3) Anlage 6
        4) Anlage 7
        Vizepräsidentin Claudia Roth
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21907
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        16 .02 .2017
        Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        16 .02 .2017
        Ebner, Harald BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        16 .02 .2017
        Gabriel, Sigmar SPD 16 .02 .2017
        Groth, Annette DIE LINKE 16 .02 .2017
        Heil (Peine), Hubertus SPD 16 .02 .2017
        Künast, Renate BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        16 .02 .2017
        Lanzinger, Barbara CDU/CSU 16 .02 .2017
        Leutert, Michael DIE LINKE 16 .02 .2017
        Lotze, Hiltrud SPD 16 .02 .2017
        Noll, Michaela CDU/CSU 16 .02 .2017
        Obermeier, Julia CDU/CSU 16 .02 .2017
        Oppermann, Thomas SPD 16 .02 .2017
        Ripsam, Iris CDU/CSU 16 .02 .2017
        Rüthrich, Susann * SPD 16 .02 .2017
        Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        16 .02 .2017
        Schlecht, Michael DIE LINKE 16 .02 .2017
        Schmidt, Dr . Frithjof BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        16 .02 .2017
        Sitte, Dr . Petra DIE LINKE 16 .02 .2017
        Strenz, Karin CDU/CSU 16 .02 .2017
        Thissen, Dr . Karin SPD 16 .02 .2017
        Vogt, Ute SPD 16 .02 .2017
        Wawzyniak, Halina DIE LINKE 16 .02 .2017
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Werner, Katrin DIE LINKE 16 .02 .2017
        Ziegler, Dagmar SPD 16 .02 .2017
        Zollner, Gudrun CDU/CSU 16 .02 .2017
        *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-
        rung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach
        der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungs-
        gesetz (Zusatztagesordnungspunkt 7)
        Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): 1 . Mit dem heute –
        endlich – zum Ende kommenden Gesetzgebungsverfah-
        ren werden wir entsprechend unserer Koalitionsverein-
        barung das Insolvenzanfechtungsrecht im Interesse der
        Planungssicherheit des Geschäftsverkehrs sowie des Ver-
        trauens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in aus-
        gezahlte Löhne reformieren. Gleichzeitig wird die Effizi-
        enz von Insolvenzverfahren gesteigert, und es wird eine
        frühere Insolvenzantragstellung gefördert . Dabei besteht
        zwischen uns Rechtspolitikern auch Einigkeit, dass öf-
        fentliche Gläubiger grundsätzlich in gleichem Maße von
        der Reform profitieren wie private Gläubiger und für die-
        se keine Schlechterstellung gegenüber dem Status quo
        vorgenommen wird .
        2. Eine Besserstellung öffentlicher Gläubiger über das
        Maß hinaus, in welchem diese bereits wie alle anderen
        Gläubiger von der vorgeschlagenen Neuregelung profi-
        tieren, haben wir dabei aber andererseits als nicht gebo-
        ten angesehen. Unzutreffend erscheint es dabei vor al-
        len Dingen, einen besonderen Schaden des Fiskus allein
        mit den an diesen aufgrund von Insolvenzanfechtungen
        abfließenden Beträgen zu begründen. Denn dabei wird
        nicht berücksichtigt, dass diese der Masse zufließenden
        Beträge die Befriedigungschancen aller Insolvenzgläubi-
        ger – und zunächst der Massegläubiger – erhöhen . Da der
        Fiskus aber in der Regel mit Umsatzsteuerforderungen
        in erheblichem Umfang auch Massegläubiger ist, würde
        eine Reduktion von Anfechtungsmöglichkeiten zu seinen
        Lasten gleichzeitig seine Befriedigungschancen als Mas-
        segläubiger verringern. Dieser Effekt wäre daher auch in
        den entsprechenden Berechnungen zu berücksichtigen .
        Zudem führt die infolge von Insolvenzanfechtungen
        steigende Quote zu entsprechenden Mehreinnahmen der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721908
        (A) (C)
        (B) (D)
        Insolvenzgläubiger und damit bei diesen zu – in aller Re-
        gel steuerpflichtigen – Gewinnen bzw. zu einer entspre-
        chenden Verringerung früherer Verluste (infolge von Ab-
        schreibungen). Auch dieser Effekt ist in einer allein auf
        den einmaligen Zahlungseffekt abstellenden Betrachtung
        nicht berücksichtigt .
        Schließlich führt eine Erhöhung der Insolvenzmasse
        auch zu einer Erhöhung der Vergütung des Insolvenz-
        verwalters, die wiederum ebenfalls zu entsprechenden
        Mehreinnahmen bei Ertrags- und Umsatzsteuer führt .
        Auch dies müsste bei einer allein auf einen Mittelab-
        fluss an den Insolvenzverwalter abstellenden Betrach-
        tung berücksichtigt werden . Dabei kann man durchaus
        zu Recht Vorbehalte gegen die erheblichen Kosten eines
        Insolvenz verfahrens haben, weil die aktuelle insolvenz-
        rechtliche Vergütungspraxis Fehlanreize in Bezug auf
        die Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen setzt .
        Denn es besteht ein Missverhältnis in Bezug auf die an-
        gefochtenen Zahlungen zwischen den aus Anfechtung
        stammenden Einnahmen und der daraus resultierenden
        Erhöhung der Quote für die Gläubiger .
        Der (bloßen) Gleich(und nicht: Besser-)behandlung
        des Fiskus im Bereich der Insolvenzanfechtung kann
        auch nicht entgegengehalten werden, dass es letztlich nur
        in einer geringen Zahl von Insolvenzverfahren zu einer
        Betriebsfortführung kommt (Eröffnet im Jahr 2009, be-
        endet bis 31 . Dezember 2013: 1058 von 13 600, Quelle:
        Destatis) . Vielmehr muss darauf abgestellt werden, dass
        es bei 628 dieser 1058 Betriebsfortführungen zu einer
        erfolgreichen Sanierung kam . Darüber hinaus ist zu be-
        rücksichtigen, dass eine asymmetrische Bevorzugung
        des Fiskus sogar zu einer überproportionalen Verkleine-
        rung der Zahl dieser (erfolgreichen) Betriebsfortführun-
        gen führen würde .
        Im Einzelnen:
        3 . Die jetzt vorgeschlagene Änderung des § 14 InsO
        stellt sicher, dass sich ein Schuldner nicht durch die ge-
        zielte Bedienung von bestimmten Forderungen einem
        geordneten Insolvenzverfahren entziehen kann . Das ist
        nachdrücklich zu begrüßen .
        4 . Die im Regierungsentwurf vorgeschlagene Re-
        gelung des § 131 Absatz 1 InsO haben wir jedoch als
        verfehlt angesehen und deshalb gestrichen . Eine Quali-
        fikation von Handlungen, bei denen die Sicherung oder
        Befriedigung durch Zwangsvollstreckung oder zu deren
        Abwendung bewirkt wurde, als kongruent ist schon be-
        zogen auf rein gerichtlich erworbene Titel, wie es noch
        im Referentenentwurf vorgesehen war, nicht angezeigt .
        Insbesondere würde dies zu früheren und schnelleren
        Einzelzwangsvollstreckungen führen und so gerade den
        Wettlauf der Gläubiger erneut befeuern . Dadurch würden
        gerade besonders gut informierte Gläubiger davon abge-
        halten, möglichst früh einen Insolvenzantrag zu stellen .
        Zudem wäre die Masse bei einem letztendlich gestellten
        Insolvenzantrag so weit ausgehöhlt, dass die Finanzie-
        rung des Verfahrens, jedenfalls aber die Finanzierung ei-
        ner soliden Restrukturierung, sehr fraglich wäre .
        Eine Erweiterung dieses Privilegs – wie dann im Re-
        gierungsentwurf vorgeschlagen – auf sämtliche Titel
        einschließlich derer des Fiskus und der Sozialversiche-
        rungsträger ist daher noch deutlicher abzulehnen . Die
        Möglichkeit, Titel selbst zu erstellen, ohne vorher ein Ge-
        richtsverfahren zu durchlaufen, würde diesen gegenüber
        privaten Gläubigern einen nicht unerheblichen Zeitvor-
        sprung verschaffen. Durch den faktisch früheren Zugriff
        auf die Masse würde diese Gläubigergruppe gegenüber
        privaten Gläubigern daher signifikant bevorzugt.
        In diesem Zusammenhang geht auch der Verweis auf
        die Möglichkeit privater Gläubiger, relativ schnell einen
        Mahnbescheid zu erlangen, fehl . Denn die Vollstreckbar-
        keit aus einem Mahn- bzw . Vollstreckungsbescheid kann
        durch schlichten, nicht einmal begründeten und ohne Be-
        teiligung eines Rechtsanwalts möglichen Widerspruch
        blockiert werden (§ 694 ZPO) . Bei einem Steuer- oder
        Abgabenbescheid ist angesichts der fehlenden aufschie-
        benden Wirkung eines Einspruchs die Vollstreckbarkeit
        demgegenüber nur mit einem gerichtlichen Verfahren zu
        verhindern. Damit ist der „zeitliche Vorteil“ von Fiskus
        und Sozialversicherungsträgern auch nicht etwa nur auf
        einige Monate beschränkt .
        Auch ein mehrfach in der Literatur diskutierter Ver-
        weis des Verwalters auf eine Anfechtung ebendieser Zah-
        lungen nach § 130 InsO geht fehl: denn es würde sich
        die Rückzahlung der Beträge – selbst bei Kenntnis des
        Gläubigers von der Zahlungsunfähigkeit – aufgrund der
        erhöhten Beweisanforderungen deutlich verzögern und
        so einem Insolvenzverfahren die gerade zu Beginn benö-
        tigte Liquidität entziehen .
        5 . Die im Regierungsentwurf vorgeschlagene Reform
        des § 133 Absatz 2 InsO ist grundsätzlich positiv zu se-
        hen, weil sie in erheblichem Maße die Rechtssicherheit
        für Gläubiger in Bezug auf Insolvenzanfechtungen ver-
        bessert. Bereits durch die Anknüpfung an den Begriff der
        eingetretenen Zahlungsunfähigkeit bei der Anfechtung
        von kongruenten Deckungen – statt wie bisher schon
        an eine bloß drohende Zahlungsunfähigkeit – wird der
        Kreis der Anfechtungsgegner deutlich reduziert . Auch
        durch diese deutlich höhere Beweisanforderung wird die
        Zahl der Anfechtungsversuche von Insolvenzverwaltern,
        welche heute häufig in außergerichtlichen Vergleichen
        enden, stark zurückgehen .
        Insbesondere die vorgesehene Regelung, nach der
        Zahlungsvereinbarungen oder sonstige Zahlungser-
        leichterungen für sich genommen nicht als Indiz für
        die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit gewertet werden
        dürfen, wird dazu führen, dass heute übliche Zahlungs-
        erleichterungen insolvenzfest sein werden . Insbesonde-
        re übliche Stundungsvereinbarungen von Finanzämtern
        oder Inkassounternehmen werden ohne das Hinzutreten
        weiterer Umstände in Zukunft nicht mehr dazu führen,
        dass Rückzahlungsansprüche gegenüber Insolvenzver-
        waltern bestehen .
        Die vorgenommene Fristverkürzung für kongruen-
        te Deckungen auf vier Jahre ist sachgerecht und sollte
        auch nicht weiter reduziert werden . Insbesondere wurden
        die von verschiedenen Industrie- und Handelskammern
        vorgetragenen Vergleiche mit entsprechenden auslän-
        dischen Regelungen nach ausführlicher Diskussion als
        nicht durchgreifend bewertet . Die vorgetragenen aus-
        ländischen Anfechtungsregelungen sind nur schwer mit
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21909
        (A) (C)
        (B) (D)
        den deutschen vergleichbar und entstammen zudem völ-
        lig anderen Systemen, die auch bei anderen Regelungen
        andere Wertentscheidungen getroffen haben; gerade An-
        fechtungsfristen müssen jedoch im Kontext des gesam-
        ten Systems gesehen werden und sollten nicht isoliert
        betrachtet werden .
        6 . Wir konnten uns auch nicht die Forderung des Bun-
        desrates zu eigen machen, im Rahmen der Änderung
        von § 142 InsO statt wie bislang auf den an den Arbeit-
        nehmer ausgezahlten Nettolohn auf den Bruttolohn ab-
        zustellen – und damit die bislang mögliche Anfechtung
        von Lohnsteuerzahlungen und Sozialabgaben seitens des
        Arbeitgebers an das Finanzamt bzw . die Einzugsstelle
        auszuschließen bzw . zu begrenzen . Dabei ist zunächst
        hervorzuheben, dass die Stellung des Fiskus und der
        Sozialversicherungsträger insoweit nicht mit der der Ar-
        beitnehmer vergleichbar ist . Entscheidend ist zunächst,
        dass ihre Leistungen nicht in einem Gegenseitigkeits-
        verhältnis zur Arbeitsleistung des Arbeitnehmers stehen .
        Deshalb sind sie zwar „Zwangsgläubiger“, aber es gibt
        andererseits auch keinen im Gegenseitigkeitsverhältnis
        stehenden „Anspruch“ der gesetzlichen Gläubiger da-
        rauf, dass überhaupt Arbeitsplätze geschaffen werden.
        Schließlich dient die Insolvenzanfechtung der Einbezie-
        hung von Zahlungen, die zu einem Zeitpunkt geleistet
        wurden, in dem der Schuldner bereits materiell insolvent
        war, in das formelle Insolvenzverfahren . Und das bedeu-
        tet, dass die gesetzlichen Gläubiger im hypothetischen
        Fall, dass rechtzeitig und früher ein Insolvenzantrag
        gestellt worden wäre, ebenfalls und erst recht keine An-
        sprüche hätten .
        Auch das Argument, dass der Fiskus bei einer gegen
        ihn gerichteten Anfechtung einer Lohnsteuerzahlung
        die entsprechende Steuer unter Umständen „zweimal“
        erstatten müsste, nämlich einmal an den Insolvenzver-
        walter und ein zweites Mal im Rahmen der Berücksich-
        tigung im Lohnsteuerjahresausgleich, ist falsch . Denn
        hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer korrekt einbehalten,
        so hat dieser den Lohnsteueranspruch des Fiskus gegen
        den Arbeitnehmer erfüllt . Die Lohnsteuer-Schuld des
        Arbeitnehmers erlischt nach § 47 AO (BFH I R 102/99
        v . 29 .11 .2000, BStBl . II 2001, 195; VI R 57/04 v .
        13 .12 .2007, BStBl . II 2008, 434) . Die Rechtslage ist so,
        wie sie wäre, wenn der Arbeitnehmer an den Arbeitge-
        ber zum Zwecke der Erfüllung geleistet hätte . Die einbe-
        haltene Lohnsteuer ist damit i . S . v . § 36 Absatz 2 Num-
        mer 2 EStG „erhoben“ (BFH VI R 67/90 v. 18.6.1993,
        BStBl . II 1993, 182; so für die KapSt BFH VIII R 30/93
        v . 23 .4 .1996, DB 1996, 2061) und muss deshalb auf die
        Einkommensteuer angerechnet werden, und zwar unab-
        hängig davon, ob sie an das Finanzamt abgeführt wur-
        de (Wagner in: Blümich, Kommentar zum EStG § 42d
        Rn . 88) . Würde man – was durchaus erwogen werden
        könnte – diese Regelung für den Insolvenzfall ändern,
        hätte dies zur Folge, dass der Arbeitnehmer selbst für die
        Zahlung seiner Lohnsteuer haften würde . Das ist aber ein
        sozialpolitisch untragbares Ergebnis .
        Auf der Grundlage der Vorstellung des Bundesrates
        würde es sich – auch hier – um ein Fiskusprivileg durch
        die Hintertür handeln, das den Fiskus nur dann, dann
        aber besonders privilegieren würde, wenn das insolvente
        Unternehmen Arbeitnehmer beschäftigte, und es würde
        zugleich auch die gerade in diesem Fall im Interesse ei-
        nes Erhalts von Arbeitsplätzen besonders erforderliche
        Massesicherung überproportional einschränken . Das ist
        meines Erachtens weder sozialpolitisch akzeptabel noch
        verfassungsrechtlich zulässig .
        Dass andererseits den Fiskus auf der Basis der ver-
        einnahmten, später aber aufgrund einer Anfechtung zu-
        rückzuzahlenden Beträge Pflichten treffen, entspricht
        den Risiken, die auch andere Anfechtungsschuldner tref-
        fen . Damit steht der Fiskus insbesondere auch hier nicht
        schlechter als ein privater Gläubiger; denn eine Rück-
        zahlung an den Steuerbürger hätte in jedem Fall erfolgen
        müssen . Der Fiskus hat also in diesem Fall nur einmal
        aufgrund der Insolvenz eine Rückzahlung erbringen
        müssen . Bei einem Lohnsteuererstattungsanspruch von
        0 Prozent fällt außerhalb der Insolvenz eine Zahlung von
        0 an und in der Insolvenz aufgrund einer Anfechtung eine
        Zahlung von 100 Prozent; bei einem Rückerstattungsan-
        spruch des Steuerbürgers außerhalb der Insolvenz fällt
        eine Zahlung von 100 Prozent an, innerhalb der Insol-
        venz nach einer Anfechtung von zusätzlichen 100 Pro-
        zent, mithin in diesem Fall von 200 Prozent . Der Unter-
        schied zwischen Zahlungsfluss außerhalb und innerhalb
        beträgt jedoch in jedem Fall 100 Prozent – wie auch bei
        einem privaten Gläubiger, der 100 Prozent der empfan-
        genen Leistung zurückerstatten muss .
        Im Bereich des § 142 InsO haben wir andererseits
        aber klargestellt, dass auch „Drittzahlungen“ zumindest
        in Bezug auf Arbeitnehmer anfechtungsfest sein können .
        Ob die hier jetzt vorgesehene Regelung noch weiter zu
        verallgemeinern (und dann unter Umständen in § 129
        InsO zu verschieben) ist, wird später zu prüfen sein .
        7 . Auch die in § 143 InsO vorgesehene veränderte Re-
        gelung zum Fristbeginn bei Zinsansprüchen wird zu einer
        massiven und zugleich kassenwirksamen Entlastung von
        Gläubigern führen; insbesondere ist für diese nun auch
        nachvollziehbar geregelt, dass ein Zinsanspruch erst be-
        steht, sobald der Anspruch ernsthaft eingefordert wurde .
        Dadurch werden Situationen vermieden, in denen bisher
        ein Insolvenzverwalter einen grundsätzlich berechtigten
        Anspruch bewusst erst kurz vor Ablauf der Verjährungs-
        frist geltend gemacht hat, um in der aktuellen Niedrig-
        zinsphase einen entsprechend großen zusätzlichen Zins-
        ertrag für die Masse zu generieren .
        Besonders freut mich, dass wir die Übergangsrege-
        lung zum Gesetz so ausgestalten konnten, dass die Neu-
        regelung bezüglich des Zinslaufs auch schon für laufen-
        de Insolvenzverfahren gilt . Der typische mittelständische
        Anfechtungsgegner, aber ebenso Arbeitnehmer wie Fis-
        kus und Sozialversicherungsträger als Anfechtungsgeg-
        ner erhalten damit eine unmittelbar mit Inkrafttreten des
        Gesetzes wirkende Entlastung .
        8 . Die Mühe hat sich gelohnt: Wir haben ein gutes Ge-
        setz, und ich freue mich, dass auch Teile der Opposition
        ihre Zustimmung angekündigt haben .
        Dass es Fragen gibt, die wir jetzt nicht lösen konn-
        ten, versteht sich von selbst . Dazu gehört etwa die Be-
        handlung von Honoraren aus Beraterverträgen, die des-
        halb besondere Schwierigkeiten macht, weil ein Berater
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721910
        (A) (C)
        (B) (D)
        zwangsläufig Kenntnis von der gesamten wirtschaftli-
        chen Situation des zu beratenden Unternehmens hat . Ent-
        scheidend dürfte hier sein, dass die Leistung (dokumen-
        tierbar) einen ernsthaften Sanierungsversuch betraf .
        Gleiches gilt für die eigentlich notwendige Einpassung
        von § 64 (früher Absatz 1) GmbHG und § 93 Absatz 3
        Nummer 6 AktG (der Sache nach anfechtungsrechtliche
        Normen) in das System des Insolvenzanfechtungsrechts .
        Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Wenn ein Pri-
        vatmann oder eine Firma in Insolvenz gerät, dann stehen
        viele widerstreitende Interessen im Raum: Da sind die
        Interessen der Gläubiger bezüglich ihrer Forderungen,
        daneben aber auch zum Beispiel Interessen von Lieferan-
        ten, die Ware geliefert haben, sich nun aber der Anfech-
        tung der erhaltenen Bezahlung durch den Insolvenzver-
        walter gegenübersehen . Aber denken wir zum Beispiel
        auch an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen die
        Anfechtung ausgezahlten Arbeitsentgelts droht . All diese
        Interessen gilt es zu einem gerechten Ausgleich zu brin-
        gen, und ich bin sehr froh, dass wir heute konstatieren
        können, dass dies mit dem vorliegenden Entwurf gelingt .
        Vor drei Jahren besuchte mich ein Baustoffhändler
        in meiner Bürgersprechstunde . Er berichtete über einen
        Kunden aus jahrelanger Geschäftsbeziehung . Den belie-
        ferte er mit Waren im Wert von mehreren Hunderttausend
        Euro – das auch regelmäßig unter Gewährung von Zah-
        lungserleichterungen, was er als durchaus branchenüb-
        lich bezeichnete . Zudem seien in der Baubranche in der
        Übergangszeit viele Unternehmen „knapper bei Kasse“,
        da die Saison erst richtig mit dem Frühjahr beginnt . Der
        Bauunternehmer musste Insolvenz anmelden, und der
        Insolvenzverwalter fordere jetzt vom Baustofflieferanten
        über 400 000 Euro zurück . Er begründet dies damit, dass
        dem Baustoffhändler die Zahlungsunfähigkeit faktisch
        bekannt war, allein durch die Zahlungsaufschübe .
        Bereits beim Zuhören merken wir, dass nach dem
        Bauchgefühl da etwas nicht stimmen kann . Eine uner-
        trägliche Situation der Rechtsunsicherheit für Lieferan-
        ten! Das war allerdings Ergebnis einer Rechtsprechung,
        die in den letzten Jahren sogar noch ausgeweitet wurde,
        zumal die Vorsatzanfechtung in diesen Fällen bis zu zehn
        Jahre zurück möglich ist . Daher ist es der einzig richtige
        Weg, dass wir diese Schieflage der Interessen heute kor-
        rigieren .
        Nach der Neuregelung, die wir nun beschließen, soll
        die Anfechtung in solchen Fällen nur vier Jahre zurück
        ab Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mög-
        lich sein . Zudem haben wir im Gesetz nun ausdrücklich
        klargestellt, dass bei Gewährung von Zahlungserleich-
        terungen zunächst einmal vermutet wird, dass die Zah-
        lungsunfähigkeit nicht bekannt war . Das ist auch das Ein-
        zige, was sachgerecht sein kann . Jemand, der von einer
        Zahlungsunfähigkeit weiß, wird wohl kaum für mehrere
        Hunderttausend Euro Ware liefern .
        Ein zu hohes Maß an Rechtsunsicherheit gab es je-
        doch auch aufseiten der Arbeitnehmerinnen und Ar-
        beitnehmer . Uns allen aus dem Rechtsausschuss ist die
        konkretisierende Rechtsprechung des BAG zu diesem
        Themenfeld bekannt . Zum Schutze der Arbeitnehmer-
        interessen wurde dort von anfechtungsausschließenden
        Bargeschäften ausgegangen, wenn zwischen Arbeitser-
        bringung und Zahlung des Entgelts nicht mehr als drei
        Monate lagen . Darüber hinaus gab es weitere Bemühun-
        gen des Bundesarbeitsgerichts, die Interessen der Arbeit-
        nehmerinnen und Arbeitnehmer zu schützen . Dem ist al-
        lerdings spätestens mit der Rechtsprechung des BGH aus
        dem Jahr 2014 ein Riegel vorgeschoben . Der zuständige
        Senat sah damals die Grenzen der richterlichen Rechts-
        fortbildung überschritten . Deshalb ist es wichtig, dass
        wir auch in diesem Bereich heute für Klarheit sorgen .
        Nun kann innerhalb von drei Monaten nach Leistungs-
        erbringung ausgezahltes Arbeitsentgelt durch den Insol-
        venzverwalter nur dann zurückgefordert werden, wenn
        der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin wusste, dass
        der Arbeitgeber mit der Auszahlung unlauter handelte .
        Abschließend möchte ich Ihr Augenmerk noch auf
        einen letzten Aspekt lenken: Zukünftig wird es Zinsen
        für Rückgewähransprüche nach der Anfechtung nur noch
        nach dem Eintritt des Verzugs geben . Denn man muss
        feststellen, dass die bisherige Rechtslage in der Praxis
        Fehlanreize schaffte. Nicht selten wurde der Rückforde-
        rungsanspruch möglichst spät geltend gemacht, um die
        Zinsforderung nach oben zu treiben . Das ist aber mit
        dem Grundgedanken des Insolvenzrechts unvereinbar;
        denn hier soll nur das zurückfließen, was den Gläubi-
        gern tatsächlich entzogen wurde . Und der Verzug setzt
        ohnehin voraus, dass dem Anfechtungsgegner der Rück-
        forderungsanspruch bekannt ist . Das bedeutet, auch aus
        dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit besteht hier kein
        schutzwürdiges Interesse mehr .
        Sie sehen: Das ist ein Gesetzentwurf, der den ausge-
        wogenen Interessenausgleich in der Praxis erheblich ver-
        bessert . Deshalb bitte ich um Zustimmung .
        Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): Hätte mir jemand
        zu Beginn dieser Legislatur gesagt, dass die Beratungen
        über wenige Paragraphen der Insolvenzordnung fast vier
        Jahren dauern würden, hätte ich gesagt, dass der oder die
        spinnt . Die Realität hat aber gezeigt, dass man aus dem
        eigentlich rein technischen Thema große Politik machen
        kann, vor allem, wenn man alles mit allem verknüpfen
        will – ob es passt oder nicht . Aber das nennt man dann
        wohl Politik .
        Um was gehtʼs? Ein kleiner oder mittelständischer
        Betrieb hat einen langjährigen Kunden . Er beliefert ihn
        seit Jahren, bekommt sein Geld mal pünktlich und mal
        mit Verzug . Gleiches gilt für Arbeitnehmer . Gut so, könn-
        te man sagen . Ist nicht besonders schön, aber Hauptsache
        bezahlt . Nun aber wird dieser Kunde oder Arbeitgeber
        insolvent . Nicht schön, aber es passiert . Was jedoch dann
        passiert, versteht kein Arbeitnehmer, kein Handwerker,
        nur noch der Jurist . Denn plötzlich kommt ein dicker
        Schriftsatz eines Insolvenzverwalters, in dem behauptet
        wird, dass er ja von den Zahlungsschwierigkeiten des
        Kunden gewusst haben müsse, zumindest nach den An-
        gaben, die er aus den ihm übergegebenen Unterlagen und
        Aussagen des Schuldners erschließen kann, und deshalb
        müsse er jetzt alles das zurückfordern, was bis jetzt be-
        zahlt wurde, und zwar bis zu zehn Jahre zurück; denn er
        hätte ja wissen müssen, dass Insolvenz droht .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21911
        (A) (C)
        (B) (D)
        Da wir die Problematik erkannten, haben wir im Ko-
        alitionsvertrag vereinbart, im Interesse der Planungs-
        sicherheit des Geschäftsverkehrs sowie des Vertrauens
        der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ausgezahlte
        Löhne dies neu zu regeln. Denn immer häufiger bedienen
        sich findige Verwalter und erhöhen die Insolvenzmasse,
        indem sie bezahlte Rechnungen, ja sogar gezahlte Gehäl-
        ter zurückfordern, auch das, was mühevoll über gerichtli-
        ches Mahnverfahren oder Urteil im Wege der Teilzahlung
        durch den Gerichtsvollzieher erstritten wurde . Mehrere
        Monate begleiten wir Insolvenzverläufe, erleben, wie
        Menschen und Existenzen an den Auswirkungen dieser
        Regelung zerbrechen .
        Mit dem heute zur Entscheidung anstehenden Gesetz
        kann man leben, wenngleich es hinter dem durch den
        Bundesjustizminister erarbeiteten Referentenentwurf
        weit zurückbleibt . Trotzdem haben sich die langen und
        mühsamen Verhandlungen, die zahlreichen Gesprächs-
        runden mit unserem Koalitionspartner gelohnt, um letzt-
        lich dieses Ergebnis zu erzielen .
        Durch unsere Korrekturen wird die Praxis der Vorsatz-
        anfechtung endlich wieder kalkulierbarer . Wir verkürzen
        die Anfechtungsfrist von zehn auf vier Jahre . Unterneh-
        men und Arbeitnehmer müssen nicht mehr fürchten,
        rückwirkend Leistungen zurückzahlen zu müssen, die
        sie vor zehn Jahren erhalten haben . Auch werden An-
        fechtungen zurückliegender Geschäfte dadurch wesent-
        lich erschwert, dass der Insolvenzverwalter zukünftig
        nachweisen muss, dass der Gläubiger wusste, dass der
        Schuldner zum Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses zah-
        lungsunfähig war .
        Der bessere Schutz von Arbeitnehmerinnen und Ar-
        beitnehmern ist mir als Sozialdemokrat dabei ein beson-
        deres Anliegen . Mit den Änderungen schützen wir sie
        davor, den verdienten Arbeitslohn wieder an den Insol-
        venzverwalter zurückzahlen zu müssen . Lohnzahlungen
        können künftig nicht mehr angefochten werden, wenn sie
        spätestens drei Monate nach der Arbeitsleistung erfolgen .
        Durch eine neue Zinsregelung beseitigen wir beste-
        hende Fehlanreize zu einer schleppenden Durchsetzung
        von Anfechtungsansprüchen und schützen Gläubiger
        besser vor einer übermäßigen Zinsbelastung . Auch das
        Prinzip der Gleichbehandlung aller Gläubiger konnte er-
        halten bleiben .
        So weit, so gut . Eine Gläubigergruppe bleibt jedoch
        auf der Strecke: die, die sich einen gerichtlichen Titel
        erstritten hatten, die hierfür auch nicht wenig Geld aus-
        geben mussten . Ihnen einen besonderen Schutz zu ge-
        währen, gelang uns leider nicht, da der Fiskus, der nicht
        den Umweg über Gerichte gehen muss, das gleiche Recht
        einforderte . Nachvollziehen kann ich dieses Interesse;
        richtig und gerecht finde ich es nicht. Deshalb haben wir
        es hier schweren Herzens bei der „Altregelung“ belassen,
        um der Hintertür einen Riegel vorzuschieben .
        Zum Schluss bedanke ich mich bei meinen Mitbericht-
        erstattern für die Zusammenarbeit und erwarte – dies an
        unseren Koalitionspartner gerichtet –, dass, wie verein-
        bart, nächste Sitzungswoche die CSR-Richtlinie sowie
        das Gesetz zur Bewältigung von Konzerninsolvenzen
        vereinbarungsgemäß beraten und entschieden werden .
        Dr. Johannes Fechner (SPD): Zugegeben: Die Re-
        form des Anfechtungsrechtes in der Insolvenzordnung
        haben wir sehr intensiv und lange diskutiert in der Koali-
        tion. Aber ich finde, es hat sich gelohnt, wir haben wirk-
        lich viele Verbesserungen für Unternehmen, vor allem
        und gerade auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
        mer in diesem Gesetz erreicht .
        Wir beseitigen erhebliche Rechtsunsicherheiten, die in
        den letzten Jahren sowohl für die Unternehmen als auch
        für die Arbeitnehmer entstanden sind .
        So verkürzen wir die Anfechtungsfrist von zehn auf
        vier Jahre, das heißt, Unternehmen und Arbeitnehmer
        müssen nicht mehr fürchten, rückwirkend die erhaltenen
        Leistungen infolge einer Anfechtung zurückgewähren zu
        müssen, schlimmstenfalls, nachdem sie selber ihre Leis-
        tungen schon erbracht haben und die Geschäfte schon
        viele Jahre zurückliegen .
        Auch werden wir die Anfechtung von zurückliegen-
        den Geschäften erschweren, indem wir zukünftig vom
        Insolvenzverwalter fordern, dass er beweisen muss, dass
        wiederum der Gläubiger des angefochtenen Geschäfts
        die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners kannte . Bisher
        musste der Insolvenzverwalter nur nachweisen, dass
        der Gläubiger von einer drohenden Zahlungsunfähig-
        keit wusste, was viel einfacher nachzuweisen ist . Durch
        die jetzige Klarstellung schaffen wir ein hohes Maß an
        Rechtssicherheit gerade für kleine und mittlere Unter-
        nehmen .
        Und wir stellen klar, dass die bloße Erleichterung von
        Zahlungserleichterungen alleine keine Anfechtung ge-
        rechtfertigt . Auch das ist eine wichtige Neuregelung zur
        Schaffung von mehr Rechtssicherheit gerade für kleine
        und mittlere Unternehmen .
        Und durch eine weitere Neuregelung schützen wir
        Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, den verdienten
        Arbeitslohn nicht wieder an den Insolvenzverwalter zu-
        rückzahlen zu müssen . Lohnzahlungen können künftig
        nicht mehr angefochten werden, wenn sie spätestens drei
        Monate nach der Arbeitsleistung an den Arbeitnehmer
        ausbezahlt wurden – und das insbesondere auch dann,
        wenn die Lohnzahlung durch einen Dritten erbracht wird,
        etwa wenn Beschäftigte in einem Konzern angestellt sind
        und die Lohnzahlung durch ein anderes Unternehmen als
        das Unternehmen aus dem Arbeitsvertrag erbracht wird .
        Lange beraten haben wir auch die Einführung des so-
        genannten Fiskusprivilegs, wobei für uns als SPD klar
        war, dass wir kein Fiskusprivileg einführen wollen . Die
        Diskussion hierüber war der Grund, warum sich die De-
        batte so lange hingezogen hat . Wir meinen, dass auch im
        Insolvenzverfahren gleiches Recht für alle gelten muss
        und deshalb die Sozialkassen oder auch die Finanzämter
        eben nicht den frühen Zugriff durch eigen geschaffene
        Titel und auch dann noch in voller Höhe haben sollen
        zulasten der Insolvenzmasse . Wenn wir dieses Fiskuspri-
        vileg, wie etwa vom Finanzministerium gewünscht,
        eingeführt hätten, dann hätte dies viele Arbeitsplätze ge-
        fährdet, weil dann viele Insolvenzverfahren gar nicht erst
        eröffnet worden wären, mit der Folge, dass Unterneh-
        men, die eine Zukunftsperspektive gehabt hätten, nicht
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721912
        (A) (C)
        (B) (D)
        hätten saniert werden können, mit der Folge, dass dort
        die Jobs verloren gehen .
        Insofern ist das heute ein guter Tag für Arbeitneh-
        merinnen und Arbeitnehmer gleichermaßen wie für die
        Unternehmen . Es wird für Insolvenzverwalter einfacher
        werden, Unternehmen zu sanieren, mit der Folge, dass
        es bessere Chancen gibt, die Arbeitsplätze in insolventen
        Unternehmen zu erhalten . Darüber hinaus erhalten Ar-
        beitnehmer wie Unternehmer Rechtssicherheit dadurch,
        dass erhaltende Leistungen bei weitem nicht mehr so ein-
        fach angefochten werden können, wie dies in der Vergan-
        genheit der Fall war .
        Auch wenn wir lange diskutiert haben, dies ist ein gu-
        tes Gesetz, stimmen Sie deshalb diesem Gesetz zu, meine
        sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen .
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Im Jahr 2014 eska-
        lierte ein seit der Einführung der Insolvenzordnung im
        Jahr 1999 schon lange schwelender Streit unter Rechts-
        gelehrten zwischen dem Bundesarbeitsgericht und dem
        Bundesgerichtshof in Zivilsachen . Beide Gerichte hatten
        unabhängig darüber zu befinden, unter welchen Voraus-
        setzungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren
        Arbeitslohn im Falle der Insolvenz ihres Arbeitgebers
        behalten dürfen .
        Ja, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Sie haben rich-
        tig gehört . Leider dürfen Sie sich nicht darauf verlassen,
        dass Sie für Ihre Arbeit auch entlohnt werden, wenn
        erstmal der Kuckuck am Schreibtisch Ihres Chefs klebt .
        Wenn die Insolvenz eintritt, spielt es keine Rolle mehr,
        ob Sie sich für Ihren Chef und das Unternehmen Monate
        vorher von früh bis spät bis zum Burn-out abgerackert
        haben, um den Rubel am Rollen zu halten . Dann heißt
        es Pech gehabt – Geld zurück, hinten anstellen und mit
        Banken und anderen Geschäftspartnern um die wenigen
        guten Linsen im Töpfchen streiten .
        So profan formuliert es das Gesetz natürlich nicht .
        Salbungsvoll ist von Insolvenzanfechtung, kongruenter
        Deckung oder Bargeschäftsprivileg die Rede – ein Ge-
        setz, das für betroffene Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
        nehmer in etwa so verständlich ist wie die Einstein’sche
        Relativitätstheorie . Und über allem schwebt der Grund-
        satz der Gläubigergleichbehandlung vom Elfenbeinturm
        herunter . Ein Prinzip, das nicht zwischen den Starken
        und Schwachen differenziert, sondern einfach alle über
        den gleichen Kamm schert und daher wenig mit dem
        verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz und
        dem Sozialstaatsprinzip gemein hat .
        Das Bundesarbeitsgericht kennt die Sorgen und Nöte
        der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus der Praxis .
        Es entscheidet im Gegensatz zum Bundesgerichtshof mit
        Unterstützung von ehrenamtlichen Richtern aus den Rei-
        hen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber . Und das Bundes-
        arbeitsgericht hat sich 2012 – gegen die überwältigende
        Mehrheit der Stimmen in der juristischen Welt – dafür
        stark gemacht, Arbeitslohn im Falle der Insolvenz bes-
        ser als bisher zu schützen . Der Bundesgerichtshof hat die
        Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mit techno-
        kratischer Kälte in der Luft zerrissen und damit große
        Rechtsunsicherheit bei allen hinterlassen .
        Ende 2015 sind die Sorgen und Nöte der Arbeit-
        nehmerinnen und Arbeitnehmer endlich auch bei der
        Bundesregierung angekommen . Mit dem vorliegenden
        Gesetz hat man sich entschlossen, dem Bundesarbeits-
        gericht zu folgen. Ein langer Zeitraum der Hilflosigkeit,
        wenn man bedenkt, dass 9 von 10 Unternehmensinsol-
        venzen Klein- und Kleinstbetriebe betreffen, in denen die
        Wertschöpfung fast ausschließlich aus der Arbeitskraft
        von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern folgt .
        Dass es auch schneller gehen kann, hat die große Ko-
        alition erst kürzlich bei der Änderung der Insolvenzord-
        nung zum Schutz der Finanzindustrie beim sogenannten
        Liquidationsnetting gezeigt: Es dauerte nicht einmal ein
        halbes Jahr vom Problem zum verabschiedeten Gesetz .
        Wir begrüßen, dass das vorliegende Gesetz den Ar-
        beitslohn der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu-
        künftig endlich besser schützt als bisher . Dennoch müs-
        sen wir uns enthalten . Ihr Gesetz reicht eben nicht aus,
        den Arbeitslohn dem Zugriff des Insolvenzverwalters
        zu entziehen . Auch zukünftig gibt es Mittel und Wege,
        Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Lohn zu
        bringen .
        Für die Linke ist das nicht akzeptabel . Arbeitslohn
        darf niemals zur Disposition von Gläubigern und In-
        solvenzverwaltern stehen . Ohne das Engagement der
        Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gäbe es schlicht
        keine Unternehmen . Schützen Sie den Arbeitslohn und
        Arbeitnehmerinnen wie Arbeitnehmer bedingungslos vor
        Gläubigern, und Sie können auf unsere Unterstützung
        zählen .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was lange
        währt, wird endlich gut – oder zumindest deutlich besser .
        Nachdem ich es zwischenzeitlich schon nicht mehr für
        möglich gehalten habe, haben Sie diesem Gesetz durch
        Ihren im Ausschuss eingebrachten Änderungsantrag jetzt
        doch noch die entscheidende Wendung verpasst . Sie ha-
        ben die vom Finanzressort gewünschte Fiskusprivilegie-
        rung wieder gestrichen . Herzlichen Glückwunsch!
        Das war offenbar ein schwerer Kraftakt, bei dem sich
        die Rechtspolitik gegenüber dem Finanzressort durchset-
        zen musste . Im Referentenentwurf war ja ursprünglich
        vorgesehen, dass die Zwangsvollstreckung aus gericht-
        lichen Titeln nur noch beschränkt anfechtbar sein sollte .
        Das war eigentlich ein guter Vorschlag . Gläubiger, die
        nach langwierigen Prozessen endlich erfolgreich aus ei-
        nem Urteil vollstreckt haben, wären anschließend vor der
        Insolvenzanfechtung geschützt gewesen .
        Was dann aber im Regierungsentwurf drinstand, ging
        weit darüber hinaus: Nun sollten alle Arten von Zwangs-
        vollstreckungen im Rahmen der Anfechtung privilegiert
        werden: auch die der Finanzverwaltung und der Sozial-
        versicherungsträger . Der Haken an dieser Privilegierung:
        Diese Behörden können ihre vollstreckbaren Titel selbst
        erstellen und sind gar nicht auf ein Gerichtsverfahren an-
        gewiesen . So hätten Finanz- und Sozialversicherungsbe-
        hörden quasi direkten Zugriff auf das noch vorhandene
        Vermögen des Schuldners gehabt, was die Insolvenz-
        masse erheblich geschmälert hätte und letztlich zulasten
        aller anderen Gläubiger gegangen wäre . Der Gläubiger-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21913
        (A) (C)
        (B) (D)
        gleichbehandlungsgrundsatz im Insolvenzrecht wäre da-
        mit faktisch erledigt gewesen . Nach einhelliger Kritik in
        der öffentlichen Anhörung haben Sie das also mühsam
        wieder abräumen können .
        Allerdings haben Sie mit dem Änderungsantrag das
        Privileg jetzt wieder für alle Zwangsvollstreckungen ge-
        strichen – also auch die aus gerichtlichen Titeln . Schade
        eigentlich! Aber wenn es denn nicht anders möglich war,
        bleibt eben alles, wie es immer war – auf jeden Fall bes-
        ser als die Privilegierung des Fiskus .
        Andere Regelungen hatten wir schon in der ersten Le-
        sung begrüßt:
        Da ist zunächst einmal die Verkürzung der Anfech-
        tungsfrist von zehn auf vier Jahre ab Insolvenzantragstel-
        lung, wenn der Schuldner Sicherung oder Befriedigung
        gewährt hat . Das sorgt für Rechtssicherheit .
        Auch die Konkretisierung von Bargeschäften ist sinn-
        voll .
        Gerade in Bezug auf den Lohn von Arbeitnehmern ist
        die Neuregelung hilfreich . Der Lohn für die Arbeitsleis-
        tungen der letzten drei Monate soll vor der Anfechtung
        sicher sein . Das ist damit auch im Gesetz klargestellt .
        Nicht gelungen bleibt aber die Ausnahmeregelung .
        Danach soll der Schutz vor Anfechtung nicht gelten,
        wenn der Arbeitnehmer wusste, dass der Arbeitgeber
        „unlauter“ handelte. Was genau das sein soll, erschließt
        sich mir nach wie vor nicht . Hier wird die Rechtssicher-
        heit, die das Gesetz eigentlich bringt, gleich wieder kon-
        terkariert .
        Was mir wiederum zu weit geht, ist die gesetzliche
        Vermutung, dass jemand die Zahlungsunfähigkeit des
        Schuldners nicht kennt, wenn Ratenzahlung vereinbart
        wird . Bislang galt das Gegenteil: Bei jeder Ratenzahlung
        wurde unterstellt, dass der Gläubiger die Zahlungsun-
        fähigkeit kennt . Das ist sicherlich nicht zwingend . Das
        Gesetz geht aber nun den umgekehrten Weg, indem ge-
        rade bei Vereinbarung von Zahlungserleichterungen die
        Unkenntnis der Zahlungsunfähigkeit vermutet wird . Das
        ist auch nicht wirklich plausibel .
        Es hätte gereicht, wenn Sie sich hier an den vom Bun-
        desgerichtshof entwickelten Grundsätzen orientiert hät-
        ten, nach denen eine Zahlungsvereinbarung allein nicht
        die Kenntnis des Gläubigers begründet, sondern dass
        weitere Indikatoren dazukommen müssen – wie die Er-
        klärung des Schuldners, seine fälligen Verbindlichkeiten
        nicht begleichen zu können oder Ähnliches .
        Trotz dieser Kritikpunkte sehen wir ein berechtigtes
        Bedürfnis für diese Reform des Anfechtungsrechts und
        stimmen dem Gesetz in der nun vorliegenden Form zu .
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
        zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Petzold
        (Havelland), Sigrid Hupach, Nicole Gohlke, weite-
        rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
        Nachhaltige Bewahrung, Sicherung und Zugäng-
        lichkeit des deutschen Filmerbes gewährleisten
        (Tagesordnungspunkt 18)
        Dr. Astrid Freudenstein (CDU/CSU): Wir alle hier
        sind uns bewusst, dass die Bewahrung des Filmerbes eine
        riesige organisatorische und finanzielle Herausforderung
        für die drei Hauptakteure – Bund, Länder und Film-
        branche – ist . Wir alle sind uns eigentlich auch bewusst,
        dass der Bund die Aufgabe deshalb nicht alleine gestal-
        ten kann . Da können wir noch so viele Anträge hier be-
        schließen – wenn die anderen Akteure nicht mitmachen,
        wird das nichts . Die Linkspartei könnte ja beispielswei-
        se schon einmal dafür sorgen, dass das Land Thüringen
        sich einem gemeinsamen Konzept der Digitalisierung
        des Filmerbes nicht verschließt . Denn an einem solchen
        wird momentan gearbeitet . Das würde mehr helfen, als
        hier Absichtserklärungen abzugeben – unrealistische Ab-
        sichtserklärungen .
        Denn neben den grundsätzlichen Feststellungen im
        Antrag, denen zuzustimmen ist, entlarvt sich die Links-
        partei als filmpolitischer Messie. Sie will schlicht alle
        Filme ab 1895 sammeln und archivieren . Nur unter
        ferner liefen wird eine weitgefasste Priorisierung er-
        wähnt . Mit Blick auf die riesigen Filmbestände und die
        Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Mittel und
        Kapazitäten ist eine enge Priorisierung jedoch schlicht-
        weg eine absolute Notwendigkeit . Man wird entscheiden
        müssen, welche Filme archivwürdig sind – und welche
        eben nicht. Um eine solche Entscheidung zu treffen, sind
        neben dem filmwirtschaftlichen Auswertungsinteresse
        auch der kuratorische Bedarf aus filmhistorischer Sicht
        und die Notwendigkeit der konservatorischen Sicherung
        zu beachten . Natürlich wird nicht jeder mit einer solchen
        Entscheidung zufrieden sein . Das liegt in der Natur der
        Sache .
        Aber auch an anderen Stellen wird der Antrag der
        Linkspartei unrealistisch . Zwar beruft man sich auf das
        PwC-Gutachten und die darin enthaltenen Zahlen und
        Fakten . Auf der anderen Seite bezieht man jedoch so
        viele weitere Wünsche mit in den Antrag ein, dass die
        Berechnungen schlicht ihre Grundlage verlieren . Dies ist
        beispielsweise der Fall, wenn ganz am Rande gefordert
        wird, dass neben der Digitalisierung und Zugänglichma-
        chung des Filmerbes auch noch die Originale erhalten
        werden sollen . Hätte die Studie dies mit in ihre Ergebnis-
        se einbezogen, wäre sie noch auf ganz andere Ergebnisse
        gekommen .
        Ebenso wirklichkeitsfern ist die Idee, die öffent-
        lich-rechtlichen Rundfunkanbieter über eine Selbstver-
        pflichtung dazu zu bringen, regelmäßig Archivfilme in
        ihre Programme aufzunehmen .
        Einig bin ich dann wieder mit der Linkspartei bei der
        Feststellung, dass wir erst am Anfang einer dauerhaften
        Aufgabe stehen . Zu Beginn sind große Aufwendungen
        nötig, weil wir in den vergangenen 120 Jahren ja schon
        einiges angesammelt haben . Nach und nach sollte die
        Sicherung unseres Filmerbes dann jedoch zur Routine
        werden .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721914
        (A) (C)
        (B) (D)
        Dem Antrag kann man deshalb trotzdem nicht zustim-
        men . Er weist in die richtige Richtung, stellt aber illuso-
        rische Forderungen auf . Ich bin zuversichtlich, dass wir
        auch so in Kürze zu einer gemeinsamen Lösung mit Län-
        dern und Filmwirtschaft kommen .
        Johannes Selle (CDU/CSU): Seit nunmehr über
        hundert Jahren haben wir das bewegte Bild – den Film .
        Den französischen Brüdern Lumière, Filmpionieren
        der ersten Stunde, ist es zu verdanken, dass sie mit ihrer
        Erfindung des Kinematographen nicht nur die Filmtech-
        nik revolutionierten, sondern dem Kino zu seinem Na-
        men verhalfen .
        Bereits vor der ersten Filmvorführung der Brüder
        Lumière am 28 . Dezember 1895, in Paris, zeigten die
        deutschen Brüder Skladanowsky im Wintergartenpalais
        zu Berlin am 1 . November 1895 kurze Filme auf einem
        Überblendprojektor mit einer sogenannten Handkurbel-
        kamera . Diese Technik konnte sich in der Praxis nicht
        durchsetzen, da die Abfolge auf 24 Bilder in Folge be-
        schränkt war . Zweifelsohne zählen sie zu den Pionieren
        der weltweiten Filmgeschichte .
        Seiter erleben wir eine rasante Entwicklung der Film-
        technik bis hin zur heutigen Digitalisierung . Mit der
        Fortentwicklung der Technik haben sich auch die Film-
        gattungen gewandelt: von Stummfilmen zu animierten
        Filmen bis zu den 3D-Filmen .
        Filme sind Wirtschafts- und Kulturgut . Sie geben –
        seit es sie gibt – am eindrücklichsten die Entwicklung
        der Gesellschaft in ihren Facetten wieder . Mit dem Film
        lassen sich Menschen am leichtesten ansprechen . Filme
        sind Zeitzeugen unserer Geschichte, und sie tragen zu
        unserer kulturellen Identität bei . Sie sind bis heute Mas-
        senmedium im wahrsten Sinne des Wortes . All das sind
        Gründe, unser filmisches Erbe zu bewahren und zugäng-
        lich zu machen .
        Wir stellen uns der großen Verantwortung, der Jahr-
        hundertaufgabe, so wie sie zu Recht von Staatsministerin
        Monika Grütters bewertet wird . Insgesamt rund 4,3 Mil-
        lionen Minuten, das sind circa 170 000 Titel von Lang-
        und Kurzfilmen, umfasst der deutsche Bestand des filmi-
        schen Erbes . Leider, und dass muss man auch in diesem
        Zusammenhang sagen, sind uns bereits schon zu viele
        Filme verloren gegangen . Vor allem aus der Epoche des
        Stummfilms sind es rund 85 Prozent. An den Zahlen wird
        nicht nur erkennbar, was für eine gewaltige Aufgabe vor
        uns liegt, sondern welche Bedeutung der Film als Medi-
        um bereits im späten 19 . und überwiegend im 20 . Jahr-
        hundert einnahm .
        Einher geht dies mit der Frage nach der Archivierung
        des Trägermaterials . Das analoge Material zu sichern, ist
        mit großen technischen Herausforderungen verbunden .
        Der Zerfall der Materialen kann nicht aufgehalten, son-
        dern nur hinausgezögert werden . Davon hat der Leiter
        des Bundesarchivs, Michael Hollmann, uns in der Anhö-
        rung zum Filmerbe berichtet . Vor allem Filme, deren Trä-
        germaterial aus Nitrozellulose besteht, sind sehr aufwen-
        dig und kostenintensiv zu lagern . Die Filmrollen müssen
        in klimatisierten sowie feuer- und explosionsgeschützten
        Räumlichkeiten aufbewahrt werden .
        Grundsätzlich sind wir überfraktionell einig, das deut-
        sche Filmerbe zu bewahren und öffentlich verfügbar zu
        machen. Jedoch sind Unterschiede im Detail offenbar,
        wie der Antrag der Linksfraktion zeigt . Darüber hinaus
        gibt es eine Reihe von Punkten in dem Antrag, die wir
        nicht unterstützen können .
        Zum Ersten:
        Sie behaupten, die Bundesregierung habe keine Stra-
        tegie . Das ist schlichtweg falsch! Die Grundlage für die
        Digitalisierungsstrategie ist das PwC-Gutachten . Im
        Zeitraum von zehn Jahren sollen jeweils 10 Millionen
        Euro von Bund, Ländern und Filmwirtschaft zur Verfü-
        gung gestellt werden .
        Es gibt Kriterien, die festlegen, was digitalisiert wer-
        den soll . Gegenstand der Digitalisierungsstrategie sind
        grundsätzlich gattungs- und formübergreifende deut-
        sche Kinofilme, die auf analogem Material vorliegen.
        Die Kriterien für die Digitalisierung beruhen auf einem
        Dreisäulenmodell, bestehend aus: erstens dem filmwirt-
        schaftlichen Auswertungsinteresse, zweitens dem kura-
        torischen Bedarf (aus filmhistorischer Sicht), drittens der
        notwenigen konservatorischen Sicherung (wegen Mate-
        rialgefährdung) .
        Alle priorisierten und digitalisierten Filme sollen der
        Öffentlichkeit zugänglich sein. Daher sollen sie in einer
        Auflösung digitalisiert werden, die sämtliche Auswer-
        tungsarten ermöglicht .
        Nur noch wenige Kinos sind in der Lage, analoge Fil-
        me aus den Archiven vorzuführen . Staatlich zu subven-
        tionieren, dass Kinos veraltete Vorführtechnik pflegen,
        ergibt keinen Sinn .
        Zum Zweiten:
        Wir bezweifeln die Aussage, dass die Linksfraktion
        in den letzten beiden Wahlperioden als einzige Fraktion
        konkrete Finanzierungsvorschläge für die Sicherung des
        Filmerbes gemacht hat .
        Im Gegengenteil: Sie fordern die Bundesregierung
        auf, 30 Millionen Euro jährlich zu fördern, ohne hierzu
        belastbare Vorschläge zu machen, wie die Summe zu fi-
        nanzieren wäre . Tatschälich ist es schwer genug, 10 Mil-
        lionen Euro jährlich zusammenzubringen, die Bund,
        Länder und Filmwirtschaft gemeinsam schultern .
        Wir befinden uns in einem Spannungsverhältnis zwi-
        schen filmaffinen und nicht filmaffinen Ländern. Zu unse-
        rem Bedauern wurden die Länder bisher nicht einig und
        damit ihrer Verantwortung für die Kultur nicht gerecht .
        Die Bundesregierung und wir als Koalitionsparteien
        sind weiterhin in intensiven Gesprächen und guter Din-
        ge, dass wir noch in dieser Legislaturperiode einen Wurf
        mit den Ländern schaffen werden. Denn das deutsche
        Filmerbe endet nicht an den jeweiligen Landesgrenzen,
        sondern betrifft die gesamte Bundesrepublik sowie die
        deutsche Filmwirtschaft .
        Der Bund hat im Kulturetat wie auch die Filmförde-
        rungsanstalt seit 2012 jährlich 1 Million Euro in die Digi-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21915
        (A) (C)
        (B) (D)
        talisierung investiert . In diesem Jahr steigt der BKM-An-
        teil um eine weitere Million Euro . Des Weiteren haben
        wir Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von je 3 Mil-
        lionen Euro für die Jahre 2018 und 2019 hinterlegt . Im
        gleichen Zug hat auch die FFA ihren Anteil auf 2 Mil-
        lionen Euro angehoben . Es liegt nun bei den Ländern,
        nachzuziehen . Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich
        dafür werben .
        Darüber hinaus hat die Unionsfraktion bereits 2008
        und 2010 Anträge zur Sicherung des Filmerbes in den
        Bundestag eingebracht .
        Unserer Fraktion geht es darum, das Kulturgut Film
        dauerhaft zu sichern und zugänglich zu machen . Ihr An-
        trag, so verstehe ich das, möchte alles archivieren, was je
        auf Film gebannt wurde . Wenn Sie das umsetzen wollen,
        kann ich Ihnen sagen, dass auch die 30 Millionen Euro
        jährlich nicht ausreichen werden .
        Und Drittens:
        Sie fordern die Subventionierung für die noch exis-
        tierenden Filmkopierwerke . Dann gehört konsequen-
        terweise die Forderung dazu, die Filmmaterialhersteller
        mit Steuergeld zu erhalten und entsprechendes Personal
        auszubilden . Das ist leider so nicht möglich, und diese
        Tatsachen erkennen sie nicht an .
        Und Zuletzt:
        Sie machen in Ihrem Antrag eine Vielzahl von Forde-
        rungen auf, die die Bundesregierung bereits umgesetzt
        hat .
        Der Aufbau des Bestandskatalogs wurde von der Bun-
        desregierung in Höhe von 400 000 Euro gefördert . Die
        Bestände der Deutschen Kinemathek und des Deutschen
        Filminstituts wurden erfolgreich zusammengeführt . Die
        Ergebnisse sind im Filmportal eingestellt und bereits öf-
        fentlich unter filmportal.de . Als Nächstes werden die Be-
        stände des Bundesarchivs folgen . Die Zusammenführung
        dieser beiden großen Filmbestände ist nun in der finalen
        Phase . Rainer Rother vom Kinematheksverbund sowie
        Michael Hollmann vom Bundesarchiv haben dies auch
        in der Anhörung im Ausschuss bestätigt .
        Im neuen Filmfördergesetz, das seit 1 . Januar 2017 in
        Kraft ist, haben wir im § 49 für die Filmwirtschaft einen
        rechtlichen Rahmen geschaffen. Hersteller und Verlei-
        her sind verpflichtet, einen nach dem FFG geförderten
        Film, eine technisch einwandfreie analoge oder unkom-
        primierte digtale Kopie des Films in einem archivfähi-
        gen Format unentgeltlich dem Bundesarchiv zu überge-
        ben. Darüber hinaus sind die Hersteller verpflichtet, eine
        Registrierung beim Bundesarchiv vorzunehmen . Diese
        Pflichtregistrierung haben wir bereits im Zuge der No-
        vellierung des Bundesarchivgesetzes 2013 ins Gesetz
        geschrieben . Dadurch haben wir einen Überblick über
        den Gesamtumfang der jährlichen Filmproduktion in
        Deutschland gewonnen . Der ist vorher nicht vollständig
        bekannt gewesen .
        Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass wir zügig mit
        der Umsetzung der Digitalisierungsstrategie des Film-
        erbes vorankommen . Hierzu müssen weitere Strukturen
        geschaffen werden. Wir brauchen auf der einen Seite das
        technische Know-how, und auf der anderen Seite müssen
        wir das Bundesarchiv und die Deutsche Kinemathek per-
        sonell stärken . Diesen Institutionen wird bei der Digita-
        lisierung des Filmerbes eine wichtige Rolle zugewiesen .
        Uns muss klar sein, dass die Zugänglichkeit des deut-
        schen filmischen Erbes nur digital erfolgen kann.
        Jedoch sind wir noch in der Diskussion, ob und wie
        wir in der Zukunft die Originalfilmträger weiter erhal-
        ten können . Auch in der Anhörung zum Filmerbe haben
        uns die Fachleute auf diese Problematik aufmerksam ge-
        macht . Hierzu werden weitere Gespräche geführt .
        Aus den bereits genannten Gründen, werden wir dem
        vorliegenden Antrag nicht zu stimmen .
        Burkhard Blienert (SPD): In diesen Tagen können
        wir wieder erleben, wie die Berlinale mit ihren zahlrei-
        chen Filmreihen das filmische Fenster in die Welt öffnet.
        Eine großartige Gelegenheit, in die unermessliche Viel-
        falt des Filmschaffens ganz unterschiedlichen kulturellen
        Ursprungs einzutauchen .
        Eine besondere Reihe, die „Retrospektive“ – maß-
        geblich unterstützt von der Deutschen Kinemathek –,
        gewährt darüber hinaus einen spannenden Einblick in
        Filmwerke, die zum filmischen Erbe ausgewählter Län-
        der gehören . In diesem Jahr geht es um das spannende
        Thema „Science-Fiction“.
        Zusammen mit den „Berlinale Classics“ führt uns die
        „Retrospektive“ die kulturelle Bedeutung des alten Film-
        bestands plastisch vor Augen . Indem das Zeitgenössische
        in einen filmhistorischen Zusammenhang gestellt wird,
        wird Filmgeschichte überhaupt erst erfahrbar .
        Das filmische Erbe ist nicht nur Teil einer lebendigen
        Filmkultur, es ist zugleich Ausdruck kulturellen Reich-
        tums und kultureller Vielfalt . Über die künstlerische Be-
        deutung hinaus bieten Filme mit der Lebendigkeit ihrer
        bewegten Bilder ganz eigene Zugänge zu Zeitgeschichte
        und Kultur . Sie veranschaulichen Zeitumstände, histori-
        sche Situationen und gesellschaftliche Vorstellungen der
        verschiedenen Epochen . Damit sind sie Zeitzeugen und
        lebendiges Gedächtnis zugleich . Als solche sind sie un-
        verzichtbarer Bestandteil unseres kulturellen Erbes über-
        haupt .
        Hieraus leitet sich unsere Verantwortung für den Er-
        halt und die Verbreitung des überlieferten Filmbestands
        ab .
        Die dringlichsten Herausforderungen bestehen darin,
        Filme vor dem chemischen Verfall zu retten, und darin,
        die analogen Filmrollen zu digitalisieren, um sie in Zei-
        ten digitalisierter Kinos und allgegenwärtiger Internet-
        nutzung überhaupt sichtbar machen zu können .
        Ich freue mich, dass sich darin alle Fraktionen einig
        sind . Insofern begrüße ich auch den vorliegenden Antrag
        der Linkenfraktion .
        Die Experten haben uns in der Ausschussanhörung
        bestätigt, dass es zusätzlichen Handlungsdruck gibt:
        Ohne Digitalisierungsoffensive drohen die erforderlichen
        Kompetenzen für analoge und digitale Filmbearbeitung
        http://www.filmportal.de
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721916
        (A) (C)
        (B) (D)
        und die entsprechende Infrastruktur bei uns verloren zu
        gehen. Denn ohne Nachfrage können die filmtechnischen
        Betriebe und Dienstleister die entsprechenden personel-
        len und technischen Kapazitäten nicht vorhalten . Mit der
        Folge, dass die Digitalisierung an Unternehmen im Aus-
        land vergeben werden müsste .
        Vor diesem Hintergrund bin ich froh, dass wir nach
        einem langen Vorlauf jetzt endlich die letzten Hinder-
        nisse, die einer Digitalisierungsoffensive bisher im Weg
        gestanden haben, wegräumen können . Ich bin sehr zuver-
        sichtlich, dass das noch vor Abschluss der Wahlperiode
        gelingt .
        Im Koalitionsvertrag hatten wir verabredet, eine Digi-
        talisierungsförderung von Bund, Ländern und Filmwirt-
        schaft auf der Grundlage eines gemeinsamen Konzepts
        auf die Beine zu stellen .
        Gemeinsame Verantwortung erfordert gemeinsame
        Umsetzung und gemeinsame Finanzierung .
        Der Bund, die Branche, aber auch einzelne Länder wie
        Berlin sind hier bereits vorangegangen . Für das laufende
        Jahr hat der Bundestag die Mittel für die Digitalisierung
        des Filmerbes auf 2 Millionen Euro verdoppelt . Darüber
        hinaus haben wir Verpflichtungsermächtigungen für die
        Folgejahre in Höhe von jeweils 3 Millionen Euro be-
        schlossen .
        Auch die Filmwirtschaft zeigt Verantwortung . Über
        den Haushalt der Filmförderungsanstalt stellt sie seit die-
        sem Jahr ebenfalls 2 Millionen Euro bereit und will wei-
        ter aufstocken, wenn sich auch die Länder entsprechend
        einbringen .
        Der Bund hat sich mit den beteiligten Ländervertre-
        tern inzwischen über das Digitalisierungskonzept ver-
        ständigt . Wir haben geklärt, was wir digitalisieren, wie
        wir es digitalisieren, und wir haben Eckpunkte für die
        Förderung formuliert . Grundsätzlich einig ist man sich
        auch, dass Bund, Länder und Branche zu gleichen Teilen
        finanzieren.
        Jetzt warten wir nur noch darauf, dass sich die Länder
        untereinander verabreden, wie sie ihren Finanzierungs-
        anteil aufbringen . Auch hier vernehme ich ermutigende
        Signale .
        Bei der Erarbeitung der Digitalisierungsstrategie sind
        wir strikt danach verfahren, was machbar und was am
        dringlichsten ist . Und wir haben uns an den Empfehlun-
        gen der PwC-Studie zur „Ermittlung des Finanzbedarfs
        zum Erhalt des filmischen Erbes“ orientiert: Wir wollen
        gemeinsam 10 Millionen Euro aufbringen und das zu-
        nächst zehn Jahre lang .
        Demgegenüber formuliert der Antrag der Linkenfrak-
        tion Forderungen, die alle Beteiligten finanziell überfor-
        dern, sodass am Ende wieder gar nichts passieren würde .
        Die Sache möglichst schnell und pragmatisch anzuge-
        hen, das war auch der einhellige Appell der Sachverstän-
        digen in der Anhörung im Ausschuss – und daran wollen
        wir uns halten .
        Dass wir mit dem Digitalisierungskonzept nicht alle
        Herausforderungen, die mit unserem Filmerbe verbunden
        sind, beantworten, darüber bin ich mir im Klaren . Noch
        zu klären sind so wichtige Fragen wie die Langzeitsiche-
        rung der Digitalisate und des analogen Ausgangsmateri-
        als, aber auch der originär digitalen Produktionen, wie
        sie seit etwa 2010 die Regel sind. Offen sind vor allem
        die Punkte Haltbarkeit und Lagerkapazitäten .
        Natürlich steht auch hierbei über allem die Frage der
        Finanzierbarkeit . Es wird darauf hinauslaufen, dass wir
        auch hier zunächst selektiv und nach Prioritäten vorge-
        hen müssen .
        Entscheidend ist es nun aber, dass wir mit der Digi-
        talisierungsoffensive den ersten großen Schritt machen.
        Lassen Sie mich an dieser Stelle auch einen nach-
        drücklichen Appell an die öffentlich-rechtlichen Sender
        richten . Auch sie tragen als Produzenten, Rechteinha-
        ber und Verwerter eine Verantwortung für das filmische
        Erbe . Ich möchte daran erinnern, dass auch der Rund-
        funkstaatsvertrag darauf Bezug nimmt .
        Diese Verantwortung konkretisiert sich in der Vermitt-
        lung unseres Filmerbes im Rahmen des Bildungs- und
        Kulturauftrags der Rundfunkveranstalter . Deshalb sollte
        die Aufnahme von Werken aus unserem Filmerbe – über
        angekaufte Lizenzen – wieder zum festen Bestandteil der
        Programmgestaltung gehören .
        Ich komme zum Schluss . Der vorliegende Antrag ist
        in seinem Grundanliegen unstrittig . Allerdings schießt er
        insbesondere bei seinen finanziellen Forderungen weit
        über das Machbare hinaus . In anderen Punkten hat er
        sich inzwischen erledigt . Deshalb kann meine Fraktion
        nur ablehnen .
        Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Berlina-
        le-Zeit ist jedes Jahr nicht nur die Zeit des berühmten
        Roten Teppichs, der Stars und der Sternchen . Sie ist auch
        die Zeit der Verteilung nachträglicher oder vorgezoge-
        ner „Weihnachtsgeschenke“ durch die Politik – so hat
        sich Frau Kulturstaatsministerin Grütters für zusätzliche
        25 Millionen Euro Filmförderung feiern lassen; Geld,
        das durch die Bundesregierung am Haushaltsgesetzgeber
        vorbei beschlossen wurde; Geld, das „einen zusätzlichen
        Anreiz für internationale Aufträge an deutsche Produk-
        tionsdienstleister schaffen und die deutschen Standorte
        wettbewerbsfähig halten“ soll, so heißt es in der entspre-
        chenden Erklärung der Kulturstaatsministerin – also nicht
        etwa Geld für faire Entlohnung der Filmschaffenden, für
        mehr Filme von Frauen oder mehr Genrevielfalt – die
        (angeblichen) Schwerpunkte des erst kürzlich beschlos-
        senen neuen Filmförderungsgesetzes . Und schon gar
        nicht Geld zur dringend notwendigen Bewahrung, Siche-
        rung und Zugänglichmachung des deutschen Filmerbes .
        Aber ich will nicht den Eindruck erwecken, immer
        nur zu meckern und zu kritisieren . Der Fairness halber
        sei hiermit festgestellt, dass der Filmförderungs-Fonds
        DFFF erstmals 75 Millionen Euro enthalten und damit
        um 5 Millionen Euro höher sein wird als die von der
        Linken seit Jahren geforderten mindestens 70 Millionen
        Euro . Damit haben Sie uns, Frau Grütters, erstmals in der
        Höhe der Ausstattung des Filmförderungsfonds in dieser
        Wahlperiode übertroffen. Herzlichen Glückwunsch.
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21917
        (A) (C)
        (B) (D)
        Trotzdem kann ich Ihnen leider den Rest meiner Rede,
        der viel Kritik enthalten wird, nicht ersparen . Denn: Ber-
        linale-Zeit ist auch jedes Jahr Zeit, um Filme zu präsen-
        tieren, die zum Filmerbe und damit zum cineastischen,
        kulturellen und künstlerischen Gedächtnis unseres Lan-
        des gehören . Ein beispielloser Schatz künstlerischen und
        kreativen Schaffens. Ein integraler Bestandteil unseres
        Kulturkanons . Und so wurde im Rahmen der „Berlina-
        le Special“ eine restaurierte Fassung der fünfteiligen,
        1972 vom WDR produzierten Familienserie „Acht Stun-
        den sind kein Tag“ von Rainer Werner Fassbinder welt-
        uraufgeführt . Erstmals war seinerzeit eine alternative
        Produktion zum „Heile-Welt-Fernsehen“ entstanden, die
        im Arbeitermilieu angesiedelt war, sozialpolitische und
        ökonomische Aufklärung mit Alltagsgeschichten voll
        Spannung und Unterhaltungswert verband – wie es im
        Presseheft des Films heißt . „Fassbinder rückte Diskus-
        sionen über Mitbestimmung und Solidarität am Arbeits-
        platz, hohe Mieten, antiautoritäre Erziehung und vieles
        mehr in den Mittelpunkt.“ Ein Film also über und für die
        „kleinen Leute“, die Beitragszahlerinnen und -zahler des
        öffentlich-rechtlichen Fernsehens im besten Sinne. Ein-
        schaltquoten von circa 60 Prozent je Folge – „allein bei
        der ersten Folge gab es fünfundzwanzig Millionen Zu-
        schauer, Ostdeutsche nicht mit eingerechnet“ – dürften
        heutigen Produzenten wie ein Märchen traumhaft vor-
        kommen .
        Die erhalten gebliebenen 16-mm-Umkehrpositiv-Ori-
        ginale mussten – um den Film überhaupt wieder auffüh-
        ren zu können – werkgetreu in 2K-Auflösung digitalisiert
        und restauriert werden, denn die Farben des Original-Ma-
        terials waren trotz vorbildlicher Lagerung im WDR-Ar-
        chiv inzwischen an einigen Stellen ausgeblichen . Ebenso
        musste der Ton, der auf 16-mm-Original-Mischtonbän-
        dern vorlag, aber auch an einigen Stellen beschädigt
        war, restauriert und von einer früheren Überspielung auf
        DA88 ersetzt werden . „Deutliche Knackser und Störge-
        räusche, die durch die Lagerung entstanden, wurden re-
        duziert und die Originalmischung szenenweise behutsam
        in der Klangfarbe und Dynamik an die heutigen Hörge-
        wohnheiten angepasst.“
        478 Minuten Film entstanden so de facto neu . Zu-
        sätzlich zu den dadurch entstehenden Kosten mussten
        für jeden einzelnen Bestandteil des Films, der ja für
        das Fernsehen produziert worden war und nun auch für
        Kinoaufführungen zur Verfügung stehen soll, die Urhe-
        berrechte neu geklärt und einzeln erworben werden . Ich
        schildere das deshalb so ausführlich, weil viele Menschen
        glauben, Digitalisierung bedeute einfach: Filmrolle ein-
        legen, Kopier-Taste drücken, fertig! Aber so einfach ist
        die Bewahrung, Sicherung, Digitalisierung und Zugäng-
        lichmachung des Filmerbes nicht einmal ansatzweise .
        Insgesamt entstand für „Acht Stunden sind kein Tag“
        ein Finanzbedarf im oberen sechsstelligen Euro-Bereich .
        Förderung durch die Filmförderungsanstalt – also öf-
        fentliche Förderung – hat die Rainer-Werner-Fassbin-
        der-Foundation lediglich in Höhe von 15 000 Euro pro
        Filmfolge erhalten – also insgesamt 75 000 Euro . Gerade
        einmal circa 10 Prozent des Gesamtbudgets . Der Rest der
        benötigten Finanzmittel musste über weitere Stiftungen,
        private Geldgeber und das MoMA New York besorgt
        werden sowie durch die Vorabverpfändung erhoffter Ver-
        wertungs-Einnahmen .
        Politik, die so mit dem Filmerbe umgeht, versündigt
        sich an ihm .
        Deshalb ist der aktuelle Umgang dieser Bundesregie-
        rung mit dem Filmerbe dieses Landes nicht zu akzeptie-
        ren .
        Und deshalb begeht die Große Koalition einen schwe-
        ren kulturpolitischen Frevel und politischen Fehler, unse-
        ren Antrag heute hier einfach nur abzulehnen, noch dazu,
        ohne die Spur eines eigenen Vorschlags für die Zukunft
        vorzulegen .
        Nun höre ich natürlich als aktiver Berlinale-Besucher,
        dass angeblich Durchbrüche zwischen der Kulturstaats-
        ministerin, den Ländern und der Filmwirtschaft erreicht
        worden wären, was die Sicherung des Filmerbes und sei-
        ne Zugänglichmachung betrifft. Und, wie gesagt, Berli-
        nale-Zeit ist ja jedes Jahr auch die Zeit der Versprechen
        und nachträglichen oder vorgezogenen Weihnachtsge-
        schenke der Politik . Und die klingen in diesem Fall so:
        Vielleicht könnten ab 2018 jährlich wenigstens 10 Mil-
        lionen Euro für die Sicherung und Zugänglichmachung
        des Filmerbes zur Verfügung stehen . Vielleicht könnte es
        endlich eine Digitalisierungsstrategie für das Filmerbe
        geben . Vielleicht könnten endlich Schwerpunkte gesetzt
        werden – die damit befassten Experten und Akteure ste-
        hen ja seit Jahren in den Startlöchern .
        Allein: Es sind bisher nur Gerüchte . Zu viele „Viel-
        leichts“. Verbindliche Zusagen: bisher Fehlanzeige.
        Deshalb bleibt Die Linke bei ihrer Forderung: Wir for-
        dern Bund, Länder und Filmwirtschaft dazu auf, in den
        nächsten 10 Jahre jährlich 30 Millionen Euro für die Be-
        wahrung, Sicherung/Digitalisierung und Zugänglichma-
        chung des Filmerbes bereitzustellen . Dies soll im Sinne
        einer Doppelstrategie erfolgen: Analoges Material sollte
        mit Hilfe der Verwendung neuester Restaurationsver-
        fahren so gut es geht erhalten werden, bei gleichzeitiger
        schrittweiser Digitalisierung des Gesamtbestandes zur
        vollen Zugänglichmachung . Dazu müssen natürlich die
        analogen Kopierwerke erhalten bleiben . Es kann nach
        Stand der Technik gegenwärtig davon ausgegangen wer-
        den, dass bei einer analogen Bewahrung vorhandenen
        Filmmaterials dieses Material für weitere circa 500 Jahre
        erhalten werden kann .
        Und ein zweiter Vorteil, wenn Sie den Vorschlägen der
        Linken folgen würden: Möglicherweise brauchen wir als
        öffentliche Hand dabei auch nicht auf 10 Jahre den Bä-
        renanteil tragen, wenn der Fonds so angelegt wird, dass
        er sich langfristig in einen revolvierenden Fonds verwan-
        delt, indem aus künftigen Verwertungen auch Fördermit-
        tel zurückerstattet werden können . Wir fordern ein Kon-
        zept zur Sicherung und Digitalisierung des Filmerbes .
        Und wir fordern eine pro-aktive Verwertungsoffensive
        für das Filmerbe – von den Öffentlich-Rechtlichen über
        die Kinos, über Festivals, über Spezialveranstaltungsrei-
        hen bis hin zur Medienbildung usw . usf .
        Es ist gut und richtig, wenn die BKM, wenn Monika
        Grütters den Kinofilm als „ein unersetzliches Gedächtnis
        aller Facetten unserer Kultur und Geschichte“ bezeich-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721918
        (A) (C)
        (B) (D)
        net . Aber Sonntagsreden nützen dem Filmerbe nichts . Ta-
        ten sind endlich gefragt! Die Linke steht für Taten bereit .
        Und sie dankt all denjenigen, die sich in den vergangenen
        Jahren für die Bewahrung, Sicherung und Zugänglich-
        machung des Filmerbes eingesetzt haben .
        Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Was
        das Filmerbe betrifft, erreichen uns seit geraumer Zeit
        Hilferufe der Fachleute . Und auch bei der Anhörung im
        Ausschuss konnten wir es wieder hören: An jedem Tag,
        an dem wir nichts unternehmen, um Filmmaterial zu di-
        gitalisieren oder auch in analoger Form zu bewahren,
        geht uns deutsches Filmerbe aufgrund der fortschreiten-
        den chemischen Zersetzungsprozesse unwiederbringlich
        verloren .
        Aber das Filmerbe-Thema scheint der Koalition nicht
        mehr als nur ein paar warme Worte wert zu sein . Was es
        hier braucht, ist ernstgemeintes Engagement, und zwar
        in finanzieller Form. Dass das prinzipiell geht, hat Frau
        Grütters ja vergangene Woche schön beim Deutschen
        Filmförderfonds gezeigt: Wenn ihr etwas wichtig ist,
        dann findet sich auch Geld dafür. Pünktlich im Wahljahr
        hat sie für den DFFF 25 Millionen Euro hervorgezaubert .
        Bei den Haushaltsverhandlungen wurden für die Digi-
        talisierung des Filmerbes aber gerade mal 2 Millionen
        Euro eingestellt . Und das reicht absolut nicht aus .
        Jetzt könnte man sagen: Ach hätten wir nur eine un-
        abhängige Untersuchung, die uns sagt, wie viel Geld für
        die Digitalisierung des Filmerbes nötig wäre! – Da habe
        ich gute Neuigkeiten für Sie: Die FFA hat hierfür bereits
        2015 PricewaterhouseCoopers mit einer Studie beauf-
        tragt . Und diese kommt zu dem Schluss, dass eine Sum-
        me von 10 Millionen Euro pro Jahr über einen Zeitraum
        von zehn Jahren sachgerecht wäre . Hierbei ist bereits ein-
        gerechnet, dass man aus dem Gesamtbestand auswählen
        und priorisieren muss: Was will man unbedingt behalten,
        was nicht? Ich finde es schade, dass Frau Grütters die
        Ergebnisse dieser Studie nicht nutzt, um stärker bei den
        Ländern für eine finanzielle Einigung zu werben.
        Dabei sind Klassiker der Filmgeschichte nicht nur et-
        was für Fachnerds . In der diesjährigen Berlinale-Sektion
        werden restaurierte Science-Fiction-Filme neu aufge-
        führt, die vielleicht so mancher von Ihnen noch im Kino
        gesehen hat . Viele Filme wie Die Feuerzangenbowle
        oder die DEFA-Märchenfilme sind noch heute zeitlose
        Klassiker, die Groß und Klein begeistern . Deutschland
        ist ein Land mit einer international bedeutsamen Filmge-
        schichte . Gerade wir sollten dieses Erbe bewahren!
        Aus diesem Grund finden wir auch zahlreiche der For-
        derungen aus dem Antrag der Linke sinnvoll . Allerdings
        plädieren wir dafür, bei den finanziellen Forderungen ein
        bisschen auf dem Teppich zu bleiben . Wenn wir uns an
        den Zahlen der Studie von PwC orientieren würden, wäre
        der Sache aus unserer Sicht schon sehr geholfen . Aber
        wir sehen auch die Bundesregierung in der Pflicht, end-
        lich ihr Versprechen einer Digitalisierungsstrategie ein-
        zulösen und sich bei den finanziellen Fragen nicht weiter
        hinter der Behauptung zu verstecken, man habe sich noch
        nicht mit den Ländern und der Filmwirtschaft darüber
        einigen können, wer wie viel in den Erhalt des Filmer-
        bes steckt . Während Sie das Thema vor sich herschie-
        ben, zerfällt jeden Augenblick Filmmaterial und damit
        ein Teil der deutschen Kulturgeschichte . Die 2 Millionen
        Euro, die Sie dieses Jahr für die Digitalisierung des Film-
        erbes vorgesehen haben, sind angesichts dieser dramati-
        schen Situation wirklich einfach nur beschämend!
        Würden Sie dem Thema nur ein klein wenig mehr Be-
        deutung beimessen, könnten im Kopierwerk in Hoppe-
        garten die Personalstellen erhalten werden, die für den
        Erhalt analogen Filmmaterials zuständig sind . Wir könn-
        ten Filme digitalisieren und der Öffentlichkeit wieder zu-
        gänglich machen .
        Frau Grütters, beim DFFF haben Sie gezeigt, dass Sie
        für Überraschungen gut sind . Jetzt überraschen Sie uns
        doch bitte mal damit, dass Sie die Hilferufe in Sachen
        Filmerbe erhören und hier endlich den dringend benötig-
        ten finanziellen Rettungsring auswerfen.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-
        setzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
        Europäischen Union zur Arbeitsmigration (Tages-
        ordnungspunkt 13)
        Andrea Lindholz (CDU/CSU): Mit dem vorlie-
        genden Gesetzentwurf erfüllt die Bundesregierung
        ihre europarechtliche Pflicht, drei EU-Richtlinien zur
        Arbeitsmigration umzusetzen . Konkret sollen die Sai-
        sonarbeitnehmerrichtlinie, die ICT-Richtlinie und die
        REST-Richtlinie im deutschen Aufenthaltsrecht umge-
        setzt werden .
        Zentrales Ziel der drei Richtlinien ist es, dass Men-
        schen, die keine EU-Bürger sind, unbürokratischer in der
        EU arbeiten, forschen und studieren können . Insbeson-
        dere soll mit der Aufenthaltserlaubnis für einen EU-Staat
        auch ein Arbeits- oder Forschungsaufenthalt in einem
        anderen EU-Staat erlaubt werden .
        Die Saisonarbeitnehmerrichtlinie ermöglicht es Un-
        ternehmen, kurzfristigen Arbeitskräftebedarf auch mit
        Nicht-EU-Bürgern zu decken . Vor allem in der Landwirt-
        schaft, der Gastronomie und der Bauindustrie werden seit
        Jahren zusätzliche saisonale Arbeitskräfte gebraucht . Die
        Neuregelung ermöglicht Drittstaatlern Kurzaufenthalte
        bis zu 90 Tage oder längere Aufenthalte bis zu 6 Mona-
        te, um in Deutschland vorübergehend zu arbeiten . Dafür
        müssen die Saisonarbeiter einen gültigen Arbeitsvertrag
        und eine bezahlbare Unterkunft nachweisen . Um Aus-
        beutung zu verhindern, wurden die Schutzstandards und
        die Rechte der Saisonarbeitnehmer verbessert .
        Die ICT-Richtlinie regelt unternehmensinterne Trans-
        fers von Drittstaatlern innerhalb der EU . Bereits nach
        geltendem deutschem Recht haben Ausländer die Mög-
        lichkeit, im Rahmen eines Personalaustauschs innerhalb
        eines internationalen Unternehmens nach Deutschland
        einzureisen und hier zu arbeiten . Das Gleiche gilt für aus-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21919
        (A) (C)
        (B) (D)
        ländische Führungskräfte, für leitende Angestellte und
        für Spezialisten . Mit dem Gesetzentwurf werden die ver-
        schiedenen Möglichkeiten vereinheitlicht . Zudem wird
        die Möglichkeit geschaffen, auf der Basis eines Aufent-
        haltstitels eines EU-Staates unternehmensintern in ei-
        nen anderen EU-Staat zu wechseln, um zum Beispiel in
        Deutschland zu arbeiten . Das stärkt die Attraktivität der
        EU für Unternehmen und somit auch den Wirtschafts-
        standort Deutschland .
        Die REST-Richtlinie regelt die Einreise und den Auf-
        enthalt von Forschern, Studenten und Praktikanten aus
        Drittländern . Künftig soll ein indischer Forscher, der ein
        Forschungsvisum nur für Frankreich hat, unkompliziert
        auch in Deutschland forschen dürfen . Ein chilenischer
        Student mit Visum für Spanien soll die Möglichkeit be-
        kommen, auch ein Semester in Deutschland zu absol-
        vieren und umgekehrt . Gerade in Wissenschaft und For-
        schung ist ein unkomplizierter internationaler Austausch
        eine wichtige Triebfeder für den Fortschritt .
        Die Bundesregierung verzichtet zu Recht darauf, die
        optionalen Vorschriften für Schüler, Au Pairs und Teil-
        nehmer an nationalen Freiwilligendiensten umzusetzen .
        Hierzu besteht weder materieller Rechtsänderungsbedarf
        noch sollten wir das Aufenthaltsgesetz, die Aufenthalts-
        verordnung und die Beschäftigungsverordnung noch
        weiter aufblähen .
        Die drei EU-Richtlinien sind in der Sache sinnvoll,
        insbesondere im Hinblick auf den Brexit . Britische
        EU-Bürger werden durch den Austritt aller Voraussicht
        nach zu Drittstaatsangehörigen . Angesichts der tiefen
        Verflechtung der britischen mit der kontinentaleuro-
        päischen Wirtschaft wird uns der aufenthaltsrechtli-
        che Status britischer Staatsbürger in der EU noch eini-
        ge Zeit beschäftigen . Jede Regelung aufseiten der EU,
        die es Drittstaatsangehörigen erleichtert, zwischen den
        EU-Staaten zu wechseln, ist aus Sicht von Bildung, For-
        schung und Wirtschaft in Europa zu begrüßen .
        Die EU-Freizügigkeit ist zweifellos eine gute Ant-
        wort auf die Herausforderungen der Globalisierung .
        Menschen, Universitäten und Unternehmen können in
        der EU grenzüberschreitend lernen, lehren, forschen und
        arbeiten . Allerdings muss die Freizügigkeit in Europa
        vernünftig geregelt werden. Negative Nebeneffekte der
        Freizügigkeit, wie grenzüberschreitende Kriminalität,
        Armutsmigration oder unkontrollierte Asylmigration,
        müssen wirksam unterbunden werden . Dafür braucht
        es mehr Zusammenarbeit und verbindliche Regeln in
        Europa, aber auch mehr Handlungsspielraum für die
        Nationalstaaten . Ein Beispiel ist die jahrelange Debatte
        über das Kindergeld für EU-Bürger, deren Kinder nicht
        in Deutschland leben . Die EU ist keine Sozialunion . Die
        Mitgliedstaaten haben ein Recht, ihre Sozialkassen zu
        schützen .
        Migration in Europa muss nicht nur effektiv kontrol-
        liert und gesteuert, sondern auch verständlich geregelt
        werden, um den grenzfreien Schengen-Raum dauerhaft
        zu erhalten . In Deutschland wird oft beklagt, unser Zu-
        wanderungsrecht sei zu unübersichtlich . Das mag sein .
        Diese Unübersichtlichkeit ist aber auch den komplexen
        EU-Vorgaben geschuldet und weniger dem deutschen
        Gesetzgeber . Die Umsetzung dieser drei Richtlinien wird
        das deutsche Aufenthaltsgesetz noch unübersichtlicher
        machen .
        Wer also ein neues Einwanderungsgesetz und einfache
        Regeln fordert, der sollte sich die komplexen EU-Vorga-
        ben ansehen, die Deutschland zwingend umsetzen muss .
        Eine substanzielle Vereinfachung der Einwanderungsre-
        geln ist nur machbar, wenn sie gleichzeitig auf EU-Ebene
        diskutiert und umgesetzt wird .
        Im Wesentlichen gibt es drei große Migrationskanä-
        le nach Deutschland: erstens die EU-Binnenmigration,
        zweitens die Asylmigration und drittens die Migration
        aus Drittstaaten, um hier zu arbeiten, zu studieren oder als
        Familiennachzug . Anstatt für relativ kleine Gruppen wie
        Saisonarbeiter, Forscher, Studenten und Firmenmitarbei-
        ter eigene Richtlinien umzusetzen, wäre es sinnvoller,
        die EU-Vorgaben zu Aufenthaltstiteln für Nicht-EU-Bür-
        ger stärker zu bündeln . Die Reform der EU-Blue-Card
        und das neue Einreise-Ausreise-Register schaffen dafür
        wesentliche Grundlagen . Europa muss das verlorene Ver-
        trauen in die EU-Freizügigkeit und den Schengen-Raum
        wiederherstellen. In diesem Sinne hoffe ich auf eine kon-
        struktive Beratung des insgesamt guten Gesetzentwurfes .
        Sebastian Hartmann (SPD): Ohne Einwanderung
        wäre Deutschland wirtschaftlich und kulturell ärmer .
        Unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unser Staat wer-
        den im nächsten Jahrzehnt massiv vom demografischen
        Wandel betroffen sein. Sinkende Geburtenraten und eine
        alternde Bevölkerung stellen die deutsche Wirtschaft,
        die Sozial-, die Gesundheits- und die Rentensysteme vor
        enorme Herausforderungen . Einwanderung allein aus der
        Europäischen Union wird in vielen Branchen und Man-
        gelberufen nicht ausreichen . In den nächsten zehn Jahren
        verliert Deutschland über 6 Millionen Erwerbstätige .
        Deutschland ist ein Einwanderungsland . Arbeitskräf-
        te, die in den nächsten Jahren zuwandern, werden unse-
        ren Wohlstand sichern und tragen unser wirtschaftliches
        Wachstum . Arbeitsmigration ist ein Gewinn für den deut-
        schen Arbeitsmarkt, denn wir profitieren vom sozialen
        Kapital ebenso wie von Erfahrungen und Qualifikationen
        von Drittstaatsangehörigen . Um diese Entwicklung zu
        befördern, müssen wir die Grundvoraussetzungen schaf-
        fen . Der vorliegende Gesetzentwurf hilft dabei, dass der
        Zugang zum und die Arbeitsbedingungen auf dem deut-
        schen Arbeitsmarkt transparent und fair gestaltet werden .
        Drei EU-Richtlinien zur Arbeitsmigration setzen wir
        in deutsches Recht um: Erstens regeln wir den Aufenthalt
        von Nicht-EU-Ausländern in Deutschland als Saisonar-
        beitnehmer . Zweitens werden die Bedingungen für aus-
        ländische Studenten, Wissenschaftler, die in Deutschland
        forschen oder Studien absolvieren möchten, Praktikan-
        ten und Au-pair-Kräfte definiert. Und drittens wird die
        Richtlinie für ausländische Arbeitnehmer umgesetzt, die
        innerhalb ihres internationalen Unternehmens zeitweise
        in Deutschland arbeiten möchten .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Auf-
        enthaltsregelungen vereinfacht und Möglichkeiten des
        Aufenthaltswechsels innerhalb der EU deutlich verbes-
        sert . So war es beispielsweise für Forschende aus Dritt-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721920
        (A) (C)
        (B) (D)
        staaten bisher so, dass die Aufenthaltserlaubnis zum For-
        schen an einer europäischen Uni nicht für Deutschland
        galt und sie auch für kurze Forschungsaufenthalte einen
        eigenen deutschen Aufenthaltstitel beantragen mussten .
        Zukünftig wird der internationale Austausch von Wissen-
        schaftlern oder Studenten deutlich einfacher, es muss bei
        der zuständigen Behörde lediglich eine Mitteilung über
        den geplanten Aufenthalt erfolgen . Dies entlastet sowohl
        die deutsche Verwaltung als auch die einzelnen Perso-
        nen. Damit schaffen wir die benötigte Transparenz, mehr
        Rechtssicherheit und eine bessere Nachvollziehbarkeit
        für ausländische Personen, die bei uns studieren, for-
        schen oder arbeiten möchten .
        Zu erinnern ist an die jüngst am 16 . Dezember 2016
        im Deutschen Bundestag beschlossene Umsetzung der
        EU-Richtlinie zur qualifizierten Migration in die EU,
        besser bekannt als Blue Card . Die Zulassung von be-
        ruflich qualifizierten Fachkräften in den Mitgliedstaaten
        war Gegenstand dieser europaweiten Regelung – und in
        der Debatte dazu war bereits erkennbar, dass bezogen
        auf den voraussichtlichen Bedarf an beruflich qualifizier-
        ten Fachkräften in bestimmten Wirtschaftszweigen die
        Zuwanderung gar nicht ausreicht . Um gegen die beste-
        henden und künftigen Arbeitskräfte- und Qualifikations-
        defizite in der EU vorzugehen, müssen wir also weitere
        Anreize schaffen. Auch dazu trägt der vorliegende Ge-
        setzentwurf bei .
        Die Arbeitsmigration nach Deutschland ist für unsere
        Gesellschaft eine Erfolgsgeschichte . Ohne erstmaliges
        Gastarbeiterabkommen mit Italien 1955 und türkische
        Arbeitsmigration in den 60er-Jahren stünde Deutschland
        nicht dort, wo wir jetzt sind . Internationale Arbeitskräfte,
        etwa aus dem angelsächsischen oder asiatischen Raum,
        tragen maßgeblich zur deutschen Wirtschaft bei – weil
        wir das wissen, beunruhigen uns Entwicklungen wie der
        Einreisestopp in die USA und der unklare Status briti-
        scher Staatsangehöriger nach dem Brexit umso mehr .
        Die Wirtschaft sieht das genauso . Zu Donald Trumps
        Einreisestopp für Bürger bestimmter Staaten haben sich
        127 Unternehmen, darunter Flaggschiffe der amerikani-
        schen Wirtschaft wie Microsoft, Google, Apple, mah-
        nend geäußert: „Unsere Möglichkeiten zum Wachstum
        und zur Schaffung neuer Jobs fußen auf den Beiträgen
        von Migranten unterschiedlichster Herkunft.“ Das gilt in
        Deutschland ebenso . Neue Ideen, Innovation und schließ-
        lich Wachstum entstehen gemeinsam und im Austausch
        zwischen Deutschen und Ausländern . Verschiedene kul-
        turelle Hintergründe, international besetzte Forschungs-
        teams regen zur Zusammenarbeit und gemeinsamer Ver-
        änderung an .
        Schon heute haben wir 1 Million offene Stellen. Uns
        fehlen Altenpfleger genauso wie IT-Expertinnen. Der
        Mangel an Fachkräften führt bereits dazu, dass Un-
        ternehmen nicht expandieren und das wirtschaftliche
        Wachstum kleiner ausfällt, als es möglich ist . Wenn ab
        2020 die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen, wird
        sich diese Entwicklung weiter zuspitzen . Dann fehlen in-
        nerhalb weniger Jahre bis zu 6 Millionen Fachkräfte . Die
        können wir nicht allein aus den eigenen Reihen ersetzen .
        Weil aber der Bedarf davon abhängig ist, wie viele Ein-
        wanderer aus der EU kommen, muss die Einwanderung
        aus Drittstaaten bedarfsorientiert und flexibel nach ei-
        nem transparenten Punktesystem gesteuert werden . Wir
        setzen uns als SPD aus Überzeugung für ein Einwande-
        rungsgesetz ein . Für eine zeitgemäße Migrationspolitik
        brauchen wir ein solches Einwanderungsgesetz . Die
        Notwendigkeit liegt auf der Hand: Wenn in einem Ein-
        wanderungsland verständliche Regeln fehlen, führt das
        zu ungeregelter Einwanderung . Wir müssen auch deshalb
        endlich Klarheit schaffen, wer aus wirtschaftlichen Grün-
        den nach Deutschland einwandern kann und wer nicht .
        Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die Europäische
        Union ist in keiner guten Verfassung. Seit Jahren befindet
        sie sich im Krisenmodus, und statt weniger, werden es
        immer mehr Krisen, die sich zudem vertiefen . Deutsch-
        land ist im Vergleich zu den Ländern im Süden Europas,
        in denen die Sozial-, Renten- und Tarifsysteme nicht ein-
        fach nur zusammengebrochen, sondern vielmehr gezielt
        zerstört worden sind, bislang vergleichsweise glimpflich
        davongekommen .
        Verantwortlich dafür ist auch und vor allem eine ri-
        gide Austeritätspolitik, die maßgeblich durch die Bun-
        desregierung durchgesetzt wurde . Es ist nicht zuletzt
        die Bundesregierung, die die Wirtschaftskrise zulasten
        einer massiven Sozialkrise beheben will. So klafft die
        Schere zwischen Arm und Reich nicht nur erheblich zwi-
        schen den EU-Mitgliedstaaten seit dem Krisenausbruch
        im September 2008 immer weiter auseinander, sondern
        auch innerhalb diesen . Regionale Unterschiede werden
        nicht ausgeglichen, sondern weiter ausgeweitet . Die Fol-
        gen sind vor allem die steigende Jugendarbeitslosigkeit
        in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien, etc . Diese
        wiederum treiben die unfreiwillige Migration auch in-
        nerhalb der EU weiter voran . Vielen bleibt gar nichts
        anderes übrig, als in reicheren EU-Staaten ihr Glück zu
        versuchen . So ist es kein Wunder, dass das Vertrauen der
        Bürger in das vielbeschworene vermeintliche Integrati-
        onsprojekt EU und ihre Institutionen und ihr uneingelös-
        tes Wohlstandsversprechen unablässig schwindet . Doch
        nicht nur der Integrationsfähigkeit der EU wird zuneh-
        mend misstraut . Zugleich erodiert die Solidarität zwi-
        schen den EU-Mitgliedstaaten, und der Zusammenhalt
        innerhalb der Gesellschaften bröckelt immer weiter und
        befeuert den aufflammenden Nationalismus, Rassismus
        und Neonazismus .
        Erst heute Mittag sprachen wir im Bundestag im Zu-
        sammenhang mit dem Antrag der Linksfraktion „Eine
        erfolgreiche Integrationspolitik erfordert eine soziale Of-
        fensive für alle“, Drucksache 18/9190, dass statt sicherer
        Arbeitsplätze, guter Löhne und damit natürlich auch gu-
        ter Renten, 1-Euro-Jobs, Leiharbeit, Dauerbefristungen
        und auch Werkverträge zunehmen . Das Ergebnis sind
        Hunderttausende, die von ihrer Arbeit nicht leben und
        ihre Familien schlicht nicht ernähren können .
        Auch die drei Richtlinien, die die Bundesregierung
        mit ihrem heute vorliegenden Gesetzentwurf umsetzen
        will, setzen an einem integrationspolitisch und arbeits-
        marktpolitisch verfehlten Konzept an . Dabei geht es um
        die Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der
        Europäischen Union zu Saisonarbeitnehmern, unterneh-
        mensintern Transferierten sowie Forschern, Studenten,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21921
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        Praktikanten und europäischen Freiwilligen . Den Vor-
        schlag für die Richtlinie hatte die Europäische Kommis-
        sion im Jahr 2010 vorgelegt . Der aktuelle Text wurde im
        Februar 2014 vom Europäischen Parlament verabschie-
        det, diese Fassung wurde vom Rat nun ohne Diskussion
        angenommen .
        Die Richtlinien machen deutlich, dass der Ansatz eine
        Fortsetzung des Konzeptes der „zirkulären Migration“
        ist. Mit diesem soll flexibel auf die europäischen Ar-
        beitsmarktbedürfnisse der Unternehmen reagiert werden .
        Das Prinzip der „zirkulären Migration“ soll durch die
        Richtlinien gefördert werden . So können die Mitglied-
        staaten vereinfachte oder beschleunigte Zulassungsver-
        fahren für Personen einführen, die jedes Jahr beispiels-
        weise zur Saisonarbeit einreisen . Statt ein vermeintliches
        oder tatsächlich bestehendes Defizit an bestimmten Ar-
        beitskräften über eine Qualifizierungsoffensive bei der
        vorhandenen erwerbsfähigen Bevölkerung anzugehen,
        sollen gezielt ausgewählte Migrantinnen und Migranten
        als Arbeitsmarktpuffer missbraucht werden.
        Die Strategie, Arbeitsmarktengpässe kurzfristig
        und flexibel zu überwinden, erinnert dabei stark an das
        „Gastarbeiterkonzept“, das ebenfalls mit der Rückkehr
        der Arbeitskräfte kalkulierte, ohne deren sozialen Be-
        dürfnisse im Land ausreichend zu berücksichtigen und
        Integrationsangebote zu machen . Die Versäumnisse des
        „Gastarbeitermodells“ müssen in erster Linie die Betrof-
        fenen und zum Teil ihre Nachfahren bis heute „ausba-
        den“.
        Auch die umzusetzenden Richtlinien gehen von einer
        temporären und kurzfristigen Migration aus, die Integra-
        tionsmaßnahmen unnötig machen sollen . Doch in vielen
        Fällen werden die Personen in dem jeweiligen Mitglied-
        staat bleiben und weiterhin dort leben . Es stellen sich da-
        her weitere Fragen, wie mit dieser Situation umgegangen
        werden soll . Damit verbunden ist natürlich die Frage des
        Familiennachzugs, die umso relevanter wird, wenn aus
        der geplanten temporären Migration dauerhafte Einwan-
        derung werden sollte .
        Fragwürdig war und ist beispielsweise bei der Sai-
        sonarbeiterrichtlinie, worin eigentlich der Bedarf an
        diesbezüglichen Arbeitserlaubnissen oder Zulassungen
        bestehen soll, angesichts der Tatsache, dass der derzei-
        tige Bedarf durch Saisonarbeitskräfte aus EU-Mitglied-
        staaten gedeckt und die Möglichkeit der Anwerbung von
        Saisonarbeitskräften aus Drittstaaten zumindest derzeit
        nicht genutzt wird .
        Eine Besonderheit gilt aber auch bezüglich des Min-
        destlohngesetzes für den Fall der Saisonarbeit . Mit dem
        Mindestlohngesetz ist ein gesetzlicher Anspruch auf
        Zahlung eines Bruttomindestentgelts je Stunde einge-
        führt worden . Nach seinem Wortlaut wird der gesetzliche
        Mindestlohn als Geldbetrag geschuldet . Auch wenn vom
        Arbeitgeber zur Verfügung gestellte Verpflegung und
        Unterkunft einen in Geld bezifferbaren Wert haben, sind
        sie keine Geld-, sondern Sachleistungen und als solche
        grundsätzlich nicht unmittelbar im Sinne einer Anrech-
        nung auf den Mindestlohnanspruch berücksichtigungsfä-
        hig . Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, das
        Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
        und das Bundesministerium der Finanzen hatten sich
        aber während des Gesetzgebungsverfahrens zur Einfüh-
        rung eines Mindestlohngesetzes darauf verständigt, dass
        im Bereich der Saisonarbeit die Möglichkeit bestehen
        soll, Kost und Logis auf den gesetzlichen Mindestlohn
        nach dem Mindestlohngesetz anzurechnen .
        Laut Bundesregierung ist diese Ausnahme nicht bran-
        chenbezogen, sondern knüpft an die Beschäftigung von
        Saisonarbeitnehmern an . Saisonarbeitnehmer sind nach
        dem Verständnis der Bundesregierung Arbeitnehmer, die
        befristet bei einem im Inland ansässigen Arbeitgeber an-
        gestellt sind und Tätigkeiten ausüben, die aufgrund ei-
        nes immer wiederkehrenden saisonbedingten Ereignisses
        oder einer immer wiederkehrenden Abfolge saisonbe-
        dingter Ereignisse an eine Jahreszeit gebunden sind, wäh-
        rend derer der Bedarf an Arbeitskräften den für gewöhn-
        lich durchgeführte Tätigkeiten erforderlichen Bedarf in
        erheblichem Maße übersteigt. Das trifft insbesondere in
        den Bereichen der Land- und Forstwirtschaft sowie im
        Gartenbau insbesondere auf Erntehelfer zu, zudem auf
        bestimmte Beschäftigte im Tourismus, insbesondere in
        Gaststätten und Hotels und in Betrieben, die ihrer Na-
        tur nach nicht ganzjährig geöffnet sind oder die während
        bestimmter befristeter Zeiträume einen erhöhten Arbeits-
        kräftebedarf abdecken müssen . Der DGB fordert eine
        klare Begrenzung der Beschäftigungssektoren, in denen
        die Saisonarbeit im Sinne der Richtlinie zugelassen wer-
        den soll . Sichergestellt werden soll, dass Branchen wie
        die Bauwirtschaft und das Gebäudereinigerhandwerk
        von der Saisonarbeit ausgeschlossen bleiben, da sie keine
        saisonabhängigen Tätigkeiten umfassen .
        Die Regelungen zum Versagen oder Entzug der Ar-
        beitserlaubnis bzw . der Zustimmung dürfen nicht die
        betroffenen Saisonarbeitskräfte, sondern müssen den
        Arbeitgeber treffen. Bei Missbrauch muss es für diesen
        härtere Sanktionen bis hin zum Entzug der Gewerbeer-
        laubnis sowie bessere Kontrollen der Arbeitsbedingun-
        gen und Beratungsmöglichkeiten für Beschäftigte geben .
        Dass es letztlich bei der EU vordergründig um einen
        Standortwettbewerb geht, zeigt der Umstand, dass die
        Parlamente aus elf Mitgliedstaaten Subsidiaritätsrügen
        nach Protokoll Nummer 2 zum Vertrag von Lissabon
        bezüglich der Revision der Entsenderichtlinie erhoben
        und damit das Verfahren der sogenannten „gelben Karte“
        ausgelöst hatten . Dabei dürfte es den überwiegend ost-
        europäischen EU-Ländern in erster Linie darum gehen,
        ihre heimische Wirtschaft zu schützen . Durch die niedri-
        gen Löhne, die sie ihren entsendeten Mitarbeitern zahlen,
        waren ihre Unternehmen besonders „wettbewerbsfähig“.
        Denn erst nach zwei Jahren sollen entsandte Arbeits-
        kräfte einheimischen Arbeitskräften vollständig gleich-
        gestellt werden . Kettenentsendungen muss ein Riegel
        vorgeschoben werden, um sicherzustellen, dass Arbeit-
        nehmerentsendungen einen befristeten Charakter behal-
        ten und gerade nicht als Instrument ausschließlich zur
        Senkung der Lohnkosten genutzt werden . Doch werden
        die Löhne nach zwei Jahren angeglichen, schwindet der
        Wettbewerbsvorteil .
        Wenn auch die Europäische Kommission im Rahmen
        der verpflichtenden Prüfung der Subsidiaritätsbedenken
        an ihrem Vorschlag festhält; das Prinzip des gleichen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721922
        (A) (C)
        (B) (D)
        Lohns für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsplatz wird
        nicht gewährleistet . Entsandte Beschäftigte bleiben mas-
        siv gefährdet von Lohndumping, Sozialversicherungsbe-
        trug, Entsendungen über Briefkastenfirmen oder miss-
        bräuchliche Praktiken hinsichtlich der Zahlung der ihnen
        zustehenden Löhne und Gehälter . Es muss sichergestellt
        sein, dass die Arbeitsbedingungen inklusive Entlohnung
        mindestens jenen in Tarifverträgen oder ortsüblichen Ge-
        pflogenheiten entsprechen. Auch die Anwendung nicht
        allgemeinverbindlicher, repräsentativer Tarifverträge für
        Branchen, Regionen oder einzelne Unternehmen müssen
        von der Bundesagentur für Arbeit zwingend zur Bewer-
        tung der Zulassungsvoraussetzungen herangezogen wer-
        den . Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass die
        Beschäftigten auch in Bezug auf ihren Sozialversiche-
        rungsschutz den Beschäftigten in Deutschland gleichge-
        stellt werden . Das fordert der DGB . Und die Linksfrakti-
        on schließt sich dieser Forderung an .
        Ein ernsthafter Versuch, mit den Richtlinien Sozi-
        aldumping zu begrenzen, ist nicht bzw . nur nachrangig
        erkennbar . Im Unterschied zur neoliberalen Strategie
        der Arbeitnehmerfreizügigkeit und Arbeitsmigration im
        Sinne des Standortwettbewerbs und der Konkurrenz von
        Arbeitsmärkten, wird die Linksfraktion die Richtlinien
        bezüglich ihrer Wirkung auf gleiche Rechte für Migran-
        tinnen und Migranten sowie Einheimische und der Stär-
        kung des sozialen Zusammenhalts bewerten . Uns geht es
        dabei darum, wie allgemeingültige tarifliche und soziale
        Standards für alle – also für einheimische Erwerbslose
        und sozial Ausgegrenzte, Migrantinnen und Migranten,
        sprich für alle – verankert werden (können) . Davon sind
        die Richtlinien weit entfernt .
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Es wäre schön, wenn die Bundesregierung bei der Um-
        setzung der Aufnahmerichtlinie, der Qualifikationsricht-
        linie und der Verfahrensrichtlinie ebenso emsig wäre wie
        bei der Umsetzung der Richtlinien zur Arbeitsmigration .
        Auf die Umsetzung des Beratungsanspruchs für Asylsu-
        chende im Verfahren, auf die Einhaltung der Vorgaben
        zur Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten und auf so
        manch andere Verbesserung der Situation für Schutzsu-
        chende in Deutschland warten wir jedoch seit geraumer
        Zeit vergebens .
        Dennoch begrüßt meine Fraktion, dass die Bundesre-
        gierung bemüht ist, im Bereich der Arbeitsmigration die
        Vorgaben des europäischen Rechts umzusetzen – auch
        wenn wir es bedauern, dass die Gelegenheit nicht genutzt
        wurde, um das Recht der Arbeitsmigration endlich deut-
        lich zu liberalisieren, zu systematisieren und zu entbü-
        rokratisieren. Das wäre angesichts des demografischen
        Wandels und des zunehmenden Fachkräftemangels in
        vielen Sektoren und Regionen notwendig . Die SPD hat
        das ja auch erkannt . Aber liebe Genossen: Wann bringen
        Sie denn Ihren Entwurf eines Einwanderungsgesetzes
        endlich in den Bundestag ein, damit wir ihn sinnvoll be-
        raten können? Und wo bleibt Ihr Vorschlag zur Umset-
        zung des Shanghaier Kugelfischabkommens? Sie trauen
        sich wohl einfach nicht!
        Doch wenden wir uns dem vorliegenden Gesetzent-
        wurf zu . Meine Fraktion begrüßt, dass der Gesetzentwurf
        unter anderem Verbesserungen beim Zugang zum Studi-
        um vorsieht sowie das Aufenthaltsrecht von Forschenden
        neu regelt . Allerdings – und insofern stimmen wir mit
        dem Bundesrat überein – sollten Personen, die in einem
        anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz im Sinne
        der Richtlinie 2011/95/EU genießen, von der Möglich-
        keit des studien- oder forschungsbezogenen nationalen
        Aufenthaltsrechts nicht ausgeschlossen werden . Das ist
        integrationspolitisch, aber auch arbeitsmarkt- und for-
        schungspolitisch das falsche Signal . Hier müssen wir
        mehr wagen . Die sogenannte REST-Richtlinie sieht im
        Erwägungsgrund 29 die Möglichkeit der Erteilung nati-
        onaler Aufenthaltstitel zu Studien- und Forschungszwe-
        cken ausdrücklich vor . Von dieser Möglichkeit hat die
        Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf nur unzurei-
        chend Gebrauch gemacht . Es ist – wie der Bundesrat es
        formuliert – nicht nachvollziehbar, warum Studieninte-
        ressierte oder Forschende, die gerade erst internationa-
        len Schutz erhalten haben, im Vergleich zu Personen mit
        der gleichen Staatsangehörigkeit, die sich aber noch im
        Herkunftsland befinden, schlechtergestellt werden sol-
        len . Angesichts der hohen Anforderungen an die Titel-
        erteilung – Stichwort: Sicherung des Lebensunterhalts
        bei Studierenden, Kostenübernahme der Forschungsein-
        richtung bis zu sechs Monaten nach der Aufnahmever-
        einbarung bei Forschenden – ist ein Missbrauch nicht zu
        befürchten .
        Ich wünsche mir, dass die Koalition im weiteren Ge-
        setzgebungsverfahren die Vorschläge des Bundesrates
        aufgreift . Damit wäre schon viel gewonnen . Obwohl die
        Gestaltung unserer Einwanderungsgesellschaft damit si-
        cherlich auch in gesetzgeberischer Hinsicht nicht abge-
        schlossen sein wird: Wir brauchen endlich – ich wieder-
        hole es – den Mut zu einem neuen Einwanderungsgesetz,
        das die Regelungen der Arbeitsmigration liberalisiert,
        systematisiert, entbürokratisiert und durch die Möglich-
        keit der angebotsorientierten, das heißt vom Nachweis
        eines Arbeitsangebots unabhängigen Einwanderung er-
        gänzt . Nur so können wir den Herausforderungen des de-
        mografischen Wandels, des Fachkräftemangels und der
        zunehmenden internationalen Mobilität von Fachkräften,
        Studierenden, Forscherinnen und Forschern und ihrer Fa-
        milien gerecht werden . In diesem Sinne wünsche ich uns
        gute Beratungen .
        Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister des Innern: Das Ziel der Bundesregierung
        ist die wirksame Steuerung der Zuwanderung nach
        Deutschland . In den letzten Monaten haben wir uns vor
        allem mit der Eindämmung der illegalen Migration und
        der Einschränkung der humanitären Zuwanderung nach
        Deutschland befasst .
        Mit diesem Gesetzespaket, das wir heute beraten, leis-
        ten wir nun einen Beitrag zur europaweiten Steuerung
        der Zuwanderung von Arbeitskräften aus Staaten außer-
        halb Europas nach Deutschland .
        Das deutsche Zuwanderungsrecht stellt schon jetzt
        weltweit eine der offensten und effizientesten Regelun-
        gen für Fachkräfte aus Drittstaaten dar . Deutschland
        gehört laut OECD zu den Ländern mit den geringsten
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21923
        (A) (C)
        (B) (D)
        Hürden für die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeits-
        kräfte .
        Mit diesem Gesetz geht es vor allem darum, den Fach-
        kräften, die zu uns kommen, auch die Möglichkeiten des
        Binnenmarktes zu eröffnen und zudem einen einheitli-
        chen EU-Rechtsrahmen zum Beispiel für Saisonarbeits-
        kräfte und Au-pairs zu schaffen. Das Ganze fußt auf drei
        EU-Richtlinien, die in innerdeutsches Recht umgesetzt
        werden .
        Konkret werden die Möglichkeiten des Zugangs zum
        europäischen Markt verbessert für:
        1. Internationale Unternehmen, die hochqualifizierte
        Mitarbeiter von außerhalb der EU in eine Niederlassung
        innerhalb der EU versetzen möchten . (Das ist in der so-
        genannten ICT-Richtlinie festgelegt .)
        2 . Forscher und Studenten, die (mit der Umsetzung
        der sogenannten REST-Richtlinie) verbesserte Möglich-
        keiten erhalten, den Forschungs- und Wissenschaftssek-
        tor in Deutschland zu stärken. Ergänzend hierzu öffnen
        wir uns auch für Praktikanten und Teilnehmer am Euro-
        päischen Freiwilligendienst .
        3 . Saisonarbeitskräfte, die für ein paar Monate im Jahr
        nach Deutschland kommen möchten, um in der Land-
        wirtschaft oder der Tourismusbranche zu arbeiten . Dies
        ist geregelt in der Saisonarbeitnehmerrichtlinie .
        Der Einsatz internationalen Personals spielt für unsere
        exportorientierte Wirtschaft eine sehr wichtige Rolle .
        Allein im ersten Halbjahr 2016 wurden gut
        45 000 Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken erteilt . Für
        die Wirtschaft in unserem Land leisten all die Personen,
        die hinter diesen Aufenthaltstiteln stecken, einen wesent-
        lichen Beitrag .
        Unternehmen bekommen nun die Möglichkeit, ihr
        Personal an unterschiedlichen Standorten einzusetzen .
        Wir schaffen einen neuen Aufenthaltstitel für Ar-
        beitnehmer, die innerhalb ihres Unternehmens vorüber-
        gehend nach Deutschland abgeordnet werden . Damit
        werden derartige Abordnungen gegenüber der bisher gel-
        tenden Möglichkeit deutlich erleichtert . Die Regelungen
        gelten für Führungskräfte, Spezialisten und Trainees –
        also für genau die Arbeitnehmer, die gebraucht werden,
        damit wir leistungs- und wettbewerbsfähig bleiben .
        Dazu schaffen wir Möglichkeiten der innereuropäi-
        schen Mobilität . Es soll unkompliziert möglich sein, dass
        Arbeitnehmer an mehreren Standorten ihres Unterneh-
        mens innerhalb Europas arbeiten . Für kurzfristige Auf-
        enthalte reicht es deshalb aus, wenn der Arbeitnehmer ei-
        nen Aufenthaltstitel aus einem anderen EU-Mitgliedstaat
        hat – wenn er nur für bis zu drei Monate in Deutschland
        bleiben will, braucht er dann keinen deutschen Aufent-
        haltstitel .
        Auch bei längeren Aufenthalten von mehr als drei
        Monaten wird das Verfahren deutlich vereinfacht, wenn
        die Person bereits einen Aufenthaltstitel aus einem ande-
        ren Mitgliedstaat hat .
        So schaffen wir für Unternehmen und Arbeitnehmer
        die nötige Flexibilität, ohne dabei unsere Steuerungs-
        möglichkeiten aufzugeben .
        Verbesserte Zugangsmöglichkeiten gibt es künftig
        auch im Bereich von Studium und Forschung .
        Ausländer, die zum Studium zu uns kommen möchten,
        haben künftig einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel,
        wenn ihre Hochschule sie zum Studium zugelassen hat .
        Studenten haben – vergleichbar den unternehmensin-
        tern transferierten Arbeitnehmern – in Zukunft verbes-
        serte Möglichkeiten der Mobilität innerhalb der EU .
        Sie können mit dem Aufenthaltstitel eines anderen
        EU-Mitgliedstaats für einen begrenzten Zeitraum in
        Deutschland studieren, ohne einen eigenen deutschen
        Aufenthaltstitel beantragen zu müssen .
        Für ausländische Forscher gilt künftig nur noch eine
        gesetzliche Regelung – das Verfahren wird wesentlich
        übersichtlicher .
        Für Forscher, die bereits in einem anderen EU-Mit-
        gliedstaat forschen, gibt es erleichterte Regeln, wenn sie
        einen Teil ihres Forschungsvorhabens in Deutschland
        durchführen möchten .
        Außerdem passen wir die Regelungen für Praktikan-
        ten und Teilnehmer am europäischen Freiwilligendienst
        an .
        Daneben legen wir die Voraussetzungen fest, unter
        denen Ausländer als Saisonarbeitnehmer in Deutschland
        beschäftigt werden können . In diesem Bereich, der unter
        anderem für die Landwirtschaft und den Tourismus in
        unserem Land eine große Rolle spielt, schaffen wir Klar-
        heit und transparente Regeln .
        Dieses Gesetzespaket bedeutet keinen Paradigmen-
        wechsel für unser Zuwanderungsrecht, sondern eine
        Anpassung und Vereinheitlichung innerhalb Europas
        aufgrund von EU-Richtlinien. Am Ende profitiert auch
        Deutschland als größte Volkswirtschaft davon .
        Ich bitte Sie daher, den Gesetzesentwurf zu unterstüt-
        zen, und freue mich auf die Beratungen .
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
        des Rechts zur Sicherstellung der Ernährung in
        einer Versorgungskrise (Tagesordnungspunkt 17)
        Katharina Landgraf (CDU/CSU): Dieser Gesetz-
        entwurf ist Teil des von der Bundesregierung initiierten
        Zivilschutzkonzeptes, welches sich mit dem Selbstschutz
        der Bürger in Krisensituationen beschäftigt .
        Im Rahmen dessen war die Bevölkerung im Au-
        gust 2016 dazu aufgerufen worden, Vorräte an Lebens-
        mitteln und Trinkwasser anzulegen . Wir erinnern uns alle
        sicherlich an die teils heftigen Reaktionen, die von gro-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721924
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        ßen Hamsterkäufen bis zur völligen Ignoranz und Spott
        reichten . Dabei ist das Thema durchaus wichtig, denn
        wenn es doch einmal zum Eintritt einer Versorgungskrise
        kommen sollte, wäre man besser vorbereitet .
        Genau das ist das Ziel des nun von der Bundesregie-
        rung vorgelegten Gesetzentwurfes: die Neuregelung zur
        Grundversorgung der Bevölkerung im Falle einer Versor-
        gungskrise – so unwahrscheinlich diese auch sein mag .
        Der Bundesrechnungshof hatte in seinem Bericht
        vom 15 . September 2011 an das Bundesministerium
        für Ernährung (BMEL) in den Regelungen des Ernäh-
        rungssicherstellungsgesetzes (ESG) und des Ernäh-
        rungsvorsorgegesetzes (EVG) „grundlegende Schwach-
        stellen“ festgestellt und empfohlen, die derzeit gültigen
        Konzepte zu überdenken . Es sei notwendig, zeitgemäße
        Krisenszenarien herauszuarbeiten, ein Gesamtkonzept zu
        entwickeln und einheitliche Regelungen für militärische
        wie zivile Krisenfälle zu erlassen . Darauf sollte dann die
        Versorgungsplanung und Bevorratung durch den Staat
        abgestimmt werden .
        Dies ist mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf
        nun geschehen .
        Aber was ist eigentlich eine Versorgungskrise?
        Eine Versorgungskrise – sei es im Verteidigungsfall
        oder durch zivile Katastrophen verursacht – ist ein Sze-
        nario, in dem erhebliche Teile der in Deutschland leben-
        den Menschen über den freien Markt keinen Zugang zu
        Lebensmitteln mehr haben und hoheitlich versorgt wer-
        den müssen. Hierzu dürfte in der Regel die Betroffenheit
        von mindestens zwei Bundesländern erforderlich sein .
        Der lebensnotwendige Bedarf an Lebensmitteln bezeich-
        net die Menge, die erforderlich ist, um den minimalen
        Energie- und Nährstoffbedarf der Menschen und damit
        das physische Überleben der Bevölkerung zu sichern .
        Typischerweise wird dieser durch Grundnahrungsmittel
        wie Brot, Kartoffeln, Milch, Fleisch, Fett und Zucker
        sowie Obst und Gemüse als Vitaminträger gedeckt . In
        dem Gesetzentwurf heißt es weiter, dass der Eintritt einer
        solchen Versorgungskrise derzeit als unwahrscheinlich
        anzusehen sei . Die meisten denkbaren Schadensereig-
        nisse im Hinblick auf „Extremwetterlagen“, „technische
        Störungen“, „andere Naturkatastrophen“ und „Freiset-
        zungen von Gefahrstoffen“ dürften eigentlich nicht zu ei-
        ner Versorgungskrise führen . Weil aber der Eintritt einer
        Versorgungskrise nicht vollständig ausgeschlossen wer-
        den kann, wurde die staatliche Bevorratung einer grund-
        legenden Überprüfung unterzogen . Als Ergebnis dieser
        Prüfung werden deshalb nun das ESG sowie das EVG
        zu einem einheitlichen Ernährungssicherstellungs- und
        -vorsorgegesetz (ESVG) zusammengefasst .
        Ziel des ESVG ist es, die verfügbaren Lebensmittel
        trotz Ausfalls weiterer Infrastrukturen schnell an die
        Bevölkerung zu verteilen . Mit dem Gesetzentwurf soll
        sichergestellt werden, dass der Staat dies in solchen
        Ausnahmesituationen organisieren kann . Dafür sind im
        Gesetzentwurf Verordnungsermächtigungen vorgesehen,
        die eine öffentliche Bewirtschaftung von Lebensmitteln
        ermöglichen, beispielsweise durch den Erlass von Rege-
        lungen über die Produktion, den Bezug , die Zuteilung
        von Lebensmitteln oder aber den direkten Zugriff auf Be-
        triebe der Agrar- und Ernährungswirtschaft .
        Wirksamstes Mittel zur Vorsorge für eine Versor-
        gungskrise ist aber die Vorratshaltung durch die Pri-
        vathaushalte . Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die
        Bürger aufgeklärt und informiert werden: darüber, wel-
        che Lebensmittel sich gut zur Lagerung eignen, wie man
        bestimmte Lebensmittel haltbar macht, wo diese gelagert
        werden müssen und so weiter . Dafür ist es bestimmt auch
        hilfreich, mit den Eltern oder Großeltern zu sprechen .
        Diese werden sicherlich aus eigener Erfahrung noch
        gute Ratschläge beisteuern können . Es geht ja auch nicht
        darum, in kleinen Stadtwohnungen Lebensmittel und
        Trinkwasser für mehrere Monate zu lagern . Das ist nicht
        praktikabel und auch nicht nötig . Es reicht, wenn man
        Vorräte für 14 Tage im Haus hat . Eine Liste mit Vorschlä-
        gen findet sich zum Beispiel auf der Internetseite www .
        ernaehrungsvorsorge .de des Bundesministeriums für
        Ernährung und Landwirtschaft . Dazu gibt es dort auch
        praktische Tipps zum Haltbarmachen von Lebensmitteln
        und zur richtigen Lagerung . Im Grunde ist es ganz ein-
        fach: Jeder sollte das bevorraten, was er selbst in nächster
        Zeit konsumieren möchte . Wenn möglich, sollten auch
        Lebensmittel dabei sein, die man ohne Kochen verzehren
        kann, denn die Wahrscheinlichkeit eines Stromausfalls
        ist bei dem Szenario, von dem wir hier sprechen, recht
        hoch .
        Zusammenfassend kann ich nur sagen: Dieses Gesetz
        soll keine Panik verursachen . Ganz im Gegenteil! Es
        trifft einfach nur eine Regelung zur Vorsorge. Völlig ver-
        altete Regelungen werden neu gefasst und zusammenge-
        führt, und Bürokratie wird abgebaut . Daher bitte ich um
        Zustimmung .
        Carola Stauche (CDU/CSU): Im August des vergan-
        genen Jahres wurde plötzlich in der Presse heiß disku-
        tiert, dass die Bundesregierung zu Hamsterkäufen auf-
        rufe, um sich gegen einen eventuellen Katastrophenfall
        zu wappnen . Sollte damit etwa die Bevölkerung auf eine
        drohende kriegerische Auseinandersetzung und damit
        einhergehende Lebensmittelknappheit vorbereitet wer-
        den? Mitnichten . Es war wohl eher ein typisches Ereignis
        im medialen Sommerloch .
        Denn die Bundesregierung beriet lediglich ihr neues
        Zivilschutzkonzept, und das war notwendig: Denn das
        vorherige Konzept stammte noch aus den Sechzigerjah-
        ren des 20 . Jahrhunderts . Zum Vorhaben und zur Begrün-
        dung zitiere ich aus dem Gesetzentwurf der Bundesre-
        gierung: „Durch das Ernährungssicherstellungsgesetz
        (ESG) und das Ernährungsvorsorgegesetz (EVG) soll
        im Verteidigungs- und Spannungsfall sowie im Falle
        einer nicht militärisch bedingten Versorgungskrise eine
        Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln
        ermöglicht werden . Der Bundesrechnungshof hat in sei-
        nem Bericht an das Bundesministerium für Ernährung,
        Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 15 . Sep-
        tember 2011 in beiden Rechtsbereichen grundlegende
        Schwachstellen festgestellt und empfohlen, die Grund-
        lagen der Ernährungsnotfallvorsorge und -sicherstellung
        zu überdenken . Hierzu sei es notwendig, aktuelle Kri-
        senszenarien herauszuarbeiten, ein Gesamtkonzept zu
        http://www.ernaehrungsvorsorge.de
        http://www.ernaehrungsvorsorge.de
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21925
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        entwickeln, ggf . einheitliche Regelungen für militärische
        wie nicht militärische Krisenfälle zu erlassen sowie die
        Versorgungsplanung und Bevorratung von Lebensmitteln
        darauf abzustimmen.“ Weiter unten heißt es: „Staatliche
        Maßnahmen auf dem Gebiet der Ernährungsnotfallvor-
        sorge müssen einerseits zur Bewältigung einer Versor-
        gungskrise oder zur Vorsorge für eine Versorgungskrise
        geeignet sein . Andererseits müssen sie in den regelmäßig
        nicht durch Krisen betroffenen Zeiten mit einem Auf-
        wand umsetzbar sein, der zu der sehr geringen Eintritts-
        wahrscheinlichkeit der relevanten Szenarien in einem
        angemessenen Verhältnis steht . Die derzeit bestehenden
        Regelungen werden diesen beiden Anforderungen teil-
        weise nicht gerecht . Der vorliegende Gesetzentwurf zielt
        daher auf eine vollständige Neuregelung der staatlichen
        Ernährungsnotfallvorsorge ab . Darüber hinaus wird die
        Bundesregierung die staatliche Bevorratung von Lebens-
        mitteln einer grundlegenden Überprüfung unterziehen
        und konzeptionelle Modelle zur Neuordnung und Fort-
        setzung der Bevorratung entwickeln.“
        Es handelt sich also lediglich um eine Modernisie-
        rung und Vereinfachung bestehender Vorschriften, die
        angebracht ist, weil sich Rahmenbedingungen verändert
        haben .
        Schon der Umstand, dass wir dieses Thema nicht in
        der Debattenkernzeit unter Beteiligung des Ministers
        beraten, sondern die Redebeiträge zu Protokoll gegeben
        werden, weist doch darauf hin, dass es hier nicht um Pa-
        nikmacherei oder unmittelbar bevorstehende Krisen geht .
        Denn sonst hätte die geschätzte Opposition die Gelegen-
        heit sicher gern genutzt, die Regierung vorzuführen .
        Dennoch will ich betonen: Die Kommunikation des
        Gesetzesvorhabens hätte besser laufen können, sodass es
        gar nicht erst zur eingangs angesprochenen Verunsiche-
        rung gekommen wäre .
        Insbesondere der Punkt der privaten Notfallvorsorge
        wurde in der medialen Darstellung stark übertrieben .
        Hierzu heißt es im Entwurf lediglich: „Wirksamstes Mit-
        tel zur Vorsorge für eine Versorgungskrise ist die Vor-
        ratshaltung durch die Privathaushalte (Selbstschutz) . Die
        Förderung von Maßnahmen zur Verbesserung des Selbst-
        schutzes durch die Bevölkerung sollte daher zur gesetzli-
        chen Aufgabe von Bund und Ländern gemacht werden.“
        Von einem Aufruf zu Hamsterkäufen kann also keine
        Rede sein . Eine Anmerkung sei mir noch gestattet: Ge-
        gen die Empfehlung zur privaten Vorsorge wurde einge-
        wendet, dass viele Menschen weder Geld noch Lagerka-
        pazitäten für ausreichende private Vorratshaltung haben .
        Dazu möchte ich anmerken: Die private Vorratshaltung
        für den Katastrophenfall wäre im Falle eines Falles zwar
        sehr wirksam, ist aber keinesfalls verpflichtend, und ist
        außerdem als zusätzlicher Baustein gedacht . Natürlich ist
        es Verantwortung und Aufgabe des Staates, für Versor-
        gung zu sorgen . Das macht er, und darum debattieren wir
        heute hier diesen Gesetzentwurf .
        Ich will die darin enthaltenen Regelungen und die
        Überlegungen zu Wahrscheinlichkeiten, dass ein Katas-
        trophenfall eintritt, nicht im Einzelnen wiederholen, das
        haben meine Vor- und Mitredner sicher schon zur Genü-
        ge getan beziehungsweise werden dies noch tun .
        Ein Punkt ist mir allerdings noch sehr wichtig: Wo-
        her kommen denn die Lebensmittel, mit denen wir uns
        bevorraten, mit denen der Staat bevorratet? Sie kommen
        zum ganz großen Teil aus unserer heimischen Landwirt-
        schaft, die ganz überwiegend eine hervorragende Arbeit
        leistet, uns täglich mit sicheren, preiswerten und vielfäl-
        tigen Lebensmitteln versorgt . Dafür sollten wir unseren
        Landwirtinnen und Landwirten dankbar sein und ihnen
        den nötigen Respekt zollen .
        Der vorliegende Gesetzesentwurf ist wichtig, notwen-
        dig und angemessen, und deshalb möchte ich um Zustim-
        mung dafür werben .
        Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Es gibt Situationen,
        deren Eintreten man sich trotz der momentan nicht eben
        rosigen weltpolitischen Lage kaum noch vorstellen kann:
        eine echte Versorgungskrise, Lebensmittelengpässe, den
        Ausfall großer Teile unserer Infrastruktur zum Beispiel .
        Zum Glück, muss man sagen . Zum Glück ist die Wahr-
        scheinlichkeit, dass es so weit kommt, derzeit äußerst ge-
        ring . Dennoch oder vielleicht gerade deswegen gab es im
        August letzten Jahres kaum eine Zeitung, die nicht unter
        der Überschrift „Bevölkerung soll Vorräte für den Katas-
        trophenfall anlegen“ über das erstmals seit dem Ende des
        Kalten Krieges wieder aufgelegte Zivilschutzkonzept des
        Bundesinnenministeriums berichtete .
        Die realen Erfahrungen des 20 . Jahrhunderts spielen
        wahrscheinlich ebenso eine Rolle wie die zahlreichen
        Katastrophenszenarien aus Film, Fernsehen und Lite-
        ratur – aber fest steht, dass dem Thema Ernährungssi-
        cherung im Krisenfall viel öffentliche Aufmerksamkeit
        zuteilwird . Das ist auch nachvollziehbar, und zu Recht
        erwarten die Bürgerinnen und Bürger von uns, dass wir
        für den Notfall gerüstet sind .
        Der Bundesrechnungshof hat uns 2015 bescheinigt,
        dass die Versorgungsplanung Schwachstellen aufwies,
        die Konzepte für Krisenfälle unzureichend waren und au-
        ßerdem sehr viel Geld und Personal für die Erhebung von
        Daten verwendet wurde, mit denen eigentlich niemand
        etwas anfangen konnte . Das ändert sich nun .
        Der vorliegende Entwurf stellt die Vorbereitung auf
        eine Ernährungskrise auf eine neue gesetzliche Grund-
        lage und macht die Verwaltung effizienter. Wir begrüßen
        das sehr . Besonderes Augenmerk legt das Gesetz ebenso
        wie erwähntes Zivilschutzkonzept auf die private Bevor-
        ratung . Diese zu fördern, soll eine gemeinsame Aufgabe
        von Bund und Ländern werden . Ich glaube, dabei ist eine
        gute Portion Realismus und Fingerspitzengefühl in der
        Kommunikation gefragt .
        Ich bin auf die jetzt schon vorhandene Webseite
        „ Ernährungsvorsorge .de“ des Bundesministeriums für
        Ernährung und Landwirtschaft gegangen .
        Dort wird einer vierköpfigen Familie zum Beispiel
        empfohlen, 224 Liter Mineralwasser, 7,2 Kilogramm
        Erbsen und Möhren in Dosen, 5,6 Kilogramm Hartkäse
        und 2,9 Kilogramm Dauerwurst für 28 Tage einzulagern .
        Mit solchen Empfehlungen sichert man sich wahrschein-
        lich vor allem den Auftritt in einer Satiresendung . Ge-
        fragt sind hier sinnvolle, praktikable Konzepte, die für
        https://www.ernaehrungsvorsorge.de/
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721926
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        die Bevölkerung nachvollziehbar sind und weder Lacher
        noch Panik auslösen . Ich bin zuversichtlich, dass das ge-
        lingen wird .
        Karin Binder (DIE LINKE): Mit diesem erst im Ja-
        nuar im Bundestag eingebrachten Gesetz soll die Versor-
        gung der Bevölkerung im Krisenfall neu geregelt wer-
        den . Die bisher geltenden Regelungen stammen noch
        aus Zeiten des Kalten Krieges und sind auf jeden Fall
        überholungsbedürftig . Heutige Krisenszenarien bestehen
        in erster Linie aus Naturkatastrophen, Freisetzung von
        Schadstoffen oder „technischen Störungen“, zum Bei-
        spiel durch Hackerangriffe.
        Die aufwendige Vorhaltung von Lebensmittelmarken
        soll entfallen . Stattdessen sollen Bund und Länder das
        Recht erhalten, auf die Betriebe in der Lebensmittelwirt-
        schaft und den Handel zuzugreifen, um die Versorgung
        der Bevölkerung mit Lebensmitteln abzusichern .
        Bisher lagert der Bund wichtige Grundnahrungsmittel
        in einer zivilen Notfallreserve und in der Bundesreser-
        ve Getreide . An 150 Standorten werden insgesamt rund
        800 000 Tonnen Lebensmittel im Wert von etwa 200 Mil-
        lionen Euro vorgehalten . Die laufenden Kosten hierfür
        betragen im Haushaltsjahr 2017 rund 19 Millionen Euro
        und sollen künftig auf jeden Fall reduziert werden . Der
        Gesetzentwurf fordert die Bundesregierung auf, die
        staatliche Bevorratung von Lebensmitteln einer grundle-
        genden Überprüfung zu unterziehen und die Bevorratung
        neu zu ordnen .
        Was aus der bisherigen staatlichen Vorratshaltung
        wird, wird nicht beantwortet . Auch sonst wirft der Ge-
        setzentwurf noch viele Fragen auf, die wir als Linke
        gerne in Ruhe und mit Sorgfalt beraten hätten . Aber
        stattdessen soll es heute schnell und ohne große Debatte
        beschlossen werden .
        Neu an dem Gesetz ist auf alle Fälle der sogenannte
        Selbstschutz . „Wirksamstes Mittel zur Vorsorge für eine
        Versorgungskrise ist die Vorratshaltung durch die Privat-
        haushalte (Selbstschutz)“, sagt das Vorblatt zum Gesetz-
        entwurf . Bund und Länder sollen Maßnahmen zur Stär-
        kung des Selbstschutzes der Bevölkerung treffen, indem
        sie die Menschen über Vorsorgemaßnahmen informieren .
        Es läuft also darauf hinaus, einen beträchtlichen Kri-
        senvorrat von Lebensmitteln auf die Privathaushalte zu
        verlagern . Das Bundesministerium für Ernährung und
        Landwirtschaft gibt ihnen dafür mit einer Vorratstabel-
        le Tipps für ihren persönlichen „Selbstschutz“. Nimmt
        man die Hinweise der Bundesregierung zur privaten
        Vorratshaltung ernst, soll ein Vierpersonenhaushalt
        82 Kilogramm Lebensmittel und 112 Liter Getränke
        zur Überbrückung eines 14-tägigen Versorgungsausfalls
        vorhalten . Diese Vorräte kosten rund 300 bis 400 Euro,
        nehmen den Platz eines großen Kleiderschranks ein und
        müssen natürlich regelmäßig überprüft und ausgetauscht
        werden .
        Es ist kaum anzunehmen, dass alle Privathaushalte
        diesen Vorschlägen der Bundesregierung folgen werden,
        auch wenn das neue Gesetz die staatlichen Stellen dazu
        verpflichtet, dafür Werbung zu machen. Da dürften schon
        die fehlende Vorratskammer oder der nicht vorhandene
        Keller für entsprechende Probleme sorgen .
        Aber viel schlimmer noch: Haushalte mit kleinem
        Einkommen leben schon jetzt von ihrer Substanz und
        sind häufig sogar verschuldet. Hartz-IV-Haushalte haben
        sowieso viel zu niedrige Regelsätze, um sich ausgewo-
        gen ernähren zu können, also erst recht kein Finanzpols-
        ter, um sich Vorratslager anlegen zu können . Bekommen
        diese Menschen vom BMEL zusätzliches Geld für ihren
        „Selbstschutz“? Natürlich nicht!
        Bereits 2011 untersuchte das Büro für Technikfolgen-
        abschätzung (TAB) das Szenario eines großräumigen
        Stromausfalls, der nach Einschätzung der Experten gar
        nicht so unwahrscheinlich ist, wie es der Gesetzentwurf
        darstellt . Der Bericht zeigt, wie anfällig unsere Gesell-
        schaft ist, wenn aufgrund eines Hackerangriffs, Terrorak-
        tes oder eines Unfalls auch nur für 24 Stunden der Strom
        ausfällt .
        Unsere hoch technisierte Lebensmittelkette würde in-
        nerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen . Nicht nur, dass
        alle Tiefkühlprodukte auftauen würden und schnellstens
        verbraucht werden müssten . Angefangen vom Kuhstall,
        in dem die Melkroboter ausfallen, über die vollautoma-
        tische Futtervergabe in riesigen Hühner- oder Schwei-
        nefarmen würde Chaos in der Urproduktion entstehen,
        zumal Futterlieferungen aus dem Ausland und der Ab-
        transport der tierischen Produkte nicht mehr gewährleis-
        tet wären .
        Als schwächstes Glied in der Kette macht der TAB-Be-
        richt den Lebensmitteleinzelhandel aus . Tatsache ist: Die
        meisten Menschen werden nicht über geeignete Vorräte
        verfügen, und es wird zu Hamsterkäufen kommen, egal
        ob sie vorher per Gesetz dazu angehalten waren, Wasser
        und Essen vorsorglich zu horten . Wenn dann gleichzeitig
        auch noch die staatlichen Reserven eingespart wurden,
        wird das Leerräumen von Supermärkten wenig gesittet
        und ruhig ablaufen .
        Von einer sicheren Versorgung der Bevölkerung mit
        Lebensmitteln hängen aber nach Einschätzung der Ex-
        perten das Überleben vieler Menschen und die Aufrecht-
        erhaltung der öffentlichen Ordnung ab.
        Es wäre also in jedem Fall hilfreich, wenn die Bundes-
        regierung sicherstellt, dass die bisherige zivile Notfall-
        reserve und die Bundesreserve Getreide aufrechterhalten
        werden .
        Ich frage die Bundesregierung: Wie zuverlässig funk-
        tioniert denn unsere Agrar- und Ernährungswirtschaft
        mit Blick auf den massenhaften Import von Viehfutter,
        Dünger, Pflanzenschutzmitteln und anderen Rohproduk-
        ten? Wie zuverlässig funktionieren hochindustrialisierte
        Tierställe und Kühlketten in einer Krise, wenn beispiels-
        weise der Strom ausfällt? Wie will die Bundesregierung
        die Zuverlässigkeit der Lebensmittelkette für den Krisen-
        fall sicherstellen und wie will sie die Verteilung der Le-
        bensmittel regeln? Darauf gibt das Gesetz keine Antwort .
        Hauptsache die Lebensmittelmarken sind abgeschafft
        und verursachen keinen bürokratischen Aufwand mehr .
        Die Sicherstellung der Grundversorgung soll im
        Notfall ohne weitere Mitwirkung des Parlaments über
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21927
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        Rechtsverordnungen geregelt werden, zu denen die Re-
        gierung und das Ministerium für Ernährung und Land-
        wirtschaft mit diesem Gesetz ermächtigt werden .
        Das birgt nach meinem Dafürhalten mindestens ge-
        nauso viele rechtliche Unsicherheiten wie die Versor-
        gung an sich .
        Auch die Einschränkung, dass die Regierung nur ein-
        greifen darf, wenn die Gefährdung anders „nicht recht-
        zeitig“ oder „nur mit unverhältnismäßigen Mitteln“ zu
        bewältigen sei, gibt der Regierung sehr viel Spielraum .
        Das muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass das
        Eingriffsrecht in die Privatwirtschaft und damit auch in
        das Leben vieler Menschen sehr weitgehend ist . So kann
        auf die gesamte Lebensmittelkette, auf alle Betriebsstät-
        ten, auf Maschinen, Treibstoffe, Geräte zur Notstromver-
        sorgung und sonstige Betriebsmittel zugegriffen werden.
        Ein solches Instrument möglicherweise in den fal-
        schen Händen bereitet mir große Sorge .
        Als Linke halte ich es für zwingend, dass in einem
        solchen Gesetz auch definiert wird, wie im Falle einer
        tatsächlich kurzfristig notwendigen Verordnung zur Kri-
        senbewältigung der Bundestag eingebunden wird . Die
        demokratischen Rechte des Parlaments müssen auch in
        einem Krisenfall wahrgenommen werden können und
        diesbezügliche Verordnungen des Bundes gegebenenfalls
        auch geändert oder wieder aufgehoben werden können .
        Diese Überlegungen sind leider der zügigen Behand-
        lung des Themas geopfert worden, obwohl der Eintritt
        einer solchen Versorgungskrise laut Vorblatt zum Geset-
        zestext „heute als unwahrscheinlich anzusehen“ ist.
        Das ist sehr bedauerlich . Deshalb können wir dem Ge-
        setz nicht zustimmen .
        Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich
        begrüße die längst überfällige Novellierung der Ernäh-
        rungsnotfallgesetzgebung, die noch aus Zeiten des Kal-
        ten Krieges stammt .
        Mit dieser Neuregelung wird auch der Kritik des
        Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2012 Rechnung
        getragen, der die bisherigen Regelungen zur Ernährungs-
        notfallvorsorge zu Recht als veraltet und ineffizient be-
        zeichnet .
        Es ist sinnvoll, dass die separaten Gesetze, die zum
        einen den Verteidigungsfall und zum anderen Katastro-
        phen nichtmilitärischen Ursprungs regeln, zusammenge-
        fasst werden und dass klargestellt wird, was als nationale
        Krise gilt, wer den Krisenfall feststellt, und dass dieser
        nach Ende der Krise umgehend wieder aufzuheben ist .
        Des Weiteren begrüßen wir, dass die separaten Melde-
        pflichten der Unternehmen im Rahmen der Ernährungs-
        notfallvorsorge durch Nutzung von Daten der Landwirt-
        schaftsverwaltung und der Lebensmittelüberwachung
        bzw . Veterinärverwaltung ersetzt werden . Dies trägt der
        heutigen Digitalisierung Rechnung, die durch geeignete
        Schnittstellen eine Nutzung bereits vorhandener Daten
        ermöglicht und somit unnötige Bürokratie verhindert .
        Neu in dem Gesetzentwurf ist, dass staatliche Maß-
        nahmen durch Empfehlungen zur privaten Vorratshaltung
        ergänzt werden . Die Gesetzesbegründung für den § 14
        „Selbstschutz“ erläutert, dass die Ergebnisse des For-
        schungsprojekts NeuENV, gefördert durch das Bundes-
        ministerium für Bildung und Forschung, unter anderem
        bestätigt haben, dass das wirksamste Mittel zur Vorsorge
        für eine Versorgungskrise die dezentrale Vorratshaltung
        durch die einzelnen Privathaushalte ist . Informations-
        und Aufklärungsmaßnahmen sollen zur Verbesserung
        des Selbstschutzes der Bevölkerung zur gesetzlichen
        Aufgabe der zuständigen Behörden des Bundes und
        der Länder gemacht werden . Diesen Punkt müssen wir
        in den nächsten Jahren im Auge behalten . Wir müssen
        realistisch abschätzen, ob diese Informationen die Bür-
        gerinnen und Bürger flächendeckend erreichen und in
        welchem Ausmaß private Vorsorge wirklich getroffen
        werden kann .
        Dabei darf nicht vergessen werden, dass schon heute
        viele Haushalte regelmäßig Probleme haben, sich über
        den ganzen Monat auskömmlich mit Lebensmitteln zu
        versorgen, und auf Essensspenden etwa der Tafeln an-
        gewiesen sind . Ein Vorrat an Lebensmitteln ist im Bud-
        get vieler armer Menschen schlicht nicht drin . Auch aus
        Platzgründen wird es nicht jedem Haushalt möglich sein,
        Wasserkästen und Ähnliches in ausreichendem Maße
        einzulagern .
        Es ist gut, dass wir unsere Notfallsysteme überprüfen
        und an die neue Zeit anpassen .
        Und wenn man sich das Versagen von Bundes- und
        Landesbehörden bei vergangenen Lebensmittelskanda-
        len anschaut, gibt es gerade in der Zusammenarbeit im
        Krisenfall noch viel zu verbessern . Jedoch sollten wir uns
        immer vor Augen halten, dass die Fälle, die das Gesetz
        regelt, mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht eintre-
        ten werden . Deshalb darf diese aktuelle Debatte um die
        Notfallversorgung in Deutschland nicht instrumentali-
        siert werden, um Ängste und Panik in der Bevölkerung
        zu schüren .
        Lassen Sie mich zum Abschluss noch etwas Grund-
        sätzliches sagen: Wir wollen eine Ernährungswirtschaft,
        die – dort, wo es möglich ist – auf Produkte aus der Re-
        gion und kurze Wertschöpfungsketten setzt. Das schafft
        Transparenz und Sicherheit, entlastet unsere Straßen und
        Meere von unnötigem Verkehr, schont das Klima, bringt
        Wertschöpfung in die ländlichen Räume und gibt den
        Menschen dort eine Perspektive . Wir setzen auf Vielfalt
        statt auf wenige den Markt beherrschende Player und
        eine zunehmende Uniformität des Lebensmittelangebots .
        Solch ein System der regional organisierten Lebens-
        mittelversorgung steht auf vielen und deshalb sicheren
        Beinen und ist im Krisen- oder Katastrophenfall resili-
        enter als zentralistische, große Strukturen . Der Wegfall
        eines großen Akteurs der Lebensmittelwirtschaft trifft die
        Lebensmittelversorgung viel stärker . Die Ausweichmög-
        lichkeiten bei vielen kleineren Anbietern liegen auf der
        Hand .
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        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Än-
        derung der Bundes-Tierärzteordnung (Tagesord-
        nungspunkt 19)
        Hermann Färber (CDU/CSU): Wir beschließen heu-
        te mit dem Dritten Gesetz zur Änderung der Bundes-Tier-
        ärzteordnung die notwendigen nationalen Änderungen
        zur Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinien . Wie
        viele andere Berufsgruppen sind auch Tierärzte zuneh-
        mend grenzüberschreitend tätig . Deshalb ist es sinnvoll,
        hier gemeinsame Mindeststandards und Verfahrenswei-
        sen innerhalb der EU zu beschließen . Ebenso muss bei
        grenzüberschreitender Tätigkeit von Tierärzten auch eine
        grenzüberschreitende Kontrolle möglich sein . Der Ge-
        setzentwurf enthält die dafür notwendigen technischen
        Änderungen .
        Die Union stimmt diesem Gesetzentwurf zu . Meine
        Fraktion steht voll und ganz zum Europäischen Binnen-
        markt . Dieser Binnenmarkt, der größte der Welt, hat für
        unser Land zu erheblichen Wohlfahrtsgewinnen geführt .
        Oft nehmen wir diese Vorteile als selbstverständlich
        hin . Dieser Gesetzentwurf macht aber deutlich, wie viel
        Regulierungsnotwendigkeit oft hinter der scheinbaren
        Selbstverständlichkeit steht . Der EU wird oft zu viel Bü-
        rokratie vorgeworfen . Gerade im Bereich Landwirtschaft
        auch wirklich nicht zu Unrecht, das weiß ich aus eigener
        Erfahrung . Hier ließe sich sicherlich einiges vereinfa-
        chen . Man muss aber auch sehen, dass die populistischen
        Vorstellungen mancher Kritiker eben auch unrealistisch
        sind: Sie meinen, man brauche die gesamte EU gar nicht,
        es würde völlig ausreichen, wenn sich die Regierungen
        zusammensetzen und sich politisch einigen . Wir sehen
        aber, dass schon allein so ein kleiner Punkt wie die Ver-
        einheitlichung der tierärztlichen Tätigkeit in der EU ei-
        nen erheblichen Abstimmungsbedarf erforderlich macht .
        Die Union sagt dazu: Diesen Preis ist es uns wert . Denn
        letztlich führt diese Vereinheitlichung zu einer besseren
        EU-weiten Versorgung der Tiere .
        Am meisten wird für das Tierwohl erreicht, wenn
        Tierarzt und Tierhalter vertrauensvoll Hand in Hand ar-
        beiten . Das gilt sowohl für die Haltung im Stall wie auch
        für Tiertransporte . Tierärzte sind unverzichtbar für das
        Tierwohl . Deshalb ist es gut, wenn es für diesen Beruf
        gemeinsame Standards in Europa gibt . Diese Standards
        müssen wir dann natürlich auch national bei uns umset-
        zen, das ist völlig selbstverständlich .
        Deshalb stimmt die Union diesem Gesetzentwurf zu .
        Dieter Stier (CDU/CSU): Wir beraten heute abschlie-
        ßend über den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände-
        rung der Bundestierärzte-Ordnung . Nun stellt sich zuerst
        die Frage: Warum diese Gesetzesänderung? Die Antwort
        ist einfach . Wir setzen europäisches Recht um, hier spe-
        ziell eine Änderung der Berufsqualifikationsrichtlinie.
        Sie regelt die gegenseitige Anerkennung von Ausbil-
        dungen innerhalb der Europäischen Union . Damit ist sie
        ein bedeutendes Instrument zur Verwirklichung des eu-
        ropäischen Binnenmarktes und hat einen großen Stellen-
        wert für die Freizügigkeit am Arbeitsmarkt . Die Umset-
        zung der Richtlinie in nationales Recht stellt somit einen
        wichtigen Schritt dar, mit dem wir die Anerkennung von
        Berufsabschlüssen und folglich das Arbeiten in ande-
        ren EU-Mitgliedstaaten erleichtern werden . Zu diesem
        Zweck ist es nötig, Verfahrensvorschriften zu ändern und
        neu einzuführen. Das betrifft sowohl die Zusammenarbeit
        der europäischen Behörden als auch Erleichterungen für
        Antragsteller im Anerkennungsverfahren . Kurz gesagt:
        Wir aktualisieren damit die Bundestierärzte-Ordnung,
        also eine sinnvolle und notwendige Maßnahme zugleich .
        Selbstkritisch müssen wir allerdings anmerken, dass
        wir bei der Umsetzung der Richtlinie das Tempo hätten
        noch steigern können, da bereits ein Vertragsverletzungs-
        verfahren gegen die Bundesrepublik eingeleitet wurde .
        Wie wichtig ein Tierarzt sein kann, wissen nicht nur
        die Haustierbesitzer unter uns . Auch jeder Landwirt kann
        hier seine eigene Geschichte erzählen .
        Als tierschutzpolitischer Sprecher der Unionsfraktion
        bin ich dankbar, in Deutschland auf gut ausgebildete und
        auf hohem fachlichen Niveau arbeitende Tierärzte treffen
        zu können . Nicht umsonst sind Berufsbezeichnung und
        Berufsausübung staatlich geschützt und bedürfen einer
        besonderen Qualifikation und Erlaubnis. Gerade im Hin-
        blick auf den Tierschutz sind Tierärzte in den landwirt-
        schaftlichen Betrieben ein Garant für eine gute Betreu-
        ung der Tierbestände . Allerdings sind sie es nicht allein .
        Neben den Tierärzten tragen auch die Landwirte
        und die in der Landwirtschaft beschäftigten Mitarbei-
        ter in den Betrieben eine große Verantwortung für eine
        gut funktionierende Tierhaltung in unserem Land . Eine
        Verantwortung – und das muss man immer wieder beto-
        nen –, die sie tagtäglich immer wieder aufs Neue wahr-
        nehmen . Und meiner Erfahrung und meinem Eindruck
        nach werden sie dieser Verantwortung auch meist sehr
        vorbildlich gerecht, weil sie selbst einen hohen Anspruch
        an sich haben .
        Sie garantieren uns qualitativ hochwertige Lebensmit-
        tel zu bezahlbaren Preisen, und das trotz der häufig ne-
        gativen Begleitmusik in der Medienberichterstattung, die
        nur selten Verständnis und Achtung für landwirtschaftli-
        che Tierhalter aufbringt .
        So stellt sich für mich persönlich nicht die Frage, ob
        wir unseren Landwirten denn eigentlich zu danken ha-
        ben, das halte ich für selbstverständlich, sondern für
        mich stellt sich die Frage, wie wir dies tun und welchen
        Ton wir dabei treffen. Da es hier anscheinend zunehmend
        Orientierungsschwierigkeiten in unserer Gesellschaft
        gibt, möchte ich hier auch noch einmal betonen: Tierärz-
        te, Landwirtschaft, Ernährungswirtschaft und ländlicher
        Raum gehören zusammen .
        Gestatten Sie mir, deshalb hier heute auch die Ge-
        legenheit zu nutzen und den Bogen zu einem anderen
        Sachverhalt, der uns kürzlich bewegt hat, zu spannen . Ich
        bitte um Verständnis, dass ich das heute auch unserem
        Koalitionspartner nicht ersparen kann .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21929
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        Ich möchte eingehen auf das aktuelle Thema, welches
        uns das Bundesumweltministerium in der vorigen Wo-
        che beschert hat, und möchte zum Umgang mit unseren
        Landwirten und Bauernfamilien einige grundsätzliche
        Dinge sagen .
        Anstatt die Chance zu nutzen und den Landwirten ein-
        mal die oftmals vorenthaltene Anerkennung auszuspre-
        chen, mussten wir in den vergangenen Wochen genau
        das Gegenteil erleben: Die Bundesministerin für Umwelt
        und Naturschutz startete eine bundesweite Plakatkampa-
        gne gegen die Landwirtschaft, mit vermeintlich fröhli-
        chen Bauenregeln .
        Als Bauernregeln deklarierte Drei- und Vierzeiler
        sollten im naiven Gewand Front machen gegen die hei-
        mischen Landwirte. Eine traurige Offensive, noch dazu
        von Steuergeldern finanziert, gerichtet gegen die gesamte
        Agrarbranche und viele Menschen im ländlichen Raum .
        Gerichtet gegen die Gruppe von arbeitenden Menschen,
        die dafür sorgen, dass unser Hunger nach Lebensmitteln
        in großer Vielfalt gestillt wird, und die diese Mittel für
        solche Werbekampagnen als Steuerzahler auch noch mit
        erwirtschaften . Das ist zweifellos bemerkenswert ein-
        zigartig für ein Mitglied der Bundesregierung und ein
        beschämender Vorgang von bisher nicht dagewesener
        Machart .
        Die Bundesregierung hat sich geschlossen die Förde-
        rung der ländlichen Räume auf die Fahnen geschrieben .
        Von daher ist es nicht hinnehmbar, dass sich Frau Mi-
        nisterin Hendricks berufen fühlt, die Reputation unserer
        Landwirtschaft öffentlich gezielt zu untergraben und da-
        mit auch dem ländlichen Räumen einen Bärendienst zu
        erweisen . Hier ist die Prioritätensetzung im Bundesum-
        weltministerium wohl gänzlich aus der Bahn geraten .
        Wer eine Diffamierungskampagne auf die Schienen setzt,
        muss sich hinterher nicht wundern, wenn der öffentliche
        Aufschrei groß ist .
        Glücklicherweise hat Frau Hendricks ihren Irrweg
        noch rechtzeitig erkannt und mit ihrer Entschuldigung ihr
        Fehlerprojekt eingestanden . Das war gut und richtig, aber
        der angerichtete Schaden bleibt, und wenn man sieht,
        dass die Kampagne mittlerweile von Dritten ungeniert
        mit Duldung des Hauses fortgesetzt wird, meine ich, dass
        diese Entschuldigung und auch die Erklärungsversuche
        im Netz, auch die ihres Staatssekretärs, nur halbherzig
        waren und nicht von wirklicher Erkenntnis zeugen . Das
        macht mich betroffen.
        Mit Schaden meine ich die dadurch vorangetriebene
        weitere Spaltung der Gesellschaft, welche wir nun gera-
        de in aktuellen Zeiten überhaupt nicht brauchen können .
        Das Forcieren von Abneigungstendenzen gegen die mo-
        derne Landwirtschaft, die Verunsicherung bei landwirt-
        schaftsfernen Verbraucherinnen und Verbrauchern, deren
        Bild von Tierhaltern nur noch negative Züge trägt . Ein
        Schaden, der nicht einfach mal nebenbei zu beheben ist .
        Was bleibt nun von dieser Kampagne nach Entschul-
        digung und Fehlerbekenntnis? Es bleibt der Fakt, den
        Graben erneut vertieft zu haben . Das ist leider der fatale
        Verdienst der Bundesumweltministerin und der beteilig-
        ten Urheber und Unterstützer .
        Ich bin froh, dass ich mit meiner Einschätzung auch
        einige Sozialdemokraten, wie zum Beispiel Landesmi-
        nister Backhaus und andere fachkundige Agrarpolitiker,
        auch viele der Opposition, an meiner Seite weiß .
        Es liegt jetzt bei uns, die richtigen Schlüsse zu ziehen .
        Unser Ziel muss es sein, die ideologische Betrachtung
        der Landwirtschaft endlich zu überwinden . Die Land-
        wirtschaft der Schuldzuweisungen muss ein Ende haben .
        Wir müssen endlich sachliche Argumente zulassen
        und dürfen keine neuen Barrieren errichten . Wir müssen
        die moderne Landwirtschaft akzeptieren und uns endlich
        von Verklärungen lösen .
        In diesem Sinne lade ich Sie ein, am Dialog zur Land-
        wirtschaft unvoreingenommen mitzuwirken . Und da bin
        ich mit meinem letzten Satz auch wieder beim heutigen
        Gesetzentwurf: Auch unsere Tierärzte haben eine Verant-
        wortung in diesem Dialog, denn wenn die Tierhaltung
        gänzlich abgeschafft ist, ist auch deren Berufsstand in
        Gefahr . Das gilt es zu verhindern .
        Dr. Karin Thissen (SPD): In einer Dritten Änderung
        der Bundes-Tierärzteordnung behandeln wir am heutigen
        Abend die Umsetzung von europäischem Recht in deut-
        sches Recht . Im Detail geht es um die Anerkennung von
        Berufsqualifikationen, die ich als Tierärztin und Europä-
        erin mit Blick auf die enge Verzahnung der EU und ihrer
        Bürgerinnen und Bürger ausdrücklich befürworte . Denn
        im freien Miteinander ist auch die Anerkennung tierärzt-
        licher Abschlüsse für die Berufsausübung in anderen
        Mitgliedstaaten unabdingbar . Sie ist Bestandteil der eu-
        ropäischen Grundfreiheiten, der Dienstleistungsfreiheit,
        die ein Pfeiler unseres gemeinsamen Binnenmarktes ist .
        So sollen mit dem von der Bundesregierung eingebrach-
        ten Gesetz in Verwaltungsvorschriften die tierärztliche
        Mindestausbildung und für den veterinärmedizinischen
        Beruf im Wesentlichen relevante Bereiche, etwa die
        verpflichtende Nutzung des Binnenmarkt-Informations-
        systems, IMI, für den Informationsaustausch innerhalb
        der Europäischen Union geändert werden . Das Gesetz
        setzt dabei das europäische Recht eins zu eins um und
        lässt keinen weiteren Umsetzungsspielraum . Es kurz zu
        erwähnen, halte ich dennoch für angebracht . Darüber
        hinausgehend werden aber einige Abänderungen des
        geltenden Rechts vorgenommen, die nicht mit der Um-
        setzung von EU-Recht in Verbindung stehen .
        Wie gesagt, sollen mit dem Gesetz EU-Regelungen
        für den tierärztlichen Bereich über die Änderung von Be-
        rufsqualifikationen und über die Verwaltungszusammen-
        arbeit mithilfe des Binnenmarkt-Informationssystems
        umgesetzt werden . Das begrüßen wir .
        Die europarechtlich bedingten Änderungen betreffen
        Verfahrensvorschriften grenzüberschreitender Veterinär-
        tätigkeit innerhalb der EU . Das bisher nur auf freiwilli-
        ger Basis genutzte IMI-System wird den Informations-
        austausch in Zukunft verpflichtend vorschreiben. Das
        System ist ein technikgestütztes Netz zwischen öffent-
        lichen Institutionen im EU-Wirtschaftsraum, das dem
        Austausch von Informationen dient . Es soll und wird die
        Kooperation der Verwaltung erleichtern und beschleu-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721930
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        nigen . Somit wird der Verwaltung auf allen staatlichen
        Ebenen ermöglicht, Kontakte und Ansprechpartner in
        anderen EU-Ländern zu finden und Informationen ohne
        Sprachwechsel auszutauschen . Darüber hinaus wird ein
        EU-weiter Frühwarn-Mechanismus über Verbote oder
        Beschränkungen tierärztlicher Berufstätigkeiten imple-
        mentiert . Neuerungen und Anpassungen, derer es bedarf
        und die eine weitere engere Verzahnung im Veterinärbe-
        reich befördern werden .
        Melde- und Antragsunterlagen, die für die Approba-
        tion erforderlich sind, werden ab Geltung regelmäßig
        elektronisch übermittelt . Möglichkeiten für die Einfüh-
        rung eines elektronischen Berufsausweises sind ebenfalls
        gegeben . Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz in
        der Umsetzung von EU-Recht wird auch die Fallkonstel-
        lation eingeführt, Tierärzten aus anderen Mitgliedstaaten
        im Inland einen teilweisen Zugang zur veterinärmedi-
        zinischen Berufsausübung zu ermöglichen . Das begrü-
        ßen wir ebenfalls, weil es die fachliche Kooperation,
        Wissensaustausch und Verflechtung von Fachwissen im
        Lichte des europäischen Gedankens weiter fortschreibt .
        Das Gesetz passt die Bundes-Tierärzteordnung an
        diese Änderungen an . Von diesem abgesondert werden
        in der Verordnung zur Approbation von Tierärztinnen
        und Tierärzten Änderungen des Inhaltes der tierärztli-
        chen Mindestausbildung eintreten . Die nötigen Anglei-
        chungen der Gesetzeswortlaute an die Liberalisierung
        der Bundes-Tierärzteordnung im Jahre 2011 führen zur
        Klarstellung der Kriterien der Kenntnisstand- und Eig-
        nungsprüfung im Verfahren zur Anerkennung, ebenso
        zur besseren Überwachung samt Sanktionsmöglichkeit
        bei gelegentlicher und vorübergehender Dienstleistungs-
        erbringung .
        Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, begrüßen die Um-
        setzung des EU-Rechts und stimmen dem Gesetz zu .
        Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Viel wird der-
        zeit über Tierschutz und Tierwohl diskutiert . Für uns Lin-
        ke ist das auch eine Frage von Strukturen, deshalb wollen
        wir zum Beispiel Bestandsgrößen am Standort begren-
        zen, um Megaställe zu verhindern . Und wir wollen die
        Tierdichte in Region begrenzen, auch um die Folge von
        Seuchenausbrüchen zu reduzieren .
        Aber für uns ist Tiergesundheit auch eine Frage von
        ausreichendem, gut bezahltem und gut qualifiziertem
        Personal . Deshalb wollen wir unter anderem einen ange-
        messenen Betreuungsschlüssel . Denn es gehört zur guten
        landwirtschaftlichen Praxis, den Tierbestand regelmäßig
        in Augenschein zu nehmen . Viele Landwirtschaftsbetrie-
        be halten sich daran . Und das sollten wir auch einmal
        anerkennen . Oft schlecht bezahlt, wollen sie trotzdem si-
        chergehen, dass es den Tieren im Stall und auf der Weide
        gut geht .
        Damit die Gesundheit der Tiere gesichert ist, braucht
        es auch den Sachverstand der Tierärztinnen und -ärzte .
        Und hier lautet für mich das Zauberwort nicht Behand-
        lung und schon gar nicht Medikamentenverkauf, sondern
        Prävention . Denn Krankheiten sollten vermieden wer-
        den, und dazu gehören nicht nur gut ausgebildete Tier-
        halterinnen und Tierhalter, sondern auch veterinärmedi-
        zinische Sachkenntnis . Deshalb fordert Die Linke schon
        lange eine integrierte veterinärmedizinische Betreuung
        zur Unterstützung der Tierhalterinnen und Tierhalter . Die
        Tierärzteschaft soll mehr beraten, damit weniger behan-
        delt werden muss . Landwirtschaftliche Betriebe können
        davon profitieren, wenn die betreuende Tierärztin stärker
        in das Bestandsmanagement eingebunden wird, statt erst
        dann zum Hörer gegriffen wird, wenn es im Stall schon
        brennt .
        Natürlich müssen diese präventiven Maßnahmen als
        tierärztliche Leistungen bezahlt werden . Genau da liegt
        das Problem . Die Linke betont immer wieder, dass der
        Ruf nach mehr Tierschutz im Stall allein nicht ausreicht .
        Denn solange möglichst niedrige Kosten das Maß des
        Erfolgs sind, ist es doppelzüngig, einzelne Landwirtin-
        nen und Landwirte allein moralisch für mangelnde Be-
        treuung verantwortlich zu machen . Stattdessen muss
        der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen so verändern,
        dass angemessene Erzeugerpreise faire Bedingungen für
        Mensch und Tier im Stall, aber eben auch eine sinnvolle
        tierärztliche Beratung gewährleisten . Nur so wird mehr
        Tierwohl erreichbar sein .
        Doch leider hat sich die Bundesregierung in dem vor-
        liegenden Gesetzentwurf zur Änderung der Bundestier-
        ärzteordnung nur auf das Zwingende beschränkt . Nach
        EU-Recht müssen tierärztliche Ausbildungen EU-weit
        anerkannt werden . Die Gesetzesänderungen regeln den
        Nachweis zu einer Eignungsprüfung, die Gleichwertig-
        keit eingereichter Ausbildungsnachweise und eröffnen
        die Möglichkeit für einen europäischen Berufsausweis .
        Das war die Pflicht, doch wo bleibt die Kür? Von einer
        Überarbeitung des tierärztlichen Berufsbildes, so wie es
        die Bundestierärztekammer gefordert hat, fehlt im Ge-
        setzentwurf leider jede Spur .
        Doch genau die hätte es im Sinne einer positiven Bot-
        schaft auch an den Berufsstand gebraucht, der sich diesen
        neuen Herausforderungen stellen muss . Übrigens auch
        oft entgegen weit verbreiteter Vorurteile schlecht bezahlt .
        Mal abgesehen von dem völlig ungelösten Problem, dass
        die wachsende Armut in unserem Land auch dazu führt,
        dass Rechnungen beim Tierarzt selbst für zwingende
        Behandlungen nicht bezahlt werden können . Stattdes-
        sen entschied das Bundessozialgericht kürzlich, dass
        Hartz-IV-Betroffene selbst bei der Hundehalterhaftpflicht
        keine Unterstützung erhalten, da diese nicht in direktem
        Zusammenhang zur Existenzsicherung oder mit der Auf-
        nahme einer Erwerbstätigkeit stehe . Das gilt übrigens
        selbst für Menschen, die wegen niedriger Bezahlung mit
        Hartz IV aufstocken müssen . Kurzum: Wenn du arm –
        gemacht – wirst, musst du auch noch deinen Gefährten
        ins Tierheim abschieben oder noch mehr bei dir selbst
        sparen . Das ist unmenschlich und mehr als fragwürdig in
        einem Staat mit Tierschutz im Verfassungsrang .
        Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Im Kern des vorliegenden Gesetzentwurfs zur
        Novellierung der Bundes-Tierärzteordnung, den das
        Bundeskabinett am 5 . Oktober beschlossen hat, steht die
        erleichterte gegenseitige Anerkennung von tierärztlichen
        Ausbildungsnachweisen innerhalb der Europäischen
        Union .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21931
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mit dem Entwurf setzt die Bundesregierung eine An-
        fang 2014 in Kraft getretene Änderung der EU-Richtli-
        nie über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in
        nationales Recht um . Positiv ist, dass mit der Neurege-
        lung die rechtlichen Voraussetzungen für eine künftige
        Einführung des Europäischen Berufsausweises für den
        tierärztlichen Beruf geschaffen werden.
        Dabei werden neben der Umsetzung von EU-Recht
        auch weitere Anpassungen in der Bundes-Tierärzteord-
        nung vorgenommen . Unter anderem soll klargestellt
        werden, nach welchem Verfahren Eignungs- oder Kennt-
        nisstandsprüfungen im Rahmen der Anerkennung einer
        außerhalb Deutschlands erworbenen tierärztlichen Be-
        rufsqualifikation durchzuführen sind. Auch das ist eine
        transparenzschaffende Initiative.
        Schließlich reagiert die Bundesregierung auf die zu-
        nehmende grenzüberschreitende Tätigkeit von Veterinä-
        ren . Außerdem überwiegen in dem vorliegenden Entwurf
        neben dem Inhalt der tierärztlichen Mindestausbildung
        überwiegend Verfahrensvorschriften .
        So weit, so unstrittig . Doch leider hat die Bundesre-
        gierung diese gute Möglichkeit, weitere sinnvolle und
        notwendige Anpassungen in der Bundes-Tierärzteord-
        nung vorzunehmen, verstreichen lassen . Dazu zählt vor
        allem die Definition des tierärztlichen Berufsbildes, das
        in § 1 der Bundes-Tierärzteordnung gefasst ist . In der
        noch gültigen Fassung lautet § 1 (1):
        Der Tierarzt ist berufen, Leiden und Krankheiten
        der Tiere zu verhüten, zu lindern und zu heilen, zur
        Erhaltung und Entwicklung eines leistungsfähigen
        Tierbestandes beizutragen, den Menschen vor Ge-
        fahren und Schädigungen durch Tierkrankheiten so-
        wie durch Lebensmittel und Erzeugnisse tierischer
        Herkunft zu schützen und auf eine Steigerung der
        Güte von Lebensmitteln tierischer Herkunft hinzu-
        wirken .
        Nun bestehen die aktuellen Herausforderungen an
        eine Tierärztin/einen Tierarzt nicht nur in der fachlichen
        Komplexität, sondern vor allem im Nutztierbereich im
        Praktizieren in einem Spannungsfeld zwischen Tier-
        schutz und Tierproduktion .
        Ich unterstelle einem Menschen, der sich für den Be-
        ruf des Veterinärs entscheidet, eine grundsätzliche Zuge-
        wandtheit zu den Mitgeschöpfen . Dennoch ist die Praxis
        in der intensiven Tierhaltung in nicht geringem Maße von
        ökonomischen Erwägungen und nicht nur von Tierliebe
        geprägt . Beispiele hierfür ist das Ausstellen von Ausnah-
        megenehmigungen für Eingriffe am Tier, Kontrolle von
        Schlachtprozessen und Tiertransporten . Hier sind Abhän-
        gigkeiten und Drucksituationen leider keine Seltenheit .
        Aus diesem Grund hätte ich mir eine Neufassung des
        § 1 gewünscht, die nicht nur die Erhaltung und Entwick-
        lung eines leistungsfähigen Tierbestandes betont, son-
        dern einen Paragrafen, der auch die Verantwortung des
        Tierarztes/der Tierärztin als Stimme der Mitgeschöpfe
        für eine Erreichung einer artgerechten Tierhaltung dar-
        stellt, einen Paragrafen, der nicht nur das Verhüten von
        Leiden und Krankheit als Aufgabe definiert, sondern vor
        allem auch die Schaffung und Erhaltung von Gesundheit,
        Wohlbefinden und artgerechtem Verhalten. Tierärzte sol-
        len ganz selbstverständlich für ihre Sachkenntnis entlohnt
        werden und nicht für das Verkaufen von Medikamenten .
        Eine solche Formulierung hätte belegt, dass die Bun-
        desregierung in ihren Bekundungen für mehr Tierwohl
        mehr sieht als eine Beruhigungspille für gesellschaftliche
        Forderungen. Doch diese Hoffnung wurde einmal mehr
        enttäuscht . Deshalb stimmen wir dem Entwurf nicht zu .
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
        Beistandsmöglichkeiten unter Ehegatten und Le-
        benspartnern in Angelegenheiten der Gesundheits-
        sorge und in Fürsorgeangelegenheiten (Tagesord-
        nungspunkt 20)
        Dr. Silke Launert (CDU/CSU): Wir beraten heute
        über ein Thema, das uns alle angeht, über das aber keiner
        gerne spricht: Es geht um „Betreuung“, also darum, was
        geschieht, wenn wir in die Lage kommen, unser Leben
        nicht mehr selbstständig organisieren zu können . Natür-
        lich ist das für uns kein angenehmer Gedanke, aber es
        kann nun mal jeden von uns treffen – durch einen Un-
        fall, durch eine Krankheit oder auch weil uns im Alter
        schlicht die Kräfte ausgehen .
        Damit in solchen Situationen nicht irgendjemand
        Entscheidungen für uns trifft, sollte rechtzeitig Vorsorge
        getroffen werden, und zwar in Form einer Vorsorgevoll-
        macht oder zumindest einer Betreuungsverfügung . Ich
        kann also nur raten: Klären Sie frühzeitig ab, wer für Sie
        in den wichtigen Fragen der Vermögens- oder Gesund-
        heitssorge entscheiden soll .
        Wenn Sie jetzt denken: „Das brauche ich alles nicht,
        ich bin doch verheiratet, das kann dann meine Frau oder
        mein Mann für mich regeln“, dann irren Sie sich. Nach
        aktuellem Recht können die nächsten Angehörigen näm-
        lich einem medizinischen Eingriff beispielsweise nicht
        automatisch zustimmen . Tatsächlich besitzen Ehegatten,
        sofern keine Vorsorge getroffen wurde, zunächst so gut
        wie keine Entscheidungsrechte . Vielmehr muss grund-
        sätzlich ein Gericht klären, ob der Partner die Befugnisse
        erhält oder ob eine dritte Person als gerichtlich bestellter
        Betreuer fortan die Entscheidungen treffen soll.
        Erleidet zum Beispiel ein vierzigjähriger Ehemann
        einen Motorradunfall und kann in die notwendigen me-
        dizinischen Behandlungen im Krankenhaus nicht selbst
        einwilligen, so muss die Ehefrau grundsätzlich, wenn
        sie will, dass die Maßnahmen durchgeführt werden, erst
        einmal gerichtlich dafür sorgen, dass sie als Betreuerin
        bestellt wird .
        Besonders schwierig wird es auch dann, wenn im ho-
        hen Alter das Lebensende abzusehen ist und dann auch
        noch extra für die medizinische Behandlung ein gericht-
        liches Betreuungsverfahren erforderlich wird . Es kann
        also durchaus sein, dass in einer Situation, in der man
        Angst und Sorge um den Partner hat und eh schon alles
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721932
        (A) (C)
        (B) (D)
        schwer genug ist, man sich auch noch mit dem Betreu-
        ungsgericht auseinanderzusetzen hat .
        Das sollte so nicht sein und wollen wir daher nun
        ändern . Künftig soll das, wovon die Bürger mit guten
        Gründen ausgehen, nämlich dass der Mensch, der uns
        am nächsten steht, also der Ehegatte oder Lebenspartner,
        für uns sorgen und entscheiden soll, Gesetz sein . Das
        Anliegen des Bundesrats, dessen Gesetzentwurf uns hier
        vorliegt, wird von der Union daher grundsätzlich mit-
        getragen . Diskussionsbedarf besteht zwar noch bei der
        Reichweite der angenommenen Vollmacht, jedoch haben
        wir im weiteren parlamentarischen Verfahren noch aus-
        reichend Zeit, um darüber zu beraten . Insbesondere wird
        die öffentliche Anhörung dazu ausreichend Gelegenheit
        geben .
        Was uns aber außerdem bei diesem Thema noch um-
        treibt und bei dem vorliegenden Gesetzentwurf keine Be-
        rücksichtigung fand, ist die Frage nach der Betreuungs-
        vergütung . Leider gibt es nämlich auch Fälle, in denen
        es keinen Ehepartner gibt oder ein sonstiges Familien-
        mitglied, das sich bereit erklärt, die Sorge zu überneh-
        men . Dann muss vom Gericht eine dritte Person bestellt
        werden . In letzter Zeit habe ich mich viel mit sogenann-
        ten Berufsbetreuern unterhalten . Eine Betreuerin hat mir
        dabei eine Geschichte erzählt, die mir besonders in Er-
        innerung geblieben ist: Sie erzählte von einem Obdach-
        losen, der bereits mehrfach polizeilich aufgefallen war
        und eines Tages von einem Auto angefahren worden ist .
        Er lag im Koma in einem Krankenhaus und die Ärzte
        hatten festgestellt, dass er schwer alkoholkrank war . Die
        Berufsbetreuerin wurde schließlich mit dem Fall betraut .
        Der von mir geschilderte Fall ist keine Ausnahme .
        Tatsächlich sind in Deutschland etwa 1,3 Millionen
        Menschen auf Unterstützung angewiesen, weil sie krank,
        geistig oder körperlich behindert sind oder unter psy-
        chischen Störungen leiden . Um sie kümmern sich rund
        12 000 Berufsbetreuer und Berufsbetreuerinnen . Und wie
        es aussieht, wird die Zahl der rechtlichen Betreuungen
        vermutlich weiter steigen . Davon ist angesichts der de-
        mografischen Entwicklung in Deutschland auszugehen.
        Um auf mein Beispiel zurückzukommen: Die Berufs-
        betreuerin berichtete mir, dass mit diesem Fall, aber auch
        mit vielen anderen ein großer Arbeitsaufwand verbunden
        war . Und als ehemalige Betreuungsrichterin kann ich
        auch bestätigen, wie wichtig und schwierig es ist, wirk-
        lich geeignete Personen für diesen Beruf zu finden. Der
        Berufsbetreuer muss in Notsituationen immer erreichbar
        sein, er muss zumeist regelmäßig Rechenschaft über die
        Finanzen des Betreuten beim Betreuungsgericht ablegen,
        Behördengänge erledigen, den Kontakt mit dem Betreu-
        ten halten und auch schon mal eine Lösung finden, wenn
        dem Betreuten die Wohnung gekündigt wurde .
        Für diese Aufgaben stehen dem Berufsbetreuer nur
        eine pauschale Stundenanzahl zur Verfügung, wobei
        der Stundenlohn je nach Berufsabschluss zwischen 27
        und 44 Euro pro Stunde variiert . Davon muss er sich als
        Selbstständiger nicht nur sein Büro einrichten, sondern
        auch seinen Bürobedarf, sein Porto, seine Fahrtkosten
        und seine Haftpflichtversicherung bezahlen. Letztere ist
        unverzichtbar, schließlich tragen die Berufsbetreuer eine
        große Verantwortung, nicht selten geht es um Leben und
        Tod .
        Es ist der Union daher ein wichtiges Anliegen, dass
        wir auch ein Auge auf die Berufsbetreuer haben und für
        sie bessere Rahmenbedingungen schaffen. Insbesonde-
        re wollen wir die Vergütungssätze der Berufs- und Ver-
        einsbetreuer erhöhen . Nur so können wir auch für die
        Zukunft gewährleisten, dass wir gute Berufsbetreuer ha-
        ben . Die aktuell geltenden Stundensätze wurden seit der
        Einführung der Pauschalvergütung im Jahre 2005 nicht
        mehr erhöht . Allein die Umsatzsteuer ist entfallen . Die
        damit verbundene Einkommenssteigerung ist nicht an-
        satzweise vergleichbar mit der bei tarifgebundenen So-
        zialpädagogen .
        Mir ist durchaus bewusst, dass mit diesem Wunsch
        eine große finanzielle Belastung für die Justizhaushalte
        der Länder verbunden ist. Ich hoffe daher, dass wir im
        weiteren Verlauf des parlamentarischen Verfahrens zu ei-
        nem guten Ergebnis kommen werden .
        Schließlich will ich noch mal darauf hinweisen, dass
        Betreuung ein Thema ist, das uns alle angeht . Wir sollten
        also nicht leichtfertig damit umgehen .
        Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): Heute
        befassen wir uns in erster Lesung mit einer Thematik,
        die vielen von uns bekannt sein dürfte . Wir debattieren
        einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der den Beistand
        unter Ehegatten und Lebenspartnern verbessern soll und
        der in umfangreicher Form unter dem Begriff „Angehöri-
        genvertretungsrecht“ bereits Beratungsgegenstand in der
        15 . Legislaturperiode war .
        Bevor ich auf den Inhalt dieser Bundesratsinitiative zu
        sprechen komme, möchte ich vorausschicken, dass wir
        uns in der Grundausrichtung dieses Vorhabens mit den
        Ländern einig sind . Wir wollen die Rechte der Ehegatten
        und Lebenspartner, die betreut werden müssen, stärken .
        Kann eine volljährige Person, sei es durch Unfall oder
        Krankheit, nicht in medizinische Maßnahmen einwilli-
        gen, so kennt das geltende Recht bekanntlich bisher zwei
        Rechtsinstrumente, um Betroffene zu unterstützen und
        zu schützen: die Vorsorgevollmacht und die Bestellung
        eines rechtlichen Betreuers durch das Betreuungsgericht .
        Dabei halte ich die Vorsorgevollmacht für ein entschei-
        dendes Instrument, das dem Grundsatz der Selbstbestim-
        mung des Einzelnen Geltung verschaffen kann. In erster
        Linie will jeder Mensch selbst entscheiden; und wenn
        das nicht mehr möglich ist, dann entspricht es ebenfalls
        dem menschlichen Willen, selbst zu bestimmen, wer für
        einen handelt und entscheidet . An dieser Stelle sollten
        wir als Gesetzgeber nicht die Gelegenheit versäumen,
        auf die Tragweite einer privatautonomen Vorsorgevoll-
        macht nochmals hinzuweisen und für sie zu werben .
        Gleichwohl dürfen wir uns aber auch nicht der Rea-
        lität verschließen . Die Vorsorgevollmacht ist noch nicht
        so weit verbreitet, wie wir uns das wünschen würden .
        Bis ins hochbetagte Alter werden Gedanken und Fragen
        wie folgende verdrängt: Wer soll für mich im Falle einer
        schweren Krankheit entscheiden? Welche medizinischen
        Maßnahmen möchte ich zulassen?
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21933
        (A) (C)
        (B) (D)
        Viele Menschen gehen indes davon aus, dass sie im
        Krankheitsfall von ihren Ehe- oder eingetragenen Le-
        benspartnern ohne weitere Formalitäten vertreten wer-
        den können . Nach geltender Rechtslage ist dies jedoch
        nicht möglich . Aber genau an diese Erwartung der Bür-
        ger knüpft der Gesetzentwurf des Bundesrates an . Er will
        eine Vollmachtsvermutung „für den Bereich der Gesund-
        heitssorge und in der Fürsorge dienenden Angelegen-
        heiten“ einführen. Hinter diesen Begriffen verbirgt sich
        neben der Möglichkeit zur Einwilligung in Notfallopera-
        tionen auch das Recht, grundlegende Entscheidungen zur
        Pflege und Rehabilitation für den zu betreuenden Ehe-
        gatten zu treffen. Der vertretende Ehegatte soll ebenso
        berechtigt werden, eine gerichtliche Genehmigung ein-
        zuholen und zu entscheiden, ob der vertretene Ehegatte
        im Bett fixiert oder ob er gezielt durch Schlafmittel oder
        andere Medikamente am Verlassen des Krankenhauses
        gehindert werden darf .
        Den Regelungsinhalt des Gesetzentwurfs empfinden
        wir – und mein Tonfall lässt es schon vermuten – als zu
        weitgehend . Zwar wollen wir ein gesetzliches Vertre-
        tungsrecht im Bereich der Gesundheitssorge mittragen .
        Dieses soll aber insbesondere auf Einwilligungen in
        Untersuchungen des Gesundheitszustandes, in Heilbe-
        handlungen oder ärztliche Eingriffe beschränkt werden.
        Damit wird das Ziel, für Notsituationen ein gesetzliches
        Vertretungsrecht zwischen Ehegatten und Lebenspart-
        nern zu schaffen, auf einfachere Weise erreicht. Der ent-
        sprechende Änderungsantrag müsste den Kolleginnen
        und Kollegen bereits zugegangen sein .
        Wir wollen überdies die inhaltliche Nähe des Ge-
        setzentwurf des Bundesrates dazu nutzen, ein weiteres
        wichtiges Vorhaben im Betreuungsrecht auf den Weg zu
        bringen: eine moderate Erhöhung der Vergütungssätze
        für Vereins- und selbständige Berufsbetreuer . Die vor
        rund zwölf Jahren mit Inkrafttreten des Zweiten Betreu-
        ungsrechtsänderungsgesetzes eingeführten und seitdem
        unveränderten Stundensätze des § 4 des Vormünder- und
        Betreuervergütungsgesetzes sollen um 15 Prozent ange-
        hoben werden . Das hätte zur Folge, dass die nach aka-
        demischer und beruflicher Ausbildung gestaffelten Stun-
        densätze von derzeit 44 Euro in der höchsten Stufe auf
        50,60 Euro, in der mittleren Stufe von 33,50 Euro auf
        38,50 Euro und in der niedrigsten Stufe von 27 Euro auf
        rund 31 Euro ansteigen würden .
        Wir sind der Meinung, dass eine solche Anhebung
        geboten und angemessen ist . Qualitativ hochwertige
        Betreuung ist eben auch eine Frage der Vergütung, und
        eine angemessene Vergütung ist eine unverzichtbare Vo-
        raussetzung für ein leistungsfähiges und zukunftsfestes
        Betreuungswesen . Gerade mit Blick auf die allgemeine
        Preissteigerung und die Einkommensentwicklung ver-
        gleichbarer Berufsgruppen seit Einführung des pauscha-
        lierten Vergütungssystems sehen wir es an der Zeit, die
        Vergütungssätze für Vereins- und selbständige Berufsbe-
        treuer – und hier auch trotz des Wegfalls der Umsatzsteu-
        erpflicht vor wenigen Jahren – zu erhöhen.
        Wir schneiden uns die Zahlen ja nicht aus den Rippen
        oder argumentieren ins Blaue hinein . Wie auch schon bei
        Einführung des Vergütungssystems im Jahr 2005 gibt es
        empirisches Datenmaterial, das unsere Argumentation
        stützt . Dass die Schere zwischen tatsächlich geleistetem
        und vergütetem Aufwand auseinandergegangen ist, wird
        auch durch den kürzlich veröffentlichen Zweiten Zwi-
        schenbericht des Forschungsvorhabens zur Qualität in
        der rechtlichen Betreuung bestätigt, das durch das Bun-
        desministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in
        Auftrag gegeben wurde .
        Wir können und wollen der Schließung von Betreu-
        ungsvereinen nicht weiter tatenlos zusehen . Über Jah-
        re gewachsene Betreuungsstruktur darf nicht verloren
        gehen . Es ist ja auch nicht so, dass es der Staat besser,
        geschweige denn günstiger hinbekommen würde . Des-
        wegen setzen wir uns mit dieser Verbindung zum Gesetz-
        entwurf des Bundesrates zur Verbesserung der Beistands-
        möglichkeiten unter Ehegatten und Lebenspartnern auch
        dafür ein, dass wir hier zu einem zügigen Abschluss der
        Änderungen im Vormünder- und Betreuervergütungsge-
        setz kommen . Denn was einmal verloren ist, muss erst
        wieder kostenintensiv aufgebaut werden .
        Wir sind uns darüber bewusst, dass wir hier einen Ver-
        trag zulasten Dritter aufsetzen . Wir müssen die Länder
        ins Boot holen . Ich bin mir natürlich auch darüber im
        Klaren, dass die Situation im Betreuungswesen nicht in
        jedem Bundesland gleich ist . In meinem Heimatbundes-
        land Schleswig-Holstein läuft die Förderung der Betreu-
        ungsvereine sehr gut; aber auch hier braucht es eine zu-
        kunftsfeste Struktur . Mit der jetzt geplanten moderaten
        Vergütungserhöhung tragen wir dazu bei .
        Dr. Matthias Bartke (SPD): Ein Schlaganfall, ein
        schwerer Autounfall, eine plötzliche Krankheit – das al-
        les sind Schicksalsschläge, mit denen wir uns in unserem
        Alltag lieber nicht beschäftigen . Und doch passieren sie
        immer wieder und viel zu oft . Solche Einschnitte sind
        eine schwere Last für die Ehepartner . Sie haben Angst
        um ihre Liebsten, sorgen sich, wie es weitergehen wird,
        und müssen oft auf die Schnelle vieles neu organisieren .
        Das ist noch um ein Vielfaches mehr belastend, wenn die
        Erkrankten nicht mehr selber entscheiden können . Es ist
        genau dieser Zeitpunkt, wenn über viele die Erkenntnis
        hereinbricht, dass die Entscheidungsbefugnis ihres Ehe-
        partners nicht automatisch auf sie übergeht .
        Ein Sorgerecht mit allen Vollmachten – etwa auch
        in Bezug auf gesundheitliche Angelegenheiten – haben
        nur Eltern für ihre minderjährigen Kinder . Das ist längst
        nicht allen bekannt . Das Meinungsforschungsinstitut for-
        sa hat dazu eine Umfrage durchgeführt . Das Ergebnis:
        Etwa zwei Drittel der Befragten gehen davon aus, dass
        bei schweren Erkrankungen oder Unfällen automatisch
        die nächsten Angehörigen für die betroffene Person ent-
        scheiden können . Andere Umfrageergebnisse machen
        außerdem deutlich, dass sich die große Mehrheit von Be-
        fragten wünscht, dass bei krankheitsbedingter Unfähig-
        keit die Partner füreinander entscheiden können . Wenn
        sich Erkrankte aber nicht rechtzeitig um eine entspre-
        chende Vorsorgevollmacht gekümmert haben, sind dem
        gesunden Ehepartner die Hände gebunden . Er hat dann
        keine Entscheidungsrechte . Stattdessen muss zunächst
        ein Gericht klären, ob der Ehemann oder die Ehefrau die
        rechtliche Betreuung übernehmen kann . Für die Angehö-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721934
        (A) (C)
        (B) (D)
        rigen bedeutet das Behördengänge, Gerichtstermine und
        zusätzliche Kosten .
        Das will der Bundesrat mit seinem Gesetzentwurf zur
        Verbesserung der Beistandsmöglichkeiten nun ändern .
        Es soll eine gesetzliche Annahme der Bevollmächtigung
        zwischen Ehegatten und eingetragenen Lebenspartnern
        geschaffen werden. Sie soll für den Bereich der Gesund-
        heitssorge und der Fürsorge greifen . Ich denke, meine
        Einführung hat deutlich gemacht, dass auch wir diesem
        Anliegen sehr wohlwollend gegenüberstehen . Den Be-
        troffenen werden Formalitäten erspart, und kurzfristige
        Betreuerbestellungen können vermieden werden .
        Trotzdem werden wir den Gesetzentwurf nicht unver-
        ändert übernehmen . Das im Entwurf vorgesehene Vertre-
        tungsrecht wollen wir allein auf den Bereich der Gesund-
        heitssorge beschränken . Damit wird das Vertretungsrecht
        in vermögensrechtlichen Angelegenheiten entfallen .
        Ebenso lehnen wir die Vollmacht für freiheitsentziehen-
        de Maßnahmen ab . Da der Anwendungsbereich auf diese
        Weise beschränkt sein wird, können wir außerdem die
        verfassungsrechtlich bedenkliche Befugnis zum Öffnen
        der Post vermeiden .
        Besonders kritisch sehen wir die im Bundesratsent-
        wurf vorgesehenen Erklärungen . Der Ehegatte müsste
        für den Abschluss von Verträgen und für freiheitsentzie-
        hende Maßnahmen unter anderem ein ärztliches Zeugnis
        vorlegen . Dieses Zeugnis dürfte maximal sechs Monate
        alt sein und müsste die Unfähigkeit des anderen Ehegat-
        ten zur Besorgung der Angelegenheiten bestätigen . Ein
        sechs Monate altes Zeugnis gibt im Zweifelsfall aber we-
        nig Auskunft über die aktuelle Situation . Hier herrscht
        also Missbrauchsgefahr . Das müssen wir unbedingt ver-
        hindern .
        Die von uns bevorzugte Beschränkung auf die Ge-
        sundheitssorge hat hingegen einen klaren Vorteil: Die
        Vertretung in diesen Belangen ist auf einen unstrittigen
        Bereich und einen kurzen Zeitraum beschränkt . Das mi-
        nimiert das Missbrauchspotenzial . Der behandelnde Arzt
        kann aus eigener Anschauung beurteilen, dass der Pati-
        ent seine Angelegenheiten nicht selbst besorgen kann . Da
        nur der Gesundheitsbereich erfasst ist, brauchen Dritte
        keine Informationen über den Zustand des Betroffenen.
        Ein bis zu sechs Monate altes ärztliches Zeugnis ist damit
        überflüssig.
        Eine unkompliziertere Anwendung wird dazu führen,
        dass Ehegatten in der Praxis vom Vertretungsrecht tat-
        sächlich Gebrauch machen . Nur dann können wir kurz-
        fristige Betreuerbestellungen auch wirklich vermeiden,
        so wie es der Gesetzentwurf beabsichtigt .
        Je nach Schwere der Erkrankung kann der betroffene
        Ehegatte nach einer gewissen Zeit eine Vollmacht ertei-
        len . Ist die Beeinträchtigung stärker und länger andau-
        ernd, so wird ohnehin eine Betreuerbestellung notwen-
        dig . Das wäre im Übrigen auch der Fall, wenn, wie im
        Bundesratsentwurf auch, vermögensrechtliche Angele-
        genheiten erfasst wären . Eine Beschränkung auf die Ge-
        sundheitssorge bringt also nur Vorteile, vermeidet aber
        gravierende Nachteile .
        In der Summe schaffen wir mit unseren Änderungen
        ein anwenderfreundliches Vertretungsrecht zwischen
        Ehegatten und Lebenspartnern für Notsituationen . Wir
        werden den Betroffenen damit zumindest eine Last in
        einer schweren Zeit nehmen können . Die enge zeitliche
        Begrenzung wie auch die Beschränkung auf die Gesund-
        heitssorge beugen zugleich Missbrauch vor .
        Die Vorsorgevollmacht wird dennoch nicht an Be-
        deutung verlieren . Das ist für uns von höchster Priori-
        tät . Denn nur die Vorsorgevollmacht vermeidet dauer-
        haft Betreuungen und kann das Selbstbestimmungsrecht
        der Betroffenen in vollem Umfang gewährleisten. Wer
        als Bevollmächtigter eingesetzt wird, kann jeder selbst
        entscheiden . Das ist eine Frage des Vertrauens und im
        besten Fall eben nicht des Gerichts . Es können auch für
        verschiedene Aufgaben unterschiedliche Personen ein-
        getragen werden . Jemand, der ganz in der Nähe wohnt,
        kann beispielsweise für Gesundheitsfragen bevollmäch-
        tigt werden und jemand weiter weg für die Vermögens-
        fragen .
        Während wir mit der Vorsorgevollmacht also bereits
        ein sehr wirksames Instrument zur Verfügung haben, be-
        schäftigt uns eine andere Baustelle im Betreuungsrecht
        noch sehr . Und zwar ist das die Vergütung der Berufs-
        betreuer . Die Pauschalvergütung der Berufsbetreuer ist
        seit 2005 unverändert . Die Kosten sind in den vergange-
        nen elf Jahren aber gestiegen und auch die Einkommen
        vergleichbarer Berufsgruppen sind das ebenfalls . Eine
        Anpassung der Stundensätze halten wir deshalb für un-
        bedingt notwendig .
        Die demografische Entwicklung, aber auch die zu-
        nehmende Verrechtlichung vieler Lebensbereiche führen
        dazu, dass die Zahl der rechtlich Betreuten immer weiter
        zunimmt . Im hohen Alter können immer mehr Menschen
        nicht mehr eigenständige Entscheidungen treffen. Neben
        vielen Ehrenamtlern unterstützen die Berufsbetreuer die
        Betreuten in ihrer Entscheidungsfindung und kümmern
        sich um ihre Angelegenheiten – sei es der Vertrag mit
        dem Pflegeheim, die Erledigung der Post oder das Ver-
        walten des Vermögens . Die Aufgaben sind zahlreich und
        verlangen von den Betreuern einen erheblichen Zeitein-
        satz . Ihren Beitrag für die Gesellschaft können wir daher
        gar nicht genug wertschätzen . Das ist vor allem dann der
        Fall, wenn die Betreuung sich konsequent am Selbst-
        bestimmungsrecht der Betroffenen orientiert. Wenn die
        Betreuer aber gezwungen sind, wegen der unveränderten
        Stundensätze die Fallzahlen zu erhöhen, dann läuft es
        gewaltig falsch . Denn erhöhte Fallzahlen bleiben nicht
        ohne Folge: Der Betreuer muss die persönliche Betreu-
        ung vernachlässigen, was zu deutlichen Qualitätseinbu-
        ßen führt .
        Den vorliegenden Gesetzentwurf werden wir deswe-
        gen auch dahin gehend ändern, dass wir eine Vergütungs-
        erhöhung für die Berufsbetreuer um 15 Prozent vorsehen .
        Die dringende Notwendigkeit einer Vergütungserhöhung
        hat nicht zuletzt das Zwischengutachten des Forschungs-
        vorhabens „Qualität der rechtlichen Betreuung“ des Jus-
        tizministeriums bewiesen . Darauf bauen wir auf und set-
        zen auf die Unterstützung aller Beteiligten .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 2017 21935
        (A) (C)
        (B) (D)
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Wir müssen uns
        folgende Situation vorstellen: Ein Ehepaar sitzt zuhause
        auf der Couch, sie schauen eine Fußballübertragung im
        Fernsehen an und die Ehefrau regt sich derart über den
        Schiedsrichter auf, dass sie einen Herzinfarkt bekommt,
        zusammenbricht, ins Koma fällt und mittels Rettungswa-
        gen ins Krankenhaus gebracht werden muss .
        Nun wird bei ihr eine Erkrankung festgestellt, die der
        Behandlung bedarf, sie selbst ist aber nicht mehr in der
        Lage, darüber zu entscheiden. Der Ehemann steht hilflos
        daneben . Denn nach geltender Rechtslage können Ehegat-
        ten und ebenso Partner einer eingetragenen Lebenspart-
        nerschaft weder Entscheidungen über medizinische Be-
        handlungen für ihren nicht mehr selbst handlungsfähigen
        Partner treffen noch diesen im Rechtsverkehr vertreten,
        solange sie nicht als rechtliche Betreuer ihres Partners
        bestellt werden oder von ihm im Rahmen einer Vorsorge-
        vollmacht hierzu wirksam bevollmächtigt worden sind .
        Doch oftmals wird der Gedanke an die Erteilung einer
        Vorsorgevollmacht – gerade bei jüngeren Menschen –
        verdrängt und auf „später“ verschoben. „Das müssen wir
        auch noch mal regeln“, höre ich immer wieder.
        Nach einem Unfall oder einer unerwarteten schweren
        Krankheit bedarf es dann erst eines gerichtlichen Ver-
        fahrens auf Betreuerbestellung, um dem Ehegatten oder
        Lebenspartner auch in rechtlicher Hinsicht beistehen zu
        können . Untersuchungen zeigen, dass die meisten Bürger
        sich eine Besorgung ihrer Angelegenheiten und Vertre-
        tung durch ihren Partner bei eigenem Unvermögen wün-
        schen und dass die meisten Menschen – leider irrig – zu-
        dem davon ausgehen, dass ihr Partner sie in diesem Fall
        auch qua Gesetz vertreten darf .
        Der Gesetzentwurf schafft zur Lösung dieses Pro-
        blems, für den Bereich der Gesundheitssorge und in der
        Fürsorge dienenden Angelegenheiten, eine gesetzliche
        Annahme der Bevollmächtigung zwischen Ehegatten und
        eingetragenen Lebenspartnern für den Fall, dass der ver-
        tretene Ehegatte oder Lebenspartner weder im Rahmen
        einer ausdrücklichen Vorsorgevollmacht etwas anderes
        bestimmt noch einen entgegenstehenden Willen geäußert
        hat . Der Ehegatte oder Lebenspartner soll hierbei den-
        selben Bindungen unterliegen wie ein – ausdrücklich –
        Vorsorgebevollmächtigter . Ein der Vertretung durch den
        Partner entgegenstehender Wille soll als Widerspruch in
        das Zentrale Vorsorgeregister der Bundesnotarkammer
        eingetragen werden können .
        Die Vorsorgevollmacht ist und bleibt ein wichtiges
        Instrument, um selbstbestimmt darüber entscheiden zu
        können, wer im Falle des Verlustes der eigenen Hand-
        lungsfähigkeit handeln und entscheiden soll; hier wird
        nur für den Fall des Nichtvorliegens die Person, die dem
        Betroffenen am nächsten steht, als Bevollmächtigter ver-
        mutet .
        Der Gesetzentwurf ist grundsätzlich zu unterstützen .
        Ob die seitens der Bundesregierung bestehenden Be-
        denken hinsichtlich etwaiger Konflikte zu Artikel 12
        der UN-Behindertenkonvention berechtigt sind, wird im
        parlamentarischen Verfahren und der bereits terminierten
        Anhörung zu dem Gesetzentwurf zu klären sein .
        Auch hinsichtlich der Frage, ob Ehegatten und Le-
        benspartner immer ihrer Aufgabe als Betreuer gewach-
        sen sind oder dass eine Ehe/Lebenspartnerschaft nur
        noch auf dem Papier bestehen könnte, ist die vorgesehe-
        ne Regelung einer automatischen gerichtlichen Betreu-
        ung vorzuziehen. Zum einen findet diese Vollmachts-
        vermutung keine Anwendung, wenn die Partner nach
        § 1567 Absatz 1 BGB getrennt leben . Und um etwaigem
        Missbrauch weiter vorzubeugen, kann nach wie vor jeder
        seine Angelegenheiten auch nach der neuen Gesetzesla-
        ge in Form einer eigenen Vorsorgevollmacht oder einer
        sonstigen anderslautenden Willensäußerung abweichend
        regeln .
        Die möglicherweise erforderlichen Änderungen oder
        Ergänzungen werden sich im Laufe der weiteren Bera-
        tungen ergeben . Ich freue mich darauf .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir de-
        battieren heute einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der
        in einem höchstpersönlichen Bereich, bei dem es um Le-
        ben und Tod gehen kann, künftig eine gesetzliche Fiktion
        einführt . Wenn jemand keine Vorsorgevollmacht erstellt
        hat, soll im Falle der Geschäftsunfähigkeit automatisch
        der Ehegatte als bevollmächtigt gelten .
        Damit sollen angeblich Dinge vereinfacht werden,
        weil dann kein Betreuer bestellt werden muss . Ich habe
        allerdings erhebliche Zweifel, ob das wirklich eine so
        große Vereinfachung ist und ob dadurch nicht ganz ande-
        re Probleme und Risiken erst entstehen .
        Kann jemand seine Angelegenheiten nicht mehr selbst
        erledigen, prüft bislang das Amtsgericht auf Antrag, ob
        und wer in diesem Fall als Betreuer einzusetzen ist . Da-
        bei ist der Betroffene anzuhören, und er oder sie kann
        selber Vorschläge machen, die zu berücksichtigen sind .
        § 1897 Absatz 5 BGB lautet wie folgt:
        Schlägt der Volljährige niemanden vor … so ist bei
        der Auswahl des Betreuers auf die verwandtschaft-
        lichen und sonstigen persönlichen Bindungen des
        Volljährigen, insbesondere auf die Bindungen zu
        Eltern, zu Kindern, zum Ehegatten und zum Le-
        benspartner, sowie auf die Gefahr von Interessen-
        konflikten Rücksicht zu nehmen.
        Ehrlich gesagt: Besser und angemessener kann man es
        doch gar nicht formulieren!
        Warum sollen wir ausgerechnet in diesem wichtigen
        Bereich auf die richterliche Entscheidung und damit auch
        auf die Anhörung des Betroffenen verzichten? Und er-
        setzt das bloße Vorliegen einer Heiratsurkunde wirklich
        die Prüfung eines Interessenkonfliktes? In den allermeis-
        ten Fällen wird sich nach der richterlichen Anhörung tat-
        sächlich ergeben, dass der Ehegatte die geeignete Person
        ist . Manchmal kann es aber auch genauso gut – oder auch
        besser – das eigene Kind sein .
        Warum will das Gesetz hier einen Vorrang schaffen,
        der am Ende dazu führt, dass Familienmitglieder proak-
        tiv gegen die gesetzliche Fiktion tätig werden und wo-
        möglich verborgene Konflikte aufdecken müssen?
        (A) (C)
        (B) (D)
        Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
        Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 218 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 16 . Februar 201721936
        Das Risiko, dass die Fiktion gerade nicht dem Willen
        des Betroffenen entspricht, ist selbst nach der Gesetzes-
        begründung nicht unerheblich . In der Begründung steht,
        dass 80 Prozent der Befragten ihren Ehegatten als Be-
        treuer einsetzen würden . Was bedeutet das denn für die
        anderen 20 Prozent?
        Die Gründe dafür, jemand anderen als den eigenen
        Ehegatten zum Betreuer bestellen zu wollen, können so
        vielfältig sein wie das Leben selbst . Vielleicht möchte
        jemand seine Partnerin oder seinen Partner damit nicht
        belasten, oder die Ehe ist möglicherweise seit Jahren viel
        zerrütteter, als es irgendjemand geahnt hat . Als Fachan-
        wältin für Familienrecht kann ich Ihnen versichern: Es
        gibt im Bereich familiärer Konflikte nichts, was es nicht
        gibt! Die gesetzliche Fiktion einer intakten Ehe halte ich
        für sehr gewagt, um nicht zu sagen unverantwortbar .
        Was soll so schlimm daran sein, sich vom Gericht be-
        stellen zu lassen? Ein entsprechender Betreuerausweis ist
        doch ohnehin hilfreich bei der Besorgung der Rechtsan-
        gelegenheiten . Wie soll das ohne einen solchen Ausweis
        denn überhaupt gehen?
        In dem geplanten § 1358 Absatz 3 BGB ist vorgese-
        hen, dass man gegenüber Behörden und Ärzten erklären
        muss, mit dem Betroffen verheiratet zu sein, nicht ge-
        trennt zu leben, keine Kenntnis von einem entgegenste-
        henden Willen zu haben – und dazu noch ein ärztliches
        Zeugnis über die eingeschränkte Geschäftsfähigkeit des
        Betroffenen vorlegen, dass nicht älter als sechs Monate
        ist .
        Und das soll einfacher sein als eine Betreuerbestel-
        lung? Wissen Sie eigentlich, wie schwierig es sein kann,
        festzustellen, ob Eheleute getrennt leben? Das allein kann
        Gegenstand umfangreicher Streitverfahren sein . Nein –
        ich würde mal unterstellen, der Gesetzentwurf war gut
        gemeint, aber vereinfacht wird dadurch gar nichts .
        Im Betreuungsrecht steht das Selbstbestimmungsrecht
        ganz im Fokus, und da brauchen wir auch keine Verkür-
        zungen und Fiktionen . Belassen Sie es bei der Betreu-
        ungsbestellung durch das Gericht .
        Das ist im Übrigen auch die Empfehlung der Deut-
        schen Stiftung Patientenschutz . Und auch das Bundes-
        ministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat
        ja Bedenken geäußert und den Fraktionen einen Ände-
        rungsantrag empfohlen, mit dem die gesetzliche Fiktion
        gestrichen und stattdessen eine Beschränkung auf die
        Gesundheitssorge vorgenommen werden soll . Sollten
        Sie diesen Änderungsantrag einbringen, wäre das sicher-
        lich eine deutliche Verbesserung . Von der Notwendigkeit
        der Gesetzesänderung bin ich allerdings auch dann noch
        nicht überzeugt .
        Gerade bei akuten Notsituationen kann sich ein Miss-
        brauch besonders gravierend auswirken . Der Arzt wäre
        an die gesetzliche Berechtigung des Ehegatten zur Ent-
        scheidung über die Heilbehandlung gebunden und müss-
        te im Zweifelsfall selbst gegen den Willen desselben das
        Betreuungsgericht einschalten . Eine solche zusätzliche
        Hürde zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Be-
        troffenen macht es nicht einfacher. Und ob die Ehegatten
        getrennt leben, ist für den behandelnden Arzt schon gar
        nicht nachprüfbar . An dieser Stelle würde auch der Ände-
        rungsantrag keine Abhilfe schaffen.
        Wir lassen uns im weiteren Beratungsverfahren gerne
        noch einmal die praktischen Gründe erläutern, warum
        hier überhaupt eine Gesetzesänderung notwendig sein
        soll .
        In der vom Bundesrat beschlossenen Form wäre der
        Gesetzentwurf auf jeden Fall abzulehnen .
        Anlage 8
        Neudruck: Antwort
        der Staatsministerin Dr . Maria Böhmer auf die Frage des
        Abgeordneten Andrej Hunko (DIE LINKE) (Drucksa-
        che 18/11120, Frage 20):
        Mit welchen Maßnahmen unterfüttert nach Kenntnis der
        Bundesregierung die Europäische Union in Belarus „eine ge-
        wisse Vereinbarung bezüglich der Migration“, wie der dortige
        Präsident eine Kooperation umschrieb, die unter anderem Gel-
        der für den Bau von Zentren für „illegale“ Migranten sowie
        für deren Abschiebung vorsieht (dw .com vom 24 . Januar 2017,
        „Streit um Migrantenzentren in Weißrussland“), und welchen
        Stand haben nach Kenntnis der Bundesregierung die seit 2011
        autorisierten Verhandlungen der Europäischen Kommission
        über ein Abschiebeabkommen der Europäischen Union mit
        Belarus (Bundestagsdrucksache 18/1423, Antwort zu Fra-
        ge 9)?
        Ein umfassendes europäisches Unterstützungspro-
        gramm im Bereich Migration soll Belarus bei der Bewäl-
        tigung einer steigenden Zahl irregulärer Migrantinnen
        und Migranten im Land helfen .
        Das Unterstützungsprogramm umfasst 7 Millionen
        Euro aus dem Europäischen Nachbarschaftsinstrument
        und unterstützt die belarussische Regierung bei der Ent-
        wicklung und Umsetzung von Strategien zum Migrati-
        onsmanagement im Einklang mit internationalem Recht
        und internationalen Standards . Auch Bau und/oder Reno-
        vierung von mehreren Unterkünften für Migranten sind
        vorgesehen . Die Internationale Organisation für Migra-
        tion (IOM) ist an der Umsetzung beteiligt . Eine ausführ-
        liche Beschreibung ist auf der Internetseite der Europäi-
        schen Kommission frei zugänglich .
        Verhandlungen über ein Visaerleichterungs- und
        Rückübernahmeabkommen haben im Jahr 2014 begon-
        nen und sind noch nicht abgeschlossen .
        (217 . Sitzung, Anlage 9)
        http://www.dw.com
        218. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3, ZP 2 Neuregelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs
        TOP 4 Förderung der Transparenz von Entgeltstrukturen
        ZP 3 Integrationspolitik
        TOP 27, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 28 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 6 Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung
        TOP 7 Bekämpfung der Steuerumgehung
        TOP 8 Präventionsstrategie gegen gewaltbereiten Islamismus
        TOP 24 Regionale Wirtschaftspolitik
        TOP 10 Deutsche Ostpolitik
        TOP 11 Änderung des Düngegesetzes
        TOP 12, ZP 5 Klimaschutz in der Wärmeversorgung
        ZP 6 Nachtragshaushaltsgesetz 2016
        TOP 14 Bekämpfung von Fluchtursachen
        TOP 9 Zivile Krisenprävention
        TOP 16 Attraktivität der Berufsausbildungsförderung
        ZP 7 Anfechtungen nach der Insolvenzordnung
        TOP 18 Bewahrung des deutschen Filmerbes
        TOP 13 Umsetzung von EU-Richtlinien zur Arbeitsmigration
        TOP 17 Sicherung der Ernährung in einer Versorgungskrise
        TOP 19 Änderung der Bundes-Tierärzteordnung
        TOP 20 Bevollmächtigung im Bereich der Gesundheitssorge
        Anlagen
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8