie können mit dem Aufenthaltstitel eines anderen
EU-Mitgliedstaats für einen begrenzten Zeitraum in
Deutschland studieren, ohne einen eigenen deutschen
Aufenthaltstitel beantragen zu müssen .
Für ausländische Forscher gilt künftig nur noch eine
gesetzliche Regelung – das Verfahren wird wesentlich
übersichtlicher .
Für Forscher, die bereits in einem anderen EU-Mit-
gliedstaat forschen, gibt es erleichterte Regeln, wenn sie
einen Teil ihres Forschungsvorhabens in Deutschland
durchführen möchten .
Außerdem passen wir die Regelungen für Praktikan-
ten und Teilnehmer am europäischen Freiwilligendienst
an .
Daneben legen wir die Voraussetzungen fest, unter
denen Ausländer als Saisonarbeitnehmer in Deutschland
beschäftigt werden können . In diesem Bereich, der unter
anderem für die Landwirtschaft und den Tourismus in
unserem Land eine große Rolle spielt, schaffen wir Klar-
heit und transparente Regeln .
Dieses Gesetzespaket bedeutet keinen Paradigmen-
wechsel für unser Zuwanderungsrecht, sondern eine
Anpassung und Vereinheitlichung innerhalb Europas
aufgrund von EU-Richtlinien. Am Ende profitiert auch
Deutschland als größte Volkswirtschaft davon .
Ich bitte Sie daher, den Gesetzesentwurf zu unterstüt-
zen, und freue mich auf die Beratungen .
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
des Rechts zur Sicherstellung der Ernährung in
einer Versorgungskrise (Tagesordnungspunkt 17)
Katharina Landgraf (CDU/CSU): Dieser Gesetz-
entwurf ist Teil des von der Bundesregierung initiierten
Zivilschutzkonzeptes, welches sich mit dem Selbstschutz
der Bürger in Krisensituationen beschäftigt .
Im Rahmen dessen war die Bevölkerung im Au-
gust 2016 dazu aufgerufen worden, Vorräte an Lebens-
mitteln und Trinkwasser anzulegen . Wir erinnern uns alle
sicherlich an die teils heftigen Reaktionen, die von gro-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721924
(A) (C)
(B) (D)
ßen Hamsterkäufen bis zur völligen Ignoranz und Spott
reichten . Dabei ist das Thema durchaus wichtig, denn
wenn es doch einmal zum Eintritt einer Versorgungskrise
kommen sollte, wäre man besser vorbereitet .
Genau das ist das Ziel des nun von der Bundesregie-
rung vorgelegten Gesetzentwurfes: die Neuregelung zur
Grundversorgung der Bevölkerung im Falle einer Versor-
gungskrise – so unwahrscheinlich diese auch sein mag .
Der Bundesrechnungshof hatte in seinem Bericht
vom 15 . September 2011 an das Bundesministerium
für Ernährung (BMEL) in den Regelungen des Ernäh-
rungssicherstellungsgesetzes (ESG) und des Ernäh-
rungsvorsorgegesetzes (EVG) „grundlegende Schwach-
stellen“ festgestellt und empfohlen, die derzeit gültigen
Konzepte zu überdenken . Es sei notwendig, zeitgemäße
Krisenszenarien herauszuarbeiten, ein Gesamtkonzept zu
entwickeln und einheitliche Regelungen für militärische
wie zivile Krisenfälle zu erlassen . Darauf sollte dann die
Versorgungsplanung und Bevorratung durch den Staat
abgestimmt werden .
Dies ist mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf
nun geschehen .
Aber was ist eigentlich eine Versorgungskrise?
Eine Versorgungskrise – sei es im Verteidigungsfall
oder durch zivile Katastrophen verursacht – ist ein Sze-
nario, in dem erhebliche Teile der in Deutschland leben-
den Menschen über den freien Markt keinen Zugang zu
Lebensmitteln mehr haben und hoheitlich versorgt wer-
den müssen. Hierzu dürfte in der Regel die Betroffenheit
von mindestens zwei Bundesländern erforderlich sein .
Der lebensnotwendige Bedarf an Lebensmitteln bezeich-
net die Menge, die erforderlich ist, um den minimalen
Energie- und Nährstoffbedarf der Menschen und damit
das physische Überleben der Bevölkerung zu sichern .
Typischerweise wird dieser durch Grundnahrungsmittel
wie Brot, Kartoffeln, Milch, Fleisch, Fett und Zucker
sowie Obst und Gemüse als Vitaminträger gedeckt . In
dem Gesetzentwurf heißt es weiter, dass der Eintritt einer
solchen Versorgungskrise derzeit als unwahrscheinlich
anzusehen sei . Die meisten denkbaren Schadensereig-
nisse im Hinblick auf „Extremwetterlagen“, „technische
Störungen“, „andere Naturkatastrophen“ und „Freiset-
zungen von Gefahrstoffen“ dürften eigentlich nicht zu ei-
ner Versorgungskrise führen . Weil aber der Eintritt einer
Versorgungskrise nicht vollständig ausgeschlossen wer-
den kann, wurde die staatliche Bevorratung einer grund-
legenden Überprüfung unterzogen . Als Ergebnis dieser
Prüfung werden deshalb nun das ESG sowie das EVG
zu einem einheitlichen Ernährungssicherstellungs- und
-vorsorgegesetz (ESVG) zusammengefasst .
Ziel des ESVG ist es, die verfügbaren Lebensmittel
trotz Ausfalls weiterer Infrastrukturen schnell an die
Bevölkerung zu verteilen . Mit dem Gesetzentwurf soll
sichergestellt werden, dass der Staat dies in solchen
Ausnahmesituationen organisieren kann . Dafür sind im
Gesetzentwurf Verordnungsermächtigungen vorgesehen,
die eine öffentliche Bewirtschaftung von Lebensmitteln
ermöglichen, beispielsweise durch den Erlass von Rege-
lungen über die Produktion, den Bezug , die Zuteilung
von Lebensmitteln oder aber den direkten Zugriff auf Be-
triebe der Agrar- und Ernährungswirtschaft .
Wirksamstes Mittel zur Vorsorge für eine Versor-
gungskrise ist aber die Vorratshaltung durch die Pri-
vathaushalte . Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die
Bürger aufgeklärt und informiert werden: darüber, wel-
che Lebensmittel sich gut zur Lagerung eignen, wie man
bestimmte Lebensmittel haltbar macht, wo diese gelagert
werden müssen und so weiter . Dafür ist es bestimmt auch
hilfreich, mit den Eltern oder Großeltern zu sprechen .
Diese werden sicherlich aus eigener Erfahrung noch
gute Ratschläge beisteuern können . Es geht ja auch nicht
darum, in kleinen Stadtwohnungen Lebensmittel und
Trinkwasser für mehrere Monate zu lagern . Das ist nicht
praktikabel und auch nicht nötig . Es reicht, wenn man
Vorräte für 14 Tage im Haus hat . Eine Liste mit Vorschlä-
gen findet sich zum Beispiel auf der Internetseite www .
ernaehrungsvorsorge .de des Bundesministeriums für
Ernährung und Landwirtschaft . Dazu gibt es dort auch
praktische Tipps zum Haltbarmachen von Lebensmitteln
und zur richtigen Lagerung . Im Grunde ist es ganz ein-
fach: Jeder sollte das bevorraten, was er selbst in nächster
Zeit konsumieren möchte . Wenn möglich, sollten auch
Lebensmittel dabei sein, die man ohne Kochen verzehren
kann, denn die Wahrscheinlichkeit eines Stromausfalls
ist bei dem Szenario, von dem wir hier sprechen, recht
hoch .
Zusammenfassend kann ich nur sagen: Dieses Gesetz
soll keine Panik verursachen . Ganz im Gegenteil! Es
trifft einfach nur eine Regelung zur Vorsorge. Völlig ver-
altete Regelungen werden neu gefasst und zusammenge-
führt, und Bürokratie wird abgebaut . Daher bitte ich um
Zustimmung .
Carola Stauche (CDU/CSU): Im August des vergan-
genen Jahres wurde plötzlich in der Presse heiß disku-
tiert, dass die Bundesregierung zu Hamsterkäufen auf-
rufe, um sich gegen einen eventuellen Katastrophenfall
zu wappnen . Sollte damit etwa die Bevölkerung auf eine
drohende kriegerische Auseinandersetzung und damit
einhergehende Lebensmittelknappheit vorbereitet wer-
den? Mitnichten . Es war wohl eher ein typisches Ereignis
im medialen Sommerloch .
Denn die Bundesregierung beriet lediglich ihr neues
Zivilschutzkonzept, und das war notwendig: Denn das
vorherige Konzept stammte noch aus den Sechzigerjah-
ren des 20 . Jahrhunderts . Zum Vorhaben und zur Begrün-
dung zitiere ich aus dem Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung: „Durch das Ernährungssicherstellungsgesetz
(ESG) und das Ernährungsvorsorgegesetz (EVG) soll
im Verteidigungs- und Spannungsfall sowie im Falle
einer nicht militärisch bedingten Versorgungskrise eine
Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln
ermöglicht werden . Der Bundesrechnungshof hat in sei-
nem Bericht an das Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 15 . Sep-
tember 2011 in beiden Rechtsbereichen grundlegende
Schwachstellen festgestellt und empfohlen, die Grund-
lagen der Ernährungsnotfallvorsorge und -sicherstellung
zu überdenken . Hierzu sei es notwendig, aktuelle Kri-
senszenarien herauszuarbeiten, ein Gesamtkonzept zu
http://www.ernaehrungsvorsorge.de
http://www.ernaehrungsvorsorge.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21925
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entwickeln, ggf . einheitliche Regelungen für militärische
wie nicht militärische Krisenfälle zu erlassen sowie die
Versorgungsplanung und Bevorratung von Lebensmitteln
darauf abzustimmen.“ Weiter unten heißt es: „Staatliche
Maßnahmen auf dem Gebiet der Ernährungsnotfallvor-
sorge müssen einerseits zur Bewältigung einer Versor-
gungskrise oder zur Vorsorge für eine Versorgungskrise
geeignet sein . Andererseits müssen sie in den regelmäßig
nicht durch Krisen betroffenen Zeiten mit einem Auf-
wand umsetzbar sein, der zu der sehr geringen Eintritts-
wahrscheinlichkeit der relevanten Szenarien in einem
angemessenen Verhältnis steht . Die derzeit bestehenden
Regelungen werden diesen beiden Anforderungen teil-
weise nicht gerecht . Der vorliegende Gesetzentwurf zielt
daher auf eine vollständige Neuregelung der staatlichen
Ernährungsnotfallvorsorge ab . Darüber hinaus wird die
Bundesregierung die staatliche Bevorratung von Lebens-
mitteln einer grundlegenden Überprüfung unterziehen
und konzeptionelle Modelle zur Neuordnung und Fort-
setzung der Bevorratung entwickeln.“
Es handelt sich also lediglich um eine Modernisie-
rung und Vereinfachung bestehender Vorschriften, die
angebracht ist, weil sich Rahmenbedingungen verändert
haben .
Schon der Umstand, dass wir dieses Thema nicht in
der Debattenkernzeit unter Beteiligung des Ministers
beraten, sondern die Redebeiträge zu Protokoll gegeben
werden, weist doch darauf hin, dass es hier nicht um Pa-
nikmacherei oder unmittelbar bevorstehende Krisen geht .
Denn sonst hätte die geschätzte Opposition die Gelegen-
heit sicher gern genutzt, die Regierung vorzuführen .
Dennoch will ich betonen: Die Kommunikation des
Gesetzesvorhabens hätte besser laufen können, sodass es
gar nicht erst zur eingangs angesprochenen Verunsiche-
rung gekommen wäre .
Insbesondere der Punkt der privaten Notfallvorsorge
wurde in der medialen Darstellung stark übertrieben .
Hierzu heißt es im Entwurf lediglich: „Wirksamstes Mit-
tel zur Vorsorge für eine Versorgungskrise ist die Vor-
ratshaltung durch die Privathaushalte (Selbstschutz) . Die
Förderung von Maßnahmen zur Verbesserung des Selbst-
schutzes durch die Bevölkerung sollte daher zur gesetzli-
chen Aufgabe von Bund und Ländern gemacht werden.“
Von einem Aufruf zu Hamsterkäufen kann also keine
Rede sein . Eine Anmerkung sei mir noch gestattet: Ge-
gen die Empfehlung zur privaten Vorsorge wurde einge-
wendet, dass viele Menschen weder Geld noch Lagerka-
pazitäten für ausreichende private Vorratshaltung haben .
Dazu möchte ich anmerken: Die private Vorratshaltung
für den Katastrophenfall wäre im Falle eines Falles zwar
sehr wirksam, ist aber keinesfalls verpflichtend, und ist
außerdem als zusätzlicher Baustein gedacht . Natürlich ist
es Verantwortung und Aufgabe des Staates, für Versor-
gung zu sorgen . Das macht er, und darum debattieren wir
heute hier diesen Gesetzentwurf .
Ich will die darin enthaltenen Regelungen und die
Überlegungen zu Wahrscheinlichkeiten, dass ein Katas-
trophenfall eintritt, nicht im Einzelnen wiederholen, das
haben meine Vor- und Mitredner sicher schon zur Genü-
ge getan beziehungsweise werden dies noch tun .
Ein Punkt ist mir allerdings noch sehr wichtig: Wo-
her kommen denn die Lebensmittel, mit denen wir uns
bevorraten, mit denen der Staat bevorratet? Sie kommen
zum ganz großen Teil aus unserer heimischen Landwirt-
schaft, die ganz überwiegend eine hervorragende Arbeit
leistet, uns täglich mit sicheren, preiswerten und vielfäl-
tigen Lebensmitteln versorgt . Dafür sollten wir unseren
Landwirtinnen und Landwirten dankbar sein und ihnen
den nötigen Respekt zollen .
Der vorliegende Gesetzesentwurf ist wichtig, notwen-
dig und angemessen, und deshalb möchte ich um Zustim-
mung dafür werben .
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Es gibt Situationen,
deren Eintreten man sich trotz der momentan nicht eben
rosigen weltpolitischen Lage kaum noch vorstellen kann:
eine echte Versorgungskrise, Lebensmittelengpässe, den
Ausfall großer Teile unserer Infrastruktur zum Beispiel .
Zum Glück, muss man sagen . Zum Glück ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass es so weit kommt, derzeit äußerst ge-
ring . Dennoch oder vielleicht gerade deswegen gab es im
August letzten Jahres kaum eine Zeitung, die nicht unter
der Überschrift „Bevölkerung soll Vorräte für den Katas-
trophenfall anlegen“ über das erstmals seit dem Ende des
Kalten Krieges wieder aufgelegte Zivilschutzkonzept des
Bundesinnenministeriums berichtete .
Die realen Erfahrungen des 20 . Jahrhunderts spielen
wahrscheinlich ebenso eine Rolle wie die zahlreichen
Katastrophenszenarien aus Film, Fernsehen und Lite-
ratur – aber fest steht, dass dem Thema Ernährungssi-
cherung im Krisenfall viel öffentliche Aufmerksamkeit
zuteilwird . Das ist auch nachvollziehbar, und zu Recht
erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns, dass wir
für den Notfall gerüstet sind .
Der Bundesrechnungshof hat uns 2015 bescheinigt,
dass die Versorgungsplanung Schwachstellen aufwies,
die Konzepte für Krisenfälle unzureichend waren und au-
ßerdem sehr viel Geld und Personal für die Erhebung von
Daten verwendet wurde, mit denen eigentlich niemand
etwas anfangen konnte . Das ändert sich nun .
Der vorliegende Entwurf stellt die Vorbereitung auf
eine Ernährungskrise auf eine neue gesetzliche Grund-
lage und macht die Verwaltung effizienter. Wir begrüßen
das sehr . Besonderes Augenmerk legt das Gesetz ebenso
wie erwähntes Zivilschutzkonzept auf die private Bevor-
ratung . Diese zu fördern, soll eine gemeinsame Aufgabe
von Bund und Ländern werden . Ich glaube, dabei ist eine
gute Portion Realismus und Fingerspitzengefühl in der
Kommunikation gefragt .
Ich bin auf die jetzt schon vorhandene Webseite
„ Ernährungsvorsorge .de“ des Bundesministeriums für
Ernährung und Landwirtschaft gegangen .
Dort wird einer vierköpfigen Familie zum Beispiel
empfohlen, 224 Liter Mineralwasser, 7,2 Kilogramm
Erbsen und Möhren in Dosen, 5,6 Kilogramm Hartkäse
und 2,9 Kilogramm Dauerwurst für 28 Tage einzulagern .
Mit solchen Empfehlungen sichert man sich wahrschein-
lich vor allem den Auftritt in einer Satiresendung . Ge-
fragt sind hier sinnvolle, praktikable Konzepte, die für
https://www.ernaehrungsvorsorge.de/
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721926
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die Bevölkerung nachvollziehbar sind und weder Lacher
noch Panik auslösen . Ich bin zuversichtlich, dass das ge-
lingen wird .
Karin Binder (DIE LINKE): Mit diesem erst im Ja-
nuar im Bundestag eingebrachten Gesetz soll die Versor-
gung der Bevölkerung im Krisenfall neu geregelt wer-
den . Die bisher geltenden Regelungen stammen noch
aus Zeiten des Kalten Krieges und sind auf jeden Fall
überholungsbedürftig . Heutige Krisenszenarien bestehen
in erster Linie aus Naturkatastrophen, Freisetzung von
Schadstoffen oder „technischen Störungen“, zum Bei-
spiel durch Hackerangriffe.
Die aufwendige Vorhaltung von Lebensmittelmarken
soll entfallen . Stattdessen sollen Bund und Länder das
Recht erhalten, auf die Betriebe in der Lebensmittelwirt-
schaft und den Handel zuzugreifen, um die Versorgung
der Bevölkerung mit Lebensmitteln abzusichern .
Bisher lagert der Bund wichtige Grundnahrungsmittel
in einer zivilen Notfallreserve und in der Bundesreser-
ve Getreide . An 150 Standorten werden insgesamt rund
800 000 Tonnen Lebensmittel im Wert von etwa 200 Mil-
lionen Euro vorgehalten . Die laufenden Kosten hierfür
betragen im Haushaltsjahr 2017 rund 19 Millionen Euro
und sollen künftig auf jeden Fall reduziert werden . Der
Gesetzentwurf fordert die Bundesregierung auf, die
staatliche Bevorratung von Lebensmitteln einer grundle-
genden Überprüfung zu unterziehen und die Bevorratung
neu zu ordnen .
Was aus der bisherigen staatlichen Vorratshaltung
wird, wird nicht beantwortet . Auch sonst wirft der Ge-
setzentwurf noch viele Fragen auf, die wir als Linke
gerne in Ruhe und mit Sorgfalt beraten hätten . Aber
stattdessen soll es heute schnell und ohne große Debatte
beschlossen werden .
Neu an dem Gesetz ist auf alle Fälle der sogenannte
Selbstschutz . „Wirksamstes Mittel zur Vorsorge für eine
Versorgungskrise ist die Vorratshaltung durch die Privat-
haushalte (Selbstschutz)“, sagt das Vorblatt zum Gesetz-
entwurf . Bund und Länder sollen Maßnahmen zur Stär-
kung des Selbstschutzes der Bevölkerung treffen, indem
sie die Menschen über Vorsorgemaßnahmen informieren .
Es läuft also darauf hinaus, einen beträchtlichen Kri-
senvorrat von Lebensmitteln auf die Privathaushalte zu
verlagern . Das Bundesministerium für Ernährung und
Landwirtschaft gibt ihnen dafür mit einer Vorratstabel-
le Tipps für ihren persönlichen „Selbstschutz“. Nimmt
man die Hinweise der Bundesregierung zur privaten
Vorratshaltung ernst, soll ein Vierpersonenhaushalt
82 Kilogramm Lebensmittel und 112 Liter Getränke
zur Überbrückung eines 14-tägigen Versorgungsausfalls
vorhalten . Diese Vorräte kosten rund 300 bis 400 Euro,
nehmen den Platz eines großen Kleiderschranks ein und
müssen natürlich regelmäßig überprüft und ausgetauscht
werden .
Es ist kaum anzunehmen, dass alle Privathaushalte
diesen Vorschlägen der Bundesregierung folgen werden,
auch wenn das neue Gesetz die staatlichen Stellen dazu
verpflichtet, dafür Werbung zu machen. Da dürften schon
die fehlende Vorratskammer oder der nicht vorhandene
Keller für entsprechende Probleme sorgen .
Aber viel schlimmer noch: Haushalte mit kleinem
Einkommen leben schon jetzt von ihrer Substanz und
sind häufig sogar verschuldet. Hartz-IV-Haushalte haben
sowieso viel zu niedrige Regelsätze, um sich ausgewo-
gen ernähren zu können, also erst recht kein Finanzpols-
ter, um sich Vorratslager anlegen zu können . Bekommen
diese Menschen vom BMEL zusätzliches Geld für ihren
„Selbstschutz“? Natürlich nicht!
Bereits 2011 untersuchte das Büro für Technikfolgen-
abschätzung (TAB) das Szenario eines großräumigen
Stromausfalls, der nach Einschätzung der Experten gar
nicht so unwahrscheinlich ist, wie es der Gesetzentwurf
darstellt . Der Bericht zeigt, wie anfällig unsere Gesell-
schaft ist, wenn aufgrund eines Hackerangriffs, Terrorak-
tes oder eines Unfalls auch nur für 24 Stunden der Strom
ausfällt .
Unsere hoch technisierte Lebensmittelkette würde in-
nerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen . Nicht nur, dass
alle Tiefkühlprodukte auftauen würden und schnellstens
verbraucht werden müssten . Angefangen vom Kuhstall,
in dem die Melkroboter ausfallen, über die vollautoma-
tische Futtervergabe in riesigen Hühner- oder Schwei-
nefarmen würde Chaos in der Urproduktion entstehen,
zumal Futterlieferungen aus dem Ausland und der Ab-
transport der tierischen Produkte nicht mehr gewährleis-
tet wären .
Als schwächstes Glied in der Kette macht der TAB-Be-
richt den Lebensmitteleinzelhandel aus . Tatsache ist: Die
meisten Menschen werden nicht über geeignete Vorräte
verfügen, und es wird zu Hamsterkäufen kommen, egal
ob sie vorher per Gesetz dazu angehalten waren, Wasser
und Essen vorsorglich zu horten . Wenn dann gleichzeitig
auch noch die staatlichen Reserven eingespart wurden,
wird das Leerräumen von Supermärkten wenig gesittet
und ruhig ablaufen .
Von einer sicheren Versorgung der Bevölkerung mit
Lebensmitteln hängen aber nach Einschätzung der Ex-
perten das Überleben vieler Menschen und die Aufrecht-
erhaltung der öffentlichen Ordnung ab.
Es wäre also in jedem Fall hilfreich, wenn die Bundes-
regierung sicherstellt, dass die bisherige zivile Notfall-
reserve und die Bundesreserve Getreide aufrechterhalten
werden .
Ich frage die Bundesregierung: Wie zuverlässig funk-
tioniert denn unsere Agrar- und Ernährungswirtschaft
mit Blick auf den massenhaften Import von Viehfutter,
Dünger, Pflanzenschutzmitteln und anderen Rohproduk-
ten? Wie zuverlässig funktionieren hochindustrialisierte
Tierställe und Kühlketten in einer Krise, wenn beispiels-
weise der Strom ausfällt? Wie will die Bundesregierung
die Zuverlässigkeit der Lebensmittelkette für den Krisen-
fall sicherstellen und wie will sie die Verteilung der Le-
bensmittel regeln? Darauf gibt das Gesetz keine Antwort .
Hauptsache die Lebensmittelmarken sind abgeschafft
und verursachen keinen bürokratischen Aufwand mehr .
Die Sicherstellung der Grundversorgung soll im
Notfall ohne weitere Mitwirkung des Parlaments über
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21927
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(B) (D)
Rechtsverordnungen geregelt werden, zu denen die Re-
gierung und das Ministerium für Ernährung und Land-
wirtschaft mit diesem Gesetz ermächtigt werden .
Das birgt nach meinem Dafürhalten mindestens ge-
nauso viele rechtliche Unsicherheiten wie die Versor-
gung an sich .
Auch die Einschränkung, dass die Regierung nur ein-
greifen darf, wenn die Gefährdung anders „nicht recht-
zeitig“ oder „nur mit unverhältnismäßigen Mitteln“ zu
bewältigen sei, gibt der Regierung sehr viel Spielraum .
Das muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass das
Eingriffsrecht in die Privatwirtschaft und damit auch in
das Leben vieler Menschen sehr weitgehend ist . So kann
auf die gesamte Lebensmittelkette, auf alle Betriebsstät-
ten, auf Maschinen, Treibstoffe, Geräte zur Notstromver-
sorgung und sonstige Betriebsmittel zugegriffen werden.
Ein solches Instrument möglicherweise in den fal-
schen Händen bereitet mir große Sorge .
Als Linke halte ich es für zwingend, dass in einem
solchen Gesetz auch definiert wird, wie im Falle einer
tatsächlich kurzfristig notwendigen Verordnung zur Kri-
senbewältigung der Bundestag eingebunden wird . Die
demokratischen Rechte des Parlaments müssen auch in
einem Krisenfall wahrgenommen werden können und
diesbezügliche Verordnungen des Bundes gegebenenfalls
auch geändert oder wieder aufgehoben werden können .
Diese Überlegungen sind leider der zügigen Behand-
lung des Themas geopfert worden, obwohl der Eintritt
einer solchen Versorgungskrise laut Vorblatt zum Geset-
zestext „heute als unwahrscheinlich anzusehen“ ist.
Das ist sehr bedauerlich . Deshalb können wir dem Ge-
setz nicht zustimmen .
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
begrüße die längst überfällige Novellierung der Ernäh-
rungsnotfallgesetzgebung, die noch aus Zeiten des Kal-
ten Krieges stammt .
Mit dieser Neuregelung wird auch der Kritik des
Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2012 Rechnung
getragen, der die bisherigen Regelungen zur Ernährungs-
notfallvorsorge zu Recht als veraltet und ineffizient be-
zeichnet .
Es ist sinnvoll, dass die separaten Gesetze, die zum
einen den Verteidigungsfall und zum anderen Katastro-
phen nichtmilitärischen Ursprungs regeln, zusammenge-
fasst werden und dass klargestellt wird, was als nationale
Krise gilt, wer den Krisenfall feststellt, und dass dieser
nach Ende der Krise umgehend wieder aufzuheben ist .
Des Weiteren begrüßen wir, dass die separaten Melde-
pflichten der Unternehmen im Rahmen der Ernährungs-
notfallvorsorge durch Nutzung von Daten der Landwirt-
schaftsverwaltung und der Lebensmittelüberwachung
bzw . Veterinärverwaltung ersetzt werden . Dies trägt der
heutigen Digitalisierung Rechnung, die durch geeignete
Schnittstellen eine Nutzung bereits vorhandener Daten
ermöglicht und somit unnötige Bürokratie verhindert .
Neu in dem Gesetzentwurf ist, dass staatliche Maß-
nahmen durch Empfehlungen zur privaten Vorratshaltung
ergänzt werden . Die Gesetzesbegründung für den § 14
„Selbstschutz“ erläutert, dass die Ergebnisse des For-
schungsprojekts NeuENV, gefördert durch das Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung, unter anderem
bestätigt haben, dass das wirksamste Mittel zur Vorsorge
für eine Versorgungskrise die dezentrale Vorratshaltung
durch die einzelnen Privathaushalte ist . Informations-
und Aufklärungsmaßnahmen sollen zur Verbesserung
des Selbstschutzes der Bevölkerung zur gesetzlichen
Aufgabe der zuständigen Behörden des Bundes und
der Länder gemacht werden . Diesen Punkt müssen wir
in den nächsten Jahren im Auge behalten . Wir müssen
realistisch abschätzen, ob diese Informationen die Bür-
gerinnen und Bürger flächendeckend erreichen und in
welchem Ausmaß private Vorsorge wirklich getroffen
werden kann .
Dabei darf nicht vergessen werden, dass schon heute
viele Haushalte regelmäßig Probleme haben, sich über
den ganzen Monat auskömmlich mit Lebensmitteln zu
versorgen, und auf Essensspenden etwa der Tafeln an-
gewiesen sind . Ein Vorrat an Lebensmitteln ist im Bud-
get vieler armer Menschen schlicht nicht drin . Auch aus
Platzgründen wird es nicht jedem Haushalt möglich sein,
Wasserkästen und Ähnliches in ausreichendem Maße
einzulagern .
Es ist gut, dass wir unsere Notfallsysteme überprüfen
und an die neue Zeit anpassen .
Und wenn man sich das Versagen von Bundes- und
Landesbehörden bei vergangenen Lebensmittelskanda-
len anschaut, gibt es gerade in der Zusammenarbeit im
Krisenfall noch viel zu verbessern . Jedoch sollten wir uns
immer vor Augen halten, dass die Fälle, die das Gesetz
regelt, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht eintre-
ten werden . Deshalb darf diese aktuelle Debatte um die
Notfallversorgung in Deutschland nicht instrumentali-
siert werden, um Ängste und Panik in der Bevölkerung
zu schüren .
Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas Grund-
sätzliches sagen: Wir wollen eine Ernährungswirtschaft,
die – dort, wo es möglich ist – auf Produkte aus der Re-
gion und kurze Wertschöpfungsketten setzt. Das schafft
Transparenz und Sicherheit, entlastet unsere Straßen und
Meere von unnötigem Verkehr, schont das Klima, bringt
Wertschöpfung in die ländlichen Räume und gibt den
Menschen dort eine Perspektive . Wir setzen auf Vielfalt
statt auf wenige den Markt beherrschende Player und
eine zunehmende Uniformität des Lebensmittelangebots .
Solch ein System der regional organisierten Lebens-
mittelversorgung steht auf vielen und deshalb sicheren
Beinen und ist im Krisen- oder Katastrophenfall resili-
enter als zentralistische, große Strukturen . Der Wegfall
eines großen Akteurs der Lebensmittelwirtschaft trifft die
Lebensmittelversorgung viel stärker . Die Ausweichmög-
lichkeiten bei vielen kleineren Anbietern liegen auf der
Hand .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721928
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än-
derung der Bundes-Tierärzteordnung (Tagesord-
nungspunkt 19)
Hermann Färber (CDU/CSU): Wir beschließen heu-
te mit dem Dritten Gesetz zur Änderung der Bundes-Tier-
ärzteordnung die notwendigen nationalen Änderungen
zur Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinien . Wie
viele andere Berufsgruppen sind auch Tierärzte zuneh-
mend grenzüberschreitend tätig . Deshalb ist es sinnvoll,
hier gemeinsame Mindeststandards und Verfahrenswei-
sen innerhalb der EU zu beschließen . Ebenso muss bei
grenzüberschreitender Tätigkeit von Tierärzten auch eine
grenzüberschreitende Kontrolle möglich sein . Der Ge-
setzentwurf enthält die dafür notwendigen technischen
Änderungen .
Die Union stimmt diesem Gesetzentwurf zu . Meine
Fraktion steht voll und ganz zum Europäischen Binnen-
markt . Dieser Binnenmarkt, der größte der Welt, hat für
unser Land zu erheblichen Wohlfahrtsgewinnen geführt .
Oft nehmen wir diese Vorteile als selbstverständlich
hin . Dieser Gesetzentwurf macht aber deutlich, wie viel
Regulierungsnotwendigkeit oft hinter der scheinbaren
Selbstverständlichkeit steht . Der EU wird oft zu viel Bü-
rokratie vorgeworfen . Gerade im Bereich Landwirtschaft
auch wirklich nicht zu Unrecht, das weiß ich aus eigener
Erfahrung . Hier ließe sich sicherlich einiges vereinfa-
chen . Man muss aber auch sehen, dass die populistischen
Vorstellungen mancher Kritiker eben auch unrealistisch
sind: Sie meinen, man brauche die gesamte EU gar nicht,
es würde völlig ausreichen, wenn sich die Regierungen
zusammensetzen und sich politisch einigen . Wir sehen
aber, dass schon allein so ein kleiner Punkt wie die Ver-
einheitlichung der tierärztlichen Tätigkeit in der EU ei-
nen erheblichen Abstimmungsbedarf erforderlich macht .
Die Union sagt dazu: Diesen Preis ist es uns wert . Denn
letztlich führt diese Vereinheitlichung zu einer besseren
EU-weiten Versorgung der Tiere .
Am meisten wird für das Tierwohl erreicht, wenn
Tierarzt und Tierhalter vertrauensvoll Hand in Hand ar-
beiten . Das gilt sowohl für die Haltung im Stall wie auch
für Tiertransporte . Tierärzte sind unverzichtbar für das
Tierwohl . Deshalb ist es gut, wenn es für diesen Beruf
gemeinsame Standards in Europa gibt . Diese Standards
müssen wir dann natürlich auch national bei uns umset-
zen, das ist völlig selbstverständlich .
Deshalb stimmt die Union diesem Gesetzentwurf zu .
Dieter Stier (CDU/CSU): Wir beraten heute abschlie-
ßend über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände-
rung der Bundestierärzte-Ordnung . Nun stellt sich zuerst
die Frage: Warum diese Gesetzesänderung? Die Antwort
ist einfach . Wir setzen europäisches Recht um, hier spe-
ziell eine Änderung der Berufsqualifikationsrichtlinie.
Sie regelt die gegenseitige Anerkennung von Ausbil-
dungen innerhalb der Europäischen Union . Damit ist sie
ein bedeutendes Instrument zur Verwirklichung des eu-
ropäischen Binnenmarktes und hat einen großen Stellen-
wert für die Freizügigkeit am Arbeitsmarkt . Die Umset-
zung der Richtlinie in nationales Recht stellt somit einen
wichtigen Schritt dar, mit dem wir die Anerkennung von
Berufsabschlüssen und folglich das Arbeiten in ande-
ren EU-Mitgliedstaaten erleichtern werden . Zu diesem
Zweck ist es nötig, Verfahrensvorschriften zu ändern und
neu einzuführen. Das betrifft sowohl die Zusammenarbeit
der europäischen Behörden als auch Erleichterungen für
Antragsteller im Anerkennungsverfahren . Kurz gesagt:
Wir aktualisieren damit die Bundestierärzte-Ordnung,
also eine sinnvolle und notwendige Maßnahme zugleich .
Selbstkritisch müssen wir allerdings anmerken, dass
wir bei der Umsetzung der Richtlinie das Tempo hätten
noch steigern können, da bereits ein Vertragsverletzungs-
verfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet wurde .
Wie wichtig ein Tierarzt sein kann, wissen nicht nur
die Haustierbesitzer unter uns . Auch jeder Landwirt kann
hier seine eigene Geschichte erzählen .
Als tierschutzpolitischer Sprecher der Unionsfraktion
bin ich dankbar, in Deutschland auf gut ausgebildete und
auf hohem fachlichen Niveau arbeitende Tierärzte treffen
zu können . Nicht umsonst sind Berufsbezeichnung und
Berufsausübung staatlich geschützt und bedürfen einer
besonderen Qualifikation und Erlaubnis. Gerade im Hin-
blick auf den Tierschutz sind Tierärzte in den landwirt-
schaftlichen Betrieben ein Garant für eine gute Betreu-
ung der Tierbestände . Allerdings sind sie es nicht allein .
Neben den Tierärzten tragen auch die Landwirte
und die in der Landwirtschaft beschäftigten Mitarbei-
ter in den Betrieben eine große Verantwortung für eine
gut funktionierende Tierhaltung in unserem Land . Eine
Verantwortung – und das muss man immer wieder beto-
nen –, die sie tagtäglich immer wieder aufs Neue wahr-
nehmen . Und meiner Erfahrung und meinem Eindruck
nach werden sie dieser Verantwortung auch meist sehr
vorbildlich gerecht, weil sie selbst einen hohen Anspruch
an sich haben .
Sie garantieren uns qualitativ hochwertige Lebensmit-
tel zu bezahlbaren Preisen, und das trotz der häufig ne-
gativen Begleitmusik in der Medienberichterstattung, die
nur selten Verständnis und Achtung für landwirtschaftli-
che Tierhalter aufbringt .
So stellt sich für mich persönlich nicht die Frage, ob
wir unseren Landwirten denn eigentlich zu danken ha-
ben, das halte ich für selbstverständlich, sondern für
mich stellt sich die Frage, wie wir dies tun und welchen
Ton wir dabei treffen. Da es hier anscheinend zunehmend
Orientierungsschwierigkeiten in unserer Gesellschaft
gibt, möchte ich hier auch noch einmal betonen: Tierärz-
te, Landwirtschaft, Ernährungswirtschaft und ländlicher
Raum gehören zusammen .
Gestatten Sie mir, deshalb hier heute auch die Ge-
legenheit zu nutzen und den Bogen zu einem anderen
Sachverhalt, der uns kürzlich bewegt hat, zu spannen . Ich
bitte um Verständnis, dass ich das heute auch unserem
Koalitionspartner nicht ersparen kann .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21929
(A) (C)
(B) (D)
Ich möchte eingehen auf das aktuelle Thema, welches
uns das Bundesumweltministerium in der vorigen Wo-
che beschert hat, und möchte zum Umgang mit unseren
Landwirten und Bauernfamilien einige grundsätzliche
Dinge sagen .
Anstatt die Chance zu nutzen und den Landwirten ein-
mal die oftmals vorenthaltene Anerkennung auszuspre-
chen, mussten wir in den vergangenen Wochen genau
das Gegenteil erleben: Die Bundesministerin für Umwelt
und Naturschutz startete eine bundesweite Plakatkampa-
gne gegen die Landwirtschaft, mit vermeintlich fröhli-
chen Bauenregeln .
Als Bauernregeln deklarierte Drei- und Vierzeiler
sollten im naiven Gewand Front machen gegen die hei-
mischen Landwirte. Eine traurige Offensive, noch dazu
von Steuergeldern finanziert, gerichtet gegen die gesamte
Agrarbranche und viele Menschen im ländlichen Raum .
Gerichtet gegen die Gruppe von arbeitenden Menschen,
die dafür sorgen, dass unser Hunger nach Lebensmitteln
in großer Vielfalt gestillt wird, und die diese Mittel für
solche Werbekampagnen als Steuerzahler auch noch mit
erwirtschaften . Das ist zweifellos bemerkenswert ein-
zigartig für ein Mitglied der Bundesregierung und ein
beschämender Vorgang von bisher nicht dagewesener
Machart .
Die Bundesregierung hat sich geschlossen die Förde-
rung der ländlichen Räume auf die Fahnen geschrieben .
Von daher ist es nicht hinnehmbar, dass sich Frau Mi-
nisterin Hendricks berufen fühlt, die Reputation unserer
Landwirtschaft öffentlich gezielt zu untergraben und da-
mit auch dem ländlichen Räumen einen Bärendienst zu
erweisen . Hier ist die Prioritätensetzung im Bundesum-
weltministerium wohl gänzlich aus der Bahn geraten .
Wer eine Diffamierungskampagne auf die Schienen setzt,
muss sich hinterher nicht wundern, wenn der öffentliche
Aufschrei groß ist .
Glücklicherweise hat Frau Hendricks ihren Irrweg
noch rechtzeitig erkannt und mit ihrer Entschuldigung ihr
Fehlerprojekt eingestanden . Das war gut und richtig, aber
der angerichtete Schaden bleibt, und wenn man sieht,
dass die Kampagne mittlerweile von Dritten ungeniert
mit Duldung des Hauses fortgesetzt wird, meine ich, dass
diese Entschuldigung und auch die Erklärungsversuche
im Netz, auch die ihres Staatssekretärs, nur halbherzig
waren und nicht von wirklicher Erkenntnis zeugen . Das
macht mich betroffen.
Mit Schaden meine ich die dadurch vorangetriebene
weitere Spaltung der Gesellschaft, welche wir nun gera-
de in aktuellen Zeiten überhaupt nicht brauchen können .
Das Forcieren von Abneigungstendenzen gegen die mo-
derne Landwirtschaft, die Verunsicherung bei landwirt-
schaftsfernen Verbraucherinnen und Verbrauchern, deren
Bild von Tierhaltern nur noch negative Züge trägt . Ein
Schaden, der nicht einfach mal nebenbei zu beheben ist .
Was bleibt nun von dieser Kampagne nach Entschul-
digung und Fehlerbekenntnis? Es bleibt der Fakt, den
Graben erneut vertieft zu haben . Das ist leider der fatale
Verdienst der Bundesumweltministerin und der beteilig-
ten Urheber und Unterstützer .
Ich bin froh, dass ich mit meiner Einschätzung auch
einige Sozialdemokraten, wie zum Beispiel Landesmi-
nister Backhaus und andere fachkundige Agrarpolitiker,
auch viele der Opposition, an meiner Seite weiß .
Es liegt jetzt bei uns, die richtigen Schlüsse zu ziehen .
Unser Ziel muss es sein, die ideologische Betrachtung
der Landwirtschaft endlich zu überwinden . Die Land-
wirtschaft der Schuldzuweisungen muss ein Ende haben .
Wir müssen endlich sachliche Argumente zulassen
und dürfen keine neuen Barrieren errichten . Wir müssen
die moderne Landwirtschaft akzeptieren und uns endlich
von Verklärungen lösen .
In diesem Sinne lade ich Sie ein, am Dialog zur Land-
wirtschaft unvoreingenommen mitzuwirken . Und da bin
ich mit meinem letzten Satz auch wieder beim heutigen
Gesetzentwurf: Auch unsere Tierärzte haben eine Verant-
wortung in diesem Dialog, denn wenn die Tierhaltung
gänzlich abgeschafft ist, ist auch deren Berufsstand in
Gefahr . Das gilt es zu verhindern .
Dr. Karin Thissen (SPD): In einer Dritten Änderung
der Bundes-Tierärzteordnung behandeln wir am heutigen
Abend die Umsetzung von europäischem Recht in deut-
sches Recht . Im Detail geht es um die Anerkennung von
Berufsqualifikationen, die ich als Tierärztin und Europä-
erin mit Blick auf die enge Verzahnung der EU und ihrer
Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich befürworte . Denn
im freien Miteinander ist auch die Anerkennung tierärzt-
licher Abschlüsse für die Berufsausübung in anderen
Mitgliedstaaten unabdingbar . Sie ist Bestandteil der eu-
ropäischen Grundfreiheiten, der Dienstleistungsfreiheit,
die ein Pfeiler unseres gemeinsamen Binnenmarktes ist .
So sollen mit dem von der Bundesregierung eingebrach-
ten Gesetz in Verwaltungsvorschriften die tierärztliche
Mindestausbildung und für den veterinärmedizinischen
Beruf im Wesentlichen relevante Bereiche, etwa die
verpflichtende Nutzung des Binnenmarkt-Informations-
systems, IMI, für den Informationsaustausch innerhalb
der Europäischen Union geändert werden . Das Gesetz
setzt dabei das europäische Recht eins zu eins um und
lässt keinen weiteren Umsetzungsspielraum . Es kurz zu
erwähnen, halte ich dennoch für angebracht . Darüber
hinausgehend werden aber einige Abänderungen des
geltenden Rechts vorgenommen, die nicht mit der Um-
setzung von EU-Recht in Verbindung stehen .
Wie gesagt, sollen mit dem Gesetz EU-Regelungen
für den tierärztlichen Bereich über die Änderung von Be-
rufsqualifikationen und über die Verwaltungszusammen-
arbeit mithilfe des Binnenmarkt-Informationssystems
umgesetzt werden . Das begrüßen wir .
Die europarechtlich bedingten Änderungen betreffen
Verfahrensvorschriften grenzüberschreitender Veterinär-
tätigkeit innerhalb der EU . Das bisher nur auf freiwilli-
ger Basis genutzte IMI-System wird den Informations-
austausch in Zukunft verpflichtend vorschreiben. Das
System ist ein technikgestütztes Netz zwischen öffent-
lichen Institutionen im EU-Wirtschaftsraum, das dem
Austausch von Informationen dient . Es soll und wird die
Kooperation der Verwaltung erleichtern und beschleu-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721930
(A) (C)
(B) (D)
nigen . Somit wird der Verwaltung auf allen staatlichen
Ebenen ermöglicht, Kontakte und Ansprechpartner in
anderen EU-Ländern zu finden und Informationen ohne
Sprachwechsel auszutauschen . Darüber hinaus wird ein
EU-weiter Frühwarn-Mechanismus über Verbote oder
Beschränkungen tierärztlicher Berufstätigkeiten imple-
mentiert . Neuerungen und Anpassungen, derer es bedarf
und die eine weitere engere Verzahnung im Veterinärbe-
reich befördern werden .
Melde- und Antragsunterlagen, die für die Approba-
tion erforderlich sind, werden ab Geltung regelmäßig
elektronisch übermittelt . Möglichkeiten für die Einfüh-
rung eines elektronischen Berufsausweises sind ebenfalls
gegeben . Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz in
der Umsetzung von EU-Recht wird auch die Fallkonstel-
lation eingeführt, Tierärzten aus anderen Mitgliedstaaten
im Inland einen teilweisen Zugang zur veterinärmedi-
zinischen Berufsausübung zu ermöglichen . Das begrü-
ßen wir ebenfalls, weil es die fachliche Kooperation,
Wissensaustausch und Verflechtung von Fachwissen im
Lichte des europäischen Gedankens weiter fortschreibt .
Das Gesetz passt die Bundes-Tierärzteordnung an
diese Änderungen an . Von diesem abgesondert werden
in der Verordnung zur Approbation von Tierärztinnen
und Tierärzten Änderungen des Inhaltes der tierärztli-
chen Mindestausbildung eintreten . Die nötigen Anglei-
chungen der Gesetzeswortlaute an die Liberalisierung
der Bundes-Tierärzteordnung im Jahre 2011 führen zur
Klarstellung der Kriterien der Kenntnisstand- und Eig-
nungsprüfung im Verfahren zur Anerkennung, ebenso
zur besseren Überwachung samt Sanktionsmöglichkeit
bei gelegentlicher und vorübergehender Dienstleistungs-
erbringung .
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßen die Um-
setzung des EU-Rechts und stimmen dem Gesetz zu .
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Viel wird der-
zeit über Tierschutz und Tierwohl diskutiert . Für uns Lin-
ke ist das auch eine Frage von Strukturen, deshalb wollen
wir zum Beispiel Bestandsgrößen am Standort begren-
zen, um Megaställe zu verhindern . Und wir wollen die
Tierdichte in Region begrenzen, auch um die Folge von
Seuchenausbrüchen zu reduzieren .
Aber für uns ist Tiergesundheit auch eine Frage von
ausreichendem, gut bezahltem und gut qualifiziertem
Personal . Deshalb wollen wir unter anderem einen ange-
messenen Betreuungsschlüssel . Denn es gehört zur guten
landwirtschaftlichen Praxis, den Tierbestand regelmäßig
in Augenschein zu nehmen . Viele Landwirtschaftsbetrie-
be halten sich daran . Und das sollten wir auch einmal
anerkennen . Oft schlecht bezahlt, wollen sie trotzdem si-
chergehen, dass es den Tieren im Stall und auf der Weide
gut geht .
Damit die Gesundheit der Tiere gesichert ist, braucht
es auch den Sachverstand der Tierärztinnen und -ärzte .
Und hier lautet für mich das Zauberwort nicht Behand-
lung und schon gar nicht Medikamentenverkauf, sondern
Prävention . Denn Krankheiten sollten vermieden wer-
den, und dazu gehören nicht nur gut ausgebildete Tier-
halterinnen und Tierhalter, sondern auch veterinärmedi-
zinische Sachkenntnis . Deshalb fordert Die Linke schon
lange eine integrierte veterinärmedizinische Betreuung
zur Unterstützung der Tierhalterinnen und Tierhalter . Die
Tierärzteschaft soll mehr beraten, damit weniger behan-
delt werden muss . Landwirtschaftliche Betriebe können
davon profitieren, wenn die betreuende Tierärztin stärker
in das Bestandsmanagement eingebunden wird, statt erst
dann zum Hörer gegriffen wird, wenn es im Stall schon
brennt .
Natürlich müssen diese präventiven Maßnahmen als
tierärztliche Leistungen bezahlt werden . Genau da liegt
das Problem . Die Linke betont immer wieder, dass der
Ruf nach mehr Tierschutz im Stall allein nicht ausreicht .
Denn solange möglichst niedrige Kosten das Maß des
Erfolgs sind, ist es doppelzüngig, einzelne Landwirtin-
nen und Landwirte allein moralisch für mangelnde Be-
treuung verantwortlich zu machen . Stattdessen muss
der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen so verändern,
dass angemessene Erzeugerpreise faire Bedingungen für
Mensch und Tier im Stall, aber eben auch eine sinnvolle
tierärztliche Beratung gewährleisten . Nur so wird mehr
Tierwohl erreichbar sein .
Doch leider hat sich die Bundesregierung in dem vor-
liegenden Gesetzentwurf zur Änderung der Bundestier-
ärzteordnung nur auf das Zwingende beschränkt . Nach
EU-Recht müssen tierärztliche Ausbildungen EU-weit
anerkannt werden . Die Gesetzesänderungen regeln den
Nachweis zu einer Eignungsprüfung, die Gleichwertig-
keit eingereichter Ausbildungsnachweise und eröffnen
die Möglichkeit für einen europäischen Berufsausweis .
Das war die Pflicht, doch wo bleibt die Kür? Von einer
Überarbeitung des tierärztlichen Berufsbildes, so wie es
die Bundestierärztekammer gefordert hat, fehlt im Ge-
setzentwurf leider jede Spur .
Doch genau die hätte es im Sinne einer positiven Bot-
schaft auch an den Berufsstand gebraucht, der sich diesen
neuen Herausforderungen stellen muss . Übrigens auch
oft entgegen weit verbreiteter Vorurteile schlecht bezahlt .
Mal abgesehen von dem völlig ungelösten Problem, dass
die wachsende Armut in unserem Land auch dazu führt,
dass Rechnungen beim Tierarzt selbst für zwingende
Behandlungen nicht bezahlt werden können . Stattdes-
sen entschied das Bundessozialgericht kürzlich, dass
Hartz-IV-Betroffene selbst bei der Hundehalterhaftpflicht
keine Unterstützung erhalten, da diese nicht in direktem
Zusammenhang zur Existenzsicherung oder mit der Auf-
nahme einer Erwerbstätigkeit stehe . Das gilt übrigens
selbst für Menschen, die wegen niedriger Bezahlung mit
Hartz IV aufstocken müssen . Kurzum: Wenn du arm –
gemacht – wirst, musst du auch noch deinen Gefährten
ins Tierheim abschieben oder noch mehr bei dir selbst
sparen . Das ist unmenschlich und mehr als fragwürdig in
einem Staat mit Tierschutz im Verfassungsrang .
Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Im Kern des vorliegenden Gesetzentwurfs zur
Novellierung der Bundes-Tierärzteordnung, den das
Bundeskabinett am 5 . Oktober beschlossen hat, steht die
erleichterte gegenseitige Anerkennung von tierärztlichen
Ausbildungsnachweisen innerhalb der Europäischen
Union .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21931
(A) (C)
(B) (D)
Mit dem Entwurf setzt die Bundesregierung eine An-
fang 2014 in Kraft getretene Änderung der EU-Richtli-
nie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in
nationales Recht um . Positiv ist, dass mit der Neurege-
lung die rechtlichen Voraussetzungen für eine künftige
Einführung des Europäischen Berufsausweises für den
tierärztlichen Beruf geschaffen werden.
Dabei werden neben der Umsetzung von EU-Recht
auch weitere Anpassungen in der Bundes-Tierärzteord-
nung vorgenommen . Unter anderem soll klargestellt
werden, nach welchem Verfahren Eignungs- oder Kennt-
nisstandsprüfungen im Rahmen der Anerkennung einer
außerhalb Deutschlands erworbenen tierärztlichen Be-
rufsqualifikation durchzuführen sind. Auch das ist eine
transparenzschaffende Initiative.
Schließlich reagiert die Bundesregierung auf die zu-
nehmende grenzüberschreitende Tätigkeit von Veterinä-
ren . Außerdem überwiegen in dem vorliegenden Entwurf
neben dem Inhalt der tierärztlichen Mindestausbildung
überwiegend Verfahrensvorschriften .
So weit, so unstrittig . Doch leider hat die Bundesre-
gierung diese gute Möglichkeit, weitere sinnvolle und
notwendige Anpassungen in der Bundes-Tierärzteord-
nung vorzunehmen, verstreichen lassen . Dazu zählt vor
allem die Definition des tierärztlichen Berufsbildes, das
in § 1 der Bundes-Tierärzteordnung gefasst ist . In der
noch gültigen Fassung lautet § 1 (1):
Der Tierarzt ist berufen, Leiden und Krankheiten
der Tiere zu verhüten, zu lindern und zu heilen, zur
Erhaltung und Entwicklung eines leistungsfähigen
Tierbestandes beizutragen, den Menschen vor Ge-
fahren und Schädigungen durch Tierkrankheiten so-
wie durch Lebensmittel und Erzeugnisse tierischer
Herkunft zu schützen und auf eine Steigerung der
Güte von Lebensmitteln tierischer Herkunft hinzu-
wirken .
Nun bestehen die aktuellen Herausforderungen an
eine Tierärztin/einen Tierarzt nicht nur in der fachlichen
Komplexität, sondern vor allem im Nutztierbereich im
Praktizieren in einem Spannungsfeld zwischen Tier-
schutz und Tierproduktion .
Ich unterstelle einem Menschen, der sich für den Be-
ruf des Veterinärs entscheidet, eine grundsätzliche Zuge-
wandtheit zu den Mitgeschöpfen . Dennoch ist die Praxis
in der intensiven Tierhaltung in nicht geringem Maße von
ökonomischen Erwägungen und nicht nur von Tierliebe
geprägt . Beispiele hierfür ist das Ausstellen von Ausnah-
megenehmigungen für Eingriffe am Tier, Kontrolle von
Schlachtprozessen und Tiertransporten . Hier sind Abhän-
gigkeiten und Drucksituationen leider keine Seltenheit .
Aus diesem Grund hätte ich mir eine Neufassung des
§ 1 gewünscht, die nicht nur die Erhaltung und Entwick-
lung eines leistungsfähigen Tierbestandes betont, son-
dern einen Paragrafen, der auch die Verantwortung des
Tierarztes/der Tierärztin als Stimme der Mitgeschöpfe
für eine Erreichung einer artgerechten Tierhaltung dar-
stellt, einen Paragrafen, der nicht nur das Verhüten von
Leiden und Krankheit als Aufgabe definiert, sondern vor
allem auch die Schaffung und Erhaltung von Gesundheit,
Wohlbefinden und artgerechtem Verhalten. Tierärzte sol-
len ganz selbstverständlich für ihre Sachkenntnis entlohnt
werden und nicht für das Verkaufen von Medikamenten .
Eine solche Formulierung hätte belegt, dass die Bun-
desregierung in ihren Bekundungen für mehr Tierwohl
mehr sieht als eine Beruhigungspille für gesellschaftliche
Forderungen. Doch diese Hoffnung wurde einmal mehr
enttäuscht . Deshalb stimmen wir dem Entwurf nicht zu .
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
Beistandsmöglichkeiten unter Ehegatten und Le-
benspartnern in Angelegenheiten der Gesundheits-
sorge und in Fürsorgeangelegenheiten (Tagesord-
nungspunkt 20)
Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Wir beraten heute
über ein Thema, das uns alle angeht, über das aber keiner
gerne spricht: Es geht um „Betreuung“, also darum, was
geschieht, wenn wir in die Lage kommen, unser Leben
nicht mehr selbstständig organisieren zu können . Natür-
lich ist das für uns kein angenehmer Gedanke, aber es
kann nun mal jeden von uns treffen – durch einen Un-
fall, durch eine Krankheit oder auch weil uns im Alter
schlicht die Kräfte ausgehen .
Damit in solchen Situationen nicht irgendjemand
Entscheidungen für uns trifft, sollte rechtzeitig Vorsorge
getroffen werden, und zwar in Form einer Vorsorgevoll-
macht oder zumindest einer Betreuungsverfügung . Ich
kann also nur raten: Klären Sie frühzeitig ab, wer für Sie
in den wichtigen Fragen der Vermögens- oder Gesund-
heitssorge entscheiden soll .
Wenn Sie jetzt denken: „Das brauche ich alles nicht,
ich bin doch verheiratet, das kann dann meine Frau oder
mein Mann für mich regeln“, dann irren Sie sich. Nach
aktuellem Recht können die nächsten Angehörigen näm-
lich einem medizinischen Eingriff beispielsweise nicht
automatisch zustimmen . Tatsächlich besitzen Ehegatten,
sofern keine Vorsorge getroffen wurde, zunächst so gut
wie keine Entscheidungsrechte . Vielmehr muss grund-
sätzlich ein Gericht klären, ob der Partner die Befugnisse
erhält oder ob eine dritte Person als gerichtlich bestellter
Betreuer fortan die Entscheidungen treffen soll.
Erleidet zum Beispiel ein vierzigjähriger Ehemann
einen Motorradunfall und kann in die notwendigen me-
dizinischen Behandlungen im Krankenhaus nicht selbst
einwilligen, so muss die Ehefrau grundsätzlich, wenn
sie will, dass die Maßnahmen durchgeführt werden, erst
einmal gerichtlich dafür sorgen, dass sie als Betreuerin
bestellt wird .
Besonders schwierig wird es auch dann, wenn im ho-
hen Alter das Lebensende abzusehen ist und dann auch
noch extra für die medizinische Behandlung ein gericht-
liches Betreuungsverfahren erforderlich wird . Es kann
also durchaus sein, dass in einer Situation, in der man
Angst und Sorge um den Partner hat und eh schon alles
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721932
(A) (C)
(B) (D)
schwer genug ist, man sich auch noch mit dem Betreu-
ungsgericht auseinanderzusetzen hat .
Das sollte so nicht sein und wollen wir daher nun
ändern . Künftig soll das, wovon die Bürger mit guten
Gründen ausgehen, nämlich dass der Mensch, der uns
am nächsten steht, also der Ehegatte oder Lebenspartner,
für uns sorgen und entscheiden soll, Gesetz sein . Das
Anliegen des Bundesrats, dessen Gesetzentwurf uns hier
vorliegt, wird von der Union daher grundsätzlich mit-
getragen . Diskussionsbedarf besteht zwar noch bei der
Reichweite der angenommenen Vollmacht, jedoch haben
wir im weiteren parlamentarischen Verfahren noch aus-
reichend Zeit, um darüber zu beraten . Insbesondere wird
die öffentliche Anhörung dazu ausreichend Gelegenheit
geben .
Was uns aber außerdem bei diesem Thema noch um-
treibt und bei dem vorliegenden Gesetzentwurf keine Be-
rücksichtigung fand, ist die Frage nach der Betreuungs-
vergütung . Leider gibt es nämlich auch Fälle, in denen
es keinen Ehepartner gibt oder ein sonstiges Familien-
mitglied, das sich bereit erklärt, die Sorge zu überneh-
men . Dann muss vom Gericht eine dritte Person bestellt
werden . In letzter Zeit habe ich mich viel mit sogenann-
ten Berufsbetreuern unterhalten . Eine Betreuerin hat mir
dabei eine Geschichte erzählt, die mir besonders in Er-
innerung geblieben ist: Sie erzählte von einem Obdach-
losen, der bereits mehrfach polizeilich aufgefallen war
und eines Tages von einem Auto angefahren worden ist .
Er lag im Koma in einem Krankenhaus und die Ärzte
hatten festgestellt, dass er schwer alkoholkrank war . Die
Berufsbetreuerin wurde schließlich mit dem Fall betraut .
Der von mir geschilderte Fall ist keine Ausnahme .
Tatsächlich sind in Deutschland etwa 1,3 Millionen
Menschen auf Unterstützung angewiesen, weil sie krank,
geistig oder körperlich behindert sind oder unter psy-
chischen Störungen leiden . Um sie kümmern sich rund
12 000 Berufsbetreuer und Berufsbetreuerinnen . Und wie
es aussieht, wird die Zahl der rechtlichen Betreuungen
vermutlich weiter steigen . Davon ist angesichts der de-
mografischen Entwicklung in Deutschland auszugehen.
Um auf mein Beispiel zurückzukommen: Die Berufs-
betreuerin berichtete mir, dass mit diesem Fall, aber auch
mit vielen anderen ein großer Arbeitsaufwand verbunden
war . Und als ehemalige Betreuungsrichterin kann ich
auch bestätigen, wie wichtig und schwierig es ist, wirk-
lich geeignete Personen für diesen Beruf zu finden. Der
Berufsbetreuer muss in Notsituationen immer erreichbar
sein, er muss zumeist regelmäßig Rechenschaft über die
Finanzen des Betreuten beim Betreuungsgericht ablegen,
Behördengänge erledigen, den Kontakt mit dem Betreu-
ten halten und auch schon mal eine Lösung finden, wenn
dem Betreuten die Wohnung gekündigt wurde .
Für diese Aufgaben stehen dem Berufsbetreuer nur
eine pauschale Stundenanzahl zur Verfügung, wobei
der Stundenlohn je nach Berufsabschluss zwischen 27
und 44 Euro pro Stunde variiert . Davon muss er sich als
Selbstständiger nicht nur sein Büro einrichten, sondern
auch seinen Bürobedarf, sein Porto, seine Fahrtkosten
und seine Haftpflichtversicherung bezahlen. Letztere ist
unverzichtbar, schließlich tragen die Berufsbetreuer eine
große Verantwortung, nicht selten geht es um Leben und
Tod .
Es ist der Union daher ein wichtiges Anliegen, dass
wir auch ein Auge auf die Berufsbetreuer haben und für
sie bessere Rahmenbedingungen schaffen. Insbesonde-
re wollen wir die Vergütungssätze der Berufs- und Ver-
einsbetreuer erhöhen . Nur so können wir auch für die
Zukunft gewährleisten, dass wir gute Berufsbetreuer ha-
ben . Die aktuell geltenden Stundensätze wurden seit der
Einführung der Pauschalvergütung im Jahre 2005 nicht
mehr erhöht . Allein die Umsatzsteuer ist entfallen . Die
damit verbundene Einkommenssteigerung ist nicht an-
satzweise vergleichbar mit der bei tarifgebundenen So-
zialpädagogen .
Mir ist durchaus bewusst, dass mit diesem Wunsch
eine große finanzielle Belastung für die Justizhaushalte
der Länder verbunden ist. Ich hoffe daher, dass wir im
weiteren Verlauf des parlamentarischen Verfahrens zu ei-
nem guten Ergebnis kommen werden .
Schließlich will ich noch mal darauf hinweisen, dass
Betreuung ein Thema ist, das uns alle angeht . Wir sollten
also nicht leichtfertig damit umgehen .
Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Heute
befassen wir uns in erster Lesung mit einer Thematik,
die vielen von uns bekannt sein dürfte . Wir debattieren
einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der den Beistand
unter Ehegatten und Lebenspartnern verbessern soll und
der in umfangreicher Form unter dem Begriff „Angehöri-
genvertretungsrecht“ bereits Beratungsgegenstand in der
15 . Legislaturperiode war .
Bevor ich auf den Inhalt dieser Bundesratsinitiative zu
sprechen komme, möchte ich vorausschicken, dass wir
uns in der Grundausrichtung dieses Vorhabens mit den
Ländern einig sind . Wir wollen die Rechte der Ehegatten
und Lebenspartner, die betreut werden müssen, stärken .
Kann eine volljährige Person, sei es durch Unfall oder
Krankheit, nicht in medizinische Maßnahmen einwilli-
gen, so kennt das geltende Recht bekanntlich bisher zwei
Rechtsinstrumente, um Betroffene zu unterstützen und
zu schützen: die Vorsorgevollmacht und die Bestellung
eines rechtlichen Betreuers durch das Betreuungsgericht .
Dabei halte ich die Vorsorgevollmacht für ein entschei-
dendes Instrument, das dem Grundsatz der Selbstbestim-
mung des Einzelnen Geltung verschaffen kann. In erster
Linie will jeder Mensch selbst entscheiden; und wenn
das nicht mehr möglich ist, dann entspricht es ebenfalls
dem menschlichen Willen, selbst zu bestimmen, wer für
einen handelt und entscheidet . An dieser Stelle sollten
wir als Gesetzgeber nicht die Gelegenheit versäumen,
auf die Tragweite einer privatautonomen Vorsorgevoll-
macht nochmals hinzuweisen und für sie zu werben .
Gleichwohl dürfen wir uns aber auch nicht der Rea-
lität verschließen . Die Vorsorgevollmacht ist noch nicht
so weit verbreitet, wie wir uns das wünschen würden .
Bis ins hochbetagte Alter werden Gedanken und Fragen
wie folgende verdrängt: Wer soll für mich im Falle einer
schweren Krankheit entscheiden? Welche medizinischen
Maßnahmen möchte ich zulassen?
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21933
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Viele Menschen gehen indes davon aus, dass sie im
Krankheitsfall von ihren Ehe- oder eingetragenen Le-
benspartnern ohne weitere Formalitäten vertreten wer-
den können . Nach geltender Rechtslage ist dies jedoch
nicht möglich . Aber genau an diese Erwartung der Bür-
ger knüpft der Gesetzentwurf des Bundesrates an . Er will
eine Vollmachtsvermutung „für den Bereich der Gesund-
heitssorge und in der Fürsorge dienenden Angelegen-
heiten“ einführen. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich
neben der Möglichkeit zur Einwilligung in Notfallopera-
tionen auch das Recht, grundlegende Entscheidungen zur
Pflege und Rehabilitation für den zu betreuenden Ehe-
gatten zu treffen. Der vertretende Ehegatte soll ebenso
berechtigt werden, eine gerichtliche Genehmigung ein-
zuholen und zu entscheiden, ob der vertretene Ehegatte
im Bett fixiert oder ob er gezielt durch Schlafmittel oder
andere Medikamente am Verlassen des Krankenhauses
gehindert werden darf .
Den Regelungsinhalt des Gesetzentwurfs empfinden
wir – und mein Tonfall lässt es schon vermuten – als zu
weitgehend . Zwar wollen wir ein gesetzliches Vertre-
tungsrecht im Bereich der Gesundheitssorge mittragen .
Dieses soll aber insbesondere auf Einwilligungen in
Untersuchungen des Gesundheitszustandes, in Heilbe-
handlungen oder ärztliche Eingriffe beschränkt werden.
Damit wird das Ziel, für Notsituationen ein gesetzliches
Vertretungsrecht zwischen Ehegatten und Lebenspart-
nern zu schaffen, auf einfachere Weise erreicht. Der ent-
sprechende Änderungsantrag müsste den Kolleginnen
und Kollegen bereits zugegangen sein .
Wir wollen überdies die inhaltliche Nähe des Ge-
setzentwurf des Bundesrates dazu nutzen, ein weiteres
wichtiges Vorhaben im Betreuungsrecht auf den Weg zu
bringen: eine moderate Erhöhung der Vergütungssätze
für Vereins- und selbständige Berufsbetreuer . Die vor
rund zwölf Jahren mit Inkrafttreten des Zweiten Betreu-
ungsrechtsänderungsgesetzes eingeführten und seitdem
unveränderten Stundensätze des § 4 des Vormünder- und
Betreuervergütungsgesetzes sollen um 15 Prozent ange-
hoben werden . Das hätte zur Folge, dass die nach aka-
demischer und beruflicher Ausbildung gestaffelten Stun-
densätze von derzeit 44 Euro in der höchsten Stufe auf
50,60 Euro, in der mittleren Stufe von 33,50 Euro auf
38,50 Euro und in der niedrigsten Stufe von 27 Euro auf
rund 31 Euro ansteigen würden .
Wir sind der Meinung, dass eine solche Anhebung
geboten und angemessen ist . Qualitativ hochwertige
Betreuung ist eben auch eine Frage der Vergütung, und
eine angemessene Vergütung ist eine unverzichtbare Vo-
raussetzung für ein leistungsfähiges und zukunftsfestes
Betreuungswesen . Gerade mit Blick auf die allgemeine
Preissteigerung und die Einkommensentwicklung ver-
gleichbarer Berufsgruppen seit Einführung des pauscha-
lierten Vergütungssystems sehen wir es an der Zeit, die
Vergütungssätze für Vereins- und selbständige Berufsbe-
treuer – und hier auch trotz des Wegfalls der Umsatzsteu-
erpflicht vor wenigen Jahren – zu erhöhen.
Wir schneiden uns die Zahlen ja nicht aus den Rippen
oder argumentieren ins Blaue hinein . Wie auch schon bei
Einführung des Vergütungssystems im Jahr 2005 gibt es
empirisches Datenmaterial, das unsere Argumentation
stützt . Dass die Schere zwischen tatsächlich geleistetem
und vergütetem Aufwand auseinandergegangen ist, wird
auch durch den kürzlich veröffentlichen Zweiten Zwi-
schenbericht des Forschungsvorhabens zur Qualität in
der rechtlichen Betreuung bestätigt, das durch das Bun-
desministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in
Auftrag gegeben wurde .
Wir können und wollen der Schließung von Betreu-
ungsvereinen nicht weiter tatenlos zusehen . Über Jah-
re gewachsene Betreuungsstruktur darf nicht verloren
gehen . Es ist ja auch nicht so, dass es der Staat besser,
geschweige denn günstiger hinbekommen würde . Des-
wegen setzen wir uns mit dieser Verbindung zum Gesetz-
entwurf des Bundesrates zur Verbesserung der Beistands-
möglichkeiten unter Ehegatten und Lebenspartnern auch
dafür ein, dass wir hier zu einem zügigen Abschluss der
Änderungen im Vormünder- und Betreuervergütungsge-
setz kommen . Denn was einmal verloren ist, muss erst
wieder kostenintensiv aufgebaut werden .
Wir sind uns darüber bewusst, dass wir hier einen Ver-
trag zulasten Dritter aufsetzen . Wir müssen die Länder
ins Boot holen . Ich bin mir natürlich auch darüber im
Klaren, dass die Situation im Betreuungswesen nicht in
jedem Bundesland gleich ist . In meinem Heimatbundes-
land Schleswig-Holstein läuft die Förderung der Betreu-
ungsvereine sehr gut; aber auch hier braucht es eine zu-
kunftsfeste Struktur . Mit der jetzt geplanten moderaten
Vergütungserhöhung tragen wir dazu bei .
Dr. Matthias Bartke (SPD): Ein Schlaganfall, ein
schwerer Autounfall, eine plötzliche Krankheit – das al-
les sind Schicksalsschläge, mit denen wir uns in unserem
Alltag lieber nicht beschäftigen . Und doch passieren sie
immer wieder und viel zu oft . Solche Einschnitte sind
eine schwere Last für die Ehepartner . Sie haben Angst
um ihre Liebsten, sorgen sich, wie es weitergehen wird,
und müssen oft auf die Schnelle vieles neu organisieren .
Das ist noch um ein Vielfaches mehr belastend, wenn die
Erkrankten nicht mehr selber entscheiden können . Es ist
genau dieser Zeitpunkt, wenn über viele die Erkenntnis
hereinbricht, dass die Entscheidungsbefugnis ihres Ehe-
partners nicht automatisch auf sie übergeht .
Ein Sorgerecht mit allen Vollmachten – etwa auch
in Bezug auf gesundheitliche Angelegenheiten – haben
nur Eltern für ihre minderjährigen Kinder . Das ist längst
nicht allen bekannt . Das Meinungsforschungsinstitut for-
sa hat dazu eine Umfrage durchgeführt . Das Ergebnis:
Etwa zwei Drittel der Befragten gehen davon aus, dass
bei schweren Erkrankungen oder Unfällen automatisch
die nächsten Angehörigen für die betroffene Person ent-
scheiden können . Andere Umfrageergebnisse machen
außerdem deutlich, dass sich die große Mehrheit von Be-
fragten wünscht, dass bei krankheitsbedingter Unfähig-
keit die Partner füreinander entscheiden können . Wenn
sich Erkrankte aber nicht rechtzeitig um eine entspre-
chende Vorsorgevollmacht gekümmert haben, sind dem
gesunden Ehepartner die Hände gebunden . Er hat dann
keine Entscheidungsrechte . Stattdessen muss zunächst
ein Gericht klären, ob der Ehemann oder die Ehefrau die
rechtliche Betreuung übernehmen kann . Für die Angehö-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721934
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rigen bedeutet das Behördengänge, Gerichtstermine und
zusätzliche Kosten .
Das will der Bundesrat mit seinem Gesetzentwurf zur
Verbesserung der Beistandsmöglichkeiten nun ändern .
Es soll eine gesetzliche Annahme der Bevollmächtigung
zwischen Ehegatten und eingetragenen Lebenspartnern
geschaffen werden. Sie soll für den Bereich der Gesund-
heitssorge und der Fürsorge greifen . Ich denke, meine
Einführung hat deutlich gemacht, dass auch wir diesem
Anliegen sehr wohlwollend gegenüberstehen . Den Be-
troffenen werden Formalitäten erspart, und kurzfristige
Betreuerbestellungen können vermieden werden .
Trotzdem werden wir den Gesetzentwurf nicht unver-
ändert übernehmen . Das im Entwurf vorgesehene Vertre-
tungsrecht wollen wir allein auf den Bereich der Gesund-
heitssorge beschränken . Damit wird das Vertretungsrecht
in vermögensrechtlichen Angelegenheiten entfallen .
Ebenso lehnen wir die Vollmacht für freiheitsentziehen-
de Maßnahmen ab . Da der Anwendungsbereich auf diese
Weise beschränkt sein wird, können wir außerdem die
verfassungsrechtlich bedenkliche Befugnis zum Öffnen
der Post vermeiden .
Besonders kritisch sehen wir die im Bundesratsent-
wurf vorgesehenen Erklärungen . Der Ehegatte müsste
für den Abschluss von Verträgen und für freiheitsentzie-
hende Maßnahmen unter anderem ein ärztliches Zeugnis
vorlegen . Dieses Zeugnis dürfte maximal sechs Monate
alt sein und müsste die Unfähigkeit des anderen Ehegat-
ten zur Besorgung der Angelegenheiten bestätigen . Ein
sechs Monate altes Zeugnis gibt im Zweifelsfall aber we-
nig Auskunft über die aktuelle Situation . Hier herrscht
also Missbrauchsgefahr . Das müssen wir unbedingt ver-
hindern .
Die von uns bevorzugte Beschränkung auf die Ge-
sundheitssorge hat hingegen einen klaren Vorteil: Die
Vertretung in diesen Belangen ist auf einen unstrittigen
Bereich und einen kurzen Zeitraum beschränkt . Das mi-
nimiert das Missbrauchspotenzial . Der behandelnde Arzt
kann aus eigener Anschauung beurteilen, dass der Pati-
ent seine Angelegenheiten nicht selbst besorgen kann . Da
nur der Gesundheitsbereich erfasst ist, brauchen Dritte
keine Informationen über den Zustand des Betroffenen.
Ein bis zu sechs Monate altes ärztliches Zeugnis ist damit
überflüssig.
Eine unkompliziertere Anwendung wird dazu führen,
dass Ehegatten in der Praxis vom Vertretungsrecht tat-
sächlich Gebrauch machen . Nur dann können wir kurz-
fristige Betreuerbestellungen auch wirklich vermeiden,
so wie es der Gesetzentwurf beabsichtigt .
Je nach Schwere der Erkrankung kann der betroffene
Ehegatte nach einer gewissen Zeit eine Vollmacht ertei-
len . Ist die Beeinträchtigung stärker und länger andau-
ernd, so wird ohnehin eine Betreuerbestellung notwen-
dig . Das wäre im Übrigen auch der Fall, wenn, wie im
Bundesratsentwurf auch, vermögensrechtliche Angele-
genheiten erfasst wären . Eine Beschränkung auf die Ge-
sundheitssorge bringt also nur Vorteile, vermeidet aber
gravierende Nachteile .
In der Summe schaffen wir mit unseren Änderungen
ein anwenderfreundliches Vertretungsrecht zwischen
Ehegatten und Lebenspartnern für Notsituationen . Wir
werden den Betroffenen damit zumindest eine Last in
einer schweren Zeit nehmen können . Die enge zeitliche
Begrenzung wie auch die Beschränkung auf die Gesund-
heitssorge beugen zugleich Missbrauch vor .
Die Vorsorgevollmacht wird dennoch nicht an Be-
deutung verlieren . Das ist für uns von höchster Priori-
tät . Denn nur die Vorsorgevollmacht vermeidet dauer-
haft Betreuungen und kann das Selbstbestimmungsrecht
der Betroffenen in vollem Umfang gewährleisten. Wer
als Bevollmächtigter eingesetzt wird, kann jeder selbst
entscheiden . Das ist eine Frage des Vertrauens und im
besten Fall eben nicht des Gerichts . Es können auch für
verschiedene Aufgaben unterschiedliche Personen ein-
getragen werden . Jemand, der ganz in der Nähe wohnt,
kann beispielsweise für Gesundheitsfragen bevollmäch-
tigt werden und jemand weiter weg für die Vermögens-
fragen .
Während wir mit der Vorsorgevollmacht also bereits
ein sehr wirksames Instrument zur Verfügung haben, be-
schäftigt uns eine andere Baustelle im Betreuungsrecht
noch sehr . Und zwar ist das die Vergütung der Berufs-
betreuer . Die Pauschalvergütung der Berufsbetreuer ist
seit 2005 unverändert . Die Kosten sind in den vergange-
nen elf Jahren aber gestiegen und auch die Einkommen
vergleichbarer Berufsgruppen sind das ebenfalls . Eine
Anpassung der Stundensätze halten wir deshalb für un-
bedingt notwendig .
Die demografische Entwicklung, aber auch die zu-
nehmende Verrechtlichung vieler Lebensbereiche führen
dazu, dass die Zahl der rechtlich Betreuten immer weiter
zunimmt . Im hohen Alter können immer mehr Menschen
nicht mehr eigenständige Entscheidungen treffen. Neben
vielen Ehrenamtlern unterstützen die Berufsbetreuer die
Betreuten in ihrer Entscheidungsfindung und kümmern
sich um ihre Angelegenheiten – sei es der Vertrag mit
dem Pflegeheim, die Erledigung der Post oder das Ver-
walten des Vermögens . Die Aufgaben sind zahlreich und
verlangen von den Betreuern einen erheblichen Zeitein-
satz . Ihren Beitrag für die Gesellschaft können wir daher
gar nicht genug wertschätzen . Das ist vor allem dann der
Fall, wenn die Betreuung sich konsequent am Selbst-
bestimmungsrecht der Betroffenen orientiert. Wenn die
Betreuer aber gezwungen sind, wegen der unveränderten
Stundensätze die Fallzahlen zu erhöhen, dann läuft es
gewaltig falsch . Denn erhöhte Fallzahlen bleiben nicht
ohne Folge: Der Betreuer muss die persönliche Betreu-
ung vernachlässigen, was zu deutlichen Qualitätseinbu-
ßen führt .
Den vorliegenden Gesetzentwurf werden wir deswe-
gen auch dahin gehend ändern, dass wir eine Vergütungs-
erhöhung für die Berufsbetreuer um 15 Prozent vorsehen .
Die dringende Notwendigkeit einer Vergütungserhöhung
hat nicht zuletzt das Zwischengutachten des Forschungs-
vorhabens „Qualität der rechtlichen Betreuung“ des Jus-
tizministeriums bewiesen . Darauf bauen wir auf und set-
zen auf die Unterstützung aller Beteiligten .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21935
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Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Wir müssen uns
folgende Situation vorstellen: Ein Ehepaar sitzt zuhause
auf der Couch, sie schauen eine Fußballübertragung im
Fernsehen an und die Ehefrau regt sich derart über den
Schiedsrichter auf, dass sie einen Herzinfarkt bekommt,
zusammenbricht, ins Koma fällt und mittels Rettungswa-
gen ins Krankenhaus gebracht werden muss .
Nun wird bei ihr eine Erkrankung festgestellt, die der
Behandlung bedarf, sie selbst ist aber nicht mehr in der
Lage, darüber zu entscheiden. Der Ehemann steht hilflos
daneben . Denn nach geltender Rechtslage können Ehegat-
ten und ebenso Partner einer eingetragenen Lebenspart-
nerschaft weder Entscheidungen über medizinische Be-
handlungen für ihren nicht mehr selbst handlungsfähigen
Partner treffen noch diesen im Rechtsverkehr vertreten,
solange sie nicht als rechtliche Betreuer ihres Partners
bestellt werden oder von ihm im Rahmen einer Vorsorge-
vollmacht hierzu wirksam bevollmächtigt worden sind .
Doch oftmals wird der Gedanke an die Erteilung einer
Vorsorgevollmacht – gerade bei jüngeren Menschen –
verdrängt und auf „später“ verschoben. „Das müssen wir
auch noch mal regeln“, höre ich immer wieder.
Nach einem Unfall oder einer unerwarteten schweren
Krankheit bedarf es dann erst eines gerichtlichen Ver-
fahrens auf Betreuerbestellung, um dem Ehegatten oder
Lebenspartner auch in rechtlicher Hinsicht beistehen zu
können . Untersuchungen zeigen, dass die meisten Bürger
sich eine Besorgung ihrer Angelegenheiten und Vertre-
tung durch ihren Partner bei eigenem Unvermögen wün-
schen und dass die meisten Menschen – leider irrig – zu-
dem davon ausgehen, dass ihr Partner sie in diesem Fall
auch qua Gesetz vertreten darf .
Der Gesetzentwurf schafft zur Lösung dieses Pro-
blems, für den Bereich der Gesundheitssorge und in der
Fürsorge dienenden Angelegenheiten, eine gesetzliche
Annahme der Bevollmächtigung zwischen Ehegatten und
eingetragenen Lebenspartnern für den Fall, dass der ver-
tretene Ehegatte oder Lebenspartner weder im Rahmen
einer ausdrücklichen Vorsorgevollmacht etwas anderes
bestimmt noch einen entgegenstehenden Willen geäußert
hat . Der Ehegatte oder Lebenspartner soll hierbei den-
selben Bindungen unterliegen wie ein – ausdrücklich –
Vorsorgebevollmächtigter . Ein der Vertretung durch den
Partner entgegenstehender Wille soll als Widerspruch in
das Zentrale Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer
eingetragen werden können .
Die Vorsorgevollmacht ist und bleibt ein wichtiges
Instrument, um selbstbestimmt darüber entscheiden zu
können, wer im Falle des Verlustes der eigenen Hand-
lungsfähigkeit handeln und entscheiden soll; hier wird
nur für den Fall des Nichtvorliegens die Person, die dem
Betroffenen am nächsten steht, als Bevollmächtigter ver-
mutet .
Der Gesetzentwurf ist grundsätzlich zu unterstützen .
Ob die seitens der Bundesregierung bestehenden Be-
denken hinsichtlich etwaiger Konflikte zu Artikel 12
der UN-Behindertenkonvention berechtigt sind, wird im
parlamentarischen Verfahren und der bereits terminierten
Anhörung zu dem Gesetzentwurf zu klären sein .
Auch hinsichtlich der Frage, ob Ehegatten und Le-
benspartner immer ihrer Aufgabe als Betreuer gewach-
sen sind oder dass eine Ehe/Lebenspartnerschaft nur
noch auf dem Papier bestehen könnte, ist die vorgesehe-
ne Regelung einer automatischen gerichtlichen Betreu-
ung vorzuziehen. Zum einen findet diese Vollmachts-
vermutung keine Anwendung, wenn die Partner nach
§ 1567 Absatz 1 BGB getrennt leben . Und um etwaigem
Missbrauch weiter vorzubeugen, kann nach wie vor jeder
seine Angelegenheiten auch nach der neuen Gesetzesla-
ge in Form einer eigenen Vorsorgevollmacht oder einer
sonstigen anderslautenden Willensäußerung abweichend
regeln .
Die möglicherweise erforderlichen Änderungen oder
Ergänzungen werden sich im Laufe der weiteren Bera-
tungen ergeben . Ich freue mich darauf .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir de-
battieren heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der
in einem höchstpersönlichen Bereich, bei dem es um Le-
ben und Tod gehen kann, künftig eine gesetzliche Fiktion
einführt . Wenn jemand keine Vorsorgevollmacht erstellt
hat, soll im Falle der Geschäftsunfähigkeit automatisch
der Ehegatte als bevollmächtigt gelten .
Damit sollen angeblich Dinge vereinfacht werden,
weil dann kein Betreuer bestellt werden muss . Ich habe
allerdings erhebliche Zweifel, ob das wirklich eine so
große Vereinfachung ist und ob dadurch nicht ganz ande-
re Probleme und Risiken erst entstehen .
Kann jemand seine Angelegenheiten nicht mehr selbst
erledigen, prüft bislang das Amtsgericht auf Antrag, ob
und wer in diesem Fall als Betreuer einzusetzen ist . Da-
bei ist der Betroffene anzuhören, und er oder sie kann
selber Vorschläge machen, die zu berücksichtigen sind .
§ 1897 Absatz 5 BGB lautet wie folgt:
Schlägt der Volljährige niemanden vor … so ist bei
der Auswahl des Betreuers auf die verwandtschaft-
lichen und sonstigen persönlichen Bindungen des
Volljährigen, insbesondere auf die Bindungen zu
Eltern, zu Kindern, zum Ehegatten und zum Le-
benspartner, sowie auf die Gefahr von Interessen-
konflikten Rücksicht zu nehmen.
Ehrlich gesagt: Besser und angemessener kann man es
doch gar nicht formulieren!
Warum sollen wir ausgerechnet in diesem wichtigen
Bereich auf die richterliche Entscheidung und damit auch
auf die Anhörung des Betroffenen verzichten? Und er-
setzt das bloße Vorliegen einer Heiratsurkunde wirklich
die Prüfung eines Interessenkonfliktes? In den allermeis-
ten Fällen wird sich nach der richterlichen Anhörung tat-
sächlich ergeben, dass der Ehegatte die geeignete Person
ist . Manchmal kann es aber auch genauso gut – oder auch
besser – das eigene Kind sein .
Warum will das Gesetz hier einen Vorrang schaffen,
der am Ende dazu führt, dass Familienmitglieder proak-
tiv gegen die gesetzliche Fiktion tätig werden und wo-
möglich verborgene Konflikte aufdecken müssen?
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Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721936
Das Risiko, dass die Fiktion gerade nicht dem Willen
des Betroffenen entspricht, ist selbst nach der Gesetzes-
begründung nicht unerheblich . In der Begründung steht,
dass 80 Prozent der Befragten ihren Ehegatten als Be-
treuer einsetzen würden . Was bedeutet das denn für die
anderen 20 Prozent?
Die Gründe dafür, jemand anderen als den eigenen
Ehegatten zum Betreuer bestellen zu wollen, können so
vielfältig sein wie das Leben selbst . Vielleicht möchte
jemand seine Partnerin oder seinen Partner damit nicht
belasten, oder die Ehe ist möglicherweise seit Jahren viel
zerrütteter, als es irgendjemand geahnt hat . Als Fachan-
wältin für Familienrecht kann ich Ihnen versichern: Es
gibt im Bereich familiärer Konflikte nichts, was es nicht
gibt! Die gesetzliche Fiktion einer intakten Ehe halte ich
für sehr gewagt, um nicht zu sagen unverantwortbar .
Was soll so schlimm daran sein, sich vom Gericht be-
stellen zu lassen? Ein entsprechender Betreuerausweis ist
doch ohnehin hilfreich bei der Besorgung der Rechtsan-
gelegenheiten . Wie soll das ohne einen solchen Ausweis
denn überhaupt gehen?
In dem geplanten § 1358 Absatz 3 BGB ist vorgese-
hen, dass man gegenüber Behörden und Ärzten erklären
muss, mit dem Betroffen verheiratet zu sein, nicht ge-
trennt zu leben, keine Kenntnis von einem entgegenste-
henden Willen zu haben – und dazu noch ein ärztliches
Zeugnis über die eingeschränkte Geschäftsfähigkeit des
Betroffenen vorlegen, dass nicht älter als sechs Monate
ist .
Und das soll einfacher sein als eine Betreuerbestel-
lung? Wissen Sie eigentlich, wie schwierig es sein kann,
festzustellen, ob Eheleute getrennt leben? Das allein kann
Gegenstand umfangreicher Streitverfahren sein . Nein –
ich würde mal unterstellen, der Gesetzentwurf war gut
gemeint, aber vereinfacht wird dadurch gar nichts .
Im Betreuungsrecht steht das Selbstbestimmungsrecht
ganz im Fokus, und da brauchen wir auch keine Verkür-
zungen und Fiktionen . Belassen Sie es bei der Betreu-
ungsbestellung durch das Gericht .
Das ist im Übrigen auch die Empfehlung der Deut-
schen Stiftung Patientenschutz . Und auch das Bundes-
ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat
ja Bedenken geäußert und den Fraktionen einen Ände-
rungsantrag empfohlen, mit dem die gesetzliche Fiktion
gestrichen und stattdessen eine Beschränkung auf die
Gesundheitssorge vorgenommen werden soll . Sollten
Sie diesen Änderungsantrag einbringen, wäre das sicher-
lich eine deutliche Verbesserung . Von der Notwendigkeit
der Gesetzesänderung bin ich allerdings auch dann noch
nicht überzeugt .
Gerade bei akuten Notsituationen kann sich ein Miss-
brauch besonders gravierend auswirken . Der Arzt wäre
an die gesetzliche Berechtigung des Ehegatten zur Ent-
scheidung über die Heilbehandlung gebunden und müss-
te im Zweifelsfall selbst gegen den Willen desselben das
Betreuungsgericht einschalten . Eine solche zusätzliche
Hürde zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Be-
troffenen macht es nicht einfacher. Und ob die Ehegatten
getrennt leben, ist für den behandelnden Arzt schon gar
nicht nachprüfbar . An dieser Stelle würde auch der Ände-
rungsantrag keine Abhilfe schaffen.
Wir lassen uns im weiteren Beratungsverfahren gerne
noch einmal die praktischen Gründe erläutern, warum
hier überhaupt eine Gesetzesänderung notwendig sein
soll .
In der vom Bundesrat beschlossenen Form wäre der
Gesetzentwurf auf jeden Fall abzulehnen .
Anlage 8
Neudruck: Antwort
der Staatsministerin Dr . Maria Böhmer auf die Frage des
Abgeordneten Andrej Hunko (DIE LINKE) (Drucksa-
che 18/11120, Frage 20):
Mit welchen Maßnahmen unterfüttert nach Kenntnis der
Bundesregierung die Europäische Union in Belarus „eine ge-
wisse Vereinbarung bezüglich der Migration“, wie der dortige
Präsident eine Kooperation umschrieb, die unter anderem Gel-
der für den Bau von Zentren für „illegale“ Migranten sowie
für deren Abschiebung vorsieht (dw .com vom 24 . Januar 2017,
„Streit um Migrantenzentren in Weißrussland“), und welchen
Stand haben nach Kenntnis der Bundesregierung die seit 2011
autorisierten Verhandlungen der Europäischen Kommission
über ein Abschiebeabkommen der Europäischen Union mit
Belarus (Bundestagsdrucksache 18/1423, Antwort zu Fra-
ge 9)?
Ein umfassendes europäisches Unterstützungspro-
gramm im Bereich Migration soll Belarus bei der Bewäl-
tigung einer steigenden Zahl irregulärer Migrantinnen
und Migranten im Land helfen .
Das Unterstützungsprogramm umfasst 7 Millionen
Euro aus dem Europäischen Nachbarschaftsinstrument
und unterstützt die belarussische Regierung bei der Ent-
wicklung und Umsetzung von Strategien zum Migrati-
onsmanagement im Einklang mit internationalem Recht
und internationalen Standards . Auch Bau und/oder Reno-
vierung von mehreren Unterkünften für Migranten sind
vorgesehen . Die Internationale Organisation für Migra-
tion (IOM) ist an der Umsetzung beteiligt . Eine ausführ-
liche Beschreibung ist auf der Internetseite der Europäi-
schen Kommission frei zugänglich .
Verhandlungen über ein Visaerleichterungs- und
Rückübernahmeabkommen haben im Jahr 2014 begon-
nen und sind noch nicht abgeschlossen .
(217 . Sitzung, Anlage 9)
http://www.dw.com
218. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 3, ZP 2 Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs
TOP 4 Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen
ZP 3 Integrationspolitik
TOP 27, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 28 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 6 Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung
TOP 7 Bekämpfung der Steuerumgehung
TOP 8 Präventionsstrategie gegen gewaltbereiten Islamismus
TOP 24 Regionale Wirtschaftspolitik
TOP 10 Deutsche Ostpolitik
TOP 11 Änderung des Düngegesetzes
TOP 12, ZP 5 Klimaschutz in der Wärmeversorgung
ZP 6 Nachtragshaushaltsgesetz 2016
TOP 14 Bekämpfung von Fluchtursachen
TOP 9 Zivile Krisenprävention
TOP 16 Attraktivität der Berufsausbildungsförderung
ZP 7 Anfechtungen nach der Insolvenzordnung
TOP 18 Bewahrung des deutschen Filmerbes
TOP 13 Umsetzung von EU-Richtlinien zur Arbeitsmigration
TOP 17 Sicherung der Ernährung in einer Versorgungskrise
TOP 19 Änderung der Bundes-Tierärzteordnung
TOP 20 Bevollmächtigung im Bereich der Gesundheitssorge
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8