Vizepräsidentin Claudia Roth
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18903
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Böhmer, Dr . Maria CDU/CSU 22 .09 .2016
        Bluhm, Heidrun DIE LINKE 22 .09 .2016
        Gabriel, Sigmar SPD 22 .09 .2016
        Heiderich, Helmut CDU/CSU 22 .09 .2016
        Hellmich, Wolfgang SPD 22 .09 .2016
        Hintze, Peter CDU/CSU 22 .09 .2016
        Kofler, Dr. Bärbel SPD 22 .09 .2016
        Lach, Günter CDU/CSU 22 .09 .2016
        Launert, Dr . Silke CDU/CSU 22 .09 .2016
        Lerchenfeld, Philipp
        Graf
        CDU/CSU 22 .09 .2016
        Leyen, Dr . Ursula von
        der
        CDU/CSU 22 .09 .2016
        Obermeier, Julia CDU/CSU 22 .09 .2016
        Özoğuz, Aydan SPD 22 .09 .2016
        Schlecht, Michael DIE LINKE 22 .09 .2016
        Schmelzle, Heiko CDU/CSU 22 .09 .2016
        Schmidt (Fürth),
        Christian
        CDU/CSU 22 .09 .2016
        Steinbrück, Peer SPD 22 .09 .2016
        Steinmeier, Dr . Frank-
        Walter
        SPD 22 .09 .2016
        Widmann-Mauz,
        Annette
        CDU/CSU 22 .09 .2016
        Willsch, Klaus-Peter CDU/CSU 22 .09 .2016
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Florian Pronold, Ulrike Bahr,
        Klaus Barthel Dr. Karl-Heinz Brunner, Martin
        Burkert, Sabine Dittmar, Christian Flisek, Gabriele
        Fograscher, Uli Grötsch, Gabriela Heinrich,
        Anette Kramme, Florian Post, Marianne Schieder,
        Andreas Schwarz, Martina Stamm-Fibich, Claudia
        Tausend und Carsten Träger (alle SPD) zu den na-
        mentlichen Abstimmungen über
        – den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
        Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
        stoppen
        (Tagesordnungspunkt 6 a)
        und
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618904
        (A) (C)
        (B) (D)
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        sowie
        – den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
        Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) ablehnen
        (Tagesordnungspunkt 39 a)
        (Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
        Im vorliegenden Koalitionsantrag geht es nicht um
        eine abschließende Abstimmung des Deutschen Bundes-
        tages über CETA (Comprehensive Economic and Trade
        Agreement (CETA) ‒ Für freien und fairen Handel). Wir
        sehen in diesem Antrag aber einen Schritt in Richtung
        einer Verbesserung des vorliegenden Vertragsentwurfs .
        Es werden die schwerwiegenden Bedenken und Ableh-
        nungsgründe beim Investitionsschutz, bei der wirksamen
        Durchsetzung des Vorsorgeprinzips sowie von Standards
        für Arbeit, Soziales, Umwelt und Daseinsvorsorge be-
        nannt . Es wird der Wille formuliert, hierbei zu rechts-
        wirksamen Ergänzungen in unserem Sinne zu kommen,
        wie sie auch der SPD-Parteikonvent gefordert hatte .
        Die Durchsetzung dieser Ziele soll sich durch das ge-
        samte Verfahren der Beratungen ziehen, angefangen im
        EU-Ministerrat, bis hin zur Ratifikation im Deutschen
        Bundestag und Bundesrat . Auch spricht sich der An-
        trag klar für transparente, schrittweise parlamentarische
        Verfahren aus . Jeder Schritt ist dabei ergebnisoffen und
        schließt die Möglichkeit eines Stopps oder einer Ableh-
        nung ein .
        Mit dem Koalitionsantrag Bundestagsdrucksa-
        che . 18/9663 vom 20 . September 2016 zu CETA (Com-
        prehensive Economic and Trade Agreement (CETA)
        ‒ Für freien und fairen Handel) ist eine Zustimmung zu
        CETA nicht verbunden . Sie wäre für uns nach heutigem
        Stand auch nicht möglich . Sie wäre nur dann denkbar,
        wenn wesentliche Verbesserungen an dem Abkommen
        am Ende des Prozesses rechtssicher festgehalten sind .
        Anlage 3
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg),
        Dr. Lars Castellucci, Dr. h. c. Gernot Erler, Michael
        Gerdes, Christina Jantz-Herrmann, Steffen-
        Claudio Lemme, Stefan Rebmann, Dr. Carola
        Reimann, Dr. Dorothee Schlegel, Elfi Scho-
        Antwerpes und Frank Schwabe (alle SPD) zu den
        namentlichen Abstimmungen über
        – den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
        Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
        stoppen
        (Tagesordnungspunkt 6 a)
        und
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18905
        (A) (C)
        (B) (D)
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        sowie
        – den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
        Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) ablehnen
        (Tagesordnungspunkt 39 a)
        (Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
        Müssten wir heute über das Freihandelsabkommen
        mit Kanada „CETA“ abstimmen, wir würden ablehnen .
        Aber heute wird nicht über den Vertragstext des Abkom-
        mens CETA abgestimmt .
        Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
        wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
        der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
        in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu
        geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
        on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
        fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
        der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
        Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie-
        und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
        MoveOn in den USA), vielen ver .di-Mitgliedern und an-
        deren, die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren,
        wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht
        kommt, so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
        Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurden wir um
        Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
        Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach
        gut ist . In vielen anderen wurden wir um Ablehnung
        gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung
        der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsorge und des
        Vorsorgeprinzips . Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht
        der endgültige Vertragstext und alle rechtsverbindlichen
        Ergänzungen zur Beschlussfassung im Bundestag vorlie-
        gen, können die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und
        Arbeitsplätze ebenso wenig begründen wie die anderen
        ihre Befürchtungen .
        Deshalb unsere stereotype Antwort: Wenn sich alle
        Hoffnungen der Befürworter durch den Vertrag bestä-
        tigen lassen, stimmen wir zu . Wenn sich alle Befürch-
        tungen derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die uns
        auffordern abzulehnen, bestätigen, lehnen wir ab . Das
        entscheiden wir endgültig, wenn entscheidungsreife Vor-
        lagen den Bundestag erreichen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
        dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
        selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
        wahrgenommen werden und man fest im einmal gefällten
        Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute Beispiele:
        Nachdem Sigmar Gabriel mit der Kanadischen Handels-
        ministerin Chrystia Freeland wichtige Verbesserungen
        hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte,
        hat Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
        werkschaftsbundes (DGB), den auf dem SPD-Konvent
        eingeschlagenen Weg unterstützt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
        die schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihan-
        delsabkommen sind, und anders als CDU und CSU, die
        schon lange wissen, dass sie für diese Freihandelsab-
        kommen sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion
        einen intensiven Diskussions- und Abwägungsprozess
        angestoßen und organisiert . In diesem von Bundeswirt-
        schaftsminister Gabriel wesentlich getragenen Prozess
        wurde der Ursprungstext so verändert, dass die Kritiker
        der Ursprungstexte in Pro und Kontra zusammengeführt
        werden . Dazu gab es einen großen SPD-Konvent, auf
        dem wir die „roten Linien“ für eine Zustimmung zu den
        aktuellen Freihandelsabkommen beschlossen haben . Wer
        diese Veränderungen wahrnimmt, erkennt, wie wesent-
        lich diese Änderungen für den Zusammenhalt unserer
        Gesellschaft sind . Und damit ist nicht nur die deutsche
        Gesellschaft gemeint . Unser Ziel ist, den Wohlstand aller
        Menschen global zu fördern, nicht nur in Deutschland –
        auch in Kanada und in allen europäischen Staaten sol-
        len die Menschen profitieren. Mit Kanada verbindet uns
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618906
        (A) (C)
        (B) (D)
        eine jahrelange politische wie auch wirtschaftliche Zu-
        sammenarbeit, die mit CETA nun weiter ausgebaut und
        vertieft werden soll . Wenn Europa als Staatenverbund
        mit 500 Millionen Einwohnern einen Vertrag verhandelt,
        kann es viel mehr erreichen, als wenn ein Staat dies al-
        leine tun würde . Bei solch kraftvollen Verbindungen gilt
        es zu darauf zu achten, dass die Schwächsten nicht auf
        der Strecke bleiben . Die schwächsten Menschen und die
        schwächsten Staaten . Unter diesen Gesichtspunkten ist
        das Interesse der schwächeren EU-Mitgliedsstaaten an
        CETA gut zu verstehen .
        Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
        ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
        Verbesserungen enthält und das trotz der teils heftigen
        und vorurteilsbeladenen Kritik der Pro- und Kontrasei-
        ten, insbesondere die Einführung eines öffentlichen Han-
        delsgerichtshofes – statt Schiedsgerichtsbarkeit –, auch
        wenn Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie
        etwa Wasser, Bildung oder Gesundheit, nun speziellen
        Schutzregeln unterliegen, würden wir heute noch nicht
        zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist,
        Verträge erst dann zu beschließen, wenn alle für sie ein-
        schlägigen rechtsverbindlichen Texte endgültig vorlie-
        gen . Ein Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw . Ver-
        handlungspartner mühelos akzeptieren kann .
        Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
        alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
        deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
        dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
        sein werden:
        – Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
        Arbeitnehmerrechte bekennen und sich (…) verpflich-
        ten, Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung
        der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsor-
        ganisation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von
        Interesse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden
        oder nicht .
        – Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
        Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
        hier noch abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klärung
        auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
        stößt .
        – Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
        Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
        schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
        muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
        werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
        Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
        Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüßen wir
        sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
        tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
        lige Interpretationen zu vermeiden .
        – Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
        zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
        unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt-
        und Verbraucherstandards müssen gewährleistet blei-
        ben . Das im europäischen Primärrecht verankerte Vor-
        sorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies muss
        unmissverständlich klargestellt werden .“
        – Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
        grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
        Europäischen Kommission und der Bundesregierung
        im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
        che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
        ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
        die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
        gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
        beitet werden .
        Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
        mittelbar vor der heutigen Entscheidung, zitieren wir
        nachfolgend aus einer Information meines Kollegen
        Matthias Miersch:
        „Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
        stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
        schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
        und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
        haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
        Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
        re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
        zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Art . 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
        de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Warum wir dem heutigen Koalitionsantrag zustimmen,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
        ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
        Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
        tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
        in die Parlamente zu geben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18907
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Rüdiger Veit, Wolfgang Gunkel,
        Ralf Kapschack, Dr. Birgit Malecha-Nissen, René
        Röspel und Christoph Strässer (alle SPD) zu den
        namentlichen Abstimmungen über
        – den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
        Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
        stoppen
        (Tagesordnungspunkt 6 a)
        und
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        sowie
        – den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
        Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) ablehnen
        (Tagesordnungspunkt 39 a)
        (Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
        Würde heute in der Sache über den derzeit vorliegen-
        den Text von CETA abgestimmt, könnten wir nicht zu-
        stimmen .
        Auch haben wir erhebliche Zweifel, ob noch in rechts-
        verbindlicher und belastbarer Form die notwendigen Er-
        gänzungen des Vertragstextes oder etwaiger Zusatzver-
        einbarungen erreicht werden können .
        Trotzdem werden wir dem Antrag von CDU/CSU
        und SPD zustimmen, um entsprechende Versuche hier-
        zu nicht von vornherein auszuschließen . Den Anträgen
        von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke,
        die das Ergebnis solcher Verhandlungen vorwegnehmen,
        werden wir daher nicht zustimmen .
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Birgit Kömpel und Dagmar
        Schmidt (Wetzlar) (beide SPD) zu den namentli-
        chen Abstimmungen über
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618908
        (A) (C)
        (B) (D)
        – den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
        Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
        stoppen
        (Tagesordnungspunkt 6 a)
        und
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        sowie
        – den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
        Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) ablehnen
        (Tagesordnungspunkt 39 a)
        (Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
        Müssten wir heute über das Freihandelsabkommen
        mit Kanada „CETA“ abstimmen, wir würden ablehnen .
        Aber heute wird nicht über den Vertragstext des Abkom-
        mens CETA abgestimmt .
        Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
        wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
        der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
        in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu
        geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
        on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
        fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
        der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
        Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie-
        und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
        MoveOn in den USA), vielen ver .di-Mitgliedern und an-
        deren, die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren,
        wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht
        kommt, so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
        Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurden wir um
        Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
        Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach
        gut ist . In vielen anderen wurden wir um Ablehnung
        gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung
        der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsorge und des
        Vorsorgeprinzips . Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht
        der endgültige Vertragstext und alle rechtsverbindlichen
        Ergänzungen zur Beschlussfassung im Bundestag vorlie-
        gen, können die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18909
        (A) (C)
        (B) (D)
        Arbeitsplätze ebenso wenig begründen wie die anderen
        ihre Befürchtungen .
        Deshalb unsere stereotype Antwort: Wenn sich alle
        Hoffnungen der Befürworter durch den Vertrag bestä-
        tigen lassen, stimmen wir zu . Wenn sich alle Befürch-
        tungen derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die uns
        auffordern, abzulehnen, bestätigen, lehnen wir ab . Das
        entscheiden wir endgültig, wenn entscheidungsreife Vor-
        lagen den Bundestag erreichen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
        dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
        selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
        wahrgenommen werden und man fest im einmal gefällten
        Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute Beispiele:
        Nachdem Sigmar Gabriel mit der kanadischen Handels-
        ministerin Chrystia Freeland wichtige Verbesserungen
        hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte,
        hat Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
        werkschaftsbundes (DGB), den auf dem SPD-Konvent
        eingeschlagenen Weg unterstützt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
        kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
        lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
        sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion einen in-
        tensiven Diskussions- und Abwägungsprozess angesto-
        ßen und organisiert . In diesem von Bundeswirtschaftsmi-
        nister Gabriel wesentlich getragenen Prozess wurde der
        Text so verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in
        Pro und Kontra zusammengeführt werden . Dazu gab es
        einen großen SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Lini-
        en“ für eine Zustimmung zu den aktuellen Freihandels-
        abkommen beschlossen haben . Wer diese Veränderungen
        wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese Änderungen
        für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind . Und
        damit ist nicht nur die deutsche Gesellschaft gemeint .
        Unser Ziel ist, den Wohlstand aller Menschen global
        zu fördern, nicht nur in Deutschland – auch in Kanada
        und in allen europäischen Staaten sollen die Menschen
        profitieren. Mit Kanada verbindet uns eine jahrelange
        politische wie auch wirtschaftliche Zusammenarbeit,
        die mit CETA nun weiter ausgebaut und vertieft werden
        soll . Wenn Europa als Staatenverbund mit 500 Millionen
        Einwohnern einen Vertrag verhandelt, kann es viel mehr
        erreichen, als wenn ein Staat dies alleine tun würde . Bei
        solch kraftvollen Verbindungen gilt es darauf zu ach-
        ten, dass die Schwächsten nicht auf der Strecke bleiben .
        Die schwächsten Menschen und die schwächsten Staa-
        ten . Unter diesen Gesichtspunkten ist das Interesse der
        schwächeren EU-Mitgliedstaaten an CETA gut zu ver-
        stehen .
        Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
        ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
        Verbesserungen enthält und das trotz der teils heftigen
        und vorurteilsbeladenen Kritik der Pro- und Kontra-Sei-
        ten, insbesondere die Einführung eines öffentlichen Han-
        delsgerichtshofes – statt Schiedsgerichtsbarkeit –, auch
        wenn Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie
        etwa Wasser, Bildung oder Gesundheit, nun speziellen
        Schutzregeln unterliegen, würden wir heute noch nicht
        zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist,
        Verträge erst dann zu beschließen, wenn alle für sie ein-
        schlägigen rechtsverbindlichen Texte endgültig vorlie-
        gen . Ein Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw . Ver-
        handlungspartner mühelos akzeptieren kann .
        Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
        alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
        deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
        dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
        sein werden:
        – Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
        Arbeitnehmerrechte bekennen und sich (…) verpflich-
        ten, Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung
        der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsor-
        ganisation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von
        Interesse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden
        oder nicht .
        – Oder wenn „Im weiteren Prozess (…) unbestimmte
        Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
        hier noch abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klärung
        auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
        stößt .
        – Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
        Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
        schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
        muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
        werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
        Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
        Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich
        sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
        tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
        lige Interpretationen zu vermeiden .
        – Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
        zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
        unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt-
        und Verbraucherstandards müssen gewährleistet blei-
        ben . Das im europäischen Primärrecht verankerte Vor-
        sorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies muss
        unmissverständlich klargestellt werden .“
        – Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
        grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
        Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
        im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
        che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
        ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
        die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
        gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
        beitet werden .
        Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
        mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitieren wir
        nachfolgend aus einer Information meines Kollegen
        Matthias Miersch:
        „Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
        stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
        schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
        und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
        haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
        Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unsere
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618910
        (A) (C)
        (B) (D)
        Forderungen nicht erfüllt sind, werden wir CETA nicht
        zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘, sicherge-
        stellt werden, dass keine Bevorzugung von ausländi-
        schen gegenüber inländischen Investoren oder Bürge-
        rinnen und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte
        somit auf die Diskriminierung gegenüber inländischen
        Investoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
        de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Warum wir dem heutigen Koalitionsantrag zustimmen,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
        ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
        Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
        tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
        in die Parlamente, zu geben .
        Anlage 6
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Klaus Mindrup und Detlev
        Pilger (beide SPD) zu den namentlichen Abstim-
        mungen über
        – den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
        Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
        stoppen
        (Tagesordnungspunkt 6 a)
        und
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        sowie
        – den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
        Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18911
        (A) (C)
        (B) (D)
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) ablehnen
        (Tagesordnungspunkt 39 a)
        (Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
        Der Beschluss des SPD-Konvents vom 19 . September
        2016 enthält eine inhaltlich gute Bewertung des vorlie-
        genden CETA-Vertragsentwurfs . Dieser Beschluss zeigt
        deutlich, dass wir in der augenblicklichen Fassung von
        CETA weit vom vermeintlichen „Goldstandard“ entfernt
        sind, sogar tatsächlich wichtige „rote Linien“ reißen .
        Verursacher ist dabei oftmals nicht die neue kanadische
        Regierung, sondern die zuständige neoliberal agierende
        Generaldirektion Handel der EU-Kommission . Die bis-
        herige Haltung in den Gesprächen und Anhörungen der
        Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kommission hat
        gezeigt, dass dort die notwendige Problemwahrnehmung
        für die kritischen Punkte im Abkommen so gut wie nicht
        vorhanden ist .
        Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen ist
        keine Zustimmung zu CETA in der vorliegenden Fas-
        sung . Trotzdem können wir diesem Antrag nicht zustim-
        men, da wir das Verfahren, erst im Ministerrat zuzustim-
        men und danach Verbesserungen erreichen zu wollen, für
        nicht zielführend halten .
        Die Forderung, entweder unsere Verbesserungen in
        das Abkommen zu verhandeln oder als einzige Alterna-
        tive eine Außerkraftsetzung, wird dann auch gegenüber
        unseren europäischen Partnern schwerer zu vermitteln
        sein als jetzt, vor der Unterzeichnung des Vertrages .
        Neben den Bedenken zum Verfahren haben wir auch
        inhaltliche Bedenken .
        Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet zu den ILO-
        Kern arbeitsnormen die Formulierung des SPD-Konvents
        nicht übernommen wurde .
        Weiterhin fehlt eine wesentliche Formulierung zur
        Einschränkung der neuen Gerichtsbarkeit im Verhältnis
        inländische und ausländische Investoren und Bürger . Das
        Klimaschutzabkommen von Paris wird ebenfalls nicht
        thematisiert .
        Die folgenden Formulierungen aus dem Konventsbe-
        schluss in den Antrag wären für uns hier zwingend für
        eine Zustimmung gewesen:
        1 . „Im Bereich des Investorenschutzes muss mit
        Blick auf die Rechtstatbestände, wie zum Bei-
        spiel ‚faire und gerechte Behandlung‘ und ‚in-
        direkte Enteignung‘ sichergestellt werden, dass
        keine Bevorzugung von ausländischen gegen-
        über inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte
        somit auf die Diskriminierung gegenüber inlän-
        dischen Investoren beschränkt werden .“
        2 . „Anders als im Prozess der WTO ist es der Staa-
        tengemeinschaft gelungen, im Jahr 2015 gemein-
        sam globale Nachhaltigkeitsziele und das Pariser
        Klimaschutzabkommen zu beschließen . Unter
        Bezugnahme auf Artikel 24 .4 (Kapitel Handel
        und Umwelt) ist durch die Vertragsparteien zu
        betonen, dass diese Abkommen von großem Wert
        sind und das CETA-Abkommen und die darin be-
        schriebene Handels- und Wirtschaftspolitik sich
        an diesen Zielen orientiert .“
        3 . „Im Rahmen des Beratungsprozesses ist ein
        Sanktionsmechanismus bei Verstößen der Part-
        ner gegen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards
        zu entwickeln . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen
        müssen ratifiziert werden. Der soziale Dialog ist
        effektiv auszugestalten, sodass das Verfahren zur
        Durchsetzung von Standards wirkungsvoll genug
        ist und durch Sanktionsmöglichkeiten ergänzt
        wird .“
        Insgesamt wissen wir aber auch zu schätzen, was die
        SPD-Fraktionsführung hier mit der Union erreicht hat .
        Wir begrüßen ausdrücklich, dass in der Stellungnahme
        deutlich zum Ausdruck kommt, dass der Deutsche Bun-
        destag erst im Ratifizierungsverfahren abschließend
        über seine Zustimmung zu CETA entscheiden wird, je
        nachdem, ob unsere geforderten Änderungen nach unse-
        rer Einschätzung umgesetzt wurden oder nicht . Deshalb
        werden wir auch nicht gegen unseren Antrag stimmen
        und nach außen betonen, dass die SPD-Fraktion mit
        dieser Stellungnahme ausdrücklich nicht im Bundestag
        CETA in der jetzt vorliegenden Form zugestimmt hat .
        Den Anträgen von Linken und Grünen stimmen wir in
        inhaltlich aus den eingangs skizzierten Erwägungen zum
        weiteren Verfahren in ihrem Forderungsteil zu, nämlich
        CETA jetzt nicht im Ministerrat zu unterzeichnen . Al-
        lerdings können wir den inhaltlichen Begründungen bei
        beiden Anträgen aus unterschiedlichen Gründen nicht
        zustimmen . So werden in der Stellungnahme der Grünen
        zu CETA die Arbeitnehmerrechte bzw . ILO-Kernarbeits-
        normen gar nicht erwähnt, und bei den Linken finden
        sich etliche falsche Behauptungen im Begründungsteil .
        Im Ergebnis unserer Abwägung werden wir daher bei
        allen drei Anträgen mit Enthaltung votieren .
        Anlage 7
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Markus Paschke und Kerstin
        Tack (beide SPD) zu den namentlichen Abstim-
        mungen über
        – den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
        Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618912
        (A) (C)
        (B) (D)
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
        stoppen
        (Tagesordnungspunkt 6 a)
        und
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        sowie
        – den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
        Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) ablehnen
        (Tagesordnungspunkt 39 a)
        (Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
        Müssten wir heute über das Freihandelsabkommen
        mir Kanada „CETA“ abstimmen, wir würden ablehnen .
        Aber heute wird nicht über den Vertragstext des Abkom-
        mens CETA abgestimmt .
        Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
        wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
        der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
        in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu
        geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
        on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
        fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
        der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
        Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie
        und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
        MoveOn in den USA), ver .di-Mitgliedern und anderen,
        die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren, wissen,
        dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht kommt,
        so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
        Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurden wir um
        Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
        Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach
        gut ist. In vielen anderen, häufig genug einfach kopier-
        ten Briefen wurden wir um Ablehnung gebeten – gegen
        Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur, Ge-
        fährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprinzips .
        Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht der endgültige
        Vertragstext mit seinen rechtsförmlich wesentlichen Er-
        gänzungen zur Beschlussfassung im Bundestag vorliegt,
        können die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und Ar-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18913
        (A) (C)
        (B) (D)
        beitsplätze ebenso wenig begründen wie die anderen ihre
        Befürchtungen .
        Deshalb unsere stereotype Antwort: Wenn sich alle
        Hoffnungen der Befürworter durch den Vertragstext
        bestätigen lassen, stimmen wir zu . Wenn sich alle Be-
        fürchtungen derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die uns
        auffordern, abzulehnen, bestätigen, lehnen wir ab . Das
        entscheiden wir endgültig, wenn entscheidungsreife Vor-
        lagen den Bundestag erreichen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
        dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
        selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
        wahrgenommen werden und man fest im einmal gefäll-
        ten Urteil stecken bleibt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
        kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
        lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
        sind, haben SPD und SPD-Fraktion einen tiefen Diskus-
        sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
        siert . In diesem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
        wesentlich getragenen Prozess wurde der Vertragstext
        in seinen rechtlichen, sozialen und kulturellen Zielen so
        verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro
        und Kontra zusammengeführt werden . Wer diese Verän-
        derungen wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese Än-
        derungen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft die-
        nen . Dazu gab es einen großen SPD-Konvent, auf dem
        wir „rote Linien“ für eine Zustimmung zu den aktuellen
        Freihandelsabkommen beschlossen haben .
        Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
        ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
        Verbesserungen enthält, insbesondere die Einführung
        eines öffentlichen Handelsgerichtshofes –statt Schieds-
        gerichtsbarkeit –, auch wenn Bereiche der öffentlichen
        Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
        sundheit, nun speziellen Schutzregeln unterliegen, wür-
        den wir heute noch nicht zustimmen . Unsere Erfahrung
        lehrt uns, dass es klug ist, Vertragstexte erst dann zu be-
        schließen, wenn sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz,
        den jeder faire Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mü-
        helos akzeptieren kann .
        Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
        alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
        deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
        dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
        sein werden:
        – Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
        Arbeitnehmerrechte bekennen und (…) verpflichten,
        Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung der
        Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorgani-
        sation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von Inte-
        resse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden oder
        nicht .
        – Oder wenn „Im weiteren Prozess unbestimmte Rechts-
        begriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch hier
        noch zu verstehen, ob das gemeinsame Verständnis
        dieser Klärung auf breite Zustimmung in der deut-
        schen Bevölkerung stößt .
        – Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
        Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
        schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
        muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
        werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
        Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
        Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüßen wir
        sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
        tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
        lige Interpretationen zu vermeiden .
        – Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
        zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
        nicht unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Um-
        welt- und Verbraucherstandards müssen gewährleistet
        bleiben . Das im europäischen Primärrecht veranker-
        te Vorsorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies
        muss unmissverständlich klargestellt werden .“
        – Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
        grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
        Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
        im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
        che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
        ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
        die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
        gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
        beitet werden .
        Die Übersichtlichkeit und Bürgerfreundlichkeit des
        ohnehin schon komplexen und langen Vertragstextes
        wird durch weitere Regelungen und Vereinbarungen au-
        ßerhalb des Vertrags weiter gemindert .
        Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
        mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitieren wir
        nachfolgend aus einer Information meines Kollegen
        Matthias Miersch:
        „Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
        stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
        schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
        und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
        haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
        Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
        re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
        zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z . B ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618914
        (A) (C)
        (B) (D)
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
        de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Warum wir dem heutigen Koalitionsantrag zustimmen,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
        ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
        Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
        tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
        in die Parlamente, zu geben .
        Anlage 8
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu den namentlichen Abstimmungen über
        – den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
        Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
        weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
        LINKE
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
        stoppen
        (Tagesordnungspunkt 6 a)
        und
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        sowie
        – den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
        Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) ablehnen
        (Tagesordnungspunkt 39 a)
        (Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18915
        (A) (C)
        (B) (D)
        Heike Baehrens (SPD): Müsste ich heute über das
        Freihandelsabkommen mir Kanada „CETA“ abstimmen,
        ich würde ablehnen . Aber heute wird nicht über den Ver-
        tragstext des Abkommens CETA abgestimmt .
        Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
        wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
        der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
        in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente zu
        geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Fraktion
        Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungsfähig-
        keit im Nichtwissen . Damit fällen sie ihr Urteil auf die
        gleiche Weise wie der Bundesverband der Deutschen In-
        dustrie (BDI), der Deutsche Industrie- und Handelskam-
        mertag (DIHK), campact (nachgebildet MoveOn in den
        USA), viele ver .di Mitglieder und andere, die schon seit
        Monaten, einige schon seit Jahren, zu wissen meinen,
        dass der Weltuntergang drohe, wenn CETA nicht kommt,
        so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
        Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um
        Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
        Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach
        gut ist. In vielen anderen, häufig genug einfach kopierten
        Briefen, wurde ich um Ablehnung gebeten – gegen
        Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur, Ge-
        fährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprinzips .
        Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht der endgültige
        Vertragstext und alle rechtsförmlich wesentlichen Ergän-
        zungen zur Beschlussfassung im Bundestag vorliegen,
        können die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und Ar-
        beitsplätze ebenso wenig begründen wie die anderen ihre
        Befürchtungen .
        Meine Antwort darauf ist: Lasst uns gemeinsam die
        Ziele formulieren, die wir erreichen wollen, und unse-
        re Entscheidung treffen, wenn wir diese Ziele mit einem
        endgültig vorliegenden Vertragstext abgleichen können .
        Das Schwarz-Weiß-Denken bezüglich Handelsverträgen
        ist nicht zweckmäßig . Vorrangig sind Handelsverträge
        eine zivilisatorische Errungenschaft, die dazu dienen,
        Staats- und Handelsbeziehungen gestaltbar und verläss-
        lich machen . In dieser Eigenschaft können sie dazu ge-
        nutzt werden, bestehende Verhältnisse zu verbessern und
        gemeinsam Standards anzuheben . Das ist unser Ziel in
        der SPD .
        Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wissen schon
        lange, dass sie gegen diese Freihandelsabkommen sind .
        CDU und CSU wissen schon lange, dass sie für diese
        Freihandelsabkommen sind . Als einzige Partei hat die
        SPD einen tiefen Diskussions- und Abwägungsprozess
        angestoßen und organisiert . Dazu gab es einen großen
        SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Linien“ für eine
        Zustimmung zu den aktuellen Freihandelsabkommen be-
        schlossen haben . Dadurch hat die SPD den Boden dafür
        bereitet, dass Kritiker zu Wort kommen und ein bereits
        fertig verhandelter Vertrag noch einmal aufgeschnürt und
        nachverhandelt werden konnte . In diesem von Bundes-
        wirtschaftsminister Gabriel wesentlich getragenen Pro-
        zess konnten Argumente von Kritikern und Befürwortern
        zusammengebracht werden . Diese Veränderungen die-
        nen dadurch ganz wesentlich dem Zusammenhalt unserer
        Gesellschaft .
        Und damit ist nicht nur die deutsche Gesellschaft ge-
        meint . Unser Ziel ist es, den Wohlstand aller Menschen
        global zu fördern, nicht nur in Deutschland – auch in
        Kanada und in allen europäischen Staaten sollen die
        Menschen profitieren. Mit Kanada verbindet uns eine
        jahrelange politische wie auch wirtschaftliche Zusam-
        menarbeit, die mit CETA nun weiter ausgebaut und ver-
        tieft werden soll . Wenn Europa als Staatenverbund mit
        500 Millionen Einwohnern einen Vertrag verhandelt,
        kann es viel mehr erreichen, als wenn ein Staat dies al-
        leine tun würde . Bei solch kraftvollen Verbindungen gilt
        es, darauf zu achten, dass die Schwächsten nicht auf der
        Strecke bleiben .
        Das nun vorliegende Verhandlungsergebnis enthält
        gegenüber den früheren Fassungen essenzielle Verbesse-
        rungen, insbesondere die Einführung eines öffentlichen
        Handelsgerichtshofes – statt Schiedsgerichtsbarkeit .
        Doch für die Regelungen im Bereich der öffentlichen
        Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
        sundheit, die nun speziellen Schutzregeln unterliegen,
        sehe ich beispielsweise noch weiteren Verhandlungsbe-
        darf . Vertragstexte können aber erst dann abschließend
        beurteilt und beschlossen werden, wenn sie ausverhan-
        delt sind . Ein Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw .
        Verhandlungspartner mühelos akzeptieren kann .
        Wir als SPD haben klare Bedingungen für ein akzep-
        tables CETA beschlossen . Diese Bedingungen werden
        maßgeblich dafür sein, ob ich dem fertigen Vertragstext
        zustimme oder nicht . Aus diesen Bedingungen ergeben
        sich einige Bereiche, die nachzubessern sind . Dazu ge-
        hört der Investorenschutz, der auf die Diskriminierung
        gegenüber inländischen Investoren beschränkt werden
        sollte . Genauso müssen der Vorrang des Vorsorgeprin-
        zips fest verankert und die acht ILO Kernarbeitsnormen
        ratifiziert werden. Auch muss klar gemacht werden, dass
        die öffentliche Daseinsvorsorge von dem Vertrag ausge-
        nommen ist .
        Weder auf dem Konvent noch bei der heutigen Ab-
        stimmung stimmen wir CETA endgültig zu . Mit dem
        Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der SPD „Com-
        prehensive Economic and Trade Agreement (CETA): Für
        freien und fairen Handel“ – Drucksache 18/9663 – brin-
        gen wir zum Ausdruck: „Der Deutsche Bundestag wird
        im Lichte des weiteren Prozesses im Ratifizierungsver-
        fahren abschließend über seine Zustimmung zu CETA
        entscheiden .“
        Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
        ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
        Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
        tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
        in die Parlamente zu geben . Dem kann ich zustimmen .
        Dr. Daniela De Ridder (SPD): Heute wird darü-
        ber entschieden, ob wir den Bundeswirtschaftsminister
        Sigmar Gabriel beauftragen, im Handelsministerrat der
        EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf zu CETA
        in die parlamentarischen Verfahren beziehungsweise in
        die Parlamente zu geben . Es ist daher falsch, anzuneh-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618916
        (A) (C)
        (B) (D)
        men, dass heute über den Vertragstext abgestimmt wird,
        was gerne von Gegnern des geplanten Freihandelsab-
        kommens kolportiert wird .
        Persönlich betrachte ich CETA kritisch, möchte mich
        aber den Vorteilen des Freihandelsabkommens und seiner
        auch möglichen positiven Wirkungen nicht verschließen .
        Wichtig ist mir, deutlich zu machen, dass ich meine end-
        gültige Entscheidung fällen werde, wenn der Vertrags-
        text tatsächlich zur Abstimmung vorliegt . Der Konvent
        der SPD zu CETA war schließlich keine Beschlusslage
        für das Freihandelsabkommen, sondern ein Auftrag zur
        Verhandlung für den Bundeswirtschaftsminister Sigmar
        Gabriel, bei gleichzeitiger Definition roter Linien. Dies
        ist mir zur Klarstellung der heutigen Abstimmung beson-
        ders wichtig .
        Die „roten Linien“ werden durch den heutigen Ko-
        alitionsantrag nicht überschritten, sondern sie zeugen
        vielmehr davon, dass wir erfolgreich substanzielle Än-
        derungen im öffentlichen Interesse in die Verhandlungen
        einbringen konnten und werden, wenn da steht:
        Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass sich die Ver-
        tragsparteien zum Schutz der Arbeitnehmerrechte
        bekennen und sich verpflichten, Anstrengungen zur
        Ratifizierung und Umsetzung der Kernarbeitsnor-
        men der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)
        zu unternehmen .
        Oder weiter:
        Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass die von der
        Bundesregierung eingebrachten Reformvorschläge
        zur Schiedsgerichtsbarkeit von der EU-Kommis-
        sion aufgenommen und in das Abkommen einge-
        bracht worden sind . Im weiteren Prozess müssen
        unbestimmte Rechtsbegriffe geklärt werden . Der
        nunmehr eingeschlagene Weg zu einem öffentli-
        chen Handelsgerichtshof ist aus europäischer Sicht
        unumkehrbar und muss auch bei künftigen Handels-
        abkommen verfolgt werden .
        Besonders relevant ist für mich ebenfalls die Daseins-
        vorsorge: Die Formulierung „…Spielräume von Kom-
        munen zur Organisation der Daseinsvorsorge dürfen
        nicht eingeschränkt und auch künftig nicht angetastet
        werden. Es muss im weiteren Ratifikationsprozess si-
        chergestellt werden, dass auch zukünftig kein Druck in
        Richtung Liberalisierung von Dienstleistungen der öf-
        fentlichen Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf…“ ist
        zu begrüßen . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im
        Vertragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
        lige Interpretationen zu vermeiden .
        Dass es noch Unklarheiten über „unbestimmte
        Rechtsbegriffe“ und den Schutz sozialer Standards gibt,
        sorgt dafür, dass ich mich jetzt nicht zu dem Freihandels-
        abkommen bekennen kann . Deshalb möchte ich mich
        dafür aussprechen, unseren Bundeswirtschaftsminister
        Sigmar Gabriel damit zu beauftragen, die nächsten Ver-
        handlungsschritte – unter Wahrung der von der SPD ge-
        zogenen roten Linien – aufzunehmen . Nach diesen Er-
        gebnissen, die dann im Rahmen des folgenden Prozesses
        herauskommen, werde ich meine Entscheidung zur Zu-
        stimmung oder Ablehnung treffen . Das untermauert der
        heutige Antrag, wenn hier steht: „Der Deutsche Bundes-
        tag wird im Lichte des weiteren Prozesses im Ratifizie-
        rungsverfahren abschließend über seine Zustimmung zu
        CETA entscheiden“ .
        Aus diesem Grund votiere ich für den Koalitions-
        antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD (Drucksa-
        che 18/9663) und gegen die Anträge der Fraktionen DIE
        LINKE (Drucksache 18/9665) und Bündnis 90/Die Grü-
        nen (Drucksache 18/9621) .
        Dr. Karamba Diaby (SPD): Der Deutsche Bundestag
        entscheidet heute nicht über das europäisch-kanadische
        Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt Stellung
        zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein positi-
        ves Votum im Europäischen Rat den Weg das weitere
        Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament und
        in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU eröffnen
        soll .
        Der aktuelle Entwurf von CETA stimmt nach meiner
        Überzeugung mit der Beschlusslage der SPD noch nicht
        überein . Des betrifft vor allem die Bereiche Investitions-
        schutz, CETA-Ausschuss, Vorsorgegrundsatz, öffent-
        liche Daseinsvorsorge und Arbeitnehmerrechte . Dem
        aktuell vorliegenden CETA-Entwurf könnte ich deshalb
        nicht zustimmen .
        Mir ist wichtig, dass das weitere Verfahren unter
        Beteiligung der nationalen Parlamente vollzogen wird .
        Ebenso muss die Zivilgesellschaft einbezogen und in ei-
        nem transparenten Verfahren mit Kanada ein faires End-
        ergebnis verhandelt werden .
        Die vorliegende Stellungnahme der Fraktionen von
        SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er erkennt
        die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungsprozes-
        ses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
        gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch den
        Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht
        worden sind . Er gibt der Bundesregierung im Minister-
        rat die Möglichkeit der Zustimmung, greift in zentralen
        Punkten jedoch die breit diskutierten Problemfelder des
        vorliegenden Entwurfs auf und mahnt entsprechende
        rechtsverbindliche Änderungen an . Er spricht sich dafür
        aus, erst nach Zustimmung des Europäischen Parlaments
        Teile des Abkommens vorläufig anzuwenden und fordert
        in diesem Zusammenhang unter anderem das besonders
        kontrovers diskutierte Kapitel über den Investitions-
        schutz ganz von einer vorläufigen Anwendung auszu-
        nehmen . Eine Gültigkeit dieses Kapitels wäre somit nur
        möglich, wenn alle Parlamente innerhalb der EU zustim-
        men .
        Wichtig ist für mich zudem, dass die Stellungnah-
        me der Bundestagsfraktionen von SPD und CDU/CSU
        auch den oben beschriebenen Weg eines ausführlichen
        Anhörungsverfahrens durch das Europäische Parlament
        mit den nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesell-
        schaft ermöglicht – wie ihn auch der SPD-Parteikonvent
        am vergangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit
        die Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensi-
        ven Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch
        gegenüberstehen, Lösungsansätze in den kontrovers dis-
        kutierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18917
        (A) (C)
        (B) (D)
        die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weite-
        re Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen
        betreffen . Soweit im Ministerrat diesbezüglich keine
        sachgerechte Lösung gefunden wird, muss die Stellung-
        nahme der kommunalen Spitzenverbände berücksichtigt
        werden, nach der aufgrund der bislang unzureichenden
        Klärung der Fragen über die Anwendbarkeit des Ver-
        trages auf die öffentliche Daseinsvorsorge auch weitere
        Bereiche von der vorläufigen Anwendung ausgeschlos-
        sen werden müssen . Das gilt auch für die in CETA neu
        geschaffenen Gremien, die auch in der Verfassungsbe-
        schwerde problematisiert werden, die bezüglich des Ab-
        kommens anhängig ist .
        Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
        chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
        Mitgliedsstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir sollten
        zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
        dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
        im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
        pauschales „Nein“ im Ministerrat nicht zielführend . Am
        Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
        jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
        Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
        teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
        Vor diesem Hintergrund lehne ich die Anträge der
        Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ab
        und stimme dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU und
        SPD zu .
        Saskia Esken (SPD): Heute entscheiden wir im
        Bundestag nicht etwa darüber, ob wir dem Vertragstext
        des Freihandelsabkommens mit Kanada (CETA) zustim-
        men oder ihn ablehnen . Der Deutsche Bundestag ent-
        scheidet heute, ob wir Bundeswirtschaftsminister Sigmar
        Gabriel den Auftrag erteilen, im Handelsministerrat der
        EU den aktuell vorliegenden CETA-Vertragsentwurf in
        die parlamentarischen Verfahren zu geben . Erst im wei-
        teren Prozess, im Ratifizierungsverfahren, werden wir
        Bundestagsabgeordnete über eine mögliche Zustimmung
        oder Ablehnung zu CETA entscheiden .
        Ich stimme dem Antrag von CDU/CSU und SPD heute
        zu . Ich bin davon überzeugt, dass die kritische Öffentlich-
        keit uns den Weg dazu geöffnet hat, Freihandelsabkom-
        men als Chance zu nutzen, die Globalisierung im Sinne
        eines nicht völlig freien, weil fairen und sozialen Handels
        zu gestalten, und das nicht nur zwischen Handelspartnern
        auf Augenhöhe, sondern vor allem auch zwischen den
        Wirtschaftsmächten und der sich entwickelnden Welt .
        Ich stimme einer weiteren Beratung von CETA zu, weil
        es der SPD und allen voran Sigmar Gabriel in den bis-
        herigen Verhandlungen gelungen ist, das Abkommen in
        wesentlichen Punkten zu verbessern: Ein wichtiges Bei-
        spiel dafür ist sicher der eingeschlagene Weg zu einem
        öffentlichen Handelsgerichtshof, der sich zum internati-
        onalen Standard entwickeln könnte . Ebenso hat die neue
        Regierung in Kanada in Aussicht gestellt, die Kernar-
        beitsnormen der internationalen Arbeitsorganisation ILO
        anzuerkennen und setzt damit eine wichtige Bedingung
        für faire Produktions- und Handelsbedingungen um .
        Die SPD und meine SPD-Bundestagsfraktion haben
        zu CETA einen intensiven und guten Diskussions- und
        Abwägungsprozess organisiert, und den führen wir auch
        weiterhin –offen und transparent . Wir malen nicht ein-
        fach schwarz oder weiß, wir diskutieren in der Sache,
        überzeugen mit Argumenten und entwickeln unsere Po-
        sition im Dialog mit den Menschen weiter .
        Und dieser wichtige Meinungsbildungsprozess ist
        nicht abgeschlossen, denn auch der Parteikonvent der
        SPD hat am Sonntag in Wolfsburg nicht über CETA ab-
        gestimmt, wie viele schreiben . Wie schon der Konvent im
        Herbst 2014 und der Bundesparteitag im Dezember 2015
        haben die Delegierten für die SPD klare Kriterien fest-
        gelegt, die wir als Sozialdemokraten an die mögliche
        Zustimmung zum Freihandelsabkommen und an den nun
        vor uns liegenden Prozess knüpfen .
        Klar sollte bei allen Diskussionen sein: Bevor nicht
        sowohl der endgültige Vertragstext als auch die weiteren
        Vereinbarungen dazu zur Beschlussfassung im Bundes-
        tag vorliegen, können weder die einen ihre Hoffnung auf
        Wachstum und Arbeitsplätze begründen noch die ande-
        ren ihre Befürchtungen . Die klaren Bedingungen, die von
        der SPD definiert und beschlossen wurden, sind am Ende
        mein Maßstab und werden Maßstab für jeden SPD-Bun-
        destagsabgeordneten sein; ich zitiere die folgenden vier
        Punkte aus einer Information meines Abgeordnetenkolle-
        gen Dr . Matthias Miersch:
        – „Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick
        auf die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
        de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Für mich und meine SPD-Bundestagsfraktion gilt die
        Regel, dass die Wirtschaft den Menschen dient und nicht
        umgekehrt . Und auch der globalisierte Markt bestimmt
        seine Regeln nicht selbst, das ist und bleibt Aufgabe der
        Politik . Die vielen kritischen Stimmen innerhalb und
        außerhalb der SPD haben unsere Verhandlungsposition
        gestärkt . Jedes Schreiben an einen Politiker lohnt sich, es
        lohnt, auf die Straße zu gehen, es lohnt mitzureden .
        Michael Groß (SPD): Müsste ich heute über das Frei-
        handelsabkommen „CETA“ abstimmen, würde ich ableh-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618918
        (A) (C)
        (B) (D)
        nen . Bei der heutigen Abstimmung wird aber nicht über
        den Vertragstext des Abkommens CETA abgestimmt .
        Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
        wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
        der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
        in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu
        geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
        on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
        fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
        der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
        Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie
        und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
        MoveOn in den USA), ver .di Mitgliedern und anderen,
        die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren, wissen,
        dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht kommt,
        so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
        Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um
        Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
        Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach gut
        ist . In vielen anderen Briefen wurde ich um Ablehnung
        gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung
        der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsorge und des
        Vorsorgeprinzips . Es wurde und wird viel spekuliert . Be-
        vor nicht der endgültige Vertragstext und alle rechtsver-
        bindlichen Ergänzungen zur Beschlussfassung im Bun-
        destag vorliegen, können die einen ihre Hoffnung auf
        Wachstum und Arbeitsplätze ebenso wenig begründen
        wie die anderen ihre Befürchtungen .
        Deshalb meine Antwort: Wenn sich alle Hoffnungen
        der Befürworter durch den Vertrag bestätigen lassen,
        stimme ich zu . Wenn sich alle Befürchtungen derjenigen
        Bürgerinnen und Bürger, die mich auffordern abzuleh-
        nen, bestätigen, lehne ich ab . Eine alle Seiten beleucht-
        ende Entscheidung kann ich nur verantwortlich treffen,
        wenn die endgültigen Vorlagen den Deutschen Bundes-
        tag erreichen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürch-
        tung, dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten,
        ja selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind,
        kaum wahrgenommen werden und man fest im einmal
        gefällten Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute
        Beispiele: Nachdem Sigmar Gabriel mit der kanadischen
        Handelsministerin wichtige Verbesserungen hinsichtlich
        der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte, hat Reiner
        Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschafts-
        bundes den auf dem SPD-Konvent eingeschlagenen Weg
        unterstützt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen,
        die schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihan-
        delsabkommen sind, und anders als CDU und CSU, die
        schon lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkom-
        men sind, hat die SPD als Partei und die SPD-Bundes-
        tagfraktion einen tiefen sowie breiten Diskussions- und
        Abwägungsprozess angestoßen und organisiert . In die-
        sem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel wesentlich
        getragenen Prozess, wurde der Vertragstext so verändert,
        dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro und Kon tra
        zusammengeführt werden . Dazu gab es einen großen
        SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Linien“ für eine
        Zustimmung zu den aktuellen Freihandelsabkommen be-
        schlossen haben . Wer diese Veränderungen wahrnimmt,
        erkennt, wie wesentlich diese Änderungen für den Zu-
        sammenhalt unserer Gesellschaft sind . Und damit ist
        nicht nur die deutsche Gesellschaft gemeint . Unser Ziel
        ist, den Wohlstand aller Menschen global zu fördern,
        nicht nur in Deutschland – auch in Kanada und in allen
        europäischen Staaten sollen die Menschen profitieren.
        Mit Kanada verbindet uns eine jahrelange politische wie
        auch wirtschaftliche Zusammenarbeit, die mit CETA nun
        weiter ausgebaut und vertieft werden soll . Wenn Europa
        als Staatenverbund mit 500 Millionen Einwohnern ei-
        nen Vertrag verhandelt, kann es viel mehr erreichen, als
        wenn ein Staat dies alleine tun würde . Bei solch kraft-
        vollen Verbindungen gilt es darauf zu achten, dass die
        Schwächsten nicht auf der Strecke bleiben .
        Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
        ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
        Verbesserungen enthält, insbesondere die Einführung
        eines öffentlichen Handelsgerichtshofes – statt Schieds-
        gerichtsbarkeit –, auch wenn Bereiche der Öffentlichen
        Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
        sundheit, nun speziellen Schutzregeln unterliegen, würde
        ich heute noch nicht zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt
        uns, dass es klug ist, Verträge erst dann zu beschließen,
        wenn sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz, den jeder
        faire Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mühelos ak-
        zeptieren kann .
        Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
        alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
        deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
        dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
        sein werden:
        – Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
        Arbeitnehmerrechte bekennen und sich … verpflich-
        ten, Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung
        der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsor-
        ganisation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von
        Interesse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden
        oder nicht .
        – Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
        Rechtsbegriffe geklärt werden .“ müssen, so wäre auch
        hier noch zu abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klä-
        rung auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölke-
        rung stößt .
        – Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
        Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
        schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
        muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
        werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
        Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
        Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich
        sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
        tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
        lige Interpretationen zu vermeiden .
        – Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
        zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
        unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt-
        und Verbraucherstandards müssen gewährleistet blei-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18919
        (A) (C)
        (B) (D)
        ben . Das im europäischen Primärrecht verankerte Vor-
        sorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies muss
        unmissverständlich klargestellt werden .
        – Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
        grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
        Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
        im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
        che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
        ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
        die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
        gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
        beitet werden .
        Klar ist, dass wir als Partei auf unserem Konvent nicht,
        wie viele schreiben, für CETA gestimmt haben . Der Kon-
        vent hat einen Antrag verabschiedet, der unsere Anfor-
        derungen an das Abkommen und den vor uns liegenden
        Prozess beschreibt . Es wurden auf dem Konvent klare
        Bedingungen beschlossen, die am Ende Maßstab für je-
        den SPD-Abgeordneten sind . Wenn unsere Forderungen
        nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
        Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Ich stimme dem Antrag von CDU/CSU und SPD
        „Comprehensive Economic and Trade Agreement
        (CETA): Für freien und fairen Handel“ heute zu, weil er
        garantiert, dass der Deutsche Bundestag im Lichte des
        weiteren Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschlie-
        ßend über seine Zustimmung zu CETA entscheiden wird .
        Damit ist sichergestellt, dass ich im weiteren Verfahren
        als Parlamentarier notwendige Änderungen begleiten
        und bewirken kann . Die heutige Zustimmung ist eben
        nicht eine Zustimmung zu CETA, sondern eine Zustim-
        mung zum weiteren Verfahren, welches das Europäische
        Parlament und die nationalstaatlichen Parlamente mit al-
        len Rechten einbezieht .
        Ulrich Hampel (SPD): Müsste ich heute über das
        Freihandelsabkommen mit Kanada „CETA“ abstimmen,
        ich würde ablehnen . Aber heute wird nicht über den Ver-
        tragstext des Abkommens CETA abgestimmt .
        Heute wird darüber entschieden, ob wir Bundeswirt-
        schaftsminister Gabriel beauftragen, im Handelsminis-
        terrat der EU-, den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf
        CETA in die parlamentarischen Verfahren, in die Parla-
        mente zu geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
        on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
        fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
        der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
        Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie-
        und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
        MoveOn in den USA), vielen ver .di Mitgliedern und an-
        deren, die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren,
        wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht
        kommt, so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
        Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um
        Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
        Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach gut
        ist . In vielen anderen wurde ich um Ablehnung gebeten –
        gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur,
        Gefährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprin-
        zips . Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht der endgültige
        Vertragstext und alle rechtsverbindlichen Ergänzungen
        zur Beschlussfassung im Bundestag vorliegen, können
        die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze
        ebenso wenig begründen wie die anderen ihre Befürch-
        tungen .
        Deshalb meine stereotype Antwort: Wenn sich alle
        Hoffnungen der Befürworter durch den Vertrag bestäti-
        gen lassen, stimme ich zu . Wenn sich alle Befürchtungen
        derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die mich auffordern
        abzulehnen, bestätigen, lehne ich ab . Das entscheide ich
        endgültig, wenn entscheidungsreife Vorlagen den Bun-
        destag erreichen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
        dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
        selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
        wahrgenommen werden und man fest im einmal gefällten
        Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute Beispiele:
        Nachdem Sigmar Gabriel mit der Kanadischen Handels-
        ministerin Chrystia Freeland wichtige Verbesserungen
        hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte,
        hat Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
        werkschaftsbundes (DGB), den auf dem SPD Konvent
        eingeschlagenen Weg unterstützt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
        kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
        lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
        sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion einen in-
        tensiven Diskussions- und Abwägungsprozess angesto-
        ßen und organisiert . In diesem von Bundeswirtschaftsmi-
        nister Gabriel wesentlich getragenen Prozess, wurde der
        Text so verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in
        Pro und Kontra zusammengeführt werden . Dazu gab es
        einen großen SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Lini-
        en“ für eine Zustimmung zu den aktuellen Freihandels-
        abkommen beschlossen haben . Wer diese Veränderungen
        wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese Änderungen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618920
        (A) (C)
        (B) (D)
        für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind . Und
        damit ist nicht nur die deutsche Gesellschaft gemeint .
        Unser Ziel ist, den Wohlstand aller Menschen global
        zu fördern, nicht nur in Deutschland – auch in Kanada
        und in allen europäischen Staaten sollen die Menschen
        profitieren. Mit Kanada verbindet uns eine jahrelange
        politische wie auch wirtschaftliche Zusammenarbeit,
        die mit CETA nun weiter ausgebaut und vertieft werden
        soll . Wenn Europa als Staatenverbund mit 500 Millionen
        Einwohnern einen Vertrag verhandelt, kann es viel mehr
        erreichen, als wenn ein Staat dies alleine tun würde . Bei
        solch kraftvollen Verbindungen gilt es zu darauf zu ach-
        ten, dass die Schwächsten nicht auf der Strecke bleiben .
        Die schwächsten Menschen und die schwächsten Staa-
        ten . Unter diesen Gesichtspunkten ist das Interesse der
        schwächeren EU-Mitgliedstaaten an CETA gut zu ver-
        stehen .
        Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
        ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essentielle
        Verbesserungen enthält und das trotz der teils heftigen
        und vorurteilsbeladenen Kritik der Pro- und Kontrasei-
        ten, insbesondere die Einführung eines öffentlichen Han-
        delsgerichtshofes – statt Schiedsgerichtsbarkeit –, auch
        wenn Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie
        etwa Wasser, Bildung oder Gesundheit, nun speziellen
        Schutzregeln unterliegen, würde ich heute noch nicht
        zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug
        ist, Verträge erst dann zu beschließen, wenn alle für sie
        einschlägigen rechtsverbindlichen Texte endgültig vor-
        liegen . Ein Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw . Ver-
        handlungspartner mühelos akzeptieren kann .
        Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
        alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
        deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
        dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
        sein werden:
        – Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
        Arbeitnehmerrechte bekennen und sich … verpflich-
        ten, Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung
        der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsor-
        ganisation (ILO) zu unternehmen .“, so wäre doch von
        Interesse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden
        oder nicht .
        – Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
        Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
        hier noch abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klärung
        auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
        stößt .
        – Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
        Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
        schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
        muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
        werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
        Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
        Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich
        sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
        tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
        lige Interpretationen zu vermeiden .
        – Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
        zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
        unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt-
        und Verbraucherstandards müssen gewährleistet blei-
        ben . Das im europäischen Primärrecht verankerte Vor-
        sorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies muss
        unmissverständlich klargestellt werden .“
        – Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
        grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
        Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
        im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
        che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
        ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
        die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
        gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
        beitet werden .
        Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
        mittelbar vor der heutigen Entscheidung, zitiere ich nach-
        folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
        Miersch:
        „Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
        stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
        schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
        und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
        haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
        Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
        re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
        zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
        Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden, ob
        wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im Han-
        delsministerrat der EU, den aktuell vorliegenden Ver-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18921
        (A) (C)
        (B) (D)
        tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
        in die Parlamente zu geben .
        Sebastian Hartmann (SPD): Der Deutsche Bun-
        destag entscheidet heute nicht über das europäisch-ka-
        nadische Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt
        Stellung zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein
        positives Votum im Europäischen Rat den Weg für das
        weitere Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parla-
        ment und in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU
        eröffnen soll .
        Unter Bezug auf vor allem die Bereiche Investitions-
        schutz, CETA-Ausschuss, Vorsorgegrundsatz, öffentli-
        che Daseinsvorsorge und Arbeitnehmerrechte komme
        ich zu dem Ergebnis, dass ich dem aktuell vorliegenden
        CETA-Entwurf nicht zustimmen könnte . Aber heute wird
        nicht über den Vertragstext des Abkommens CETA ab-
        gestimmt .
        Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und
        CETA-Befürwortern innerhalb der SPD hat mein Kolle-
        ge Dr . Matthias Miersch mit einem Papier vorgeschla-
        gen, durch eine entsprechende Beschlussfassung im
        Ministerrat das Europäische Parlament in die Lage zu
        versetzen, das Verfahren unter Beteiligung der nationa-
        len Parlamente an sich zu ziehen, die Zivilgesellschaft
        einzubeziehen und in einem transparenten Verfahren mit
        Kanada ein faires Ergebnis zu verhandeln . Er hat sich
        ferner gegen die vorläufige Anwendung des Vertrages
        ausgesprochen .
        Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
        von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
        kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
        zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
        gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
        deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
        sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
        keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
        die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
        Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
        che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
        Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
        kommens vorläufig anzuwenden, und fordert in diesem
        Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
        diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
        einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
        tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
        Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
        Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme
        der Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben
        beschriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungs-
        verfahrens durch das Europäische Parlament mit den
        nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft
        ermöglicht, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am ver-
        gangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit die
        Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensiven
        Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch gegen-
        überstehen, Lösungsansätze in den kontrovers disku-
        tierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
        die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
        Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
        treffen . Auch das sieht die vorliegende Stellungnahme
        des Bundestages vor . Soweit im Ministerrat diesbezüg-
        lich keine sachgerechte Lösung gefunden wird, muss
        die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände
        berücksichtigt werden, nach der aufgrund der bislang
        unzureichenden Klärung der Fragen über die Anwend-
        barkeit des Vertrages auf die öffentliche Daseinsvorsorge
        auch weitere Bereiche von der vorläufigen Anwendung
        ausgeschlossen werden müssen . Das gilt auch für die in
        CETA neu geschaffenen Gremien, die auch in der Verfas-
        sungsbeschwerde problematisiert werden, die bezüglich
        des Abkommens anhängig ist .
        Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
        chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
        Mitgliedstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen
        zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
        dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
        im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
        pauschales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am
        Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
        jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
        Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
        teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
        Abschließend: Die Anträge der Fraktion Die Linke
        und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen simulieren Ent-
        scheidungsfähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie
        sich in der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesver-
        band der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen In-
        dustrie- und Handelskammertag (DIHK), campact (nach-
        gebildet MoveOn in den USA), vielen ver .di Mitgliedern
        und anderen, die schon seit Monaten, einige schon seit
        Jahren, wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn
        CETA nicht kommt, so die einen, wenn CETA kommt,
        so die anderen .
        In Briefen wurde ich um Zustimmung zu TTIP, CETA
        und TiSA gebeten – für Wachstum, Arbeitsplätze und
        weil Freihandel einfach gut ist . In anderen wurde ich um
        Ablehnung gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Pri-
        vatisierung der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsorge
        und des Vorsorgeprinzips . Es wurde viel spekuliert . Be-
        vor nicht der endgültige Vertragstext und alle rechtsver-
        bindlichen Ergänzungen zur Beschlussfassung im Bun-
        destag vorliegen, können die einen ihre Hoffnung auf
        Wachstum und Arbeitsplätze ebenso wenig begründen
        wie die anderen ihre Befürchtungen .
        Deshalb die stereotype Antwort: Wenn sich alle Hoff-
        nungen der Befürworter durch den Vertrag bestätigen
        lassen, stimme ich zu . Wenn sich alle Befürchtungen
        derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die mich auffordern
        abzulehnen, bestätigen, lehne ich ab . Das entscheide ich
        endgültig, wenn entscheidungsreife Vorlagen den Bun-
        destag erreichen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
        dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
        selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
        wahrgenommen werden und man fest im einmal gefällten
        Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute Beispiele:
        Nachdem Sigmar Gabriel mit der kanadischen Handels-
        ministerin Chrystia Freeland wichtige Verbesserungen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618922
        (A) (C)
        (B) (D)
        hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte,
        hat Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
        werkschaftsbundes (DGB), den auf dem SPD-Konvent
        eingeschlagenen Weg unterstützt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
        kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
        lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
        sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion einen in-
        tensiven Diskussions- und Abwägungsprozess angesto-
        ßen und organisiert . In diesem von Bundeswirtschaftsmi-
        nister Gabriel wesentlich getragenen Prozess wurde der
        Text so verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in
        Pro und Kontra zusammengeführt werden . Dazu gab es
        einen großen SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Lini-
        en“ für eine Zustimmung zu den aktuellen Freihandels-
        abkommen beschlossen haben . Wer diese Veränderungen
        wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese Änderungen
        für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind . Und
        damit ist nicht nur die deutsche Gesellschaft gemeint .
        Unser Ziel ist, den Wohlstand aller Menschen global
        zu fördern, nicht nur in Deutschland – auch in Kanada
        und in allen europäischen Staaten sollen die Menschen
        profitieren. Mit Kanada verbindet uns eine jahrelange
        politische wie auch wirtschaftliche Zusammenarbeit,
        die mit CETA nun weiter ausgebaut und vertieft werden
        soll . Wenn Europa als Staatenverbund mit 500 Millionen
        Einwohnern einen Vertrag verhandelt, kann es viel mehr
        erreichen, als wenn ein Staat dies alleine tun würde . Bei
        solch kraftvollen Verbindungen gilt es zu darauf zu ach-
        ten, dass die Schwächsten nicht auf der Strecke bleiben .
        Die schwächsten Menschen und die schwächsten Staa-
        ten . Unter diesen Gesichtspunkten ist das Interesse der
        schwächeren EU-Mitgliedstaaten an CETA gut zu ver-
        stehen .
        Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist, Verträge
        erst dann zu beschließen, wenn alle für sie einschlägi-
        gen rechtsverbindlichen Texte endgültig vorliegen . Ein
        Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw . Verhandlungs-
        partner mühelos akzeptieren kann .
        Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Würde heute in
        der Sache über den derzeit vorliegenden Text des
        CETA-Freihandelsabkommens mit Kanada abgestimmt,
        könnte ich nicht zustimmen . Aber heute wird nicht über
        den Vertragstext des CETA-Abkommens bzw . das Ab-
        kommen selbst abgestimmt . Über mein Votum zu CETA
        entscheide ich, wenn entscheidungsreife Vorlagen den
        Bundestag erreichen .
        Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
        wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
        der EU, den aktuell vorliegenden CETA-Vertragsentwurf
        in das parlamentarische Verfahren zu geben, um darüber
        weitere Verbesserungen zu erreichen .
        In vielen Briefen wurde ich um Zustimmung zu CETA
        gebeten – für Wachstum, Arbeitsplätze und Freihandel .
        In vielen anderen wurde ich um Ablehnung gebeten –
        gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur,
        Gefährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprin-
        zips . Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht der endgültige
        Vertragstext und alle rechtsverbindlichen Ergänzungen
        zur Beschlussfassung im Bundestag vorliegen, können
        die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze
        ebenso wenig begründen wie die anderen ihre Befürch-
        tungen .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
        die schon lange wissen, dass sie gegen CETA sind, und
        anders als CDU und CSU, die schon lange wissen, dass
        sie für CETA sind, haben wir als SPD und SPD-Bun-
        destagsfraktion einen intensiven Diskussions- und
        Abwägungsprozess angestoßen und organisiert . Wir
        Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten können
        durchaus selbstbewusst sagen, dass wir es waren, die
        beim CETA-Abkommen bereits erhebliche Verbesserun-
        gen erreicht haben: indem es beispielsweise auf Grundla-
        ge unserer Beschlüsse und auf unsere politische Initiative
        hin gelungen ist, private Schiedsgerichte in CETA ab-
        zuschaffen und stattdessen einen öffentlich-rechtlichen
        Investitionsgerichtshof einzurichten . Kanada hat zudem
        inzwischen sieben von acht ILO-Kernarbeitsnormen ra-
        tifiziert und ist auf dem Weg, auch die achte umzusetzen.
        In der Debatte hat die SPD also einen sachbezogenen
        Weg gewählt, anstatt sich pauschal auf ein Ja oder Nein
        festzulegen . Ich bin davon überzeugt, dass die Globali-
        sierung Regeln braucht, damit sie nicht zu einem Wett-
        lauf der Standards nach unten führt . Ziel muss es sein,
        gute Spielregeln festzulegen, die für alle Länder gelten .
        Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und CETA-Be-
        fürwortern innerhalb der SPD wurde vorgeschlagen,
        durch eine entsprechende Beschlussfassung im Minister-
        rat das Europäische Parlament in die Lage zu versetzen,
        das Verfahren unter Beteiligung der nationalen Parla-
        mente an sich zu ziehen, die Zivilgesellschaft einzube-
        ziehen und in einem transparenten Verfahren mit Kanada
        ein faires Ergebnis zu verhandeln .
        Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
        von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
        kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
        zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
        gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
        deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
        sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
        keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
        die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
        Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
        che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
        Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
        kommens vorläufig anzuwenden und fordert in diesem
        Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
        diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
        einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18923
        (A) (C)
        (B) (D)
        tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
        Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
        Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme
        der Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben
        beschriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungs-
        verfahrens durch das Europäische Parlament mit den
        nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft
        ermöglicht, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am ver-
        gangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit die
        Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensiven
        Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch gegen-
        überstehen, Lösungsansätze in den kontrovers disku-
        tierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
        die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
        Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
        treffen . Auch das sieht die vorliegende Stellungnahme
        des Bundestages vor . Soweit im Ministerrat diesbezüg-
        lich keine sachgerechte Lösung gefunden wird, muss
        die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände
        berücksichtigt werden, nach der aufgrund der bislang
        unzureichenden Klärung der Fragen über die Anwend-
        barkeit des Vertrages auf die öffentliche Daseinsvorsorge
        auch weitere Bereiche von der vorläufigen Anwendung
        ausgeschlossen werden müssen . Das gilt auch für die in
        CETA neu geschaffenen Gremien, die auch in der Verfas-
        sungsbeschwerde problematisiert werden, die bezüglich
        des Abkommens anhängig ist .
        Ich hoffe, dass über diesen Weg noch in rechtsver-
        bindlicher und belastbarer Form die notwendigen Ergän-
        zungen des Vertragstextes oder etwaiger Zusatzverein-
        barungen erreicht werden können . Daher werde ich dem
        Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zustim-
        men, um entsprechende Versuche hierzu nicht von vorn-
        herein auszuschließen . Den Anträgen von den Fraktionen
        Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die das Ergebnis
        solcher Verhandlungen vorwegnehmen, werde ich daher
        nicht zustimmen .
        Das Abkommen wird durch die EU und ihre Mit-
        gliedstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen zur
        Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Ländern
        der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen im
        weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein pau-
        schales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am Ende
        des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und jeder
        Abgeordnete entscheiden müssen, ob sie/er dem Abkom-
        men zustimmt . Auch dafür hat der SPD-Parteikonvent
        eindeutige Maßstäbe beschlossen .
        Frank Junge (SPD): Heute wird darüber entschie-
        den, ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen,
        im Handelsministerrat der EU, den aktuell vorliegenden
        Vertragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfah-
        ren, in die Parlamente zu geben . Die Anträge der Frakti-
        on Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
        suggerieren, dass man sich bereits heute vollumfänglich
        entscheiden könne, ohne sämtliche Details überhaupt
        zu kennen. Damit machen sie sich in der Urteilsfindung
        gemein mit dem Bundesverband der Deutschen Indus-
        trie (BDI), dem Deutschen Industrie- und Handelskam-
        mertag (DIHK), campact (nachgebildet MoveOn in den
        USA), ver .di Mitgliedern und anderen, die schon seit
        Monaten, einige schon seit Jahren, wissen, dass der Welt-
        untergang droht, wenn CETA nicht kommt, so die einen,
        wenn CETA kommt, so die anderen .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
        kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
        lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
        sind, haben SPD und SPD Fraktion einen tiefen Diskus-
        sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
        siert . In diesem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
        wesentlich getragenen Prozess wurde der Vertragstext
        in seinen rechtlichen, sozialen und kulturellen Zielen so
        verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro
        und Kontra zusammengeführt werden . Wer diese Ver-
        änderungen wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese
        Änderungen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft
        dienen . Dazu gab es einen großen SPD-Konvent, auf
        dem wir die „roten Linien“ für eine Zustimmung zu den
        aktuellen Freihandelsabkommen beschlossen haben .
        Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
        mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitiere ich nach-
        folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
        Miersch:
        „Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
        stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
        schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
        und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
        haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
        Maßstab für jeden SPD Abgeordneten sind . Wenn unse-
        re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
        zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
        de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618924
        (A) (C)
        (B) (D)
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
        ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
        Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
        tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
        in die Parlamente, zu geben .
        Cansel Kiziltepe (SPD): Der Beschluss des
        SPD-Konvents vom 19 . September 2016 enthält eine
        inhaltlich gute Bewertung des vorliegenden CETA Ver-
        tragsentwurfs . Dieser Beschluss zeigt deutlich, dass wir
        in der augenblicklichen Fassung von CETA weit vom
        vermeintlichen „Goldstandard“ entfernt sind, sogar tat-
        sächlich wichtige „rote Linien“ reißen . Verursacher ist
        dabei oftmals nicht die neue kanadische Regierung, son-
        dern die zuständige neoliberal agierende Generaldirekti-
        on Handel der EU-Kommission . Die bisherige Haltung
        in den Gesprächen und Anhörungen der Mitarbeiter und
        Mitarbeiterinnen der Kommission hat gezeigt, dass dort
        die notwendige Problemwahrnehmung für die kritischen
        Punkte im Abkommen so gut wie nicht vorhanden ist .
        Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen ist
        keine Zustimmung zu CETA in der vorliegenden Fas-
        sung . Trotzdem kann ich diesem Antrag nicht zustim-
        men, da ich das Verfahren, erst im Ministerrat zuzustim-
        men und danach Verbesserungen erreichen zu wollen, für
        nicht zielführend halte .
        Die Forderung, entweder unsere Verbesserungen in
        das Abkommen zu verhandeln oder als einzige Alterna-
        tive eine Außerkraftsetzung, wird dann auch gegenüber
        unseren europäischen Partnern schwerer zu vermitteln
        sein als jetzt, vor der Unterzeichnung des Vertrages .
        Neben den Bedenken zum Verfahren habe ich auch
        inhaltliche Bedenken .
        Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet zu den ILO-
        Kern arbeitsnormen die Formulierung des SPD Konvents
        nicht übernommen wurde .
        Weiterhin fehlt eine wesentliche Formulierung zur
        Einschränkung der neuen Gerichtsbarkeit im Verhältnis
        inländische und ausländische Investoren und Bürger . Das
        Klimaschutzabkommen von Paris wird ebenfalls nicht
        thematisiert .
        Die folgenden Formulierungen aus dem Konventsbe-
        schluss in den Antrag wären für mich hier zwingend für
        eine Zustimmung gewesen:
        1 . „Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick
        auf die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .“
        2 . „Anders als im Prozess der WTO ist es der Staatenge-
        meinschaft gelungen, im Jahr 2015 gemeinsam globa-
        le Nachhaltigkeitsziele und das Pariser Klimaschutz-
        abkommen zu beschließen . Unter Bezugnahme auf
        Artikel 24 .4 (Kapitel Handel und Umwelt) ist durch
        die Vertragsparteien zu betonen, dass diese Abkom-
        men von großem Wert sind und das CETA-Abkommen
        und die darin beschriebene Handels- und Wirtschafts-
        politik sich an diesen Zielen orientiert .“
        3 . „Im Rahmen des Beratungsprozesses ist ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu entwickeln .
        Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ratifiziert
        werden . Der soziale Dialog ist effektiv auszugestalten,
        sodass das Verfahren zur Durchsetzung von Standards
        wirkungsvoll genug ist und durch Sanktionsmöglich-
        keiten ergänzt wird .“
        Insgesamt weiß ich aber auch zu schätzen, was die
        SPD-Fraktionsführung hier mit der Union erreicht hat .
        Ich begrüße ausdrücklich, dass in der Stellungnahme
        deutlich zum Ausdruck kommt, dass der Deutsche Bun-
        destag erst im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden wird, je nach-
        dem, ob unsere geforderten Änderungen nach unserer
        Einschätzung umgesetzt wurden oder nicht .
        Den Anträgen von Linken und Grünen stimme ich in-
        haltlich aus den eingangs skizzierten Erwägungen zum
        weiteren Verfahren in ihrem Forderungsteil zu, näm-
        lich CETA jetzt nicht im Ministerrat zu unterzeichnen .
        Allerdings kann ich den inhaltlichen Begründungen bei
        beiden Anträgen aus unterschiedlichen Gründen nicht
        zustimmen . So werden in der Stellungnahme der Grünen
        zu CETA die Arbeitnehmerrechte bzw . ILO-Kernarbeits-
        normen gar nicht erwähnt, und bei den Linken finden
        sich etliche falsche Behauptungen im Begründungsteil .
        Im Ergebnis meiner Abwägung werde ich daher bei
        allen drei Anträgen mit Nein votieren .
        Daniela Kolbe (SPD): Müsste ich heute über das
        Freihandelsabkommen mit Kanada „CETA“ abstimmen,
        ich würde ablehnen . Aber heute wird nicht über den Ver-
        tragstext des Abkommens CETA abgestimmt .
        Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
        wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
        der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
        in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente zu
        geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
        on Bündnis 90/ Die Grünen simulieren Entscheidungs-
        fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
        der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
        Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie-
        und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
        MoveOn in den USA), manchen ver .di-Mitgliedern und
        anderen, die schon seit Monaten, einige schon seit Jah-
        ren, wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn CETA
        nicht kommt, so die einen, wenn CETA kommt, so die
        anderen .
        Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um
        Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
        Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach gut
        ist . In vielen anderen wurde ich um Ablehnung gebeten –
        gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18925
        (A) (C)
        (B) (D)
        Gefährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprin-
        zips . Es wurde und wird viel spekuliert . Als frei gewählte
        Abgeordnete sage ich: Ich entscheide endgültig, wenn
        entscheidungsreife Vorlagen den Bundestag erreichen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt, wie die anderen an ihre Befürchtung,
        dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
        selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
        wahrgenommen werden und man fest im einmal gefäll-
        ten Urteil stecken bleibt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
        die schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihan-
        delsabkommen sind, und anders als CDU und CSU, die
        schon lange wissen, dass sie für diese Freihandelsab-
        kommen sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion
        einen intensiven Diskussions- und Abwägungsprozess
        angestoßen und organisiert . In diesem von Bundeswirt-
        schaftsminister Gabriel wesentlich getragenen Prozess
        wurde der Vertragstext in seinen rechtlichen, sozialen
        und kulturellen Zielen so verändert, dass die Kritiker
        der Ursprungstexte in Pro und Kontra zusammengeführt
        werden . Wer diese Veränderungen wahrnimmt, erkennt,
        wie wesentlich diese Änderungen für den Zusammen-
        halt unserer Gesellschaft sind . Dazu gab es einen großen
        SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Linien“ für eine
        Zustimmung zu den aktuellen Freihandelsabkommen be-
        schlossen haben .
        Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
        ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
        Verbesserungen enthält, insbesondere die Einführung
        eines öffentlichen Handelsgerichtshofes – statt Schieds-
        gerichtsbarkeit– , auch wenn Bereiche der öffentlichen
        Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
        sundheit, nun speziellen Schutzregeln unterliegen, würde
        ich heute noch nicht zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt
        uns, dass es klug ist, Vertragstexte erst dann zu beschlie-
        ßen, wenn sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz, den
        jeder faire Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mühelos
        akzeptieren kann .
        Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
        alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
        deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
        dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
        sein werden:
        Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
        Arbeitnehmerrechte bekennen und sich verpflichten, An-
        strengungen zur Ratifizierung und Umsetzung der Kern-
        arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation
        (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von Interesse, ob
        die Anstrengungen Erfolg haben werden oder nicht .
        Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
        Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
        hier noch zu abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klärung
        auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
        stößt .
        Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
        Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
        schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
        muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
        werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung Li-
        beralisierung von Dienstleistungen der öffentlichen Da-
        seinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich sehr .
        Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Vertragswerk
        rechtlich fixiert sein, um später streitanfällige Interpreta-
        tionen zu vermeiden .
        Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
        zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
        unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt- und
        Verbraucherstandards müssen gewährleistet bleiben . Das
        im europäischen Primärrecht verankerte Vorsorgeprinzip
        bleibt von CETA unberührt . Dies muss unmissverständ-
        lich klargestellt werden .“
        Mit der Formulierung „Der Deutsche Bundestag be-
        grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
        Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
        im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindliche
        Klärungen der noch offenen Fragen herbeizuführen, und
        setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich die offene
        Frage, warum „rechtsverbindliche Klärungen“ nicht ein-
        fach in das Vertragswerk CETA eingearbeitet werden .
        Die Übersichtlichkeit und Bürgerfreundlichkeit des
        ohnehin schon komplexen und langen Vertragstextes
        wird durch weitere Regelungen und Vereinbarungen au-
        ßerhalb des Vertrags weiter gemindert .
        Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
        mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitiere ich nach-
        folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
        Miersch:
        „Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
        stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
        schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
        und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
        haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
        Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
        re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
        zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
        Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618926
        (A) (C)
        (B) (D)
        Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ – Druck-
        sache 18/9663 – in der letzten Feststellung des Bun-
        destages: „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des
        weiteren Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschlie-
        ßend über seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
        ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
        Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
        tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
        in die Parlamente, zu geben . Dem kann ich guten Gewis-
        sens zustimmen .
        Hiltrud Lotze (SPD): Würde heute in der Sache über
        den derzeit vorliegenden Text von CETA abgestimmt,
        könnte ich nicht zustimmen .
        Ich spreche mich aber dafür aus, im parlamentarischen
        Verfahren den vorliegenden Vertragstext durch Zusatz-
        vereinbarungen zu ergänzen .
        Nur so können wir den Vertragstext in unserem Sinne
        beeinflussen. Dem heute vorliegenden Antrag von CDU/
        CSU und SPD werde ich daher zustimmen, um entspre-
        chende Versuche möglich zu machen . Den Anträgen von
        Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke, die
        das Ergebnis solcher Verhandlungen vorwegnehmen,
        werde ich daher nicht zustimmen .
        Dr. Matthias Miersch (SPD): Der Deutsche Bun-
        destag entscheidet heute nicht über das europäisch-ka-
        nadische Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt
        Stellung zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein
        positives Votum im Europäischen Rat den Weg das wei-
        tere Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament
        und in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU er-
        öffnen soll .
        Im August habe ich eine Bewertung verfasst, in der ich
        aufzeige, an welchen Stellen der aktuelle Entwurf von
        CETA mit der Beschlusslage der SPD nach meiner Über-
        zeugung nicht übereinstimmt . Ich habe mich vor allem
        auf die Bereiche Investitionsschutz, CETA-Ausschuss,
        Vorsorgegrundsatz, öffentliche Daseinsvorsorge und Ar-
        beitnehmerrechte bezogen und komme zu dem Ergebnis,
        dass ich dem aktuell vorliegenden CETA-Entwurf nicht
        zustimmen könnte .
        Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und CETA-Be-
        fürwortern innerhalb der SPD habe ich in diesem Papier
        vorgeschlagen, durch eine entsprechende Beschlussfas-
        sung im Ministerrat das Europäische Parlament in die
        Lage zu versetzen, das Verfahren unter Beteiligung der
        nationalen Parlamente an sich zu ziehen, die Zivilgesell-
        schaft einzubeziehen und in einem transparenten Verfah-
        ren mit Kanada ein faires Ergebnis zu verhandeln . Ich
        habe mich ferner gegen die vorläufige Anwendung des
        Vertrages ausgesprochen .
        Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
        von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
        kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
        zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
        gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
        deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
        sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
        keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
        die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
        Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
        che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
        Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
        kommens vorläufig anzuwenden, und fordert in diesem
        Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
        diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
        einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
        tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
        Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
        Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme
        der Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben
        beschriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungs-
        verfahrens durch das Europäische Parlament mit den
        nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft
        ermöglicht, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am ver-
        gangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit die
        Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensiven
        Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch gegen-
        überstehen, Lösungsansätze in den kontrovers disku-
        tierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
        die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
        Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
        treffen . Auch das sieht die vorliegende Stellungnahme
        des Bundestages vor . Soweit im Ministerrat diesbezüg-
        lich keine sachgerechte Lösung gefunden wird, muss
        die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände
        berücksichtigt werden, nach der aufgrund der bislang
        unzureichenden Klärung der Fragen über die Anwend-
        barkeit des Vertrages auf die öffentliche Daseinsvorsorge
        auch weitere Bereiche von der vorläufigen Anwendung
        ausgeschlossen werden müssen . Das gilt auch für die in
        CETA neu geschaffenen Gremien, die auch in der Verfas-
        sungsbeschwerde problematisiert werden, die bezüglich
        des Abkommens anhängig ist .
        Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
        chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
        Mitgliedstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen
        zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
        dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
        im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
        pauschales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am
        Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
        jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
        Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
        teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
        Ulli Nissen (SPD): Die von Die Linke und von Bünd-
        nis 90/Die Grünen vorgelegten Anträge vermitteln den
        Eindruck, heute würde im Deutschen Bundestag über
        CETA entschieden . Das ist nicht der Fall . Heute ent-
        scheiden wir im Deutschen Bundestag darüber, ob wir
        den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, den aktuell
        vorliegenden Vertragsentwurf zu CETA in die parlamen-
        tarischen Verfahren zu geben .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18927
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, CETA als
        gemischtes Abkommen abzuschließen . Das heißt, dass
        nicht alle Teile des Abkommens in die gemeinsame Han-
        delspolitik der EU fallen, sondern in der Zuständigkeit
        der EU-Mitgliedstaaten verbleiben . Damit wird es nach
        der Unterzeichnung von CETA im Rat einen umfassen-
        den Ratifikationsprozess sowohl auf Ebene des Rates
        und des Europäischen Parlaments als auch der nationalen
        Parlamente der Mitgliedstaaten geben . Alle notwendigen
        Dokumente und Informationen müssen transparent ge-
        macht werden .
        Die SPD hat auf ihren Parteitagen mehrmals die roten
        Linien für die Freihandelsabkommen gezogen . Eine da-
        von war die Garantie, dass das demokratische Recht, Re-
        gelungen zum Schutz von Gemeinwohlzielen zu schaf-
        fen, nicht gefährdet wird . Die Fähigkeit von Parlamenten
        und Regierungen, Gesetze und Regeln zum Schutz und
        im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu erlassen, dürfe
        auch nicht durch die Schaffung eines Regulierungsrates
        erschwert werden, heißt es im Beschluss des SPD-Bun-
        desparteitages .
        Mit dem CETA Abkommen sollen nun eine Vielzahl
        von Sondergremien geschaffen werden, deren Zusam-
        mensetzung höchst fraglich ist . Zusätzlich sollen gesetz-
        geberische Aktivitäten stets rechtzeitig vorher mit diesen
        Gremien zurückgekoppelt werden . Damit wird die Ver-
        abschiedung neuer Gesetze zum Beispiel zum Schutz der
        Verbraucherinnen und Verbraucher deutlich erschwert .
        Das schränkt die Souveränität der nationalen Parla-
        mente ein . Deshalb lehne ich CETA in der jetzt vorlie-
        genden Fassung ab . Das ist nur eine der roten Linien, die
        ich für überschritten halte .
        Um es klar zu sagen: Würde heute CETA im Parlament
        abgestimmt, würde ich mit Nein stimmen . Wir stimmen
        aber heute darüber ab, ob wir CETA in die parlamentari-
        schen Verfahren geben . Nur hier kann es Nachverhand-
        lungen und Veränderungen an CETA geben . Die Ergeb-
        nisse werde ich prüfen, wenn CETA zur Abstimmung
        im Deutschen Bundestag vorliegt . Sind die roten Linien
        nach wie vor überschritten, werde ich mit Nein stimmen .
        Ich werde mich bei der heutigen Abstimmung bei al-
        len vorgelegten Anträgen enthalten . Bei den Oppositi-
        onsanträgen, weil es heute nicht um die Verabschiedung
        von CETA im Deutschen Bundestag geht . Beim Antrag
        von CDU/CSU und SPD, weil ich keine positive Vorab-
        festlegung mittragen will . Ich lasse mir den Weg für ein
        späteres Nein im Deutschen Bundestag offen .
        Dr. Sascha Raabe (SPD): Ich setze mich seit 2002
        als Berichterstatter meiner Fraktion im Entwicklungsaus-
        schuss für weltweit faire und gerechte Handelsbedingun-
        gen ein . Ich bin davon überzeugt, dass nur ein fairer statt
        freier Handel Hunger und Armut und damit auch Flucht-
        ursachen überwinden kann . Fairer statt freier Handel be-
        deutet, dass Handel nicht frei von menschenrechtlichen,
        ökologischen und sozialen Kriterien sein darf, sondern
        nur Waren gehandelt werden, bei deren Produktion fai-
        re Bedingungen für Mensch und Umwelt gegeben sind .
        Denn nur so kann verhindert werden, dass Unternehmen
        und Konzerne sich ihre Standorte weltweit danach aussu-
        chen, wo sie Mensch und Umwelt am meisten ausbeuten
        können . Je fairer die Wettbewerbsbedingungen weltweit
        sind, desto besser ist dies nicht zuletzt auch für deutsche
        Arbeitsplätze und hiesige Löhne .
        Entscheidend ist es deshalb, in allen Handelsverträ-
        gen der Europäischen Union verbindliche menschen-
        rechtliche, ökologische und soziale Kriterien wie die
        acht ILO-Kernarbeitsnormen mit konkreten Beschwer-
        de-, Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen zu ver-
        einbaren . Das ist im Grundsatz so im Koalitionsvertrag
        festgelegt und explizite Beschlusslage der SPD-Bundes-
        tagsfraktion . Von daher messe ich den Handelsvertrag
        mit Kanada (CETA) besonders an diesen Kriterien . Auf
        andere Aspekte vom Verbraucherschutz, Vorsorgeprinzip
        bis zur öffentlichen Daseinsvorsorge, die mir ebenfalls
        wichtig sind, gehe ich in der Begründung für mein Ab-
        stimmungsverhalten hier nicht ein . Ich verweise hierzu
        auf die inhaltlichen Forderungen des SPD-Parteikon-
        ventsbeschlusses vom 19 . September . Ich teile ausdrück-
        lich die dort formulierten Anforderungen, die noch in
        CETA verbessert werden müssen . Andernfalls könnte
        ich im Ratifikationsprozess später im Bundestag nicht
        zustimmen, sondern ich würde CETA definitiv ablehnen.
        In der heutigen Abstimmung geht es für den Deutschen
        Bundestag aber nicht darum, für oder gegen CETA abzu-
        stimmen, weil sich diese Entscheidung erst bei der Rati-
        fizierung für uns stellt.
        Heute geht es in den Anträgen von SPD/CDU/CSU,
        Grünen und Linken um eine Stellungnahme des Deut-
        schen Bundestages nach Artikel 23 GG . Hier können wir
        der Bundesregierung unsere Empfehlungen mit auf den
        Weg geben für ihr Handeln auf EU-Ebene . Konkret geht
        es heute darum, welche Empfehlung der Bundestag der
        Bundesregierung hinsichtlich der Frage gibt, ob und unter
        welchen Bedingungen die Bundesregierung im Europäi-
        schen Rat CETA in der jetzigen Form unterzeichnen soll .
        Erst nach Unterzeichnung im Europäischen Rat und nach
        positiver Beschlussfassung durch das Europäische Par-
        lament (EP) käme CETA zur Ratifizierung in den Deut-
        schen Bundestag . Dann hätte der Bundestag das letzte
        Wort, ob er den dann endgültig vorliegenden Vertragstext
        ratifiziert oder nicht. Falls der Deutsche Bundestag dann
        nicht ratifiziert, würde der gesamte Vertrag dann wieder
        außer Kraft gesetzt werden . Allerdings würde CETA so
        lange großteils – zum Beispiel zollfreier Warenhandel –
        vorläufig in Kraft bleiben, bis es eine Mehrheit im Bun-
        destag, – oder einem anderen EU-Mitgliedstaat – für eine
        Nichtratifizierung gibt.
        Gemessen an den oben genannten Kriterien, inwie-
        weit CETA ökologische und soziale Kriterien wie die
        ILO-Kernarbeitsnormen verbindlich berücksichtigt,
        ist der vorliegende Vertragstext für mich und auch laut
        Parteikonventsbeschluss für meine Partei nicht zustim-
        mungsfähig . Zwar ist es erfreulich, dass Kanada auf
        unseren Druck hin nun auch die letzten beiden fehlen-
        den ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert hat bzw. die letz-
        te noch ausstehende Norm ratifizieren will. Allerdings
        haben insbesondere die meisten Entwicklungs- und
        Schwellenländer auch alle acht ILO-Kernarbeitsnormen
        ratifiziert. Das Problem liegt dort nicht in der formalen
        Ratifizierung, sondern in der fehlenden oder mangelhaf-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618928
        (A) (C)
        (B) (D)
        ten Umsetzung . Deshalb ist es so entscheidend, konkrete
        Beschwerde-, Überprüfung- und Sanktionsmechanismen
        bei Nichteinhaltung von Umwelt- und Arbeitnehmer-
        schutzbestimmungen zu verankern . Und wenn CETA
        als „Goldstandard“ und Vorbild nachträglich bisherige
        Abkommen und künftige Abkommen verbessern soll,
        dann muss hierauf im Blick auf die laufenden Verhand-
        lungen bzw. Ratifizierungsprozessse mit beispielsweise
        Vietnam, Indien und den afrikanischen Staaten im Rah-
        men der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen besonders
        geachtet werden . Denn nur so können in diesen Ländern
        Kinderarbeit unterbunden und umweltgerechte und men-
        schenwürdige Arbeits- und Produktionsbedingungen
        durchgesetzt werden .
        Diesen Mangel am vorliegenden Vertragstext zu
        CETA hat auch der SPD-Parteikonventsbeschluss er-
        kannt und fordert deshalb ebenso wie die gemeinsame
        Stellungnahme der Regierungsfraktionen nach Artikel
        23 Nachbesserungen . Die Formulierungen im SPD-Par-
        teikonventsbeschluss, in dem konkret die Ergänzung des
        CETA-Vertrages um Sanktionsmöglichkeiten im Nach-
        haltigkeitskapitel gefordert wird, sind hierzu ausdrück-
        lich zu begrüßen . Die Formulierung im gemeinsamen
        Antrag der Regierungsfraktionen ist hierzu leider auf-
        grund des Widerstandes der Union etwas abgeschwächt
        und interpretationsbedürftig .
        Anstelle der im Parteikonventsbeschluss genann-
        ten konkreten Forderung nach einem Sanktionsmecha-
        nismus heißt es nun lediglich, dass „das Verfahren zur
        Durchsetzung von Arbeits-Sozial- und Umweltstandards
        wirkungsvoll sein muss“ . Das ist problematisch, da die
        EU-Kommission in den bisherigen Handelsverträgen
        einschl . CETA das dort jeweils vereinbarte „Dialogver-
        fahren“ zur Konfliktlösung bereits als „wirkungsvoll“
        ansieht . Ich möchte für mich und die SPD-Fraktion klar-
        stellen, dass „wirkungsvoll“ für uns die Ergänzung durch
        Sanktionsmöglichkeiten bedeutet .
        In diesem Sinne kann ich die inhaltlichen Anforde-
        rungen, die in dem gemeinsamen Antrag der Regie-
        rungsfraktionen analog zum Parteikonventsbeschluss als
        Voraussetzung für eine spätere Zustimmung im Ratifizie-
        rungsverfahren durch den Deutschen Bundestag genannt
        werden, nur voll unterstützen .
        Unserem Antrag kann ich allerdings aus einem ande-
        rem Grund nicht zustimmen: Ich halte das Verfahren –
        das so leider auch im Parteikonventsbeschluss steht –
        zunächst im Rat der Bundesregierung Zustimmung zur
        Unterzeichnung des CETA-Vertragstextes zu empfehlen
        und erst danach Verbesserungen bis zur Ratifikation durch
        den Bundestag erreichen zu wollen, für nicht ausreichend
        erfolgsversprechend . Zum einen ist es sehr fraglich, dass
        sich im Europäischen Parlament Mehrheiten für alle von
        uns als notwendig erachteten Verbesserungen finden wer-
        den . Wobei das Europäische Parlament diese Verbesse-
        rungen sowieso nicht direkt beschließen könnte, sondern
        nur über die Drohung der Nichtratifizierung durch das EP
        die Verhandlungspartner zu Nachbesserungen zwingen
        könnte . Wenn das EP die von uns geforderten Verbesse-
        rungen nicht durchsetzt und den Vertrag ratifiziert, könn-
        ten wir zwar wie oben ausgeführt als Deutscher Bun-
        destag sofort anschließend ebenfalls durch die Drohung
        der Nichtratifizierung versuchen, Nachverhandlungen zu
        erzwingen oder den Vertrag eben insgesamt wieder außer
        Kraft setzen . Allerdings wäre auch hierfür eine Mehrheit
        im Deutschen Bundestag erforderlich . Diese wird sowohl
        für die Ratifizierung als auch für die Nicht-Ratifizierung
        benötigt . Wenn für beide Fälle keine Mehrheit zustan-
        de käme, bliebe CETA nach Ratifizierung durch das EP
        auf unbestimmte Zeit in großen Teilen vorläufig in Kraft
        bis entweder alle Mitgliedsstaaten ratifizieren oder ein
        Mitgliedstaat ausdrücklich nicht ratifiziert. Es könnte
        also passieren, dass die Wirtschaft viele Jahre lang be-
        reits mit Beginn der vorläufigen Anwendung vom Ge-
        winn des zollfreien Handels profitieren würde, aber die
        im Gegenzug von uns geforderten Verbesserungen und
        Garantien beim Schutz von Arbeitnehmerrechten und
        Umweltschutz vertraglich nicht abgesichert wären . Und
        ob es dann nach vielen Jahren realistisch durchsetzbar
        und unseren europäischen und kanadischen Partnern zu
        vermitteln wäre, den Vertrag insgesamt wieder komplett
        außer Kraft zu setzen, halte ich für äußerst fraglich . Des-
        halb wäre es sinnvoller, jetzt der Bundesregierung zu
        empfehlen, so lange im Rat den Vertragstext nicht zu
        unterzeichnen, bis die von uns richtigerweise genannten
        inhaltlichen Verbesserungen erfolgt sind .
        Da ich im Antrag der Regierungsfraktionen das vor-
        geschlagene Verfahren nicht mittragen kann, werde ich
        dem Antrag nicht zustimmen . Ich werde ihn aber auch
        nicht ablehnen, weil ich die inhaltlichen Punkte, die als
        Nachbesserungen gefordert werden und zu deren Durch-
        setzung und Klarstellung die Bundesregierung auf euro-
        päischer Ebene in dem Antrag aufgefordert wird, analog
        des Parteikonventsbeschlusses ausdrücklich unterstütze .
        Deshalb werde ich mich im Ergebnis bei diesem Antrag
        enthalten .
        Ich werde mich auch bei den Anträgen von Linken
        und Grünen enthalten, aber mit fast genau umgekehrter
        Begründung .
        Den Anträgen von Linken und Grünen stimme ich
        aus den genannten Erwägungen zum weiteren Verfahren
        in ihrem Forderungsteil insoweit hinsichtlich der Emp-
        fehlung zu, CETA jetzt noch nicht im Ministerrat zu
        unterzeichnen . Allerdings kann ich den inhaltlichen Be-
        gründungen bei beiden Anträgen aus unterschiedlichen
        Gründen nicht zustimmen . So werden in der Stellung-
        nahme der Grünen zu CETA die ILO-Kernarbeitsnormen
        und entsprechende Durchsetzungs- und Sanktionsmög-
        lichkeiten gar nicht erwähnt, und bei den Linken finden
        sich einfach etliche falsche Behauptungen im Begrün-
        dungsteil ihrer Stellungnahme .
        Unter dem Strich ergibt sich deshalb für mich eine
        Enthaltung bei allen Anträgen .
        Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Heute wird
        darüber entschieden, ob wir den Bundeswirtschaftsmi-
        nister beauftragen, im Handelsministerrat der EU den
        aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA in die par-
        lamentarischen Verfahren, in die Parlamente zu geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
        on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
        fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18929
        (A) (C)
        (B) (D)
        der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
        Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie
        und Handelskammertag (DIHK), campact und anderen,
        die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren, wissen,
        dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht kommt,
        so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
        In vielen Briefen wurde ich um Zustimmung zu TTIP,
        CETA und TiSA gebeten – für Wachstum, Arbeitsplätze
        und weil Freihandel einfach gut ist . In vielen anderen,
        häufig genug einfach kopierten Briefen, wurde ich um
        Ablehnung gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Pri-
        vatisierung der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsor-
        ge und des Vorsorgeprinzips . Es wurde viel spekuliert .
        Doch bevor nicht der endgültige Vertragstext mit sei-
        nen rechtsförmlich wesentlichen Ergänzungen zur Be-
        schlussfassung im Bundestag vorliegt, können die einen
        ihre Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze ebenso
        wenig begründen, wie die anderen ihre Befürchtungen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
        dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
        selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
        wahrgenommen werden und man fest im einmal gefäll-
        ten Urteil stecken bleibt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
        kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
        lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
        sind, haben SPD und SPD Fraktion einen tiefen Diskus-
        sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
        siert . In diesem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
        wesentlich getragenen Prozess wurde der Vertragstext
        in seinen rechtlichen, sozialen und kulturellen Zielen so
        verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro
        und Kontra zusammengeführt werden . Wer diese Ver-
        änderungen wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese
        Änderungen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft
        dienen . Dazu gab es einen großen SPD-Konvent, auf
        dem wir die „roten Linien“ für eine Zustimmung zu den
        aktuellen Freihandelsabkommen beschlossen haben .
        Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
        ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
        Verbesserungen enthält, insbesondere die Einführung
        eines öffentlichen Handelsgerichtshofes –statt Schieds-
        gerichtsbarkeit –, auch wenn Bereiche der öffentlichen
        Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
        sundheit, nun speziellen Schutzregeln unterliegen, würde
        ich heute noch nicht zustimmen können . Die Erfahrung
        lehrt, dass es klug ist, Vertragstexte erst dann zu beschlie-
        ßen, wenn sie endgültig vorliegen .
        Heute wird zunächst darüber entschieden, ob wir den
        Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im Handelsmi-
        nisterrat der EU, den aktuell vorliegenden Vertragsent-
        wurf CETA in die parlamentarischen Verfahren zu geben .
        Deshalb stimme ich dem heutigen Koalitionsantrag
        zu .
        Damit bleibt es dabei: Der Deutsche Bundestag wird
        erst im Lichte des weiteren Prozesses im Ratifizierungs-
        verfahren abschließend über seine Zustimmung zu CETA
        entscheiden können .
        Dr. Nina Scheer (SPD): Der Deutsche Bundestag
        entscheidet heute nicht über das europäisch-kanadische
        Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt Stellung
        zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein positives
        Votum im Europäischen Rat den Weg das weitere Ra-
        tifizierungsverfahren im Europäischen Parlament und in
        den Parlamenten der Mitgliedsstaaten der EU eröffnen
        soll .
        Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
        von CDU/CSU und SPD ermöglicht diesen Weg . Er er-
        kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
        zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
        gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
        deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
        sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
        keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
        die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
        Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
        che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
        Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
        kommens vorläufig anzuwenden und fordert in diesem
        Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
        diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
        einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
        tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
        Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
        Die Stellungnahme der Fraktionen von CDU/CSU und
        SPD ermöglicht den oben beschriebenen Weg eines aus-
        führlichen Anhörungsverfahrens durch das Europäische
        Parlament mit den nationalen Parlamenten und mit der
        Zivilgesellschaft, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent
        am vergangenen Montag gefordert hat . Europa hat da-
        mit die Chance, neue Wege zu gehen und in einem inten-
        siven Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch
        gegenüberstehen, Lösungsansätze in den kontrovers dis-
        kutierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
        die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
        Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
        treffen .
        Insofern stimme ich mit Ja zum Antrag von CDU/CSU
        und SPD und mit Nein zum den Oppositionsanträgen
        Udo Schiefner (SPD): Heute wird nicht über den
        Vertragstext des CETA-Abkommens abgestimmt . Heute
        wird darüber entschieden, ob wir den Bundeswirtschafts-
        minister beauftragen, im Handelsministerrat der EU, den
        aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA in die parla-
        mentarischen Verfahren zu geben .
        Die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/
        Die Grünen wollen mit ihren Anträgen heute etwas ableh-
        nen, dessen Details sie gar nicht kennen . Damit machen
        sie sich in der Urteilsfindung gemein mit dem Bundes-
        verband der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen
        Industrie und Handelskammertag (DIHK), campact
        (nachgebildet MoveOn in den USA), ver .di Mitglie-
        dern und anderen, die schon seit Monaten, einige schon
        seit Jahren, wissen dass der Weltuntergang droht, wenn
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618930
        (A) (C)
        (B) (D)
        CETA nicht kommt, so die einen, wenn CETA kommt,
        so die anderen .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen Freihandelsabkom-
        men sind, und anders als CDU und CSU, die schon lange
        wissen, dass sie für Freihandelsabkommen sind, haben
        SPD und SPD-Bundestagsfraktion einen tiefgreifenden
        Diskussions- und Abwägungsprozess angestoßen und
        organisiert .
        Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist, über Ver-
        tragstexte erst dann zu befinden, wenn sie vorliegen. Die
        SPD hat auf ihrem Konvent Anfang dieser Woche nicht
        für CETA gestimmt, sondern unsere Anforderungen an
        das Abkommen definiert und den nun vor uns liegenden
        Prozess beschrieben . Wir haben ganz klare Bedingungen
        beschlossen, die Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten
        sein sollten. Wenn unsere Forderungen im finalen Ver-
        tragstext nicht Rechnung getragen wird, werde ich CETA
        nicht zustimmen .
        Dem heutigen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
        und der SPD „Comprehensive Economic and Trade
        Agreement (CETA): Für freien und fairen Handel“ werde
        ich zustimmen, denn mit ihm wird klar festgelegt: „Der
        Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren Prozes-
        ses im Ratifizierungsverfahren abschließend über seine
        Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Ursula Schulte (SPD): Heute wird darüber entschie-
        den, ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen,
        im Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden
        Vertragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfah-
        ren, in die Parlamente, zu geben .
        Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
        on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
        fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
        der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
        Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie
        und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
        MoveOn in den USA), ver .di Mitgliedern und anderen,
        die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren, wissen,
        dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht kommt,
        so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
        Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um Zu-
        stimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für Wachs-
        tum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach gut ist . In
        vielen anderen, häufig genug einfach kopierten Briefen,
        wurde ich um Ablehnung gebeten – gegen Schiedsge-
        richtsbarkeit, Privatisierung der Kultur, Gefährdung der
        Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprinzips . Es wurde viel
        spekuliert . Bevor nicht der endgültige Vertragstext mit
        seinen rechtsförmlich wesentlichen Ergänzungen zur Be-
        schlussfassung im Bundestag vorliegt, können die einen
        ihre Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze ebenso
        wenig begründen, wie die anderen ihre Befürchtungen .
        Deshalb meine stereotype Antwort: Wenn sich mög-
        lichst viele Hoffnungen der Befürworter durch den Ver-
        tragstext bestätigen lassen, stimme ich zu . Wenn sich alle
        Befürchtungen derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die
        mich auffordern, abzulehnen, bestätigen, lehne ich ab .
        Das entscheide ich endgültig, wenn entscheidungsreife
        Vorlagen den Bundestag erreichen .
        Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
        Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
        dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
        selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
        wahrgenommen werden und man fest im einmal gefäll-
        ten Urteil stecken bleibt .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
        kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
        lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
        sind, haben SPD und SPD Fraktion einen tiefen Diskus-
        sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
        siert . In diesem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
        wesentlich getragenen Prozess, wurde der Vertragstext
        in seinen rechtlichen, sozialen und kulturellen Zielen so
        verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro
        und Kontra zusammengeführt werden . Wer diese Ver-
        änderungen wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese
        Änderungen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft
        dienen . Dazu gab es einen großen SPD Konvent, auf dem
        wir die „roten Linien“ für eine Zustimmung zu den aktu-
        ellen Freihandelsabkommen beschlossen haben .
        Ich freue mich, dass das nun vorliegende Verhand-
        lungsergebnis gegenüber den früheren Fassungen es-
        senzielle Verbesserungen enthält, insbesondere die Ein-
        führung eines öffentlichen Handelsgerichtshofes – statt
        Schiedsgerichtsbarkeit . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass
        es klug ist, Vertragstexte erst dann zu beschließen, wenn
        sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz, den jeder faire
        Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mühelos akzeptieren
        kann .
        Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
        alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
        deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
        dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
        sein werden:
        – Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
        Arbeitnehmerrechte bekennen und … verpflichten,
        Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung der
        Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorgani-
        sation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von Inte-
        resse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden oder
        nicht .
        – Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
        Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
        hier noch zu verstehen, ob das gemeinsame Verständ-
        nis dieser Klärung auf breite Zustimmung in der deut-
        schen Bevölkerung stößt .
        – Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
        Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
        schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
        muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
        werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
        Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
        Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich
        sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18931
        (A) (C)
        (B) (D)
        tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
        lige Interpretationen zu vermeiden .
        – Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
        zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
        nicht unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Um-
        welt- und Verbraucherstandards müssen gewährleistet
        bleiben . Das im europäischen Primärrecht veranker-
        te Vorsorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies
        muss unmissverständlich klar gestellt werden .
        – Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
        grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
        Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
        im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
        che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
        ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
        die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
        gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
        beitet werden .
        Die Übersichtlichkeit und Bürgerfreundlichkeit des
        ohnehin schon komplexen und langen Vertragstextes
        wird durch weitere Regelungen und Vereinbarungen au-
        ßerhalb des Vertrags weiter gemindert .
        Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
        mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitiere ich nach-
        folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
        Miersch:
        „Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
        stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
        schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
        und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
        haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
        Maßstab für jeden SPD Abgeordneten sind . Wenn unse-
        re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
        zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
        Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden, ob
        wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im Han-
        delsministerrat der EU, den aktuell vorliegenden Ver-
        tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
        in die Parlamente zu geben .
        Svenja Stadler (SPD): Der Deutsche Bundestag
        entscheidet heute nicht über das europäisch-kanadische
        Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt Stellung
        zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein positi-
        ves Votum im Europäischen Rat den Weg für das weitere
        Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament und
        in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU eröffnen
        soll .
        Im August habe ich eine Bewertung verfasst, in der ich
        aufzeige, an welchen Stellen der aktuelle Entwurf von
        CETA mit der Beschlusslage der SPD nach meiner Über-
        zeugung nicht übereinstimmt . Ich habe mich vor allem
        auf die Bereiche Investitionsschutz, CETA-Ausschuss,
        Vorsorgegrundsatz, öffentliche Daseinsvorsorge und Ar-
        beitnehmerrechte bezogen und komme zu dem Ergebnis,
        dass ich dem aktuell vorliegenden CETA-Entwurf nicht
        zustimmen könnte .
        Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und CETA-Be-
        fürwortern innerhalb der SPD habe ich in diesem Papier
        vorgeschlagen, durch eine entsprechende Beschlussfas-
        sung im Ministerrat das Europäische Parlament in die
        Lage zu versetzen, das Verfahren unter Beteiligung der
        nationalen Parlamente an sich zu ziehen, die Zivilgesell-
        schaft einzubeziehen und in einem transparenten Verfah-
        ren mit Kanada ein faires Ergebnis zu verhandeln . Ich
        habe mich ferner gegen die vorläufige Anwendung des
        Vertrages ausgesprochen .
        Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
        von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
        kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
        zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
        gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
        deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
        sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
        keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
        die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
        Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
        che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
        Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
        kommens vorläufig anzuwenden, und fordert in diesem
        Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
        diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
        einer vorläufigen Anwendung auszunehmen.
        Eine Gültigkeit dieses Kapitels wäre somit nur mög-
        lich, wenn alle Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
        Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme der
        Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben be-
        schriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungsverfah-
        rens durch das Europäische Parlament mit den nationalen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618932
        (A) (C)
        (B) (D)
        Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft ermöglicht,
        wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am vergangenen
        Montag gefordert hat . Europa hat damit die Chance,
        neue Wege zu gehen und in einem intensiven Dialog ge-
        rade mit denjenigen, die CETA kritisch gegenüberstehen,
        Lösungsansätze in den kontrovers diskutierten Themen-
        feldern zu entwickeln . Dabei wird auch die Frage eine
        Rolle spielen müssen, ob es noch weitere Bereiche gibt,
        die auch die nationalen Kompetenzen betreffen . Auch
        das sieht die vorliegende Stellungnahme des Bundes-
        tages vor . Soweit im Ministerrat diesbezüglich keine
        sachgerechte Lösung gefunden wird, muss die Stellung-
        nahme der kommunalen Spitzenverbände berücksichtigt
        werden, nach der aufgrund der bislang unzureichenden
        Klärung der Fragen über die Anwendbarkeit des Ver-
        trages auf die öffentliche Daseinsvorsorge auch weitere
        Bereiche von der vorläufigen Anwendung ausgeschlos-
        sen werden müssen . Das gilt auch für die in CETA neu
        geschaffenen Gremien, die auch in der Verfassungsbe-
        schwerde problematisiert werden, die bezüglich des Ab-
        kommens anhängig ist .
        Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
        chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
        Mitgliedsstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen
        zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
        dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
        im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
        pauschales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am
        Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
        jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
        Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
        teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
        Sonja Steffen (SPD): Wenn heute über CETA in der
        jetzigen Fassung abgestimmt werden würde, wäre es
        für mich eine klare Entscheidung, dagegen zu stimmen .
        Aber heute wird genau darüber nicht abgestimmt . Heute
        wird darüber entschieden, ob wir den Bundeswirtschafts-
        minister beauftragen, im Handelsministerrat der EU den
        aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA in die parla-
        mentarischen Verfahren in die Parlamente zu geben .
        Wie beim SPD-Parteikovent am 19 . September 2016
        beschlossen, wird die Bundesregierung aufgefordert, im
        Handelsministerrat auf eine parlamentarische Beteili-
        gung hinzuwirken und sicherzustellen, dass die im Kon-
        vent beschlossenen Grundsätze eingehalten werden .
        Wie auch viele Bürgerinnen und Bürger habe ich
        große Bedenken bei den jetzigen Formulierungen und
        werde keinem Handelsvertrag zustimmen, der deutsche
        Arbeits-, Sozial- oder Umweltstandards aushebelt oder
        aufweicht .
        Selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungser-
        gebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
        Verbesserungen, insbesondere die Einführung eines öf-
        fentlichen Handelsgerichtshofes – statt Schiedsgerichts-
        barkeit –, enthält und Bereiche der öffentlichen Daseins-
        vorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Gesundheit,
        nun speziellen Schutzregeln unterliegen, würde ich heute
        noch nicht zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass
        es klug ist, Vertragstexte erst dann zu beschließen, wenn
        sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz, den jeder faire
        Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mühelos akzeptieren
        kann .
        Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
        mittelbar vor der heutigen Entscheidung, zitiere ich nach-
        folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
        Miersch:
        „Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
        stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
        schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
        und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
        haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
        Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
        re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
        zustimmen:
        – Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
        de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Falls ich im Rahmen der Parlamentsbeteiligung die
        Gefahr sehe, dass die Grundsätze der Sozialdemokratie
        gefährdet sind, werde ich, und mit mir auch viele ande-
        re Abgeordnete aus allen Fraktionen, gegen das Gesetz
        stimmen .
        Dr. Karin Thissen (SPD): Der Deutsche Bundestag
        entscheidet heute nicht über das europäisch-kanadische
        Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt Stellung
        zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein positi-
        ves Votum im Europäischen Rat den Weg das weitere
        Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament und
        in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU eröffnen
        soll .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18933
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
        von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
        kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
        zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
        gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
        deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
        sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
        keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
        die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
        Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
        che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
        Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
        kommens vorläufig anzuwenden, und fordert in diesem
        Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
        diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
        einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
        tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
        Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
        Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme
        der Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben
        beschriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungs-
        verfahrens durch das Europäische Parlament mit den
        nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft
        ermöglicht, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am ver-
        gangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit die
        Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensiven
        Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch gegen-
        überstehen, Lösungsansätze in den kontrovers disku-
        tierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
        die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
        Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
        treffen .
        Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
        chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
        Mitgliedstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen
        zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
        dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
        im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
        pauschales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am
        Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
        jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
        Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
        teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
        Anlage 9
        Erklärungen nach § 31 GO
        zu der namentlichen Abstimmung über
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Unter den
        heutigen Bedingungen würde ich zum Freihandelsab-
        kommen mit Kanada (CETA) Nein sagen . Heute beauf-
        tragen wir den Bundeswirtschaftsminister, im Handels-
        ministerrat der EU den vorliegenden Vertragsentwurf
        ins parlamentarische Verfahren der Mitgliedstaaten zu
        geben .
        Zur Beurteilung des weiteren parlamentarischen Bera-
        tungs- und Ratifizierungsprozesses sind für mich die kla-
        ren Bedingungen, die die SPD auf ihrem Parteikonvent
        beschlossen hat, bindend .
        Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick
        auf die Rechtstatbestände, wie z . B . „faire und gerechte
        Behandlung“ und „indirekte Enteignung“ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen ge-
        genüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen und
        Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit auf die
        Diskriminierung gegenüber inländischen Investoren be-
        schränkt werden .
        Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich
        erklärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veranker-
        ten Vorsorgeprinzip (Art . 191 AEUV) abweicht .
        Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen Ar-
        beits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt werden .
        Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ratifiziert wer-
        den .
        Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
        Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht
        vom Vertrag erfasst werden .
        Es muss sicher- und klargestellt werden, dass alle Gre-
        mien, die durch das CETA-Abkommen geschaffen wer-
        den, zunächst eine beratende Funktion zur Umsetzung
        des Abkommens haben und begrenzte Entscheidungen
        nur im Einklang mit den demokratisch legitimierten Ver-
        fahren der Partner treffen und nicht die Souveränität der
        Parlamente und Regierungen verletzen dürfen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618934
        (A) (C)
        (B) (D)
        Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
        findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
        der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
        che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
        „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
        Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
        seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
        Sollten die hier aufgeführten Punkte nicht genügend
        berücksichtigt worden sein, so ist eine Unterbrechung
        des Ratifizierungsprozesses oder eine Ablehnung des
        Vertrages möglich . Diese Entscheidung behalte ich mir
        vor .
        Gülistan Yüksel (SPD): Heute wird nicht über den
        Vertragstext des Abkommens CETA abgestimmt . Heute
        wird darüber entschieden, ob wir den Bundeswirtschafts-
        minister beauftragen, im Handelsministerrat der EU den
        aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA in die par-
        lamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu geben .
        Ich kann diesem Antrag nicht zustimmen, da ich das
        Verfahren, erst im Ministerrat zuzustimmen und danach
        Verbesserungen erreichen zu wollen, für nicht zielfüh-
        rend halte .
        Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
        schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
        kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
        lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
        sind, haben SPD und SPD-Fraktion einen tiefen Diskus-
        sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
        siert, der von Bundeswirtschaftsminister Gabriel wesent-
        lich getragen wurde .
        Durch unsere harten Verhandlungen haben wir schon
        im Vorfeld viele Verbesserungen im CETA-Abkommen
        durchgesetzt . Aber selbst wenn das nun vorliegende Ver-
        handlungsergebnis gegenüber den früheren Fassungen
        essenzielle Verbesserungen enthält, insbesondere die
        Einführung eines öffentlichen Handelsgerichtshofes –
        statt Schiedsgerichtsbarkeit –, auch wenn Bereiche der
        öffentlichen Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung
        oder Gesundheit, nun speziellen Schutzregeln unterlie-
        gen, würde ich heute noch nicht zustimmen .
        Bei unserem Parteikonvent hat die SPD klare Bedin-
        gungen beschlossen . Diese sind unter anderem folgende:
        „– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
        die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
        Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
        werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
        gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
        und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
        auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
        vestoren beschränkt werden .
        – Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
        klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
        kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
        kerten Vorsorgeprinzip (Art . 191 AEUV) abweicht .
        – Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
        tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
        Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
        werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
        tifiziert werden.
        – Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
        lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
        de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
        nicht vom Vertrag erfasst werden .“
        Diese Forderungen werden am Ende Maßstab für jede
        und jeden SPD-Abgeordnete und SPD-Abgeordneten
        sein .
        Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist, Vertrag-
        stexte erst dann zu beschließen, wenn sie endgültig vor-
        liegen . Deshalb werde ich heute dem Antrag nicht zu-
        stimmen .
        Um die Gespräche und die geforderten Anstrengungen
        für die Durchsetzung der Forderungen nicht aufzuhalten,
        stimme ich nicht mit „Nein“, sondern enthalte mich . Ge-
        spräche sind Grundlage, um eine Verbesserung des Ver-
        trages in unserem Sinne umzusetzen .
        Anlage 10
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Josef Göppel (CDU/CSU) zu
        den namentlichen Abstimmungen über
        – den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        sowie
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18935
        (A) (C)
        (B) (D)
        – den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
        Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
        Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
        und
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) ablehnen
        (Tagesordnungspunkt 39 a)
        (Tagesordnungspunkte ZP 3 und 39 a)
        Mein Fraktionsvorsitzender Volker Kauder sagt zu
        Freihandelsabkommen: „Ein Land, das die Hälfte seiner
        Produkte im Ausland verkauft, braucht Freihandel!“
        Ja, aber wie viel Systemveränderung muss in die Ab-
        kommen reingepackt werden? Ich habe nichts gegen
        Freihandel und den Abbau von Zöllen . Aber ich habe et-
        was dagegen, durch die Hintertür eine neue Wirtschafts-
        ordnung mit weniger demokratischer Kontrolle einzu-
        führen .
        Meine Kritik an CETA im Einzelnen:
        1 . Die Europäische Kommission selbst sagt, CETA
        sei das mit Abstand weitreichendste Abkommen,
        das die Europäische Union bisher abgeschlossen
        habe .
        Es gehe über alle bisherigen Freihandelsabkom-
        men hinaus .
        2 . Trotz der Nachverhandlungen des Bundeswirt-
        schaftsministers findet sich in Artikel 8.10 Ziffer 1
        der unbestimmte Rechtsbegriff der „gerechten und
        billigen Behandlung“ von Investoren . Artikel 8 .12
        enthält zudem eine Regelung zur indirekten Ent-
        eignung, die Schadensersatzklagen Tür und Tor
        öffnet . Gleichzeitig muss die Gesetzgebung laut
        Vertrag „legitime politische Ziele“ verfolgen .
        3 . Sowohl in Kanada wie in der Europäischen Union
        haben wir eine voll entwickelte und transparen-
        te Gerichtsbarkeit . Die Rechtssysteme der Ver-
        tragspartner bieten für Investoren ausreichenden
        Schutz . Deshalb bedarf es dafür keiner speziellen
        Regelung . Das Kapitel zum Investitionsschutz ist
        gänzlich zu streichen .
        4 . CETA schafft über die Sondergerichtsbarkeit hi-
        naus weitere Gremien, denen nationale Parlamente
        ihre gesetzgeberischen Aktivitäten vorab mitteilen
        müssen .
        Der „Gemischte CETA-Ausschuss“ nach Arti-
        kel 26 .1 ist für alle Fragen, die das Abkommen be-
        treffen, zuständig . Beschlüsse dieses Ausschusses
        sind nach Artikel 26 .3 „bindend“ und müssen von
        den nationalen Regierungen „umgesetzt“ werden .
        Das ist eine eindeutige Beschränkung des Gesetz-
        gebungsrechts der Parlamente .
        5 . Das Vorsorgeprinzip als grundsätzliche europäi-
        sche Rechtsposition wird im gesamten CETA-Ver-
        trag nicht erwähnt . Die Artikel 5 .2, 5 .4 und 21 .1
        verweisen lediglich auf Standards der WTO zu
        „Sanitary and Phytosanitary Measures (SPS)“ .
        Artikel 25 .2 sieht sogar die „Reduzierung nachtei-
        liger Handelsauswirkungen“ im Bereich Biotech-
        nologie und genetisch veränderter Organismen vor .
        Damit ist die Abkehr von europäischen Standards
        vorgezeichnet .
        6 . Bei der Daseinsvorsorge enthält der CETA-Ver-
        tragstext nach wie vor eine Negativliste . Alle Be-
        reiche, die darin nicht ausdrücklich genannt sind,
        unterliegen der vollen Liberalisierung . Rechts-
        sicherheit kann nur mit einer Positivliste erreicht
        werden .
        Ich trage Freihandelsabkommen mit, die Zölle und
        technische Zulassungen zum Gegenstand haben . Ich bin
        aber gegen die Aufblähung und Überhöhung dieser Ab-
        kommen, weil das den Freiraum demokratisch gewählter
        Parlamente und Regierungen einengt .
        Deshalb enthalte ich mich bei dem Antrag der Koali-
        tionsfraktionen und stimme dem Antrag der Grünen auf
        Drucksache 18/9621 zu .
        Anlage 11
        Erklärung nach § 31 GO
        des Abgeordneten Dr. Thomas Gambke (BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab-
        stimmung über
        den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
        SPD
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
        über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
        päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
        und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
        nada einerseits und der Europäischen Union
        und ihren Mitgliedstaaten andererseits
        KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
        und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618936
        (A) (C)
        (B) (D)
        zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
        tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
        senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
        (CETA) zwischen Kanada einerseits und der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
        andererseits
        KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
        hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
        regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
        Gesetzes über die Zusammenarbeit von
        Bundesregierung und Deutschem Bundes-
        tag in Angelegenheiten der Europäischen
        Union
        Comprehensive Economic and Trade Agree-
        ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
        (Tagesordnungspunkt ZP 3)
        Ich erkläre, dass mein Votum zum Antrag der Frakti-
        onen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9663
        Ablehnung lautet .
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor
        Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnun-
        gen (Tagesordnungspunkt 16)
        Uwe Feiler (CDU/CSU): Der vorgelegte Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung zum Schutz vor Manipulatio-
        nen an digitalen Grundaufzeichnungen reiht sich nahtlos
        in die Anstrengungen der Bundesregierung und der Ko-
        alition ein, Steuerhinterziehung wirksam zu bekämpfen,
        ohne dabei alle Steuerpflichtigen unter Generalverdacht
        zu stellen .
        Die große Mehrheit der Unternehmerinnen und Un-
        ternehmer kommt ihren Pflichten vollumfänglich nach.
        Gerade daraus ergibt sich für den Staat aber auch die
        Verpflichtung, sich derjenigen anzunehmen, die mei-
        nen, sich zulasten der Steuerzahlergemeinschaft ihren
        Beitrag zur Finanzierung sparen zu können . Und genau
        hier setzen wir mit dem Gesetzentwurf an, indem wir das
        Entdeckungsrisiko für Steuersünder enorm erhöhen und
        der Finanzverwaltung der Länder die Instrumente an die
        Hand geben, Umsätze besser nachvollziehen zu können .
        Dass die Umsatzsteuer zu den betrugsanfälligeren
        Steuerarten gehört und aufgrund ihrer Ausgestaltung die
        Mitwirkung von Unternehmern erfordert, rückt sie in den
        besonderen Fokus sowohl von Betrügern als auch des
        Fiskus und somit von uns allen .
        Bei diesem Gesetz ist mir die Durchsetzung der Steu-
        ergerechtigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung ein
        besonderes Anliegen, und ich warne davor, lediglich auf
        erhoffte Steuermehreinnahmen zu schielen wie viele Ver-
        treter der Länder .
        Valide Berechnungen liegen bis heute nicht vor, und
        die in Rede stehenden 10 Milliarden Euro Mehreinnah-
        men beruhen auf mehrfachen Hochrechnungen der Prü-
        fung des Gastronomiebereichs in der kanadischen Pro-
        vinz Québec, sodass ich empfehle, mit der Verplanung
        des Geldes noch etwas zu warten .
        Das Gesetz fußt auf drei ineinandergreifende Maßnah-
        men:
        Erstens . Wer ein elektronisches Aufzeichnungssys-
        tem, also vorwiegend Registrierkassen, verwendet, muss
        zwingend Systeme verwenden, die über eine technische
        Sicherheitseinrichtung verfügen . Die Zeiten in denen
        mittels „Chef-Taste“ Umsätze gelöscht oder „Trainings-
        kellner“ im Dauereinsatz tätig sind, um Umsätze im
        wahrsten Sinne des Wortes unter den Tisch fallen zu
        lassen, sind damit vorbei . Zukünftig wird ab dem ersten
        Tastendruck jede Eingabe in das Kassensystem protokol-
        liert . Etwaige Korrekturen sind selbstverständlich auch
        zukünftig möglich, dann aber lückenlos nachvollziehbar .
        Gleichzeitig lässt der Gesetzentwurf aber auch Raum
        für Lösungen für große Handelsketten, die schon auf-
        grund unternehmensinterner Kontrollprozesse ein ausge-
        prägtes Interesse an der lückenlosen Aufzeichnung ihrer
        Umsätze haben und über leistungsstarke Kassen- und
        Warenwirtschaftssysteme verfügen . Auf der anderen Sei-
        te wird es auch in Zukunft möglich sein, auf Wochen-
        märkten, Dorffesten oder in Sportvereinen eine offene
        Ladenkasse zu führen . Die Sorge, wie von einigen for-
        muliert, dass Unternehmen aufgrund dieses Gesetzes ihre
        Registrierkassen abschaffen und sich in die offene La-
        denkasse flüchten, verkennt, dass auch dann die Umsätze
        plausibel zu erläutern und zu belegen sind . Immerhin ist
        die Registrierkasse einmal als Arbeitserleichterung für
        den Unternehmer und als Kontrollinstrument für seine
        Mitarbeiter eingeführt worden . Eine offene Ladenkasse
        macht ab gewissen Umsätzen wesentlich mehr Arbeit,
        als auf ein technisches System zu setzen . Außerdem ver-
        fügt die Finanzverwaltung durch die Kassensysteme über
        Referenzwerte, die bei der Beurteilung der Plausibilität
        äußerst hilfreich sein werden .
        Zweitens stellen wir mit der Einführung einer Kassen-
        nachschau sicher, dass die Finanzverwaltung auch unan-
        gemeldet vor Ort Einblick in das Kassensystem und die
        Belegführung nehmen kann . Von Probeeinkäufen über
        die Kontrolle der Erfassung der Umsätze bis zur Ein-
        sichtnahme von Belegen beim Steuerberater stehen der
        Finanzverwaltung der Länder umfangreiche Instrumente
        zur Verfügung, um Verstöße aufzudecken . Fest steht aber
        auch: Keine technische Maßnahme kann die Kontrolle
        durch die Finanzbehörden ersetzen . Wenn also der eine
        oder andere Landesfinanzminister die stille Hoffnung
        hegen sollte, mit mehr Technik und weniger Personal
        höhere Einnahmen generieren zu können, wird diese
        Rechnung nicht aufgehen . Die neuen Systeme werden
        unzählige Datensätze generieren, die aber auch kontrol-
        liert werden müssen .
        Drittens sanktionieren wir Verstöße . Den Steuerge-
        fährdungstatbestand gemäß § 379 AO weiten wir um die
        neuen Verpflichtungen aus und sehen Geldbußen von bis
        zu 25 000 Euro vor . Ein laxes Vorgehen des Finanzmi-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18937
        (A) (C)
        (B) (D)
        nisteriums kann ich hier beim besten Willen also nicht
        erkennen .
        Dennoch mangelt es ja nicht an weitergehenden Vor-
        schlägen. So wünscht sich der eine oder andere eine flä-
        chendeckende Registrierkassenpflicht als vermeintliche
        Lösung aller Probleme . Mal davon abgesehen, dass da-
        mit alle Unternehmer über einen Kamm geschoren wer-
        den, halte ich dieses Mittel auch für unverhältnismäßig .
        Jeden Eis- oder Marktstand mit einer Kasse auszustatten,
        ist genauso wenig sinnvoll wie die generelle Belegausga-
        bepflicht. Ein Blick zu unserem Nachbarn Österreich, der
        massiv mit Ausnahmeregelungen nachsteuern musste,
        belegt, dass der Charme genereller Regelungen schnell
        verfliegen kann. Denn in Deutschland hat schon heute je-
        der Kunde ein Anrecht auf einen Beleg . In Österreich ist
        dieser zwingend erforderlich, da im Unterschied zu unse-
        rem Vorhaben erst mit der Belegausgabe die Speicherung
        und Verschlüsselung des Umsatzes im System erfolgt .
        Andreas Schwarz (SPD): Wir reden heute hier über
        ein mir und der SPD-Bundestagsfraktion sehr wichtiges
        Thema: den Kampf gegen Steuerbetrug . Wir als SPD be-
        kämpfen Steuerbetrug ganzheitlich . Ob über das große
        Thema BEPS, die Verschärfung der Selbstanzeige – von
        Hoeneß bis Schwarzer – oder aber das Schließen von
        Steuerlücken . Von Cum/Ex bis Cum/Cum . Aber bei ei-
        nem großen Thema sind wir immer noch nicht da, wo wir
        längst sein müssten: beim Umsatzsteuerbetrug durch ma-
        nipulierte Kassensysteme . Dass wir diesen Kampf nun
        endlich aufnehmen, ist ein Beitrag für mehr Steuerge-
        rechtigkeit und Wettbewerbsgleichheit . Die Schätzungen
        etwa des Bundesrechnungshofes gehen von 5 Milliarden
        bis 10 Milliarden Euro jährlich an Steuerausfällen aus,
        die durch diesen Betrug entstehen .
        Eines möchte ich vielleicht gleich zu Beginn festhal-
        ten: Es geht uns nicht darum, kleine Vereins- oder Som-
        merfeste unmöglich zu machen . Uns geht es um die Un-
        terbindung von milliardenfachem Steuerbetrug . Wie ich
        bereits erwähnt habe: Es ist ein doppelter Betrug . Zum
        einen ist es ein Betrug am Staat, dem das Steuergeld zu-
        steht, um Schulen zu bauen, die innere Sicherheit auf-
        rechtzuerhalten und die Infrastruktur zu erneuern . Ein
        Betrug übrigens, der oftmals Schwarzarbeit und Umge-
        hung des Mindestlohns mit sich zieht .
        Zum anderen jedoch ist es vor allem ein Betrug an je-
        dem ehrlichen Unternehmer . Und ich bin selbst einer und
        weiß, wovon ich spreche . Ich kann mein Unternehmen
        noch so optimal aufstellen . Solange ich brav meine Steu-
        ern zahle, aber mein Mitbewerber aus dem Nachbarort
        nicht, werde ich den Preisvorteil von 19 Prozent Umsatz-
        steuer niemals aufholen können . Mir sind mehrere solche
        Fälle aus meinem Wahlkreis bekannt . Am Ende sind die
        Ehrlichen die Dummen, und das ist ungerecht . Und ge-
        nau deshalb muss hier endlich dringend etwas geändert
        werden .
        Wer für Steuergerechtigkeit und für Wettbewerbs-
        gleichheit unter den kleinen und mittleren Unternehmen
        ist, der muss dieses Gesetz nutzen, um Umsatzsteuerbe-
        trug durch manipulierte Kassensysteme endlich zu unter-
        binden. Wenn ich mir den Gesetzentwurf von Bundesfi-
        nanzminister Wolfgang Schäuble so anschaue, muss ich
        leider zum Fazit kommen: Ziel verfehlt . Nicht knapp,
        sondern klar und deutlich .
        Was uns das Bundesfinanzministerium hier vorgelegt
        hat, reicht uns nicht aus . Es ist maximal ein Placebo .
        Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf würde eine be-
        trugssichere Software nur eingesetzt werden müssen,
        wenn jemand denn eine Kasse einsetzt. Eine Pflicht, eine
        Kasse zu benutzen, sieht der Entwurf leider nicht vor .
        Will also der steuerhinterziehende Unternehmer Staat,
        Kunden und ehrliche Unternehmer weiterhin betrügen,
        schafft er sich entweder eine zweite, versteckte Kasse
        an oder schafft einfach alle Kassen im Betrieb ab und
        kassiert in den Schuhkarton . Wer ernsthaft glaubt, dass
        Steuerbetrüger freiwillig mit Steuerbetrug aufhören, der
        glaubt auch an den Weihnachtsmann . So verspielt man
        Glaubwürdigkeit beim Kampf gegen den Steuerbetrug .
        Auch bei der Frage der Belegausgabe – also der Aus-
        gabe eines Kassenbons – ignoriert das Bundesfinanzmi-
        nisterium alle Warnungen von Verbänden, Gewerkschaf-
        ten, Kassenherstellern und Steuerfahndern . Unisono
        berichten diese uns, dass eine sogenannte Belegausgabe-
        pflicht essenziell für den Kampf gegen Umsatzsteuerbe-
        trug ist . Diese erhöht nämlich das Entdeckungsrisiko für
        den Unternehmer ungemein und erleichtert die Arbeit der
        Steuerfahnder erheblich . Und dennoch setzt das Bundes-
        finanzministerium auch da wieder auf Freiwilligkeit und
        nimmt sogar noch den Verbraucher in die Pflicht. Nach
        den Plänen des BMF würde der Unternehmer, wenn er
        denn überhaupt noch eine Kasse hat, nur auf Verlangen
        des Kunden verpflichtet sein, einen Bon auszuhändigen.
        Mit Verlaub, wir wissen alle, wohin das führen würde: zu
        gar keinen Kassenbons mehr .
        Aus den genannten Gründen ist der vorliegende Ge-
        setzentwurf aus unserer Sicht – und ich zitiere hier mal
        den Finanzausschuss des Bundesrates –: „ungeeignet“,
        „nicht wirksam“, „voller konzeptioneller Mängel“, „un-
        realistisch“ . In Zeugnissprache formuliert: stets bemüht .
        Nun wollen wir hier niemandem Nachhilfe erteilen .
        Was wir aber wollen, ist ein Gesetz, das Umsatzsteuer-
        betrug effektiv und wirksam bekämpft . Und deshalb me-
        ckert die SPD nicht nur, sondern hat wie immer konkrete
        Verbesserungsvorschläge .
        Erstens. Grundlage für eine flächendeckend effektive
        und nachhaltige Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges
        an Ladenkassen ist für uns die Einführung einer allge-
        meinen Registrierkassenpflicht ab einer Umsatzgrenze
        von 17 500 Euro . Dies beinhaltet die Aufzeichnung und
        Dokumentation von Barumsätzen, die den Prinzipien
        der Vollständigkeit und Unveränderbarkeit entsprechen
        muss . Eine gesetzliche Festlegung auf ein bestimmtes
        System oder einen bestimmten Anbieter halten wir tech-
        nisch, aber auch europarechtlich für schwierig .
        Zweitens . Darüber hinaus fordern wir eine Belegaus-
        gabepflicht. Dies würde die Entdeckungsgefahr für tech-
        nische Manipulationen erheblich erhöhen . Ein Verkauf
        an der Kasse vorbei wird für den Kunden sofort nach-
        vollziehbar, wenn er keinen Beleg erhält . Dabei ist wich-
        tig, dass die Pflicht zur Ausgabe beim Unternehmer liegt
        und nicht als Holschuld auf die Kunden abgewälzt wird .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618938
        (A) (C)
        (B) (D)
        Eine Belegausgabepflicht ist eine der wesentlichen For-
        derungen seitens der Steuerfahnder und existiert bereits
        unter anderem in Österreich, Italien, Schweden, Grie-
        chenland, der Slowakei und Slowenien . Ich habe bisher
        noch kein einziges überzeugendes Argument gehört, das
        gegen eine Kassenpflicht und gegen eine Belegausga-
        bepflicht spricht, weder vom Bundesfinanzministerium,
        noch von der Wirtschaft, die, im Gegenteil, uns sogar
        hinter vorgehaltener Hand unterstützt, weil auch sie ein
        Interesse an Wettbewerbsgleichheit hat .
        Ich denke, wir alle im Haus schreiben uns die Schlag-
        worte Steuergerechtigkeit und Wettbewerbsgleichheit
        auf unsere Fahnen . Bei diesem Gesetz kann nun jeder
        Einzelne beweisen, wie ernst er es meint . Die SPD-Bun-
        destagsfraktion geht beim Kampf gegen Steuerhinter-
        ziehung und Steuervermeidung stets voran . Das ist auch
        beim Kampf gegen Umsatzsteuerbetrug durch manipu-
        lierte Kassensysteme nicht anders . Daher fordern wir
        nachdrücklich ein Gesetz, das diesen Betrug effektiv und
        nachhaltig bekämpft . Liebe Kolleginnen und Kollegen
        von der Union, ich glaube ja immer auch an die Vernunft
        und die Kraft der besseren Argumente und lade Sie des-
        halb herzlich ein, diesen Weg gemeinsam mit uns zu be-
        gehen .
        Richard Pitterle (DIE LINKE): Eines gleich vorweg:
        Die Bundesregierung ist wahrlich nicht dafür bekannt,
        bei drängenden Problemen schnell geeignete Lösungen
        parat zu haben . Schlimm nur, wenn diese Probleme jedes
        Jahr zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe führen! Und
        nicht nur schlimm sondern auch peinlich wird es, wenn
        die Bundesregierung und die sie tragende Große Koali-
        tion dann versuchen, ihren nach jahrelanger Untätigkeit
        endlich vorliegenden Lösungsvorschlag als rechtzeitig
        zu verkaufen . Genau das versucht die Bundesregierung
        mit ihrem heute vorliegenden Gesetzentwurf, und das
        lässt Ihnen die Linke so nicht durchgehen, liebe Kolle-
        ginnen und Kollegen von Union und SPD!
        Worum geht es heute im Einzelnen: Die Bundesregie-
        rung will mit ihrem eingebrachten Gesetzentwurf zum
        Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeich-
        nungen den Steuerbetrug durch Kassenmanipulationen
        bekämpfen . Es ist ein offenes Geheimnis, dass in Ge-
        werben, in denen viel mit Bargeld gezahlt wird, wie zum
        Beispiel im Restaurant oder der Eisdiele um die Ecke,
        die Versuchung groß ist, nicht jeden kleinen Umsatz ord-
        nungsgemäß zu registrieren und zu versteuern . Die Ver-
        suchung ist vor allem deshalb so groß, weil es zum Bei-
        spiel für den Restaurantbetreiber so wahnsinnig einfach
        ist, das eine oder andere verkaufte Bier einfach nicht in
        die offizielle Abrechnung zu übernehmen.
        Im Fokus stehen hierbei Registrierkassen, also die
        ganz normalen Kassen auf dem Tresen, in die die Um-
        sätze eingetippt werden und die die Belege ausspucken .
        Hier hat sich inzwischen geradezu ein richtiger Wirt-
        schaftszweig entwickelt, der zum Beispiel spezielle
        Software anbietet, die die Umsätze in den Registrier-
        kassen frisiert und einen Teil der Einnahmen unter den
        Tisch fallen lässt . Man muss auch nicht lange in dunklen
        Schwarzmarktecken suchen, bevor man solche Produkte
        findet, nein, diese Systeme werden teilweise ganz offen
        angeboten . Ein Mitarbeiter aus der Finanzverwaltung
        berichtete, dass er undercover auf einer Messe war, wo
        elektronische Kassensysteme ausgestellt wurden . Bei ei-
        nem der Stände hat es nicht mal eine Minute gedauert,
        bis ihm unverhohlen vom Standbetreiber zusätzlich zur
        Kasse auch gleich die passende Schummelsoftware an-
        gepriesen wurde – auf einer offiziellen Messe!
        Ein solches Schattengewerbe entsteht selbstverständ-
        lich nicht über Nacht: Bereits 2003 hat der Bundesrech-
        nungshof auf die Möglichkeit der Kassenmanipulation
        hingewiesen . Und obwohl es, wie in unserem Restaurant-
        beispiel, im Einzelfall oft nur kleine Beträge sind – zu-
        sammengerechnet entsteht unserer Gesellschaft ein Rie-
        senschaden: Schätzungen nach werden auf diese Weise
        jedes Jahr bis zu 10 Milliarden Euro Steuern hinterzogen .
        Seit Jahren haben die Bundesländer daher auf eine
        gesetzgeberische Lösung gedrängt. Das Bundesfinanz-
        ministerium hat dem jedoch kein Gehör geschenkt . Der
        heute vorliegende Gesetzentwurf kam erst zustande,
        nachdem eine Mehrheit der Mitglieder im Finanzaus-
        schuss einschließlich der Linken darauf gedrängt hat . Mit
        Verlaub, Herr Schäuble, das war Arbeitsverweigerung
        unter Inkaufnahme eines Schadens in Milliardenhöhe!
        Was genau steht nun letztlich in Ihrem verspätet vor-
        gelegten Entwurf? Sie wollen die Besitzer von Registrier-
        kassen dazu verpflichten, diese durch technische Vorkeh-
        rungen gegen nachträgliche Manipulationen zu sichern,
        und außerdem unangemeldete Kassennachschauen durch
        das Finanzamt ermöglichen . So weit, so gut . Inwieweit
        dies allein wirklich Abhilfe schaffen kann, werden wir in
        den anstehenden Beratungen im Finanzausschuss inten-
        siv diskutieren müssen . Die Linke wird sich daran wie
        immer konstruktiv beteiligen, denn im Gegensatz zur
        Bundesregierung wollen wir anpacken und nicht Däum-
        chen drehen .
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Was lange währt, wird endlich gut . Dies trifft lei-
        der nicht auf den heute vorgelegten Gesetzentwurf zum
        Schutz vor manipulierten Registrierkassen zu .
        Bereits vor 13 Jahren stellte der Bundesrechnungshof
        fest, dass durch manipulierte Registrierkassen massiv
        Steuerbetrug und Schwarzgelderwirtschaftung betrieben
        werden . Spektakuläre Fälle wie der Eissalon in Rhein-
        land-Pfalz, dessen Besitzer mehr als 1,9 Millionen Euro
        Steuer hinterzogen hatte, waren keine Einzelfälle, son-
        dern die Spitze des Eisbergs . Es wurde bekannt, dass
        sogar Apotheken – in der Wahrnehmung vieler Bürger
        eigentlich eine seriöse Branche – mit Schummelsoftware
        systematische Steuerhinterziehung organisiert hatten .
        Das Problem hat sich mit der fortschreitenden Digita-
        lisierung immer weiter verschärft . Denn Registrierkassen
        sind heute vielfach schlicht und einfach Computer mit
        darunter angebrachter Bargeldbox . Die in den Regis-
        trierkassen gespeicherten Daten können in vielen Sys-
        temen beliebig, ohne die geringsten Spuren zu hinter-
        lassen, verändert werden . Vor acht Jahren schon begann
        eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit der Entwicklung
        eines Sicherheitssystems, das die Umsatzmanipulation
        an elektronischen Kassensystemen ausschließen soll-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18939
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        te . Unter Leitung der PTB wurde eine entsprechende
        technische Lösung im Rahmen des INSIKA-Projektes
        (INtegrierte SIcherheitslösung für messwertverarbeiten-
        de KAssensysteme) konzipiert und umgesetzt . Dieses
        Vorhaben wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft
        und Technologie als MNPQ-Projekt (Messen, Normen,
        Prüfen und Qualitätssicherung) mit 225 000 Euro geför-
        dert . Vor vier Jahren gab es ein Ergebnis: Das Sicher-
        heitssystem INSIKA war einsatzfähig, aber die damalige
        schwarz-gelbe Koalition kippte in sprichwörtlich letzter
        Minute die Implementierung .
        Im Taxigewerbe in Hamburg wurde das INSIKA-Sys-
        tem dennoch eingesetzt, mit von allen Beteiligten, also
        Taxibetrieben sowie Finanzbehörden, positiv bewerteten
        Ergebnissen: Der unlautere Wettbewerb durch Schwarz-
        fahrten wurde praktisch unmöglich – mit entsprechenden
        besseren Auslastungen und Verdienstmöglichkeiten für
        die ehrlich abrechnenden Fahrer und Betriebe –, und die
        Steuerbehörden konnten nicht nur steigende Einnahmen
        aus der Umsatz- und Einkommensteuer verzeichnen,
        sondern auch ihren Prüfaufwand signifikant verringern.
        In Berlin allerdings wurden diese Fakten nicht zur
        Kenntnis genommen: Noch im März 2015 ließ mir der
        Bundesminister der Finanzen durch seinen Staatssekretär
        Michael Meister mitteilen, dass keine belastbaren Aussa-
        gen über den Umfang und die Häufigkeit von Manipula-
        tionen von Umsätzen vorliegen würden . Informationen
        aus anderen Ländern wurden vonseiten des Bundesfi-
        nanzministeriums grob wahrheitswidrig und falsch dar-
        gestellt . Und auch die Bundestagsfraktion der CDU/CSU
        lehnte in einem Positionspapier noch im August 2015
        eine verpflichtende Einführung eines manipulationssi-
        cheren Kassensystems ab .
        Vielmehr machte im Rahmen der Forderung nach
        Einführung des INSIKA-Verfahrens das Wort die Run-
        de, hier sei eine „INSIKA-Mafia“ am Werke. Man kann
        trefflich fragen, ob nicht vielmehr eine Mafia am Werke
        ist, manipulationssichere Kassen zu verhindern .
        Es ist dem Engagement vor allem der Finanzverwal-
        tungen in Schleswig-Holstein und Hamburg und nicht
        zuletzt der Grünen-Bundestagsfraktion zu verdanken,
        wenn heute die Bundesregierung einen neuen Anlauf
        startet . Diesen Anlauf begrüße ich sehr .
        Die Freude ist aber sehr begrenzt: Zwar ist die Ein-
        bringung des Gesetzentwurfes positiv zu bewerten –
        denn damit wird das erste Mal überhaupt die Notwen-
        digkeit zum Handeln anerkannt –, wenn ich aber die
        Gesetzvorlage lese, kommt bei mir schnell Ernüchterung
        auf . Dieser Gesetzentwurf ist ein zahnloser Tiger, er wird
        eher neue Probleme verursachen und auf absehbare Zeit
        das Problem nicht lösen, sondern eine Lösung weit in die
        Zukunft verschieben .
        Der Gesetzentwurf sieht ausdrücklich keine Belegaus-
        gabepflicht vor, obwohl Steuerfahnder genau dies vehe-
        ment fordern . Auch sollen dem Gesetzentwurf zufolge
        die Belege keine Sicherheitsmerkmale, mit denen für den
        Kunden oder im Rahmen einer Kassennachschau leicht
        erkennbar wäre, ob der Geschäftsvorgang ordnungsge-
        mäß gespeichert worden ist, enthalten .
        Dies führt im Ergebnis dann dazu, dass die Finanzver-
        waltung aufwendige Kassennachschauen mit Testkäufen,
        Datenanalysen und technischer Prüfung der Kassensys-
        teme durchführen muss . Es ist völlig klar, dass dieser bü-
        rokratische Aufwand nur im begrenzten Umfang von der
        Verwaltung geleistet werden kann – Prüfungen werden
        also relativ selten sein . Wie damit das Problem des Steu-
        erbetrugs gelöst werden soll, erschließt sich mir nicht .
        Der Gesetzentwurf lehnt das INSIKA-Verfahren ab
        bzw . entzieht ihm durch die fehlende Belegausgabe-
        pflicht die Grundlage. Stattdessen sollen vom Bundesamt
        für Sicherheit in der Informationstechnik zertifizierte Si-
        cherheitseinrichtungen das Problem der manipulierbaren
        Kassen beseitigen . Jedoch gibt es überhaupt noch kein
        fertiges Zertifizierungssystem! Auf die Idee, ein fertiges,
        frei verfügbares und erprobtes Verfahren, wie INSIKA,
        abzulehnen und dafür auf ein Sicherheitssystem, das ja
        noch gar nicht existiert, zu setzen, muss man erst mal
        kommen .
        Die Steuerjuristen geben an, dass sie den Einsatz des
        INSIKA-Verfahrens ablehnen, weil dieses nicht techno-
        logieoffen sei . Dabei verkennt dieses – falsche – Argu-
        ment, dass es nicht um eine Technologie geht, sondern
        um das Prinzip: Im Kern kommt es darauf an, dass die
        eingegebenen Daten dem real getätigten Umsatz entspre-
        chen sollen und auch wirklich in das System übernom-
        men werden – deshalb Belegausgabe mit Signatur – und
        fälschungs- bzw . manipulationssicher gespeichert wer-
        den – deshalb Übertragung an eine fälschungssichere
        Hardwareeinheit („Stick“) oder einen fälschungssicheren
        Speicher, zum Beispiel per Datenübertragung an ein un-
        abhängiges System . Diese Prinzipien müssen manipula-
        tionssicher umgesetzt werden. Die mit der Zertifizierung
        von Software verbundene Lösung im Gesetzentwurf
        sucht sich nun gerade die Technologie aus, die weder fäl-
        schungssicher noch unmittelbar einsetzbar – weil noch
        nicht entwickelt –, noch kostenmäßig heute verlässlich
        erfassbar ist. Denn der Aufwand der Zertifizierung und
        die mit dem Zertifizierungsvorgang verbundene Inflexi-
        bilität können kostenmäßig noch nicht belastbar beziffert
        werden .
        Deshalb fordere ich die Koalitionsfraktionen dazu
        auf, diesen Gesetzentwurf gründlich nachzubessern . Der
        Steuerbetrug mit manipulierten Kassensystemen kann
        nur dann endlich beendet werden, wenn die Unverän-
        derbarkeit und die Vollständigkeit der aufgezeichneten
        Geschäftsvorgänge sichergestellt ist . Um diese Anforde-
        rungen zu erfüllen, muss der Gesetzentwurf um eine ge-
        setzliche Belegausgabepflicht ergänzt werden. Außerdem
        sollte das INSIKA-Verfahren in der jetzt vorliegenden
        Form zugelassen werden . Damit stünde eine Sicherheits-
        lösung sofort zur Verfügung . Es kann nicht sein, dass die
        Manipulation der Kassen noch über Jahre hinweg mög-
        lich sein wird . Die Bundesregierung macht sich dann
        ähnlich schuldig, wie sie es durch gezieltes Wegschauen
        bei manipulierter Software bei der Motorsteuerung von
        Autos gemacht hat – im Falle des Umsatzbetruges mit
        manipulierten Kassensystemen zum Schaden aller Ver-
        braucherinnen und Verbraucher .
        Durch den Betrug mit manipulierten Kassen entge-
        hen den Haushalten von Bund und Ländern Jahr für Jahr
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618940
        (A) (C)
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        schätzungsweise 5 bis 10 Milliarden Euro . Problemver-
        schärfend ist, dass steuerloyale Unternehmen zunehmend
        unter den Wettbewerbsnachteilen gegenüber steuerun-
        ehrlichen Konkurrenten leiden . Das Grundprinzip unse-
        res Wirtschaftssystems, der freie und faire Wettbewerb,
        ist in bestimmten Wirtschaftszweigen stark gefährdet . Es
        ist höchste Zeit, endlich zu handeln!
        Dr. Michael Meister, Parl . Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Finanzen: Zur Erhaltung unseres funk-
        tionstüchtigen und wettbewerbsfähigen Steuersystems
        und eines effektiven Steuervollzugs hat die Bundesre-
        gierung den Gesetzentwurf zum Schutz vor Manipula-
        tionen an digitalen Grundaufzeichnungen eingebracht .
        Der Entwurf stellt, wie ich finde, einen sehr guten Aus-
        gangspunkt für die Diskussion dar, die darauf abzielen
        muss, eine angemessene Lösung zur Bewältigung dieses
        Problems zu finden, um dem Verfassungsauftrag einer
        gleichmäßigen, gesetzmäßigen und verhältnismäßigen
        Besteuerung auch in Zukunft gerecht zu werden .
        Dazu ist es erforderlich, dass das steuerliche Verfah-
        rensrecht mit den veränderten technischen Möglichkei-
        ten Schritt halten und sowohl rechtlich als auch technisch
        weiterentwickelt wird . Dies war bereits wesentliches An-
        liegen des kürzlich verabschiedeten Gesetzes zur Moder-
        nisierung des Besteuerungsverfahrens .
        Auf eine solche Weiterentwicklung zielt auch der vor-
        gelegte Gesetzentwurf, in dem digitale Grundaufzeich-
        nungen vor Manipulationen geschützt werden sollen . Bei
        digitalen Grundaufzeichnungen handelt es sich zum Bei-
        spiel um elektronische Kassendaten .
        Aufgrund der vielfältigen, modernen, digitalisierten
        und technisierten Möglichkeiten, können diese digi-
        talen Kassendaten ohne großen Aufwand in der Praxis
        nachträglich manipuliert werden . Das heißt, nach der
        Dateneingabe in die Kasse werden zum Beispiel nicht
        dokumentierte Änderungen oder Stornierungen vorge-
        nommen .
        Weitere Manipulationsmöglichkeiten sind, dass Vor-
        gänge über einen langen Zeitraum offengehalten werden
        oder dass noch vor Abschluss der Dateneingabe eine Ma-
        nipulation, das heißt eine nicht protokollierte Änderung
        der eingegebenen Daten, erfolgt .
        Vermehrt befindet sich auch Manipulationssoftware im
        Einsatz . Diese Software ermöglicht umfassende Ände-
        rungen und Löschungen von Daten, indem zum Beispiel
        Datenbanken inhaltlich ersetzt oder Bedienereingaben
        unterdrückt werden . Der Einsatz solcher Manipulations-
        software ist bei einer systematischen Anwendung in der
        Praxis für die Finanzbehörden kaum erkennbar .
        Diesem Phänomen der Manipulation an digitalen
        Grundaufzeichnungen soll der von der Bundesregierung
        beschlossene Gesetzentwurf entgegenwirken . Ziel ist es,
        die Unveränderbarkeit von digitalen Grundaufzeichnun-
        gen sicherzustellen und Manipulationen einen Riegel
        vorzuschieben . Dies klingt sehr abstrakt . Daher lassen
        Sie mich kurz verdeutlichen, was im Wesentlichen mit
        diesem Gesetzentwurf erreicht werden soll:
        Nachträgliche Manipulationen an digitalen Grundauf-
        zeichnungen sollen künftig erkennbar sein und dadurch
        vermieden werden .
        Durch die vorgesehene Protokollierung, die zeitgleich
        mit dem Zeitpunkt der Erfassung der Daten beginnt, soll
        vor Abschluss des Geschäftsvorfalls eine weitere bereits
        erkannte Manipulationsmöglichkeit ausgeschlossen wer-
        den .
        Auch „sonstige Vorgänge“ sind künftig aufzeich-
        nungspflichtig. Hierdurch wird verhindert, dass tatsächli-
        che Geschäftsvorfälle durch „Trainingsbuchungen“ oder
        den „Trainingskellnermodus“ verschleiert werden .
        Das vorgesehene Zertifizierungsverfahren hat neben
        dem Aspekt der Technologieoffenheit den großen Vorteil,
        dass neuen Manipulationsmöglichkeiten schnell begeg-
        net werden kann und diese verhindert werden können,
        zum Beispiel durch Änderungen bzw . Anpassungen der
        Technischen Richtlinien oder Schutzprofile. Das heißt,
        dieses fortschreibbare und lernende System ist kurzfris-
        tig anpassbar, sodass Zeiträume für mögliche neue Mani-
        pulationen sehr kurz gehalten werden können .
        Um dieses System wirksam auszugestalten, soll es
        zukünftig in Deutschland verboten sein, gewerbsmäßig
        nicht zertifizierte technische Sicherheitseinrichtungen in
        den Verkehr zu bringen oder zu bewerben .
        Mit der Möglichkeit einer nicht angekündigten Kas-
        sennachschau wird ein nicht kalkulierbares Entdeckungs-
        risiko geschaffen .
        Darüber hinaus wird der Ordnungswidrigkeitstatbe-
        stand bei Verstößen gegen die neuen Aufzeichnungs-
        pflichten erweitert. Zuwiderhandlungen können künftig
        mit einer Geldbuße von bis zu 25 000 Euro geahndet
        werden .
        Erstmals liegt ein Gesetzentwurf vor, der die Chance
        bietet, erkannten Manipulationen an digitalen Grundauf-
        zeichnungen wirksam zu begegnen .
        Die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs hat einige Zeit
        in Anspruch genommen, da es sich um eine technisch an-
        spruchsvolle Materie handelt und aus Sicht der Bundes-
        regierung sichergestellt werden musste, dass neben den
        bereits erkannten Manipulationsmöglichkeiten auch zu-
        künftigen Manipulationen – die es mit Sicherheit geben
        wird – schnell begegnet werden kann .
        Wie dieses Ziel erreicht werden könne, darüber gab es
        viele und intensive Diskussionen . In diesen Diskussionen
        bestand mit allen Beteiligten Konsens, dass es dieses Ziel
        zu erreichen gilt . Umstritten ist jedoch, welches techni-
        sche Konzept zugrunde gelegt werden sollte .
        Die Bundesregierung hat sich immer für ein tech-
        nologieoffenes Verfahren ausgesprochen, auch um den
        europarechtlichen Anforderungen gerecht zu werden .
        Darüber hinaus ermöglicht ein solches Verfahren, dass
        wissenschaftlicher und technischer Fortschritt – wofür
        unser Land gerade Maßstab ist – nicht behindert wird .
        An dieser Stelle möchte ich daher hervorheben,
        dass aufgrund der Technologieoffenheit auch die
        INSIKA-Technik, die verschiedentlich Erwähnung findet
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18941
        (A) (C)
        (B) (D)
        und die Ihnen sicherlich geläufig ist, als ein mögliches
        Verfahren grundsätzlich zertifizierungsfähig und damit
        zulässig ist .
        Daher hoffe ich, dass wir uns in den parlamentarischen
        Beratungen nicht über einzelne technische Verfahren
        auseinandersetzen, um zu bewerten, welches vielleicht
        besser als das andere ist, sondern dass wir das Ziel – die
        Bekämpfung der Manipulationen – im Auge behalten .
        Auf der Grundlage des Gesetzentwurfs sollte es mei-
        nes Erachtens möglich sein, eine politische Einigung zu
        finden. Gelänge dies nicht, würde dies allein zulasten der
        Steuerehrlichen gehen .
        Es wäre der Öffentlichkeit auch nicht vermittelbar,
        wenn wir alle betonen, Manipulationen bekämpfen und
        den schwarzen Schafen das Handwerk legen zu wollen,
        es jedoch nicht schaffen, uns auf rechtliche Grundlagen
        dafür zu verständigen . Nunmehr bietet sich uns die ein-
        malige Chance hierzu . Wir sollten diese nutzen und nicht
        in die Auseinandersetzungen der vorherigen Jahre zu-
        rückfallen .
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        bewachungsrechtlicher Vorschriften (Tagesord-
        nungspunkt 18)
        Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) (CDU/CSU):
        Ich freue mich sehr, dass wir heute das vom Bundeswirt-
        schaftsministerium vorgelegte Gesetz zur Änderung be-
        wachungsrechtlicher Vorschriften abschließend beraten .
        Wir beschließen damit eine Reform, die Wirtschafts- wie
        Innenpolitiker auf Bundes- wie Länderebene vorange-
        trieben haben . Denn sie verbessert die Standards unserer
        privaten Sicherheitsbranche – einer Branche, die schon
        seit Langem ihren schlechten Ruf hinter sich lassen
        möchte und daher stärkerer Regulierung zustimmt . Und
        sie verbessert damit maßgeblich die Architektur unserer
        inneren Sicherheit .
        Private Bewacher übernehmen immer mehr Aufgaben,
        auch im öffentlichen Raum und in sehr sensiblen Berei-
        chen wie Flüchtlingsunterkünften . Da war es dringend
        angezeigt, dass der Gesetzgeber hier auch den regulato-
        rischen Rahmen schafft, der dem gerecht wird . Und auch
        der Anschlag von Ansbach im Juli hat die Notwendig-
        keit dieser Maßnahmen belegt . Dort sind Menschenleben
        gerettet worden, weil die Einlasskontrolle der Großver-
        anstaltung zuverlässig funktioniert hat . Weil hier gutes
        Personal richtig reagiert hat .
        In den parlamentarischen Beratungen haben mein
        Kollege Marcus Held, Berichterstatter der SPD, und ich
        in enger Zusammenarbeit mit dem BMWI sehr gute Er-
        gebnisse erzielt . Die Grundlage dafür waren die Ergeb-
        nisse der zu dem Thema eingerichteten Bund-Länder-Ar-
        beitsgruppe, in die sich viele Fachleute aus der Praxis,
        zum Beispiel aus IHKen und Gewerbeämtern, einge-
        bracht haben . Die wichtigsten Maßnahmen des Gesetzes
        sind folgende: Es wird ein bundesweites, elektronisch
        auswertbares Bewacherregister aufgebaut werden, das
        Daten über Unternehmer und Personal enthalten wird .
        Also zum Beispiel, ob die notwendigen Prüfungen und
        Unterrichtungen durchlaufen wurden und ob die Zuver-
        lässigkeit geprüft wurde . Das erleichtert Kontrollen vor
        Ort und wird die Transparenz in der Branche ein großes
        Stück nach vorn bringen . Herr Held und ich haben uns
        sehr dafür starkgemacht, dass dieser wichtige Schritt jetzt
        gemacht und nicht auf die lange Bank geschoben wird .
        Auch Bewachungsunternehmer müssen künftig einen
        Sachkundenachweis mit Prüfung erbringen, ebenso Be-
        wachungspersonal, das bei der Bewachung von Flücht-
        lingsunterkünften und Großveranstaltungen in leitender
        Funktion eingesetzt wird . Denn diese Einsatzorte sind
        besonders sicherheitsrelevant und erfordern spezielle
        Kenntnisse .
        Für die Zuverlässigkeitsprüfung, die alle Gewerbe-
        treibenden und das gesamte Personal vor Einstellung
        durchlaufen müssen, holen die zuständigen Behörden
        künftig über Polizeibehörden, Bundes- und Gewerbezen-
        tralregister deutlich mehr Informationen ein, um die Se-
        riosität und Eignung für die Branche abzufragen . Bislang
        kommt man schon mit einem einfachen Führungszeugnis
        aus und wird für den Rest des Arbeitslebens nicht mehr
        überprüft . Auch eine regelmäßige Wiederholung der Zu-
        verlässigkeitsprüfung im Rhythmus von fünf Jahren wird
        etabliert, und der überholte Katalog der Straftaten, bei
        denen eine Unzuverlässigkeit angenommen wird, wird
        um einige Vergehen erweitert .
        Mit Hinblick auf die Gefahr von islamistischen An-
        schlägen in Deutschland und auf die Vorfälle in Flücht-
        lingsunterkünften, bei denen Bewacher übergriffig
        wurden, war es von Beginn an mein Ziel, dass auch
        Informationen der Verfassungsschutzbehörden in die
        Zuverlässigkeitsüberprüfung einbezogen werden . Das
        gewichtige Gegenargument war, ob es wirklich erfor-
        derlich und praktikabel sei, dass jedes einzelne Gewer-
        beamt mit den Verfassungsschutzbehörden in Kontakt
        tritt, zumal die Anforderungen an sichere Schnittstellen,
        Datenschutz usw . enorm seien . Als schlanke Lösung ha-
        ben wir dann den Vorschlag erarbeitet, die Verfassungs-
        schutzabfragen digital und automatisiert über das neu ge-
        schaffene Bewacherregister abzuwickeln . Es wird so nur
        eine Schnittstelle zwischen der Verbunddatei der Verfas-
        sungsschutzbehörden und dem Register geben müssen .
        Unsere 150 Gewerbeämter müssen somit nicht selbst mit
        dem Verfassungsschutz in Kontakt treten . Über das Re-
        gister wird nun also für alle Gewerbetreibenden sowie
        alle Bewacher von Flüchtlingsunterkünften und zugangs-
        beschränkten Großveranstaltungen eine Regelabfrage
        beim Verfassungsschutz erfolgen . Das stellt sicher, dass
        Personen, die als extremistisch eingestuft werden, der
        Zugang zu dem Berufsfeld verweigert wird .
        Damit verbunden ist folgerichtig auch eine Nachbe-
        richtspflicht, die wir ebenfalls in den parlamentarischen
        Verhandlungen in das Gesetz einbringen konnten . Sie
        stellt sicher, dass auch im Zeitraum zwischen zwei Zu-
        verlässigkeitsprüfungen sicherheitsrelevante Informa-
        tionen aus der Extremismusbeobachtung die Gewerbe-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618942
        (A) (C)
        (B) (D)
        ämter erreichen werden . Hierfür muss nur ein Minimum
        an Identifizierungsdaten über die zuverlässigkeitsüber-
        prüften Personen gespeichert werden . Zu einem Daten-
        sammeln kommt es ausdrücklich nicht, auch wenn die
        Rechtspolitiker der SPD davor große Angst hatten .
        Kurzum: Ich halte die Punkte Regelabfrage und Nach-
        berichtspflicht in dieser Gesetzesnovelle für entschei-
        dend . Denn es wäre schließlich ein schreckliches Sze-
        nario, wenn ein unseren Verfassungsbehörden bekannter
        Islamist in einem Fußballstadion als Bewacher arbeiten
        und dort einen Anschlag verüben könnte, nur weil der
        Informationsfluss vom Verfassungsschutz zu den Gewer-
        bebehörden nicht funktioniert .
        Ich freue mich, dass wir somit ein gutes, durchdachtes
        und mit den Praktikern abgestimmtes Gesetz verabschie-
        den, das die Anforderungen an die Branche angemessen
        anhebt . Denn es geht in der Tat um elementare, sicher-
        heitspolitische Fragestellungen .
        Vielen Dank an alle, die an der Novelle von § 34a der
        Gewerbeordnung konstruktiv mitgewirkt haben, insbe-
        sondere an meinen Berichterstatterkollegen von der SPD,
        Marcus Held .
        Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Ich
        bin dankbar, dass ich als Innenpolitiker heute die Mög-
        lichkeit erhalte, über den Gesetzentwurf hier sprechen zu
        dürfen . Wer jetzt glaubt, ein Innen- und Sicherheitspo-
        litiker hat hierzu garantiert sehr puristische Auffassun-
        gen – vielleicht der Wirtschaft schwer vermittelbar –, der
        irrt . Denn ich habe auch als ehemaliger Polizist schon
        meine Meinung zum Thema Sicherheitswirtschaft im
        Laufe der Jahre verändert . Warum? Die Polizei kann die
        stetig wachsende Aufgabenfülle und die damit gestie-
        genen Qualitätsanforderungen immer schwerer bewälti-
        gen . Dies liegt auch daran, dass es für die öffentlichen
        Haushalte in Bund und Ländern immer schwieriger wird,
        die Schuldenbremse einzuhalten und gleichzeitig hohe
        Investitionsmittel im Bereich der inneren Sicherheit zur
        Verfügung zu stellen . Deshalb erscheint mir Aufgaben-
        kritik bei der Polizei sehr wichtig, ohne allerdings dabei
        das staatliche Gewaltmonopol anzutasten .
        Ich bin heute vielmehr der Ansicht, dass bestimmte
        sicherheitsrelevante Aufgaben verstärkt von Sicherheits-
        unternehmen ausgeführt und wahrgenommen werden
        können . Dass dies möglich ist, zeigt sich schon heute bei
        internationalen Sportveranstaltungen, Risikofußballspie-
        len, sonstigen Großveranstaltungen, Besuchen hochran-
        giger Vertreter anderer Staaten, im Bereich des öffent-
        lichen Personenverkehrs, Schwerlasttransporten und der
        Bewachung von Flüchtlingsunterkünften . Nicht zuletzt
        auch die von Unternehmen wahrgenommenen Sicher-
        heitsaufgaben im Bereich der kritischen Infrastrukturen
        beweisen, wie ernsthaft wir uns dieser Thematik widmen
        sollten . Gleichzeitig zeigen diese Beispiele, wie die Po-
        lizei und damit der öffentliche Haushalt entlastet werden
        kann .
        Sicherheit darf natürlich nicht abhängig sein von der
        Frage, welche finanziellen Mittel zur Verfügung stehen.
        Deshalb muss der Kern staatlicher Aufgabenwahrneh-
        mung, also das Gewaltmonopol des Staates, klar garan-
        tiert sein . Staatliche und private Sicherheitskräfte sind
        dann in der Lage, als gut eingespieltes Team zusammen-
        zuarbeiten, und zwar im Interesse der inneren Sicherheit .
        Das Potenzial der deutschen Sicherheitswirtschaft ist be-
        reits hoch . Mit knapp 250 000 Mitarbeitern könnte diese
        Branche ein veritabler Bestandteil der deutschen Sicher-
        heitsarchitektur sein, aus meiner Sicht ist er es faktisch
        bereits . Allerdings sind die Qualitätsanforderungen, die
        wir im Bereich der öffentlichen Sicherheit stellen, sehr
        hoch . Daher braucht es einen solchen hohen Qualitäts-
        standard auch in der Sicherheitswirtschaft .
        Wer guten Gewissens Sicherheitsdienstleistungen
        dem Sicherheitsgewerbe zuweisen möchte, der muss sich
        darauf verlassen können, dass die Qualität den Standards
        entspricht, die der Bürger von uns gewohnt ist und auch
        erwartet . Das sehe ich heute in der Sicherheitswirtschaft
        noch nicht in ausreichendem Maße gewährleistet . Es
        gibt erkennbare Defizite. Nur ein Beispiel dafür sind die
        zahlreichen Vorfälle der Vergangenheit, wo es in Flücht-
        lingsunterkünften zu erheblichem Fehlverhalten von
        Sicherheitspersonal gekommen ist . Der Gesetzentwurf
        soll dazu dienen, die Qualitätsanforderung an deutsche
        Sicherheitsunternehmen erkennbar zu steigern .
        Kurzfristig gedacht wirken diese höheren Qualitäts-
        standards vermeintlich belastend für die Unternehmen .
        Ich bin jedoch der Überzeugung, dass sich hohe Qualität
        immer durchsetzen wird . Öffentliche Auftraggeber kön-
        nen viel leichter Aufgabengebiete verlagern, wenn die
        Qualitätskriterien und das Image der Branche stimmen .
        Am langen Ende wird die Sicherheitswirtschaft davon
        profitieren, weil wir sie zu Qualität und damit auch zum
        Erfolg ein wenig zwingen .
        Nehmen wir das Beispiel Schweiz . Dort sind Quali-
        tätsstandards und das Image der Sicherheitswirtschaft
        herausragend gut . Aus Sicht der Bevölkerung stehen sich
        Sicherheitsunternehmen und Polizei in fast nichts nach .
        Allerdings wird dort auch wesentlich mehr in Zulassung,
        Überprüfung oder Aus- und Fortbildung investiert .
        Der hier vorliegende Gesetzentwurf ist ein sehr guter
        und wichtiger Schritt . Wir heben die Standards und ha-
        ben die Anforderungen an Gewerbetreibende verschärft .
        Nicht nur Bewachungsunternehmer müssen künftig einen
        Sachkundenachweis erbringen, sondern ebenso Bewa-
        chungspersonal, das bei der Bewachung von Flüchtlings-
        unterkünften und Großveranstaltungen in leitender und
        nicht leitender Funktion eingesetzt wird . In Bezug auf
        die Zuverlässigkeit ist nunmehr neben Auskünften des
        Gewerbezentralregisters, der Polizeibehörde, des Bun-
        deszentralregisters auch die Möglichkeit einer Abfrage
        bei den Landesbehörden für Verfassungsschutz gegeben .
        Im Rahmen der Zuverlässigkeitsprüfung wird künftig für
        alle Gewerbetreibende sowie alle Bewacher von Flücht-
        lingsunterkünften und zugangsbeschränkten Großveran-
        staltungen eine Regelabfrage beim Verfassungsschutz
        erfolgen . Des Weiteren haben wir gesetzliche Regelbei-
        spiele, die eine Unzuverlässigkeit begründen, eingeführt .
        Insbesondere das bundesweit einzuführende Bewacher-
        register war uns sehr wichtig, und hier danke ich aus-
        drücklich meiner Fraktionskollegin Frau Dr . Schröder für
        ihren Einsatz . Man könnte es auch als Gunst der Stunde
        bezeichnen, denn sie als ehemalige Innenpolitikerin hat
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18943
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        hier eine sehr gute Balance zwischen Wirtschafts- und
        Innenpolitik erreicht .
        Die Union sieht das bisher Erreichte als Erfolg, kann
        sich aber in Zukunft noch weitere Schritte in diese Rich-
        tung vorstellen .
        Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung der
        Branche halten wir ein sektorspezifisches Gesetz durch-
        aus für angemessen . Sinn und Zweck einer gewerblichen
        Bewachung – so die Intention des § 34a GewO – ist der
        gewerbsmäßige Schutz fremden Lebens und Eigentums .
        Die Sicherheitswirtschaft hat sich mittlerweile jedoch zu
        einem so wichtigen und vielfältigen Teil der Sicherheits-
        architektur entwickelt, dass es immer schwererfällt, dies
        alles unter lediglich eine Vorschrift des Gewerberechts
        zu subsumieren . Ein einheitliches Gesetz erschiene mir
        hier angemessener .
        Des Weiteren sollten wir in einem nächsten Schritt
        überlegen, ob eine einheitlich geregelte Berufsausbil-
        dung generell als Zugangsvoraussetzung für eine Tätig-
        keit im Sicherheitsgewerbe den gestiegenen Anforde-
        rungen und einem besseren Image dieses Berufsstandes
        nicht zuträglich wäre .
        Abschließend möchte ich aber noch einmal betonen,
        dass wir mit dem heute vorgelegten Gesetzesentwurf
        deutlich mehr Sicherheit und Qualität im Sicherheits-
        gewerbe auf den Weg bringen . Ich bitte Sie um Zustim-
        mung .
        Marcus Held (SPD): Heute behandeln wir abschlie-
        ßend den Regierungsentwurf zur Änderung bewa-
        chungsrechtlicher Vorschriften . Es ist ein gutes Gesetz
        geworden, was wir zusammen in der Koalition im par-
        lamentarischen Verfahren erarbeitet haben . Mein Dank
        gilt deswegen auch den Unionskolleginnen und -kolle-
        gen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
        Bundesministerien für die gute Zusammenarbeit . Es ist
        wichtig, dass wir dieses Gesetz nun auf den Weg bringen .
        Denn nach verschiedenen Vorfällen und Übergriffen in
        Flüchtlingsheimen, aber auch im Hinblick auf Großver-
        anstaltungen brauchen wir vor allem ein gutes Überwa-
        chungsgewerbe mit qualifiziertem Personal. Ein solches
        konnte ich jüngst auch in meinem Wahlkreis kennenler-
        nen, das ich dann auch in meiner Funktion als ehrenamt-
        licher Stadtbürgermeister von Oppenheim für das hiesige
        Weinfest engagiert hatte . Die Medien waren nach dem
        viertägigen Weinfest voll des Lobes über dieses Unter-
        nehmen . Denn es gab nur wenige Zwischenfälle auf dem
        Weinfest . Der Oppenheimer Polizeichef wird in den Me-
        dien mit den Worten zitiert: „Das war eine gute Maßnah-
        me, sie sind zivil und deeskalierend, aber sehr präsent
        aufgetreten .“ Deshalb gab es auf dem Fest auch keinen
        einzigen Taschen- oder Handydiebstahl .
        Private Sicherheitsdienste sind, wie ich bereits mehr-
        mals betont habe, ein wichtiger Bestandteil in der Sicher-
        heitsarchitektur Deutschlands und an vielen Stellen nicht
        mehr wegzudenken . Immerhin über 200 000 Beschäftig-
        te hat das Sicherheitsgewerbe . Deswegen haben wir uns
        in der SPD-Bundestagsfraktion auch intensiv mit dem
        Thema auseinandergesetzt . Dabei galt es, wie ich dies am
        Beispiel der Security-Firma in meinem Wahlkreis betont
        hatte, die bisher seriösen privaten Sicherheitsgewerbe zu
        stärken, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen
        und gut qualifiziertes Personal haben, und die schwarzen
        Schafe, die es ja leider auch im privaten Sicherheitsge-
        werbe gibt, einzudämmen . Mit unter anderen folgenden
        Maßnahmen soll dies zukünftig gelingen: Sachkunde-
        nachweise als Erlaubnisvoraussetzung für Bewachungs-
        unternehmer, Sachkundenachweise für Bewachungsper-
        sonal in leitender Funktion, das Flüchtlingsunterkünfte
        oder zugangsgesicherte Großveranstaltungen bewacht,
        die Möglichkeit einer Anfrage beim Verfassungsschutz
        bezüglich des Bewachungsunternehmers und von Wach-
        personen, die Flüchtlingsunterkünfte oder Großveran-
        staltungen bewachen sollen und regelmäßige Überprü-
        fung der Zuverlässigkeit des Bewachungsunternehmers
        und des -personals .
        Das Herzstück des Gesetzes ist allerdings die Ein-
        richtung eines Bewacherregisters bis zum 31 . Dezember
        2018 . Hier sollen die Daten der Bewachungsunternehmer
        und des -personals bundesweit erfasst werden . In einer
        Verordnung wird zusätzlich geregelt, dass das Mitführen
        eines Bewacherausweises zzgl . das Mitführen von Iden-
        tifizierungsdokumente verpflichtend wird.
        Ein, wie ich finde, guter Gesetzentwurf, den wir heute
        zu beschließen haben . Doch eins möchte ich hier eben-
        falls nicht unerwähnt lassen . Die innere Sicherheit ist ne-
        ben der äußeren und der sozialen Sicherheit ein wichtiges
        Bedürfnis für unsere Bürgerinnen und Bürger . Die hohe
        Abfrage beim KfW-Förderprogramm zum Einbruchs-
        schutz zeigt dies . Hier muss auch ein Schwerpunkt unse-
        rer parlamentarischen Arbeit liegen .
        Das Ende der Einsparungen bei der Bundespolizei in
        den letzten Jahren konnte die SPD gegenüber dem Koa-
        litionspartner zum Glück durchsetzen . Mehr Bundespoli-
        zisten werden in den nächsten Jahren wieder eingestellt .
        Auch in den Ländern darf beim Polizeipersonal nicht ge-
        spart werden .
        Qualifizierte Sicherheitsunternehmen werden zu-
        künftig die Sicherheitsstruktur in Deutschland stärken
        können . Ich bin mir sicher, dass der vorliegende Ge-
        setzentwurf dies umsetzen wird, sodass seriöse private
        Sicherheitsunternehmen mit gut ausgebildetem Personal
        gestärkt werden und Vorfälle, wie wir sie in der Vergan-
        genheit in Flüchtlingsunterkünften oder Großveranstal-
        tungen erleben mussten, verhindert werden können .
        Thomas Lutze (DIE LINKE): Die private Sicher-
        heitsbranche ist im Zuge der verstärkten Flüchtlingszu-
        wanderung deutlich gewachsen . Rund 10 000 der rund
        219 000 Beschäftigten im Bewachungsgewerbe sind
        inzwischen in Flüchtlingsunterkünften tätig . Gab es im
        Jahr 2000 noch 2 570 Wach- und Sicherheitsdienste, sind
        nun etwa 4 000 Firmen auf dem Markt . Die Zahl der
        Mitarbeiter ist innerhalb der letzten sechs Jahre in der
        gesamten Branche um 48 000 angestiegen . Jene Mitar-
        beiter, die im Bereich des Schutzes von Flüchtlingsun-
        terkünften tätig sind, tragen oftmals Waffen, obwohl sie
        im Durchschnitt nur etwa zwei Wochen geschult werden .
        Die Liste der Vorfälle, in denen es in den letzten Jahren zu
        Fehlverhalten und Straftaten durch Sicherheitspersonal
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618944
        (A) (C)
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        kam, ist lang . Die Linksfraktion begrüßt es daher, dass
        die Bundesregierung angesichts der weiter steigenden
        Zahl von Bewachungsunternehmen erhöhte Standards
        einführen möchte, ebenso die regelmäßige Überprüfung
        von Unternehmen und Personal . Es ist überfällig, dass
        gesetzlich sichergestellt wird, dass die Gewerbetreiben-
        den und das Personal Standards der persönlichen Eig-
        nung, Zuverlässigkeit und Sachkunde erfüllen . Obwohl
        wir einzelne Maßnahmen begrüßen und glauben, dass sie
        eine Verbesserung darstellen, ist der Gesetzentwurf ins-
        gesamt jedoch ungenügend .
        Hierbei ist insbesondere die vorgesehene Möglichkeit
        des Datenabgleichs mit den Landesämtern für Verfas-
        sungsschutz zu kritisieren . Es ist nicht geregelt, ob die
        Landesämter lediglich melden, ob es einen Treffer im
        nachrichtendienstlichen Informationssystem gibt oder
        nicht oder ob die Landesämter im eigenen Ermessen eine
        Zuverlässigkeitsprognose abgeben sollen . Nicht nach-
        vollziehen können wir, dass die Regelungen zum Fach-
        kundenachweis nur bei bestimmten Tätigkeiten, nicht
        aber im gesamten Wachschutzgewerbe gelten sollen .
        Letztendlich fehlen auch konkrete Vorgaben hinsichtlich
        des genauen Inhalts und der Qualität der Ausbildung .
        Zwar wird durch verstärkte Kontrolle und ein bisschen
        mehr Transparenz auf die katastrophale Situation reagiert,
        jedoch ändert das nichts daran, dass die gegenwärtige
        Entwicklung der Privatisierung von Sicherheitsaufgaben
        ganz grundsätzlich bedenklich ist . Es wird Zeit, dass hier
        grundlegend umgedacht wird . Dass man dazu aber nicht
        bereit ist, zeigen die verschiedenen Rufe der Union nach
        mehr sogenannten Hilfspolizisten . Deren Ausbildung
        im Schnellverfahren ist aber ganz sicherlich nicht der
        richtige Weg . Nach maximal drei Monaten Ausbildung
        bereits mit Schusswaffe in Flüchtlingsunterkünften ein-
        gesetzt zu werden, wo schnell eine Situation entstehen
        kann, unter großem Stress eine Entscheidung zu treffen,
        kann verheerende Folgen haben . Hierzu braucht es viel-
        mehr eine intensive Polizeiausbildung und umfassende
        Rechtskenntnisse . Letztendlich handelt es sich hierbei
        um jene Ausbildung, welche private Sicherheitsdienste
        nur in deutlich geringerem Maße gewährleisten . Daran
        werden auch die nun geplanten erhöhten Standards nichts
        ändern. Deshalb findet der vorliegende Antrag bei der
        Linken keine Zustimmung .
        Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Inzwi-
        schen sind zwei Jahre vergangen, seit 2014 die schweren
        Übergriffe von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste
        auf Menschen in Flüchtlingsunterkünften stattgefunden
        haben .
        Zeit genug also, ein umfassendes Regelungskonzept
        zu erarbeiten – sollte man meinen . Daher wundert mich
        schon, dass im vorliegenden Entwurf nach – zahlreichen
        zum Teil auch guten Änderungen – der Bereich Aus-,
        Weiter- und Fortbildung nun letztlich weitgehend ausge-
        klammert bleiben soll . Dabei sind das doch gerade die
        entscheidenden Instrumente, mit denen am besten Qua-
        lität gefördert und der notwenige Schutz der Grund- und
        Menschenrechte in der täglichen Arbeit verankert wer-
        den kann .
        Hier wäre eine inhaltliche Reglung wichtig, die an-
        gemessen auf die unterschiedlichen Einsatzgebiete und
        die damit jeweils verbundenen Anforderungen eingeht .
        Aus genau diesem Grund reicht es auch nicht, wenn bei-
        spielsweise im Flüchtlingsbereich nur bei einer leitenden
        Funktion eine Sachkundeprüfung verlangt wird . Das
        wird der übertragenen Aufgabe nicht gerecht und schafft
        auch im Übrigen nicht die Grundlage für eine gute Zu-
        sammenarbeit mit staatlichen Stellen .
        Auch wäre es sinnvoll, konkrete Regelungen vorzuse-
        hen, die geeignet sind, bei privaten Sicherheitsdiensten
        die im öffentlichen Interesse notwenige Transparenz her-
        zustellen . Das gilt dabei besonders für die Sicherheits-
        dienste, die im staatlichen Auftrag tätig werden . Denn
        gerade im staatlichen Auftrag müssen hohe Maßstäbe
        gelten und auch eingehalten werden . Anders ist die Mit-
        wirkung privater Dienstleister an der Gemeinschaftsauf-
        gabe „Innere Sicherheit“ jedenfalls nicht vorstellbar und
        auch nicht zielführend .
        Und dabei muss auch klar sein und klar bleiben, dass
        das staatliche Gewaltmonopol nicht aufgeweicht werden
        darf . Schließlich gibt es gute Gründe, die Ausübung ho-
        heitsrechtlicher Befugnisse in der Regel nur Angehöri-
        gen des öffentlichen Dienstes zu übertragen .
        Der vorliegende Gesetzentwurf bleibt somit trotz ei-
        niger Verbesserungen weiter hinter dem Antrag meiner
        Fraktion vom Dezember 2014 zurück .
        Wie sich das Gesetz in der Praxis bewähren wird,
        hängt jetzt aber auch davon ab, wie der Vollzug ausge-
        staltet wird, wobei die wahrscheinlich wichtigste Fragen
        lauten dürfen: Wird die Zuverlässigkeitsprüfung dazu
        führen, dass zukünftig keine bekennenden Rechtsextre-
        men mehr in Flüchtlingsunterkünften eingesetzt werden?
        Wird das geforderte Register so aufgebaut, dass tatsäch-
        lich wirksame Kontrollen vor Ort möglich werden?
        Ich hoffe, da wurde in den letzten zwei Jahren auch
        schon Vorarbeit geleistet . Wenig ambitioniert erscheint
        mir da aber, dass wesentliche Regelungen zur Zuverläs-
        sigkeitsprüfung erst 2019 in Kraft treten sollen .
        Eines muss uns allen jedenfalls klar sein: Vorkomm-
        nisse wie die von 2014 dürfen sich nicht wiederholen!
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Axel
        Troost, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weite-
        rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
        Solidaritätszuschlag für gleichwertige Lebensver-
        hältnisse in ganz Deutschland verwenden (Tages-
        ordnungspunkt 19)
        Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Liebe Kollegin-
        nen und Kollegen der Linken, auch ich bin der Meinung,
        dass der Bund auch nach dem Auslaufen des Solidarpak-
        tes II Ende 2019 mit in der Verantwortung ist, für gleich-
        wertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu sorgen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18945
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ich sehe die Lösung allerdings nicht wie Sie in der
        Fortführung des Solidaritätszuschlags, der schon jetzt
        nicht zweckgebunden in die Finanzierung der deutschen
        Einheit, sondern in den allgemeinen Bundeshaushalt
        fließt. Gleichwohl werden vom Bund enorme Lasten für
        die Entwicklung der neuen Länder geschultert .
        Was den Bundeshaushalt angeht, erwarten wir weiter-
        hin eine gute Entwicklung der Steuereinnahmen . Gleich-
        zeitig sparen wir aufgrund des Niedrigzinsumfelds und
        der soliden Haushaltspolitik unseres Finanzministers
        Zinsausgaben .
        Angesichts einer derartig guten Kassenlage finde ich
        es den Steuerzahlern gegenüber unverantwortlich, zu for-
        dern, eine Abgabe auf alle Ewigkeit weiterzuführen, bei
        deren Einführung wir den Bürgern versprochen hatten,
        dass sie nur auf Zeit erhoben werden würde .
        Abgesehen davon gibt es nicht unberechtigte Zwei-
        fel hinsichtlich der Verfassungsgemäßheit unbegrenzter
        Fortführung . Und diese Ansicht wird von den Spitzen
        der Union geteilt: Im vergangenen Jahr haben sie sich
        auf einen schrittweisen Abbau des Soli ab dem Jahr 2020
        geeinigt . Ein solches Vorgehen halte ich sowohl für haus-
        haltsverträglich als auch dem Steuerzahler gegenüber
        verantwortbar . Und damit ist es ein Vorhaben, das die
        CSU-Landesgruppe voll und ganz unterstützt .
        Eine Lösung für die finanzielle Ausstattung finanz-
        schwacher Länder – unabhängig von der Himmelsrich-
        tung – zu finden, ist meines Erachtens in erster Linie
        eine Aufgabe, die bei der laufenden Neuordnung der
        Bund-Länder-Finanzbeziehungen gelöst werden muss .
        Hier liegen bereits Vorschläge auf dem Tisch, die durch-
        aus ohne eine Beibehaltung des Soli auskommen . Und
        auch der Bund stiehlt sich hier nicht aus der Verantwor-
        tung, sondern ist bereit, einen erheblichen finanziellen
        Beitrag zu leisten .
        Der Bund leistet schon jetzt enorme Unterstützung
        insbesondere für die Kommunen . Hier erinnere ich zum
        Beispiel auch an den 3,5 Milliarden Euro umfassenden
        Kommunal-Investitionsförderungsfonds, aus dem ins-
        besondere Investitionen finanzschwacher Kommunen
        gefördert werden . Durch eine zusätzliche Unterstützung
        in anderen Bereichen, die ein Vielfaches dessen beträgt,
        werden die Kommunen weiter entlastet, was ihnen zu-
        sätzliche Investitionsspielräume eröffnet .
        Noch ein Wort zum Gerechtigkeitsaspekt: Im Antrag
        der Linken ist die Rede davon, dass von einem Wegfall
        des Soli vor allem Gutverdiener profitieren. Das ist rich-
        tig, aber auch nur eine Seite der Medaille . Eine andere
        Betrachtungsweise ist, dass Gutverdiener seit 25 Jahren
        überproportional zum Aufkommen des Soli beitragen –
        ein Aspekt, der im Antrag gern verschwiegen wird . Dass
        sie das tun, ist auch gerecht . Aber genauso gerecht und
        zwangsläufige Folge ist, dass sie bei seiner Abschaffung
        auch entsprechend profitieren. Und Sie wissen, dass die
        Union ein Steuerreformvorhaben entwickelt, wodurch
        vor allem durch den Abbau des sogenannten Mittel-
        standsbauches und der Beseitigung der kalten Progres-
        sion untere und mittlere Einkommen entlastet werden
        sollen .
        Es ist also kein Argument des Antrags der Linken
        stichhaltig genug für mich, um den Solidaritätszuschlag
        bis in alle Ewigkeit aufrechtzuerhalten und womöglich
        regelmäßig neue Verwendungszwecke für ihn zu suchen .
        Eine glaubwürdige Haushalts- und Finanzpolitik sieht
        für mich und die Union anders aus . Daher kann die Uni-
        onsfraktion den Antrag der Linken nur ablehnen .
        Anja Karliczek (CDU/CSU): Die Menschen in ganz
        Deutschland haben mit dem Solidaritätszuschlag Großar-
        tiges geleistet . Sie haben mit diesem Geld zum Gelingen
        der deutschen Einheit und zur insgesamt guten Entwick-
        lung in Ost und West beigetragen . Dass es uns heute in
        Deutschland so gut geht wie niemals zuvor in der Bun-
        desrepublik, daran haben die Beiträge durch den Solida-
        ritätszuschlag einen hohen Anteil . Das verdient höchste
        Anerkennung .
        Der Solidaritätszuschlag wurde 1991 erstmalig erho-
        ben und zwar – das wird nach nunmehr 25 Jahren häufig
        vergessen – zunächst befristet für zwölf Monate . Diese
        Befristung wurde 1995 aufgehoben . Der Solidarpakt II
        zum Aufbau der ostdeutschen Länder und zur Bewäl-
        tigung der einheitsbedingten Lasten ist hingegen nicht
        befristet . Er läuft 2019 aus . Zwar besteht entgegen der
        öffentlichen Wahrnehmung kein rechtlicher Zusammen-
        hang zwischen dem Soli als einer Ergänzungsabgabe und
        dem Solidarpakt II als Bundesergänzungszuweisungen .
        Aber es besteht für die Menschen ein ideeller Zusam-
        menhang zwischen beidem . Das ist der Grund, warum
        die Bürgerinnen und Bürger spätestens 2019 eine klare
        Aussage über die Zukunft des Solidaritätszuschlags er-
        warten, und das ist der Grund, warum wir 2019 mit dem
        zumindest stufenweisen Abbau des Solidaritätszuschlags
        in der kommenden Legislaturperiode beginnen sollten .
        Der Solidaritätszuschlag darf nicht zu einer Dauerab-
        gabe werden . Aber wir werden den Soli nicht von jetzt
        auf gleich abschaffen können . Das müssen wir den Men-
        schen ehrlich sagen . Die Reduzierung muss im Einklang
        mit unserem Haushalt stehen .
        Die gute wirtschaftliche Entwicklung hat dazu geführt,
        dass die Steuereinnahmen weit über den Erwartungen lie-
        gen . Das gibt uns die Möglichkeit, unseren Haushalt wei-
        ter zu konsolidieren und gleichzeitig für eine Entlastung
        der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Damit profitieren
        sie ganz unmittelbar von der guten Wirtschaftslage .
        Immer wieder haben wir den Abbau des sogenannten
        Mittelstandsbauchs angemahnt . Aus Rücksicht auf die
        allgemeine Haushaltslage mussten wir dieses Vorhaben
        aber immer wieder zurückstellen . Jetzt ist die Zeit, damit
        Ernst zu machen .
        Das etappenweise Abschmelzen des Soli bedeutet
        nicht das Ende der Verpflichtung, die wir uns gegeben
        haben: für gleiche Lebensverhältnisse in allen Himmels-
        richtungen Deutschlands zu sorgen und die strukturellen
        Unterschiede zwischen den Ländern möglichst auszu-
        gleichen . Ganz im Gegenteil: Daran werden wir weiter
        arbeiten . Die Zukunft des Solidaritätszuschlags kann
        aber nur in der Gesamtsicht einer Einigung mit den Län-
        dern innerhalb der Neuregelung der Finanzbeziehungen
        zwischen Bund und Ländern entschieden werden . Darü-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618946
        (A) (C)
        (B) (D)
        ber wird derzeit intensiv beraten . Besonderes Augenmerk
        legen wir dabei auf die finanzielle Ausstattung der Kom-
        munen und darauf, wie die Finanzen zwischen Bund und
        Ländern verteilt sind .
        In dem Antrag der Fraktion Die Linke wird vorge-
        schlagen, die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag
        auch für die kommunale Daseinsvorsorge einzusetzen .
        Der Bund investiert bereits große Summen zur Entlas-
        tung der Bürger, und er wird dies weiter tun . Die Kommu-
        nen werden allein von 2012 bis 2017 um 30 Milliarden
        Euro entlastet, zum Beispiel bei den Sozialleistungen,
        insbesondere der Kinderbetreuung, der Grundsicherung
        im Alter bei Erwerbsminderung . Die Bundesbeteiligung
        an den Kosten der Unterkunft liegt in den Jahren 2015
        bis 2017 bei 14,2 Milliarden Euro . Bei der Förderung
        von Investitionen für Land und Kommunen wurden von
        der Bundesregierung 3,5 Milliarden Euro Fördergelder
        aufgelegt. Allein in dieser Wahlperiode fließen rund die
        Hälfte der 23 Milliarden Euro der prioritären Maßnah-
        men aus dem Koalitionsvertrag an die Länder und Kom-
        munen . Das ist eine Leistung des Bundes .
        Ziel der Bund-Länder-Verhandlungen muss es jetzt
        sein, eine Gesamtregelung zu finden, die nachhaltig ist,
        die tragfähig ist und die jeder Ebene unseres föderalen
        Systems gerecht wird, die aber auch klar die Verantwort-
        lichkeiten einer jeden Ebene bemisst . Und – das möchte
        ich noch einmal hervorheben –: Wir müssen mit Blick
        auf die Schuldenbremse handlungsfähig bleiben . Auch
        das gilt für jede unserer staatlichen Ebenen . Das bedeu-
        tet auch: Es darf keine Besserstellung der Länder allein
        auf Kosten des Bundes geben . An der Konsolidierung der
        Haushalte haben sich die Länder angemessen zu beteili-
        gen . Die Bundesländer tragen Verantwortung für die Fi-
        nanzen ihrer Kommunen . Diese müssen sie wahrnehmen .
        Und ich meine: Sie müssen sie sogar in einem höheren
        Umfang wahrnehmen, als das bisher der Fall ist . Das ist
        der Weg, um eine gute Entwicklung in allen Landesteilen
        fortzusetzen und nachzusteuern, wo es notwendig ist .
        Bernhard Daldrup (SPD): Der Solidaritätszuschlag
        oder Soli hat einen etwas missverständlichen Namen .
        Schließlich handelt es sich hierbei letztlich um nichts
        anderes als eine Steuer, wenn auch in Form einer Son-
        derabgabe . Derzeit bringt der Solidaritätszuschlag dem
        Bund jährliche Einnahmen von rund 15 Milliarden Euro .
        Bei seiner Einführung wurde der Solidaritätszuschlag
        schlicht mit der „Finanzierung der Vollendung der Einheit
        Deutschlands“ begründet . Trotzdem ist er nicht identisch
        mit dem Solidarpakt, dem Finanzrahmen für die Aufbau-
        leistungen in Ostdeutschland nach der Einheit . Der Soli-
        darpakt läuft 2019 aus, der Solidaritätszuschlag – also die
        Steuer – ist hiervon jedoch unabhängig . Der Solidaritäts-
        zuschlag ist darum auch nicht zeitlich befristet .
        Es gibt Leute, die nun fordern, man müsse den Soli-
        daritätszuschlag abschaffen, weil er seinen Sinn verloren
        habe . Das halte ich für falsch . Ich teile vielmehr die Ein-
        schätzung der Fraktion Die Linke, dass wir dieses Geld
        auch künftig dringend benötigen, um für die Gleichwer-
        tigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland zu sorgen,
        so wie es das Grundgesetz vorschreibt . Wir brauchen das
        Geld für Bildung, Infrastruktur, Breitbandausbau und
        viele andere Dinge, die lebenswerte Kommunen ausma-
        chen .
        So sieht es ja auch die Bundeskanzlerin, die noch im
        Dezember 2014 erklärt hat: „Wir werden auf jeden Fall
        auch nach dem Auslaufen des Solidarpakts auf die Ein-
        nahmen aus dem Solidaritätszuschlag angewiesen sein .“
        An dieser Feststellung hat sich bis heute nichts geändert .
        Wie sollte der Staat auch plötzlich auf Einnahmen von
        15 bis 20 Milliarden Euro im Jahr verzichten, ohne seine
        Aufgaben massiv zu vernachlässigen? Ich möchte den-
        jenigen sehen, der die seitenlange Liste mit Kürzungs-
        vorschlägen für diejenigen staatlichen Leistungen prä-
        sentiert, die wir uns dann nicht mehr leisten können . Wer
        den Solidaritätszuschlag ersatzlos abschaffen will, muss
        darum auch sagen, wie er das finanzieren will. Das gilt
        umso mehr für Forderungen nach noch weitergehenden
        Steuerentlastungen .
        Warum lehnen wir es als SPD-Fraktion ab, die Steuer-
        einnahmen des Staates so massiv zu beschneiden? Mehr
        als 25 Jahre nach der Deutschen Einheit sehen wir heute,
        dass sich die Lebensverhältnisse in Deutschland immer
        noch stark unterscheiden – ja, die Unterschiede nehmen
        sogar wieder zu . Inzwischen sind es zum Glück weni-
        ger die Unterschiede zwischen Ost und West, die uns die
        größten Sorgen machen . Die Solidarpakte I und II haben
        hier viel Gutes bewirkt . Umso größere Sorgen bereiten
        uns heute strukturschwache, häufig altindustrielle und
        schrumpfende Gebiete in einigen Teilen Deutschlands,
        die besonders stark vom demografischen Wandel betrof-
        fen sind .
        Schwierig ist die Situation etwa in Teilen der ostdeut-
        schen Bundesländer, im Ruhrgebiet oder im Saarland,
        aber eben nicht nur dort . Eines der Länder mit den größ-
        ten Unterschieden zwischen den einzelnen Regionen ist
        heute Bayern: Die Lebensbedingungen am Starnberger
        See sind meilenweit entfernt von denen im Bayerischen
        Wald . Diese neuen regionalen Ungleichheiten verlaufen
        somit nicht mehr nur zwischen Ost und West und auch
        nicht ausschließlich entlang des alten Stadt-Land-Gefäl-
        les .
        Wenn wir es mit der Gleichwertigkeit der Lebensver-
        hältnisse ernst meinen und überall in Deutschland le-
        benswerte Kommunen erhalten wollen, brauchen wir ei-
        nen neuen Solidarpakt für Deutschland: ein solidarisches
        Projekt, um das Auseinandergehen der Lebensverhältnis-
        se zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen
        zu bekämpfen . Ein solcher Solidarpakt wird sich daran
        orientieren, wo der Bedarf am größten ist – und nicht,
        wie in der Vergangenheit, lediglich an der Himmelsrich-
        tung . Das wird Geld kosten . In einer solchen Situation
        auf Einnahmen von 15 bis 20 Milliarden Euro zu ver-
        zichten, wäre darum der völlig falsche Weg .
        Am Instrument des Solidarzuschlags hängen wir da-
        bei allerdings nicht . Man kann ja tatsächlich die Frage
        stellen, ob eine Sonderabgabe, wie sie der Soli nun ein-
        mal ist, ein geeignetes Instrument für die langfristige Si-
        cherung der staatlichen Einnahmen ist . Insofern sind wir
        bei der Frage nach der Zukunft der Sonderabgabe So-
        lidarausgleich durchaus gesprächsbereit . Ich erinnere an
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18947
        (A) (C)
        (B) (D)
        den gemeinsamen Vorschlag von Bundesfinanzminister
        Dr . Wolfgang Schäuble und Hamburgs Erstem Bürger-
        meister Olaf Scholz, die im Rahmen der Verhandlungen
        zum Länderfinanzausgleich vorgeschlagen hatten, den
        Soli in die Einkommenssteuer zu integrieren . Dieser Vor-
        schlag ist leider an der CSU gescheitert .
        Aus Sicht der SPD ist somit nicht wichtig, ob das In-
        strument des Solidarzuschlags in seiner jetzigen Form
        erhalten bleibt . Entscheidend ist für uns vielmehr, das
        Einnahmevolumen des Solis langfristig zu erhalten, um
        die notwendigen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit
        unseres Landes zu ermöglichen .
        An diesen Überlegungen merkt man: Man kann die
        Zukunft des Solidaritätszuschlags nicht diskutieren, ohne
        das gesamte Konstrukt der Bund-Länder-Finanzbezie-
        hungen in den Blick zu nehmen . Letztlich geht es um die
        Frage, wie Solidarität in diesem Land organisiert werden
        muss .
        Das ist auch der Grund, warum wir den Antrag ab-
        lehnen . Zwar geht der Antrag inhaltlich in die richtige
        Richtung, bei den konkreten Forderungen springt er aber
        zu kurz: Die Linke fordert, den Solidaritätszuschlag in
        seiner jetzigen Form und Höhe beizubehalten . Das ist
        uns zu unflexibel und zu starr. Richtig ist, dass wir auf
        das Einnahmevolumen des Solis nicht leichtfertig ver-
        zichten sollten . Auf welche Weise wir diese Einnahmen
        jedoch sichern, ist dabei nachrangig . Denkbar sind hier
        verschiedene Lösungswege: von der Integration des Soli
        in die Einkommenssteuer bis hin zu den verschiedenen
        Formen einer neuen Gemeinschaftsaufgabe .
        Dr. Jens Zimmermann (SPD): Die Frage, wie wir
        in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse schaf-
        fen können, steht auf der Agenda der Bundesregierung
        und auch der Bundesländer weiterhin ganz oben . Gleich-
        wertige Lebensverhältnisse bedeuten aus sozialdemokra-
        tischer Sicht, dass die Menschen ihre Grundbedürfnisse
        befriedigen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben
        können . Wir wollen, dass Deutschland ein gerechtes und
        erfolgreiches Land bleibt – ein Land, in dem die Gesell-
        schaft zusammenhält .
        Die Einheitsfrage stellt sich inzwischen neu, nicht
        mehr nur zwischen Ost und West, sondern quer durchs
        Land . Die Schere zwischen prosperierenden und notlei-
        denden Kommunen geht weiter auseinander . Gleichwer-
        tige Lebensverhältnisse, für die der Bund verfassungsmä-
        ßig gemäß Artikel 72 Absatz 2 GG in der Verantwortung
        steht, sind kein Garant, aber eine wichtige Grundlage für
        den Zusammenhalt einer Gesellschaft . Für diesen Zu-
        sammenhalt sorgen in Deutschland die sozialen Trans-
        fersysteme, die für unterschiedliche Lebenssituationen
        individuelle Unterstützung bieten . Mindestlohn, Miet-
        preisbremse oder die Erhöhung des Wohngeldes sind nur
        einige Beispiele für sozialdemokratische Errungenschaf-
        ten in der aktuellen großen Koalition .
        Finanzpolitisch geht es bei der Frage der Schaffung
        gleichwertiger Lebensverhältnisse darum, für die Zeit
        nach 2019 die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu zu
        regeln, und zwar so, dass Kommunen in Ost- und West-
        deutschland je nach Bedürftigkeit Mittel erhalten . Dafür
        führen alle Beteiligten viele Gespräche . Mit Auslaufen
        des Solidarpaktes II im Jahre 2019 steht auch zur Dis-
        kussion, was mit dem Solidaritätszuschlag passieren soll .
        Der hier zu beratende Antrag der Kollegen der Fraktion
        der Linken beschäftigt sich ebenfalls mit der Zukunft des
        Solidaritätszuschlages . Die Linken betonen in ihrem An-
        trag den großen Beitrag, den der Solidaritätszuschlag für
        die Wiedervereinigung Deutschlands geleistet hat, und
        fordern, ihn weiterhin als Instrument einzusetzen, um für
        gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu sor-
        gen . Sie fordern in dem Antrag von der Bundesregierung
        deshalb zum einen, den Solidaritätszuschlag in seiner jet-
        zigen Höhe und Form als Bundessteuer beizubehalten .
        Zum anderen fordern sie die Bundesregierung auf, Vor-
        schläge zu unterbreiten, wie der Soli zukünftig zur Her-
        stellung und Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnis-
        se in Deutschland verwendet werden kann – ob über eine
        Finanzierung eines Vorausgleichs zwischen den Ländern,
        einer Aufstockung kommunaler Infrastruktur- und Inves-
        titionsmittel oder eines Solidarpaktes III .
        Wir als SPD-Fraktion teilen die Ansicht, dass der Soli-
        daritätszuschlag in der Vergangenheit unentbehrlich war
        und auch immer noch ist, um die Solidarpakte I und II fi-
        nanziell zu stützen . 2015 betrugen die Einnahmen durch
        den Soli, die allein dem Bund zustehen, knapp 16 Mil-
        liarden Euro . Auf Grundlage des Solidaritätszuschlags-
        gesetzes wird der Soli erhoben als Ergänzungsabgabe
        zur Einkommensteuer, Kapitalertragsteuer und Körper-
        schaftsteuer .
        Es ist richtig, die Beratungen zur Neuordnung der
        Bund-Länder-Finanzen auch dazu zu nutzen, die Struk-
        tur des Solidaritätszuschlages anzupassen . Es gibt aller-
        dings verschiedene Vorschläge, wie der Soli umstruktu-
        riert werden soll . Die Diskussion dreht sich darum, ob
        der Soli schrittweise abgebaut oder in anderer Form bei-
        behalten werden soll . Einig sind wir uns in der Großen
        Koalition jedenfalls darüber, dass es aus haushälterischer
        Perspektive für den Bund problematisch wäre, den Soli
        auf einen Schlag abzuschaffen . Der Bund braucht auch
        für die kommenden Jahre einen finanziellen Spielraum
        für Investitionen . Aus unserer Sicht geht es einerseits um
        die Frage, wie die Einnahmen aus dem Soli langfristig
        auch den Ländern und Kommunen für ihre Aufgaben
        zugutekommen können . Und andererseits geht es da-
        rum, nicht in verfassungsrechtliche Schwierigkeiten zu
        geraten . Denn der Solidaritätszuschlag ist als sogenann-
        te Ergänzungszuweisung von seinem Wesen her zwar
        zeitlich nicht befristet, aber eigentlich als eine vorüber-
        gehende Zusatzabgabe für die Arbeitnehmer gedacht .
        Deshalb gibt es immer wieder Diskussionen um die
        Verfassungsmäßigkeit des Soli . Unter anderem das Nie-
        dersächsische Finanzgericht vertritt deshalb die Auffas-
        sung, dass – auch unter Berücksichtigung der sprudeln-
        den Haushaltseinnahmen des Bundes – die Erhebung des
        Soli verfassungswidrig sei . Momentan steht hierzu eine
        Entscheidung des BVerfG noch aus . Deshalb halten wir
        es für sinnvoll – und diese Ansicht teilen wir mit vielen
        Bundesländern –, den Soli nach 2019 in die Einkommen-
        steuer zu integrieren . So müsste der Bund langfristig nicht
        vollständig auf die Einnahmen aus dem Soli verzichten,
        und Länder und Kommunen würden über die bestehen-
        den Regelungen der Finanzverfassung automatisch einen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618948
        (A) (C)
        (B) (D)
        Teil der Einnahmen erhalten . Mit einer Integration des
        Soli in den Einkommensteuertarif würde man außerdem
        auch der Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit des
        Solidaritätszuschlages aus dem Weg gehen .
        Wir wollen zukünftig auch die Länder und Kom-
        munen an den Einnahmen aus dem Soli beteiligen und
        gleichzeitig verfassungsrechtliche Probleme vermeiden .
        Für beide Anliegen bietet der vorliegende Antrag keine
        Lösung an . Deshalb lehnen wir den Antrag ab .
        Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Seit vielen Jahren gibt
        es immer wieder Debatten um den Soli . Von konservati-
        ver und liberaler Seite werden dabei eine Vielzahl von
        Mythen und Verdrehungen in die Welt gesetzt, um ihn
        in der Bevölkerung unbeliebt zu machen . Immer wieder
        wird behauptet, der Soli sei erstens zeitlich beschränkt,
        stelle zweitens eine große finanzielle Belastung für die
        Bürgerinnen und Bürger dar, sei drittens ausschließlich
        für den Aufbau Ost bestimmt gewesen und viertens nicht
        mehr verfassungsgemäß, da fünftens dieser Zweck nun
        vollendet sei . Lassen Sie mich diese fünf Punkte rich-
        tigstellen .
        Erstens ist der Solidaritätszuschlag eine Bundessteuer
        ohne Verfallsdatum .
        Zweitens trifft der Soli nicht die kleinen Einkommen,
        sondern vor allem die Besser- und Spitzenverdiener so-
        wie die Kapitalgesellschaften . Er arbeitet damit eher ge-
        gen die soziale Spaltung .
        Drittens wurde das Solidaritätszuschlagsgesetz 1995
        nicht durch eine, sondern durch vier Aufgaben begründet,
        nämlich mit der Herstellung der Einheit Deutschlands,
        der langfristigen Sicherung des Aufbaus in den neuen
        Ländern, der Neuordnung des bundesstaatlichen Finanz-
        ausgleichs und der Entlastung der öffentlichen Haushal-
        te . Der Solidaritätszuschlag dient also nicht exklusiv dem
        Aufbau Ost . Das ist eine Geschichtsklitterung, die durch
        Wiederholung nicht weniger falsch wird .
        Viertens sei der Soli nicht mehr verfassungsgemäß,
        paradoxerweise genau deshalb, weil der Solidarpakt II
        ausläuft und der Bund die Mittel nun zunehmend einfach
        selbst behält, statt sie in notleidende Regionen weiter-
        zuleiten . Aber zum einen könnte die Regierung dieses
        selbstgemachte Problem leicht lösen . Und zum anderen
        hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach die Verfas-
        sungsgemäßheit des Solidaritätszuschlags unterstrichen
        und Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollan-
        träge in den letzten Jahren stets zurückgewiesen . Dies
        unterstreicht auch ein jüngeres Gutachten des Wissen-
        schaftlichen Dienstes des Bundestages . Es gibt keinen
        Anlass zur Sorge von einem juristischen Haushaltsrisiko,
        das ist reine Propaganda .
        Fünftens wird der zweistellige Milliardenbetrag wei-
        terhin dringend gebraucht, den der Soli Jahr für Jahr
        zuverlässig generiert . Nicht zuletzt die Kanzlerin selbst
        musste diese Realität anerkennen und betonte vor zwei
        Jahren, dass und warum sie den Soli auch über 2019 hi-
        naus erhalten will: „Wir wollen keine Steuererhöhung,
        aber wir können auf bestehende Einnahmen auch nicht
        einfach verzichten .“ Konkret sprach sie auch den an-
        haltenden Bedarf an, nämlich die strukturschwachen
        Regionen in den neuen Bundesländern wie auch in den
        alten . Deshalb dürften die Entwicklungsmaßnahmen
        für notleidende Regionen nicht mit dem auslaufenden
        Solidarpakt II enden . Leider folgten ihren Worten keine
        Taten, ein dritter Solidarpakt III ist nicht einmal offen
        angedacht, geschweige denn in Planung . Im Gegenteil
        wird alle Jahre wieder, gerade auch von Bundesfinanz-
        minister Schäuble, sogar eine schrittweise Abschaffung
        des Solis ins Spiel gebracht . Das sind schlicht populisti-
        sche Spielchen auf Kosten abgehängter Regionen in ganz
        Deutschland .
        Dagegen bringt die Linke den Antrag „Solidaritäts-
        zuschlag für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz
        Deutschland verwenden“ ein . Darin enthalten sind kon-
        krete Vorschläge zu seiner künftigen Verwendung . Falls
        dieser Vorschlag von der Regierungskoalition im Plenum
        abgelehnt wird, fordern wir sie auf, eine eigene Initiati-
        ve dazu auf den Weg zu bringen . Investieren Sie in die
        flächendeckende Zukunftsfähigkeit Deutschlands, und
        legen Sie endlich einen dritten Solidarpakt auf .
        Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, den Solidari-
        tätszuschlag beizubehalten . Auch wir glauben, dass nicht
        so ohne Weiteres auf die Einnahmen des Solis verzichtet
        werden kann, wie zum Beispiel Herr Schäuble dies be-
        hauptet . Der Finanzminister verspricht Steuersenkungen,
        anstatt wirksam und nachhaltig den Investitionsstau oder
        die Altschuldenproblematik von Ländern und Kommu-
        nen anzugehen . Es muss darum gehen, zukunftsfähi-
        ge Reformvorschläge zu erarbeiten . Ziel muss es sein,
        finanzschwache Länder und Regionen solidarisch zu
        unterstützen – und zwar unabhängig von Himmelsrich-
        tungen . Eine strukturelle Reform der gesamten Finanzbe-
        ziehungen zwischen Bund und Ländern muss die wach-
        sende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen armen und
        reichen Regionen angemessen ausgleichen, um unserem
        Verfassungsauftrag gerecht zu werden .
        Wir sprechen heute über den Solidaritätszuschlag
        auch vor dem Hintergrund eines Vermittlungsausschus-
        ses, der in letzter Sekunde – genau genommen sogar eini-
        ge Minuten nach der gesetzten Frist – einen Kompromiss
        in einer anderen Frage, nämlich für die Erbschaftsteuer-
        reform, gefunden hat . Als Mitglied dieses Vermittlungs-
        ausschusses muss ich sagen: So wichtig es ist, die Hand-
        lungsfähigkeit der Politik zu zeigen, so wenig zufrieden
        bin ich mit dem Ergebnis .
        Auch beim Thema Solidaritätszuschlag und bei der
        zwingend dazugehörigen Neuordnung der Bund-Län-
        der-Finanzbeziehungen nähern wir uns einer Frist in
        großen Schritten . Die jetzigen Regelungen gelten zwar
        bis 2019 – aber durch die anstehenden Landtags- und die
        Bundestagswahl wird weder eine Einigung im nächsten
        Jahr noch eine Einigung in 2018 nach Konstituierung des
        neuen Parlamentes einfacher .
        Es gilt, sich in diesem Herbst endlich wieder an den
        Verhandlungstisch zu begeben und auf eine transparente
        Weise eine Reform auf den Weg zu bringen, die der An-
        forderung des Grundgesetzes gerecht wird, gleichwerti-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18949
        (A) (C)
        (B) (D)
        ge Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu ermöglichen .
        Der jetzige Länderfinanzausgleich wird diesen Heraus-
        forderungen nicht mehr gerecht und ist auch nicht auf
        die zukünftige demografische und sozialräumliche Ent-
        wicklung vorbereitet . Viele Kommunen leiden unter ei-
        ner maroden Infrastruktur, hohen Schuldenständen und
        einem immensen Investitionsstau . Anderen hingegen
        geht es prächtig . Dabei geht die Schere zwischen armen
        und reichen Kommunen immer weiter auseinander . Auf
        diese Herausforderung könnte im Rahmen einer Gesam-
        treform eine neue Ausrichtung des Solidaritätszuschlags
        unabhängig von Himmelsrichtungen eine Antwort sein .
        Auch die Länder brauchen Planungssicherheit, mit
        welchen Einnahmen sie ab dem Jahr 2020 rechnen dür-
        fen . Man kann doch nur anständige Politik machen,
        wenn man weiß, wie viele Mittel einem voraussichtlich
        zur Verfügung stehen . Wenn die Große Koalition diese
        Fragen nicht beantwortbar macht, brauchen wir uns nicht
        wundern, wenn die Länder nur auf den Bund schielen
        und ihn für missglückte Finanzplanungen verantwortlich
        machen .
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
        der elektronischen Akte in Strafsachen und zur
        weiteren Förderung des elektronischen Rechtsver-
        kehrs (Tagesordnungspunkt 20)
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Wir befinden
        uns in einer paradoxen Situation . Im alltäglichen priva-
        ten, beruflichen und öffentlichen Bereich bedienen wir
        uns Tag für Tag elektronischer Dokumentation . Im Ok-
        tober 2013 wurde durch das Gesetz zur Förderung des
        elektronischen Rechtsverkehrs in Gerichten die elek-
        tronische Aktenführung in den meisten gerichtlichen
        Verfahrensordnungen etabliert – nicht aber so in Straf-
        sachen . Hier müssen Akten immer noch in Papierform
        geführt werden, obwohl der Großteil ihres Inhalts mit-
        hilfe von elektronischer Datenverarbeitung erstellt und
        übermittelt wird . Durch die aktuelle rechtliche Lage wird
        der Arbeitsaufwand erhöht und das Verfahren verlängert .
        Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
        passt die Vorschriften über den elektronischen Rechts-
        verkehr in Strafsachen an die Regelungen für andere
        Gerichtsbarkeiten an und modernisiert so die Strafjus-
        tiz . Obwohl die große StPO-Reform von Justizminister
        Maas wohl als gescheitert abgeschrieben werden muss,
        setzt sich die Union hier weiterhin für eine Verbesserung
        der Justiz ein .
        Der Entwurf sieht eine optionale elektronische Akten-
        führung bis zum 31 . Dezember 2025 vor . Ab 2026 soll
        die elektronische Aktenanlegung und -führung in Straf-
        sachen verbindlich sein . Für andere Gerichtsbarkeiten
        soll die verpflichtende Einführung der elektronischen
        Akte in gesonderten Gesetzen erfolgen, um dem unter-
        schiedlichen Umstellungsaufwand in den verschiedenen
        Rechtsbereichen Rechnung zu tragen .
        Der Entwurf sieht bewusst keine technischen und or-
        ganisatorischen Vorgaben vor, sondern steckt den recht-
        lichen Rahmen ab . Zum einen sollen Ergänzungen und
        Änderungen in der Strafprozessordnung vorgenommen
        werden, um eine elektronische Akteneinsicht zu ermögli-
        chen . Zum anderen werden der elektronische Rechtsver-
        kehr in Strafsachen und die Kommunikation zwischen
        den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten neu gere-
        gelt . Nur so können die eingangs beschriebenen beste-
        henden Hürden abgebaut werden .
        Gleichzeitig können die vielfältigen Vorteile von elek-
        tronischen Akten genutzt werden: Die Kommunikation
        zwischen Gerichten, Behörden und Verfahrensbeteiligten
        wird beschleunigt . Akten werden kontinuierlich verfüg-
        bar, und es kann gleichzeitig von verschiedenen Orten auf
        sie zugegriffen werden . Außerdem wird die Auswertung,
        Darstellung und Verarbeitung von Daten vereinfacht . All
        dies führt zu Einsparungen von Raum-, Personal-, Porto-
        und Versandkosten .
        Jedoch birgt die elektronische Akte in Strafsachen
        nicht nur Vorteile, sondern auch eine erhöhte Gefahr für
        das Grundrecht der im Strafprozess Beteiligten auf in-
        formelle Selbstbestimmung gemäß Artikel 2 Absatz 1 in
        Verbindung mit Artikel 1 Grundgesetz . Daher sieht der
        Gesetzentwurf neben dem allgemeinen Datenschutzrecht
        bereichsspezifische Datenschutzregelungen vor. Nach
        diesen ist eine Verarbeitung und Nutzung von personen-
        bezogenen Daten in einer elektronischen Akte nur zuläs-
        sig, solange sie für das konkrete Strafverfahren erforder-
        lich ist . Eine Verwendung für verfahrensübergreifende
        Zwecke ist hingegen ausgeschlossen . Eine Erhebung von
        personenbezogenen Daten ist nur im Rahmen strafpro-
        zessrechtlicher Ermächtigungsgrundlagen wie §§ 161,
        163 StP0 möglich .
        Darüber hinaus sieht der Entwurf organisatorische
        und technische Maßnahmen vor, um den besonderen An-
        forderungen von den hochsensiblen personenbezogenen
        Daten im Strafrecht gerecht zu werden . Diese Maßnah-
        men werden durch Rechtsverordnungen auf Grundlage
        von §§ 32 II, III, 32b V und 32f V Strafprozessordnung
        konkretisiert . Hierbei handelt es sich beispielsweise um
        Zutritts-, Zugriffs-, Weitergabe- oder Verfügbarkeitskon-
        trollen .
        Eine Verwendung der personenbezogenen Daten aus
        den elektronischen Akten soll nur zulässig sein, wenn
        sie durch eine Rechtsvorschrift erlaubt oder angeordnet
        wird . Um datenschutzrechtlich bedenkliche Rasterfahn-
        dungen zu verhindern, ist ein maschineller Abgleich nur
        bei zuvor individualisierten Akten zulässig . Letzteres
        werden wir unter Berücksichtigung des Vorschlags des
        Bundesrats diskutieren . Hiernach soll ein maschineller
        Abgleich innerhalb der jeweiligen Strafverfolgungsbe-
        hörde zulässig sein, wenn sie strafrechtlichen Ermittlun-
        gen dient .
        Wir wollen mit all diesen Regelungen die bestmög-
        liche Kombination aus den Vorteilen und Errungen-
        schaften der technischen Innovation und den Schutz des
        Grundrechts der Betroffenen erreichen . In den ausste-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618950
        (A) (C)
        (B) (D)
        henden Beratungen ist es mir von Wichtigkeit, dass wir
        in Einklang mit den Bundesländern effektive Reglungen
        finden, die auch in den Landeshaushalten darstellbar
        sind . Hier bitte ich das BMJV, noch intensiver auf die
        Länder einzugehen .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir beraten heute in
        der ersten Lesung den Gesetzentwurf zur Einführung der
        elektronischen Akte im Strafverfahren . Für die anderen
        Verfahrensordnungen wurde bereits im Jahr 2013 der
        Einzug der elektronischen Gerichtsakte beschlossen .
        Vielen Anwaltskanzleien liegen die Akten aus einem
        Strafverfahren nur noch in digitaler Form vor . Die Er-
        mittlungsbehörden und Gerichte sichten die mittels elek-
        tronischer Datenverarbeitung erstellten Dokumente am
        Bildschirm . Es kann festgestellt werden, dass die elek-
        tronische Arbeit schon heute die Realität in der Justiz
        darstellt . Jeder digitalisierten Akte liegt jedoch weiterhin
        die Akte in Papierform zugrunde .
        Mit der elektronischen Akte in Strafsachen soll der
        technische Fortschritt nachvollzogen und die Strafjustiz
        modernisiert werden . Es handelt sich um weit mehr als
        den Wechsel eines Mediums . Die Vorteile einer elektro-
        nischen Aktenführung sind nicht von der Hand zu wei-
        sen .
        Der manuelle Transport und die postalische Versen-
        dung der Akten in Papierform zwischen Ermittlungsbe-
        hörden, Gerichten und Rechtsanwälten nehmen viel Zeit
        in Anspruch und verursachen hohe Kosten .
        Die Versendung der Akte bedingt die zeitweise Nicht-
        verfügbarkeit und führt zur Verlängerung der Verfahrens-
        dauer .
        Die Lagerung der Papierakten ist mit hohen laufenden
        Kosten für Vorhalte- und Erhaltungsmaßnahmen verbun-
        den .
        Demgegenüber können elektronische Akten nach Be-
        griffen schneller durchsucht und gefiltert werden. Ver-
        knüpfungen zwischen verschiedenen Aktenbestandteilen
        lassen sich einfacher erstellen .
        Arbeitserleichterungen könnte auch der direkte Zu-
        griff auf Gesetztestexte oder zitierte Fundstellen im Ge-
        setzeskommentar verschaffen .
        Mit diesem Gesetzentwurf soll die gesetzliche Grund-
        lage für die Einführung der elektronischen Akte in
        Strafsachen geschaffen werden . Die Vorteile der elekt-
        ronischen Akte wiegen schwer . Es müssen aber auch Be-
        denken geäußert werden .
        Die Führung einer elektronischen Akte stellt einen
        Eingriff in das grundrechtlich geschützte Recht auf infor-
        mationelle Selbstbestimmung der Verfahrensbeteiligten
        dar . Das Grundrecht wird nur nicht verletzt sein, wenn
        wir weiterhin den absoluten Datenschutz gewährleisten
        können .
        Bedenken in Fragen des Datenschutzes bestehen dabei
        in unzähliger Vielfalt:
        Es besteht die Gefahr des Datenmissbrauchs durch
        unbefugte Zugriffe von außen, aber auch durch die unbe-
        fugte Verwendung durch Personen mit Zugriffsrechten .
        Ein elektronisches Dokument lässt sich einfacher mani-
        pulieren und die Veränderung schwerer nachvollziehen .
        Es besteht in höherem Maße die Anfälligkeit von Daten-
        verlust als bei einer Papierakte . Weiterhin stellt sich auch
        die Frage, ob die Justizverwaltungen die Datenhoheit
        technisch und finanziell wahren können oder eine Ver-
        lagerung auf externe Dienstleister unter Wahrung des
        Grundrechtsschutzes notwendig ist . – Diese Liste ließe
        sich noch um weitere Aspekte verlängern .
        Im Zusammenhang mit dem Datenschutz ist der Ver-
        fahrensgrundsatz der Unschuldsvermutung zu sehen .
        Für Medien und die breite Öffentlichkeit geht mit einem
        Anfangsverdacht oftmals die Vorverurteilung einher .
        Eine Differenzierung zwischen einem laufenden Ermitt-
        lungsverfahren und einer gerichtlichen Verurteilung ist
        zunehmend nicht erkennbar . Es muss Aufgabe des Ge-
        setzgebers und der Justizbehörden sein, die Beschuldig-
        tenrechte durch Datenschutz zu wahren .
        Einen weiteren Aspekt möchte ich mit einer Phrase
        beleuchten:
        Wer schreibt, der bleibt,
        wer speichert, muss die Lesbarkeit sicherstellen .
        Mir stellt sich die Frage, ob wir auf eine Archivierung
        ohne Papierakten verzichten können . Die Vorteile der
        Ersparnis von Ressourcen und die Eingrenzung von La-
        gerungskosten sind hoch zu bewerten . Es muss aber si-
        chergestellt sein, dass elektronische Akten auch in meh-
        reren Jahrzehnten noch lesbar sind . Ich sehe eine weitere
        Gefahr des Verlusts wichtiger Daten .
        Diese Fragestellungen müssen in der weiteren Bera-
        tung in den Ausschüssen diskutiert und Antworten gefun-
        den werden . Die Beschuldigtenrechte stellen ein wichti-
        ges Gut in einem Rechtsstaat dar . Machen wir uns an die
        Arbeit!
        Dirk Wiese (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung wird die gesetzliche Grundla-
        ge für die Führung elektronischer Akten im Strafverfah-
        ren geschaffen . Damit gleichen wir die Regelungen zur
        Erstellung, Aufbewahrung und Abfrage von Strafakten
        an die meisten gerichtlichen Verfahrensordnungen an,
        wo schon seit einigen Jahren die Möglichkeit der elek-
        tronischen Aktenführung besteht . Die Führung elektro-
        nischer Akten im Strafverfahren soll danach für einen
        Übergangszeitraum ab 1 . Januar 2018 möglich sein und
        ab 1. Januar 2026 verpflichtend und flächendeckend ein-
        geführt werden . Diese Anpassung ist dringend notwen-
        dig; denn alleine der Prozess der Erstellung von Strafak-
        ten entbehrt derzeit einer gewissen Logik . Obwohl die
        Mehrzahl der in Strafakten befindlichen Dokumente
        bereits mittels elektronischer Datenverarbeitung erstellt
        und zunehmend auch elektronisch übermittelt wird, muss
        am Ende aufgrund gesetzlicher Regelungen ein Papier-
        dokument stehen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf,
        den wir heute hier in erster Lesung beraten, werden wir
        nach Verabschiedung einen Schlussstrich unter diese um-
        ständliche Handhabe ziehen und die Regelungen über die
        Erstellung, Aufbewahrung und Herausgabe von Strafak-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18951
        (A) (C)
        (B) (D)
        ten durch Digitalisierung den meisten gerichtlichen Ver-
        fahrensordnungen angleichen .
        Bis zur Verabschiedung des Gesetzes führt der Weg
        aber erst einmal über die Ausschussberatungen, und da
        möchte ich die Gelegenheit nutzen, um kurz zwei Punkte
        zu nennen, bei denen ich erhöhten Beratungsbedarf sehe .
        Erstens habe ich mit hohem Interesse die Stellungnah-
        me des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverban-
        des zur Kenntnis genommen und bedanke mich für die
        Zusendung . Wir werden hier noch einmal genau prüfen
        müssen, inwieweit wir den Gesetzentwurf verändern
        müssen, um eine möglichst hohe Zugänglichkeit auch für
        Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten . Ich ste-
        he hierzu auch schon mit meiner Kollegin Kerstin Tack,
        der behindertenpolitischen Sprecherin der SPD-Bundes-
        tagsfraktion, im intensiven Austausch .
        Zweitens möchte ich kurz den Kernpunkt der Stellung-
        nahme des Bundesrates ansprechen: die Kosten für den
        Betrieb des Internetportals zum Abruf der Akten . Dieses
        Portal soll – nach derzeitigem Stand – in die IT-Architek-
        tur der Landesjustizverwaltungen integriert werden . Ein
        Abruf von Daten über dieses Portal soll kostenfrei sein .
        Hier kritisiert der Bundesrat, dass ein kostendeckender
        Betrieb des Portals durch die Länder somit nicht möglich
        sei . Gerne können wir uns das in den Ausschussverhand-
        lungen näher anschauen . Ich möchte jedoch schon hier
        kurz die Gegenäußerung der Bundesregierung zitieren,
        die Folgendes klarstellt:
        Die in den Ländern geplanten und bereits konkret
        eingeleiteten Maßnahmen zur Einführung des elek-
        tronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen
        Aktenführung beruhen auf der „Grobkalkulation des
        Verbesserungs- und Investitionsbedarfs für die Ein-
        führung des elektronischen Rechtsverkehrs und der
        elektronischen Akte“, die im März 2014 im Auftrag
        der Bund-Länder-Kommission für Informations-
        technik in der Justiz erstellt wurde . Diese Erhebung
        erfasst den gesamten in der ordentlichen Gerichts-
        barkeit und den Fachgerichtsbarkeiten entstehen-
        den Kostenbedarf . Die in den Ländern geplanten
        und bereits konkret eingeleiteten Maßnahmen zur
        Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und
        der elektronischen Aktenführung beruhen auf dieser
        Kalkulation . Eine gesonderte Kostenermittlung al-
        lein für den Bereich des Strafverfahrens wäre vor
        diesem Hintergrund nicht sinnvoll, weil die Ak-
        tenführungssysteme in den Ländern einheitlich für
        die gesamte ordentliche Gerichtsbarkeit entwickelt
        werden .
        Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Im Grundsatz
        spricht nichts dagegen, aber alles dafür, auch in Straf-
        sachen die elektronische Akte einzuführen . Deshalb ist
        im Grundsatz der Gesetzentwurf der Bundesregierung
        zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen
        auch zu begrüßen . Die Vorteile einer elektronischen Akte
        haben Sie im Gesetzentwurf – Seite 31 – auch ganz gut
        zusammengefasst: Beschleunigung der Kommunikation
        zwischen Gericht bzw . Behörde und Verfahrensbeteilig-
        ten, schnellere Übermittlung von Akten und Dokumen-
        ten, kontinuierliche und orstunabhängige Verfügbarkeit
        der Akten sowie einfache, komfortable und schnelle
        Suchmöglichkeiten . Um all diese Vorteile einer elekt-
        ronischen Akte zu nutzen, müssen aber drei, vier Dinge
        gegeben sein, von denen ich im Hinblick auf die Vorga-
        ben im Gesetzentwurf glaube, dass sie noch nicht optimal
        gelöst sind .
        Erstens . Die Vorteile können sich schnell in Nachteile
        verwandeln, wenn – in welchem Zeitraum auch immer;
        wir könnten noch darüber reden, ob 2026 nicht ein we-
        nig unambitioniert ist – die Einführung gerade nicht für
        das gesamte Strafverfahren gilt . Sie schlagen in Ihrem
        Gesetzentwurf vor, dass per Rechtsverordnung die Ein-
        führung der elektronischen Aktenführung auf einzelne
        Gerichte oder Strafverfolgungsbehörden oder auf allge-
        mein bestimmte Verfahren beschränkt werden kann . In
        der Begründung wird dann von „Pilotprojekten“ gespro-
        chen und sogar angedeutet, es könne möglich sein, die
        elektronische Aktenführung auf bestimmte Arten von
        Delikten einzuschränken . Das alles erscheint mir we-
        nig zielführend zu sein . Hier wünsche ich mir ein wenig
        mehr Stringenz .
        Zweitens . Sie sagen in Ihrem Gesetzentwurf völlig zu
        Recht, dass es sichere Übertragungswege geben soll . Nun
        will ich hier im Detail gar nicht über das praktische Elend
        mit dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach
        reden, sondern noch einmal auf die De-Mail eingehen .
        Bei De-Mail sind circa 1 Million Privatnutzer und Pri-
        vatnutzerinnen, einige Zehntausend Mittelstandskunden
        und circa 1 000 De-Mail-Großkunden aus Wirtschaft und
        Verwaltung registriert . Manche sprechen deshalb schon
        vom Scheitern der De-Mail . Ende März 2016 nutzten
        gerade einmal 60 Prozent der Behörden De-Mail . Und
        gerade im Hinblick auf die Europäisierung des Rechts
        erweist es sich eben als Problem, dass De-Mail nur in
        Deutschland nutzbar ist .
        Sie schreiben in der Begründung, bei den sicheren
        Übertragungswegen gehe es nicht um die Gewährleis-
        tung der vertraulichen Kommunikation . Genau das ist
        aber ein ziemlich entscheidender Punkt für die Übermitt-
        lung einer elektronischen Akte oder gar der Kommuni-
        kation zum Beispiel zwischen Verteidigerin und Gericht .
        Nur wenn die vertrauliche Kommunikation wirklich
        gewährleistet ist, wird die elektronische Akte überzeu-
        gen. Ich finde, wir sollten hier gemeinsam noch einmal
        nachdenken, ob nicht gerade im Strafverfahren eine ver-
        pflichtende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sichergestellt
        werden soll .
        Drittens . Die elektronische Akte kann nur dann über-
        zeugen, wenn die Verfahrensbeteiligten den gleichen
        Bedingungen unterliegen . Das, was sie an Stringenz bei
        der Einführung der elektronischen Akte bei Gerichten,
        Staatsanwaltschaften und Behörden vermissen lassen,
        setzen sie bei den Rechtsanwältinnen und Verteidigerin-
        nen um . Während erstere, also Gerichte, Staatsanwalt-
        schaften und Behörden, elektronische Akten anlegen
        können, sollen dies Rechtsanwältinnen und Verteidige-
        rinnen. Für diese legen sie eine Nutzungspflicht dahin
        gehend fest und machen das sogar laut der Begründung
        zu einer Form- und Wirksamkeitsvoraussetzung, dass
        sie die Dokumente elektronisch übermitteln sollen . Ich
        glaube, wir würden mehr und besser für die elektronische
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618952
        (A) (C)
        (B) (D)
        Akte werben, wenn wir den einen das nicht erlauben und
        die anderen verpflichten. Gleiches Recht für alle wäre
        hier überzeugender .
        Viertens . Völlig zu Recht wollen Sie einen neuen
        Vierten Abschnitt im Achten Buch der Strafprozessord-
        nung einführen . Erlauben Sie mir aber, dass ich im Hin-
        blick auf die Sensibilität des Strafverfahrens meine Skep-
        sis zur Regelung der Auftragsdatenverarbeitung durch
        nichtöffentliche Stellen zum Ausdruck bringe . Dies soll
        mit dem Gesetz möglich sein, und Sie begründen das da-
        mit, dass andernfalls ein „effizienter und wirtschaftlicher
        IT-Betrieb“ erschwert werden würde . Das erläutern Sie
        aber nicht weiter . In Ihrer Begründung werden Sie auch
        widersprüchlich; denn zum einen sollen die Einschrän-
        kungen nur den Betrieb und die Wartung dezentraler In-
        formationskomponenten betreffen, auf der anderen Seite
        wird in der Begründung aber auch von „rechtsverbindli-
        cher und dauerhafter Speicherung von Aktendaten“ ge-
        sprochen . Ich denke, wir sollten an dieser Stelle wirklich
        noch einmal genau überlegen, ob wir im sensiblen Be-
        reich des Strafverfahrens eine Auftragsdatenverarbeitung
        durch nichtöffentliche Stellen wirklich sinnvoll finden.
        In jedem Fall aber sollte die Option der Begründung von
        Unterauftragsverhältnissen durch nichtöffentliche Stel-
        len gestrichen werden .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der
        letzten Legislatur wurde bereits beschlossen, den elekt-
        ronischen Rechtsverkehr im Zivilrecht für alle Angehö-
        rigen der Justiz ab 2022 verpflichtend einzuführen. Nun
        folgt die elektronische Strafakte ab 2018 fakultativ und
        ab 2026 obligatorisch .
        Wir schreiten also weiter wagemutig voran bei der Di-
        gitalisierung sensibler Daten, und jede und jeder, der dies
        infrage stellt, gilt als modernisierungsfeindlicher Tech-
        nikmuffel . Dass unbekannte Hacker nicht nur mühelos
        in unsere Bundestagskommunikation eindringen konnten
        und die obersten Sicherheitsbehörden nicht einmal das
        Telefon der Kanzlerin sichern konnten, scheint uns nicht
        im Geringsten zu irritieren .
        Und so werden auch die Anforderungen an die Daten-
        sicherheit in dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht im
        Geringsten geregelt .
        Die neuen §§ 32a bis 32f der Strafprozessordnung
        enthalten im Wesentlichen fünf verschiedene Verord-
        nungsermächtigungen, in denen jeweils die Regelungs-
        befugnisse für die organisatorischen und technischen
        Rahmenbedingungen, einschließlich der einzuhaltenden
        Anforderungen des Datenschutzes und der Datensicher-
        heit, an die Exekutive delegiert werden . Das halte ich
        schlicht für verfassungswidrig, denn diese Vorgaben zum
        Schutz der informationellen Selbstbestimmung muss der
        Gesetzgeber selbst vornehmen .
        So sieht es auch die Datenschutzbeauftragte in ihrer
        ausführlichen Stellungnahme vom 10 . Mai 2016:
        „Die automatisierte Datenverarbeitung ermöglicht es
        technisch, die Daten auch größerer Aktenbestände inner-
        halb weniger Sekunden oder Minuten zu kopieren und
        über weite Entfernungen unbemerkt abzurufen .
        Daher sind diese elektronisch gespeicherten Daten ge-
        gen unberechtigte Zugriffe besonders zu schützen . Die
        wesentlichen Vorgaben dazu kann der Gesetzgeber schon
        angesichts des Risikos für das Recht auf informationelle
        Selbstbestimmung und weiterer Grundrechte aus verfas-
        sungsrechtlichen Gründen nicht an die Praxis delegie-
        ren .“
        Noch gefährlicher wird es, wenn dann noch alle elekt-
        ronischen Strafakten bundesweit zentral gespeichert wer-
        den sollen .
        Hinzu kommt, dass die Verarbeitung dieser gespei-
        cherten Daten nach dem neuen § 497 Strafprozessord-
        nung nicht nur durch private Auftragnehmer, sondern
        auch durch Unterauftragnehmer erfolgen darf, wenn nur
        der Zugang zu den Servern von einer öffentlichen Stelle
        kontrolliert wird . Ob der Server im In- oder Ausland ist,
        spielt ebenfalls keine Rolle .
        Ich würde jedenfalls nicht wollen, dass alle diese stän-
        dig wechselnden Angestellten und Aushilfskräfte einer
        mir unbekannten IT-Firma Einblick in beispielsweise
        meine Vergewaltigungsakte bekommen .
        Auch hier teilt die Datenschutzbeauftragte meine Be-
        denken:
        „Unklar ist etwa, warum lediglich der Zutritt und der
        Zugang zu Datenverarbeitungsanlagen einer öffentlichen
        Stelle vorbehalten sein soll . Der eigentliche Zugriff auf
        die in den Akten gespeicherten Daten wäre also dem Auf-
        tragnehmer ohne Weiteres erlaubt .
        Dies entspricht zwar dem Charakter einer Auftrags-
        datenverarbeitung, verdeutlich jedoch, dass die mit der
        Auslagerung auf nichtöffentliche Stellen verbundenen
        Risiken nicht adäquat behandelt werden .“
        Und auch die öffentlichen Stellen selbst sollen die
        Daten in weitem Umfang für verfahrensfremde Zwecke
        nutzen dürfen .
        Nach § 498 Strafprozessordnung ist das immer dann
        erlaubt, wenn ein Gesetz dies bereits für die herkömmli-
        chen Personendaten vorsieht . Dabei wird verkannt, dass
        eine elektronische Akte ganz andere Möglichkeiten der
        Auswertung und Verarbeitung bietet . Nachrichtendienste
        könnten nach § 474 StPO künftig vollständige Aktenin-
        halte in ihre Datenbestände übernehmen .
        Das BKA-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
        April 2016 wird dabei völlig ignoriert .
        Und im Rahmen der Akteneinsicht nach § 32f StPO
        bleibt völlig offen, wie dem erhöhten Verbreitungsrisiko
        einer elektronischen Akte und damit der Kenntniserlan-
        gung durch unberechtigte Dritte entgegengewirkt werde
        soll . Lapidar heißt es im Absatz 5: „Die Bundesregierung
        bestimmt durch Rechtsverordnung die für die Einsicht in
        elektronische Akten geltenden Standards .“
        Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koaliti-
        on: Das ist zu wenig! Vergessen Sie nicht: Es kann jeden
        von uns treffen . Auch bei Bagatellstraftaten oder sogar
        Ordnungswidrigkeiten .
        Es ist ja vielleicht ganz nett, künftig umfangreiche
        Wirtschaftsstrafsachen nicht mehr in Leitzordnern trans-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18953
        (A) (C)
        (B) (D)
        portieren zu müssen . Das lässt sich allerdings auch jetzt
        schon meist anders lösen . Hochrisikotechnologien wie
        beispielsweise Atomkraftwerke verzichten nicht umsonst
        komplett auf digitale Bauteile .
        Ich stelle daher infrage, dass die Digitalisierung un-
        serer Hochrisikodaten tatsächlich der einzige Weg in die
        Moderne ist .
        Eigentlich müssten wir es doch längst besser wissen:
        Vertraulichkeit ist im Netz nicht zu halten . Und dass auch
        Sie keine Idee davon haben, wie das bewerkstelligt wer-
        den soll, zeigt Ihr Gesetzentwurf, der im Hinblick auf
        den Datenschutz eine einzige Leerstelle ist .
        Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir
        befassen uns heute in erster Lesung mit dem Entwurf
        des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte
        in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektro-
        nischen Rechtsverkehrs . Dieses Gesetz soll die Rechts-
        grundlagen dafür schaffen, dass Akten in Strafsachen
        elektronisch geführt werden können – und nach einer
        Übergangsphase auch zwingend elektronisch geführt
        werden müssen . Immerhin erstellen Gerichte, Staatsan-
        waltschaften, Strafverteidiger sowie andere Verfahrens-
        beteiligte Dokumente in aller Regel längst elektronisch .
        Das gilt auch für die meisten nicht durch einen Rechts-
        beistand vertretenen Bürgerinnen und Bürger . Es ist des-
        halb an der Zeit, auch im Strafverfahren die Vorausset-
        zungen dafür herzustellen, dass im Sinne einer modernen
        und effizient arbeitenden Strafjustiz solche Dokumente
        nicht nur elektronisch übermittelt, sondern auch elektro-
        nisch weiterbearbeitet werden können . Zugleich schafft
        der Entwurf auch die Grundlagen für ein Onlineaktenein-
        sichtsportal, durch das Verfahrensbeteiligte, auch solche
        ohne rechtlichen Beistand, künftig barrierefrei Einsicht
        in die sie betreffenden Akten in dem Umfang nehmen
        können, den die Akteneinsichtsregeln vorgeben .
        Der vorliegende Gesetzentwurf legt insgesamt ein be-
        sonderes Augenmerk auf die Belange des Datenschutzes .
        Hier ergeben sich aus der künftigen elektronischen Ak-
        tenführung zahlreiche Besonderheiten . Beispielsweise
        ist vorgesehen, das Durchsuchen von gesamten Aktenbe-
        ständen im Sinne einer Rasterfahndung nicht zuzulassen .
        Auch Schutzmaßnahmen gegen das unzulässige Verbrei-
        ten von Akteninhalten sind vorgesehen .
        In allen anderen Verfahrensordnungen bestehen die
        Rechtsgrundlagen für die elektronische Aktenführung
        bereits seit mehr als zehn Jahren – allerdings ohne dass
        bislang eine verbindliche Frist für die Einführung der
        elektronischen Akte vorgesehen ist und ohne dass davon
        bislang flächendeckend Gebrauch gemacht worden wäre.
        Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht hier im
        Strafverfahrensrecht einen Schritt weiter . Auf ausdrück-
        lichen Wunsch aus den Ländern sieht der Entwurf vor,
        dass die Akten im Strafverfahren – also bei Gerichten
        und Staatsanwaltschaften – ab dem 1 . Januar 2026 ver-
        pflichtend elektronisch zu führen sind. Dieser Medien-
        wechsel stellt einen bedeutenden Umbruch dar, der mit
        erheblichem Umsetzungsaufwand vor allem für die Län-
        der verbunden ist . Aus diesem Grund sieht der Entwurf
        eine relativ lange Übergangsphase bis 2026 vor, in der
        die Länder selbst entscheiden können, in welcher Ge-
        schwindigkeit sie von Papier auf die elektronische Akte
        umstellen wollen .
        Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum
        Entwurf darum gebeten, zum 1 . Januar 2026 die elek-
        tronische Aktenführung nicht nur im Strafverfahren,
        sondern auch in den anderen gerichtlichen Verfahrens-
        ordnungen verpflichtend vorzusehen. Die Bundesregie-
        rung begrüßt diesen Vorschlag der Länder und steht einer
        entsprechenden Ergänzung des Gesetzentwurfes offen
        gegenüber . Das vorliegende Vorhaben ist damit nach dem
        schon in der vergangenen Legislaturperiode verabschie-
        deten Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechts-
        verkehrs bei den Gerichten ein weiterer Meilenstein auf
        dem Weg zur Digitalisierung der Justiz .
        Anlage 16
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen
        Förderung von Elektromobilität im Straßenver-
        kehr (Tagesordnungspunkt 21)
        Olav Gutting (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
        Gesetzentwurf der Bundesregierung bekennen wir uns
        klar zu einer klimaschutzorientierten, umweltfreundli-
        chen Zukunftspolitik und machen einen weiteren Schritt
        hin zu einer emissionsfreieren Zukunftsmobilität!
        Wir haben uns zum Ziel gesetzt, bis 2020 unseren
        CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um mindestens 40 Pro-
        zent zu senken . Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine
        Reduktion der Kohlendioxidemissionen im Straßenver-
        kehr unausweichlich . Der Ausbau und die Akzeptanz der
        Elektromobilität als Schlüssel zu einem nachhaltigen und
        ressourcenschonenden Mobilitätssystem spielen daher
        eine besonders große Rolle bei der Energiewende und
        beim Umweltschutz .
        Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Leistungen des Ar-
        beitgebers – sogenannte geldwerte Vorteile – an den Ar-
        beitnehmer zur Unterstützung hinsichtlich der Nutzung
        der Elektromobilität steuerbefreit werden bzw . pauschal
        durch den Arbeitgeber besteuert werden können . Steu-
        erfrei sind nunmehr das Laden von Elektrofahrzeugen
        im Betrieb und den Betriebsteilen des Arbeitgebers wie
        auch die Überlassung einer Ladestation für den privaten
        Bereich . Pauschal besteuert werden können Zuschüsse
        für den Erwerb der Ladeinfrastruktur oder deren Über-
        eignung durch den Arbeitgeber . Die einkommensteuer-
        lichen Maßnahmen werden vom 1 . Januar 2017 bis zum
        31 . Dezember 2020 befristet .
        Dieser steuerliche Anreiz wird die Attraktivität des
        Einsatzes von Elektrofahrzeugen sowohl für Arbeitgeber
        als auch für Arbeitnehmer steigern . Arbeitgeber müssen
        für die geldwerten Vorteile, die sie dem Arbeitnehmer
        durch das Aufladenlassen gewähren, die Lohnsteuer we-
        der einbehalten noch abführen . Und Arbeitnehmer pro-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618954
        (A) (C)
        (B) (D)
        fitieren dadurch, dass sie weder Stromkosten noch die
        darauf entfallende Lohnsteuer zahlen müssen .
        Diese steuerlichen Maßnahmen sind eine sinnvolle
        Ergänzung zu dem Maßnahmenbündel der Bundesregie-
        rung zur Förderung der Elektromobilität .
        Die zukünftige Marktentwicklung der Elektromobili-
        tät hat großes Potenzial in Deutschland . Seit 2007 ist die
        Anzahl an zugelassenen Elektrofahrzeugen in Deutsch-
        land jährlich stark angestiegen . Im internationalen Ver-
        gleich hinkt Deutschland, was die Anzahl der Neuzulas-
        sungen von Elektrofahrzeugen angeht, allerdings noch
        immer hinterher .
        Während in Norwegen mehr als jeder vierte neu zu-
        gelassene Pkw mit Strom fährt und in den Niederlanden
        der Anteil an Elektrofahrzeugen 2,3 Prozent am Pkw-Ge-
        samtmarkt beträgt, liegt er in Deutschland derzeit bei we-
        niger als 1 Prozent .
        Trotz des noch geringen Anteils an zugelassenen
        Elektroautos gehört Deutschland hinter Japan und Chi-
        na schon jetzt zu den wichtigsten Herstellerländern für
        Elektrofahrzeuge und ist damit auf gutem Wege, im
        Jahr 2020 Leitmarkt und Leitanbieter bei der Elektro-
        mobilität zu werden . Der Technologiewandel verspricht
        auch große Beschäftigungspotenziale . Es ist somit Auf-
        gabe der Politik, die vielen Chancen, die Elektromobili-
        tät in ökologischer und ökonomischer Hinsicht bietet, zu
        ergreifen und zu nutzen .
        Mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent-
        wurfes tragen wir einen Teil dazu bei . Wir werden da-
        mit unseren Zielen – CO2-Reduktion und Leitmarkt und
        Leitanbieter zu werden – ein weiteres Stück näher kom-
        men .
        Florian Oßner (CDU/CSU): Die Förderung der Elek-
        tromobilität inklusive der Wasserstoff- und Brennstoff-
        zellentechnologie steht bei uns als CDU/CSU-Fraktion
        ganz oben auf der Agenda . Auch ich persönlich kämp-
        fe momentan für eine Wasserstofftankstelle in meiner
        Heimatregion Landshut-Kelheim . Wir wollen bis zum
        Jahr 2020 in Deutschland den CO2-Ausstoß gegenüber
        1990 um mindestens 40 Prozent senken . Um dieses Ziel
        zu erreichen, müssen insbesondere im Verkehrssektor die
        Emissionen noch deutlich gemindert werden . Hierfür ist
        es zwingend notwendig, den Anteil von Elektrofahrzeu-
        gen auf unseren Straßen zu erhöhen . Derzeit fahren rund
        55 000 Elektroautos auf Deutschlands Straßen, darunter
        33 000 Hybridfahrzeuge und 19 000 reine Elektrofahr-
        zeuge . Das ist eindeutig zu wenig .
        Als Automobilland Nummer eins in der Welt ist für
        uns klar:
        Wir wollen auch beim Thema Elektromobilität weiter-
        hin die Messlatte in der automobilen Entwicklung setzen .
        Um die Zahl der Neuzulassungen von Elektrofahrzeugen
        zu erhöhen, müssen wir für private und gewerbliche
        Nutzer weitere Anreize schaffen . Erstens . Förderung der
        Elektromobilität . Am 18 . Mai dieses Jahres hat die Bun-
        desregierung ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur
        Förderung von Elektromobilität beschlossen, welches
        zeitlich befristete Kaufanreize sowie zusätzliche An-
        strengungen bei der öffentlichen Beschaffung von Elek-
        trofahrzeugen beinhaltet . Aber auch der Einzelplan 12
        des Bundeshaushalts 2017, den wir als Deutscher Bun-
        destag in der letzten Sitzungswoche in der ersten Lesung
        behandelt haben, zeigt mehr als deutlich, dass wir es mit
        der Förderung von Elektromobilität ernst meinen und
        den richtigen Weg eingeschlagen haben, um die Akzep-
        tanz und Attraktivität für den deutschen Autofahrer zu
        steigern . Bislang wurde mit dem Regierungsprogramm
        „Elektromobilität“ im Wesentlichen die Marktvorberei-
        tungsphase unterstützt und hierfür gut 1,5 Milliarden
        Euro für Forschung und Entwicklung bereitgestellt .
        Nun geht es im zweiten Schritt darum, einen sich selbst
        tragenden Markt zu unterstützen . So investieren wir un-
        ter anderem 300 Millionen Euro in eine flächendeckende
        Ladeinfrastruktur für Elektromobilität . Es werden daher
        15 000 Ladesäulen in ganz Deutschland aufgebaut . Da-
        mit lösen wir ein Stück weit das Henne-Ei-Problem, wie
        es unser Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt in
        seiner Rede so treffend formuliert hat .
        An dieser Stelle möchte ich auch noch mal die Ge-
        legenheit nutzen und meinen ausdrücklichen Dank an
        Alexander Dobrindt für sein großes Engagement beim
        Thema Elektromobilität aussprechen . Es ist neben der
        digitalen Revolution das entscheidende Verkehrsprojekt
        unserer Zeit .
        Zweitens . Maßnahmen im Gesetz . Mit dem Gesetz-
        entwurf, den wir hier heute in zweiter Lesung debattie-
        ren, nehmen wir nun einige Änderungen im Bereich der
        Kraftfahrzeugsteuer und der Einkommensteuer vor, um
        die Elektromobilität auf Deutschlands Straßen attrakti-
        ver zu machen . Diese steuerlichen Maßnahmen ergänzen
        das eben bereits angesprochene Maßnahmenbündel zur
        Förderung der Elektromobilität im Straßenverkehr und
        stellen sich im Einzelnen wie folgt dar: a) Bei erstmali-
        ger Zulassung reiner Elektrofahrzeuge gilt seit dem 1 . Ja-
        nuar 2016 bis zum 31 . Dezember 2020 eine fünfjährige
        Kraftfahrzeugsteuerbefreiung . Diese wird rückwirkend
        zum 1 . Januar 2016 nun auf zehn Jahre verlängert . Die
        zehnjährige Steuerbefreiung für reine Elektrofahrzeuge
        wird zudem auf technisch angemessene, verkehrsrecht-
        lich genehmigte Umrüstungen zu reinen Elektrofahrzeu-
        gen ausgeweitet .
        b) Im Einkommensteuergesetz werden vom Arbeit-
        geber gewährte Vorteile für das elektrische Aufladen ei-
        nes privaten Elektro- oder Hybridelektrofahrzeugs des
        Arbeitnehmers im Betrieb des Arbeitgebers und für die
        zur privaten Nutzung zeitweise überlassene betriebliche
        Ladevorrichtung steuerbefreit . Der Arbeitgeber erhält die
        Möglichkeit, geldwerte Vorteile aus der unentgeltlichen
        oder verbilligten Übereignung der Ladevorrichtung und
        Zuschüsse pauschal mit 25 Prozent zu besteuern . Die Re-
        gelungen werden befristet für den Zeitraum vom 1 . Janu-
        ar 2017 bis 31 . Dezember 2020 .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum bedeu-
        tendsten Verkehrsthema der absehbaren Zukunft zeigt die
        CDU/CSU-Fraktion wieder einmal, dass wir Antworten
        auf die drängenden Fragen unserer Zeit geben .
        Aus den genannten Gründen bitte ich um Zustimmung
        für den Antrag .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18955
        (A) (C)
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        Andreas Schwarz (SPD): Ich habe bereits bei der
        ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfes Ende
        Juni auf die für uns als SPD-Bundestagsfraktion ent-
        scheidenden Punkte hingewiesen, die es uns in der Sum-
        me leicht machen, zuzustimmen .
        Wer Klimaschutz will, muss handeln . Er muss auch
        Geld in die Hand nehmen, um umweltbewusstes Han-
        deln zu fördern . Das tun wir . Mit der Kaufprämie bieten
        wir einen Anreiz für diejenigen, die sich ein Elektroauto
        zulegen wollen, die Kaufentscheidung bislang aber aus
        finanziellen Gründen noch aufgeschoben haben.
        Mit dem Gesetzentwurf beschließen wir auch, dass
        rückwirkend ab dem 1 . Januar 2016 neuzugelassenen
        Elektrofahrzeugen eine zehnjährige Befreiung von der
        Kraftfahrzeugsteuer gewährt wird . Damit verdoppeln
        wir immerhin den Zeitraum der Steuerbefreiung . Dieser
        zusätzliche finanzielle Anreiz kann sich durchaus sehen
        lassen, wie wir finden.
        Mit all den weiteren Maßnahmen wie zum Beispiel
        der steuerlich geförderten Zurverfügungstellung des
        Stroms beim Arbeitgeber haben wir ein Paket geschnürt,
        das dazu beitragen wird, dass endlich mehr Elektrofahr-
        zeuge auf die Straße kommen .
        Auch bei der Anhörung des Deutschen Bundestages
        wurde der Gesetzentwurf der Bundesregierung von meh-
        reren Experten positiv bewertet . Der Kollege von der
        IG Metall bezeichnet den Gesetzentwurf „als durchaus
        gutes Gesamtpaket“ .
        Herr Professor Hechtner sagte – ich zitiere –: „Insge-
        samt sind das positive Regelungen, die sehr wohl einen
        Effekt auf das Nachfrageverhalten der Konsumenten ha-
        ben können .“
        Weiter sagte er, der Gesetzentwurf „flankiert die an-
        deren politischen Maßnahmen, um die Nachfrage nach
        emissionsarmen Fahrzeugen zu unterstützen“ .
        Es ist doch völlig klar . Wenn wir es nicht schaffen, die
        Ladeinfrastruktur massiv auszubauen, dann werden wir
        schlicht nicht erfolgreich sein . Das will keiner, und das
        wird auch nicht passieren .
        Mit der Verabschiedung des heutigen Gesetzentwurfs
        schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass es mit der
        Förderung der Elektromobilität endlich entscheidend vo-
        rangeht .
        Dr. Jens Zimmermann (SPD): Um die Klimaziele
        Deutschlands bis 2020 tatsächlich zu erreichen, sind in
        vielen Lebensbereichen Anstrengungen nötig . Außer
        Frage steht, dass der Straßenverkehr hierzu einen ent-
        scheidenden Beitrag leisten muss . Dafür ist es nötig,
        die Zahl der Automobile mit Benzin- oder Dieselmoto-
        ren durch emissionsfreie oder emissionsärmere Antrie-
        be zu ersetzen . Als Gesetzgeber können wir zwar die
        Rahmenbedingen verbessern . Mit der Kaufprämie, dem
        sogenannten Umweltbonus und dem hier vorliegenden
        Gesetzentwurf haben wir ein Gesamtpaket aus zeitlich
        befristeten Kaufanreizen, weiteren Mitteln für den Aus-
        bau der Ladeinfrastruktur, zusätzlichen Anstrengungen
        bei der öffentlichen Beschaffung von Elektrofahrzeugen
        sowie aus steuerlichen Maßnahmen aufgelegt . Die Große
        Koalition jedenfalls hat ihre Hausaufgaben gemacht .
        Nun ist die Automobilindustrie am Zug . Sie sollte in
        ihrem eigenen Interesse viel Energie in die Innovations-
        forschung stecken, um Elektroautos für die Kunden at-
        traktiver zu machen . Neben attraktiveren Preisen gehört
        hierzu auch die Erhöhung der Reichweite von Elektro-
        fahrzeugen . Langfristig wird dies nicht nur dem Klima
        guttun oder den Straßenverkehr zukunftsfähig gestalten,
        sondern auch dazu beitragen, dass der Automobilstandort
        Deutschland seine herausragende Position gegenüber der
        internationalen Konkurrenz behaupten kann .
        Der hier abschließend zu beratende Entwurf eines Ge-
        setzes zur steuerlichen Förderung von Elektromobilität
        im Straßenverkehr enthält steuerliche Maßnahmen im
        Kraftfahrzeug- und im Einkommensteuergesetz, die die
        Kaufprämie flankieren sollen. Vorgesehen im Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung waren neben einer Befreiung
        von der Kraftfahrzeugsteuer für reine Elektroautos von
        derzeit fünf auf zukünftig zehn Jahre für Neuzulassungen
        zwischen 2016 und 2020 auch Steuerbefreiungen sowie
        Begünstigungen im Bereich der Einkommensteuer . Mit
        Änderung des § 3 Nummer 46 EStG wird eine Steuer-
        befreiung eingeführt, wenn das Elektroauto oder das
        Hybrid elektroauto beim Arbeitgeber aufgeladen wird .
        Die für das Aufladen anfallenden Stromkosten werden
        also nicht als geldwerter Vorteil versteuert – anders als
        bei anderen Vergünstigungen des Arbeitgebers wie bei-
        spielsweise Essensgutscheinen . In die Steuerfreiheit ein-
        bezogen werden auch Vorteile aus der vom Arbeitgeber
        zur privaten Nutzung überlassenen Ladeinfrastruktur
        sowie die Kosten für deren Installation oder Inbetrieb-
        nahme .
        Die Sachverständigen hielten die im Gesetzentwurf
        vorgeschlagenen Maßnahmen als Flankierung der Kauf-
        prämie insgesamt für sinnvoll; das kann als Kompliment
        an die Bundesregierung verstanden werden . Wir haben
        uns als SPD-Fraktion in den Verhandlungen trotzdem
        erfolgreich für weitere Verbesserungen eingesetzt . Nach
        Auswertung der Sachverständigenanhörung haben wir
        uns innerhalb der Großen Koalition auf einige kleine-
        re Änderungen am Gesetzentwurf in § 3 Nummer 46
        EStG geeinigt . So haben wir die Steuerbefreiung auch
        auf Dienstwagen von Arbeitnehmern ausgeweitet, die die
        Fahrtenbuchmethode anwenden. Damit profitieren nun
        alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, unabhängig
        davon, ob sie ein privates Elektroauto oder einen Dienst-
        wagen nutzen . Mit dieser Änderung greifen wir eine
        Forderung des Bundesrates und einiger Sachverständiger
        auf .
        Wir werden außerdem das steuerfreie Aufladen auch
        auf verbundene Unternehmen im Sinne des § 15 Aktien-
        gesetz ausweiten, aber bewusst nicht auf Anlagen Dritter .
        Dafür wird der Begriff „im Betrieb des Arbeitnehmers“
        in § 3 Nummer 46 EStG im GE präzisiert . Bisher war
        diese Definition lediglich in der Gesetzesbegründung
        enthalten . Damit haben wir teilweise eine Forderung
        des Bundesrates aufgegriffen . Dieser hatte gefordert, die
        Steuerbefreiung auf Betriebe der mit dem Arbeitgeber
        verbundenen Unternehmen sowie auf Anlagen Dritter au-
        ßerhalb des Betriebes auszuweiten . Wir teilen hier aller-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618956
        (A) (C)
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        dings die Ansicht der Bundesregierung und der meisten
        Sachverständigen, dass die Ausweitung auf die Anlagen
        Dritter dem Ziel des Gesetzentwurfes zuwiderläuft, die
        Zahl der Ladestationen in der Fläche zu erhöhen . Denn es
        geht bei den Maßnahmen eben gerade darum, zusätzlich
        zu den schon bestehenden Ladestationen den Bau neuer
        zu fördern .
        Nicht im Gesetzentwurf selbst, sondern im Bericht des
        Finanzausschusses haben wir uns mit unserem Koaliti-
        onspartner auf eine Formulierung geeinigt, die den Be-
        griff der Ladeinfrastruktur präzisiert . Denn einige Sach-
        verständige sahen Klärungsbedarf bei der Frage, was zur
        Ladeinfrastruktur gehört und was nicht . Mit dieser Klar-
        stellung soll auch bürokratischer Aufwand für Arbeitneh-
        mer und Arbeitgeber vermieden werden .
        Insgesamt werden mit den beschlossenen Maßnahmen
        nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet,
        sondern auch Arbeitgeber begünstigt . Sie haben zukünf-
        tig die Möglichkeit, den Aufbau von Ladestationen auf
        dem Betriebsgelände über die Lohnsteuer bezuschussen
        zu lassen . Hierdurch soll der Anreiz für Arbeitgeber er-
        höht werden, sich stärker am Ausbau der Ladeinfrastruk-
        tur von Elektrofahrzeugen zu beteiligen .
        Wir als SPD-Fraktion stimmen dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf zu .
        Thomas Lutze (DIE LINKE): Sie wollen die Elektro-
        mobilität der Pkw fördern, indem Sie unter anderem die
        Befreiung der Kfz-Steuer verlängern und die steuerrecht-
        liche Bestimmungen für das Nutzen von Dienst-E-Autos
        sowie das Aufladen in der Firma klarer regeln wollen.
        Klingt alles nett und sinnvoll . Es wird aber nieman-
        den zusätzlich dazu bewegen, sein bisheriges Auto mit
        Verbrennungsmotor gegen ein E-Mobil einzutauschen .
        Warum? Weil es sich trotz Steuergeschenken nicht an-
        satzweise rechnet . Wenn Sie diese Form der Mobilität
        fördern wollen, müssen Sie Geld in die Hand nehmen
        und Forschungsprojekte massiv fördern . In Deutschland
        gibt es eine breitgefächerte Landschaft an technischen
        Universitäten, Hochschulen, Fachhochschulen und Ins-
        tituten . Aber nirgendwo gibt es Forschung für leistungs-
        fähige Akkumulatoren, kurz Akkus . Auch die meisten
        Produktionsstandorte der Hersteller haben Deutschland
        den Rücken gekehrt . Diese Entwicklung müssen wir um-
        kehren, die Industrie zurückholen sowie Forschung und
        Entwicklung massiv fördern .
        Betrachtet man Fahrzeuge, die heute auf den Straßen
        anzutreffen sind, dann sind gerade die Reichweiten und
        die Ladezeiten der Akkus neben dem hohen Kaufpreis des
        Fahrzeugs die größten Hemmnisse für die Anschaffung
        eines E-Mobils . Wenn man mit seinem Auto nur 120 bis
        maximal 150 Kilometer weit kommt und anschließend
        das Fahrzeug stundenlang aufladen muss, dann ist so ein
        Fahrzeug schlichtweg nicht konkurrenzfähig . Bei durch-
        schnittlich 35 000 Euro Anschaffungspreis, der zwischen
        10 000 und 15 000 Euro höher ist als ein vergleichbares
        Fahrzeug mit Verbrennungsmotor, wird niemand eine
        Kfz-Steuerersparnis von fünfmal 120 Euro zum Anlass
        nehmen, umzusteigen . Ich mache es nicht, und der Fahr-
        dienst des Deutschen Bundestages aus Kostengründen
        offenbar auch nicht . Bereits die Einführung der Kaufprä-
        mie für E-Autos von 3 000 bis 4 000 Euro pro Fahrzeug
        hat zu keinem sprunghaften Anstieg der Zulassungszah-
        len geführt . Diejenigen, die sich als Zweit- oder Dritt-
        wagen ein fürs Image cooles E-Mobil leisten können,
        bekommen noch etwas Geld vom Staat . Vollkommener
        Unfug!
        In Deutschland gibt es ein dichtes Netz für E-Mobi-
        lität . Ich meine nicht die gelegentlichen Ladestationen,
        die man in den Innenstädten findet. Ich meine unser Ei-
        senbahnnetz, dessen Diesellücken endlich geschlossen
        werden sollten . Oder die zunehmenden Netze innerstäd-
        tischer Straßenbahnen, die Überlegungen, wieder Ober-
        leitungs- und Akkubusse einzuführen, alles das ist Elek-
        tromobilität .
        Sie fördern aber auch sogenannte Hybridfahrzeuge,
        also Autos, die neben ihrem Elektroantrieb auch einen
        Verbrennungsmotor mit sich rumschleppen . Sorry, auch
        wenn diese Fahrzeuge aus Benzin- und Dieselsicht eine
        interessante Perspektive haben, mit Elektromobilität ha-
        ben sie nur sehr wenig zu tun . Förderungswürdig sind sie
        aus Sicht der Linksfraktion nicht .
        Dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht
        steuerrechtlich zu Kasse gebeten werden sollen, wenn sie
        ihr Fahrzeug an ihrem Arbeitsplatz auftanken, ist begrü-
        ßenswert . Es ist nur sehr entscheidend, dass dies dann
        auch für E-Fahrräder und vergleichbare individuelle Mo-
        bile gilt .
        Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für die
        deutsche Klimapolitik spielt die Wende beim motorisier-
        ten Individualverkehr eine entscheidende Rolle . Selbst-
        verständlich will die Gesellschaft mobil sein und bleiben .
        Sie will das allerdings, ohne die Klimakrise zu verschär-
        fen . Um im Verkehrssektor die Einsparziele bei den
        Emissionen zu erreichen, braucht es ein ganzes Bündel
        von Maßnahmen . Es geht zum einen darum, unnötiges
        Verkehrsaufkommen zu vermeiden . Es geht um schwel-
        lenlose und bequeme Übergänge zwischen den Verkehr-
        strägern . Zum anderen sind bestehende Technologien,
        wie der motorisierte Individualverkehr, klimafreundli-
        cher zu gestalten .
        Ein wesentlicher Baustein für den Straßenverkehr ist
        die Elektromobilität . Mit klimafreundlichem Strom gela-
        den sind Elektroautos, -busse und -fahrräder eine Tech-
        nologie, die dem Klimaschutz dient . Sie reduziert die
        Abhängigkeit vom Rohstoff Öl drastisch und steigert die
        Luft- und Lebensqualität, nicht nur in den Städten .
        Der vorliegende Gesetzentwurf verweist aus gutem
        Grund auf das Ziel Deutschlands, bis 2020 den CO2-Aus-
        toß gegenüber dem Jahr 1990 um bis zu 40 Prozent zu
        senken . Dabei hält auch die Bundesregierung die Steige-
        rung des Anteils der Elektrofahrzeuge für eine zentrale
        Maßnahme .
        Das hört sich zunächst sehr ambitioniert und ver-
        nünftig an . Wenn ich mir dann aber die vorgeschlagenen
        Maßnahmen ansehe, dann kann es mit der Absicht der
        Bundesregierung, CO2-Emissionen im Straßenverkehr
        einzusparen, nicht weit her sein . Die Bundesregierung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18957
        (A) (C)
        (B) (D)
        kann nicht ernsthaft annehmen, dass die Verlängerung
        einer bestehenden Kfz-Steuerbefreiung sowie das steu-
        erbefreite „Stromtanken“ beim Arbeitgeber irgendetwas
        an den überkommenen Strukturen im Verkehrssektor än-
        dern .
        Deutlicher als mit diesem Gesetzentwurf kann die
        Bundesregierung ihre Scheu vor einem wirklich großen
        Wurf nicht zur Schau stellen. Allein die finanziellen Aus-
        wirkungen von maximal 20 Millionen Euro im Jahr spre-
        chen hier eine deutliche Sprache .
        Es stellt sich dennoch die grundsätzliche Frage, wa-
        rum diese Mindereinnahmen letztlich vom Steuerzahler
        finanziert werden sollen. Vor dem Hintergrund der Kli-
        maziele ist es an der Zeit, eine konsistente und klima-
        freundliche Besteuerung von Pkw einzuführen . Autos
        mit hohem Verbrauch und hohem Ausstoß zahlen mehr,
        Autos mit wenig Ausstoß weniger . Aus einer Klimaper-
        spektive betrachtet ist ein solches Vorgehen unmittelbar
        einleuchtend . Nun haben wir die paradoxe Situation,
        dass wir einerseits halbwegs bessere Bedingungen für
        die Elektromobilität schaffen . Andererseits klima- und
        gesundheitsschädliche Dieselfahrzeuge weiterhin sub-
        ventionieren . Ganz zu schweigen von den klimaschädli-
        chen Steuersubventionen bei den Dienstfahrzeugen und
        im Luftverkehr .
        Wollen wir unsere Klimaziele erreichen, ist es an der
        Zeit, die Besteuerung der einzelnen Technologien im
        Verkehrssektor an ihren Umweltauswirkungen bzw . ih-
        ren sogenannten externen Kosten auszurichten .
        Der vorliegende Gesetzentwurf führt im Gegensatz
        dazu zu insgesamt mehr Fahrzeugen auf der Straße . Über
        die Kaufprämie und geringfügige Erleichterungen bei
        der Steuer werden einige Liebhaber von Elektroautos zu-
        schlagen . Der Rest bleibt beim Diesel und Benziner .
        Wir wollen nicht verkennen, dass die vorgeschlagene
        Steuerbefreiung die Beseitigung von Bürokratie bedeutet
        und sich daher als flankierende Maßnahme positiv auf
        die Elektromobilität auswirkt . Zu einem eigenständigen
        Anreiz zum Kauf eines Elektrofahrzeugs führen diese
        Regelungen aber ganz sicher nicht . Zur Erreichung der
        nationalen Klimaziele brauchen wir eine weitgehende
        Dekarbonisierung des Verkehrssektors bis spätestens
        2050 . Dieser Gesetzentwurf kann vor diesem Hinter-
        grund nicht einmal als Tropfen auf den heißen Stein be-
        zeichnet werden .
        Anlage 17
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung
        der Versorgung und der Vergütung für psych-
        iatrische und psychosomatische Leistungen
        ( PsychVVG)
        – des Antrags der Abgeordneten Maria Klein-
        Schmeink, Dr. Harald Terpe, Elisabeth
        Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
        Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Psy-
        chisch erkrankte Menschen besser versorgen –
        Jetzt Hilfenetz weiterentwickeln
        (Tagesordnungspunkt 22 a und b)
        Reiner Meier (CDU/CSU): Es ist in der Debatte
        schon mehrfach angeklungen: Die Reform der Versor-
        gung und der Vergütung im Bereich der psychiatrischen
        und psychosomatischen Leistungen ist äußerst viel-
        schichtig und komplex . Dass die Strukturen in einem
        erklärtermaßen lernenden System stetig weiterentwickelt
        werden und dass dabei auch die Erfahrungen aus den Di-
        alogen mit Patienten und Leistungserbringer einfließen,
        sollte vor diesem Hintergrund wahrlich niemanden über-
        raschen . Heute liegt uns nun ein Gesetzentwurf vor, der
        nicht nur wichtige Verbesserungen für die Versicherten
        enthält, sondern auch gerechtere und transparentere Ver-
        gütungsstrukturen schaffen wird . Transparentere Vergü-
        tungsstrukturen sind im Bereich der psychiatrischen und
        psychosomatischen Versorgung durchaus geboten . Nicht
        alle regionalen Kostenunterschiede lassen sich etwa mit
        besseren Leistungen oder örtlichen Besonderheiten nach-
        vollziehen . Aus diesem Grund werden künftig leistungs-
        bezogene Vergleiche zwischen den Häusern eine wichti-
        ge Orientierung für die Verhandlungspartner geben und
        die Kostentransparenz ganz wesentlich verbessern . Den-
        noch geht es hier nicht um unreflektierte Gleichmacherei.
        Gerade auf dem Land, wo Häuser mit regionalen Versor-
        gungsverpflichtungen für die Patientinnen und Patienten
        besonders wichtig sind, kann dies nun bei den Budgets
        berücksichtigt werden. Die wohnortnahe, flächendecken-
        de Versorgung bleibt auch weiterhin unser Leitbild .
        Ein roter Faden der Gesundheitspolitik in dieser Le-
        gislaturperiode ist die Gewährleistung hoher Qualität in
        der gesetzlichen Krankenversicherung . Deshalb werden
        wir den Gemeinsamen Bundesausschuss beauftragen,
        unter anderem Vorgaben für eine leitliniengerechte Be-
        handlung der Patienten ebenso wie für die Ausstattung
        der Einrichtungen zu erarbeiten . Gleichzeitig schaffen
        wir für Menschen mit psychischen Erkrankungen die
        Möglichkeit, sich in den eigenen vier Wänden durch spe-
        zielle Behandlungsteams versorgen zu lassen . Dadurch
        können Patienten in ihrer gewohnten Umgebung bleiben
        und eine Aufnahme in die stationäre Psychiatrie vermei-
        den .
        Eine gute Versorgung psychisch erkrankter Menschen
        sollte sich in erster Linie dem Patienten widmen und nicht
        Listen und Formularen . Deshalb verzichten wir nicht nur
        weitestgehend auf neue Bürokratie, sondern nehmen die
        Selbstverwaltung in die Pflicht, den Dokumentationsauf-
        wand, wo es geht, zu reduzieren . Dazu werden die Do-
        kumentationsregeln jährlich auf den Prüfstand gestellt
        und unnötige Bürokratie gestrichen . Das entlastet Ärzte,
        Psychotherapeuten und Pflegekräfte und schafft Raum
        für mehr Zuwendung an die Patienten .
        Zum Schluss möchte ich noch auf die Klarstellungen
        für die Zuweisungen für Krankengeld und Auslandsver-
        sicherte im Rahmen des morbiditätsorientierten Risi-
        kostrukturausgleichs eingehen . Uns allen ist klar, dass
        eine Änderung für zurückliegende Jahresabschlüsse die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618958
        (A) (C)
        (B) (D)
        Ausnahme bleiben muss . Dennoch lege ich Wert auf die
        Feststellung, dass wir mit dem Änderungsantrag ledig-
        lich einen rechtssicheren Vollzug des bereits im Jahre
        2014 beschlossenen GKV-FQWG gewährleisten, nicht
        mehr und nicht weniger .
        Wenn wir heute die Beratungen förmlich beginnen,
        dann tun wir das in der Gewissheit, dass wir die Versor-
        gungsstrukturen für psychisch und psychosomatisch er-
        krankte Menschen an wichtigen Stellen verbessern . Im
        Interesse dieser Menschen darf ich Sie um konstruktive
        Beratungen im Ausschuss bitten .
        Dirk Heidenblut (SPD): Anfang 2016 haben wir mit
        dem Eckpunktepapier als Ergebnis aus dem strukturier-
        ten Dialog die Abkehr vom Pauschalierenden Entgelt-
        system Psychiatrie und Psychosomatik, PEPP, in seiner
        bisherigen Form eingeleitet . Das heute vorgelegte Gesetz
        resultiert daraus und greift die verschiedenen Eckpunk-
        te auf . Zunächst bin ich sehr froh, dass wir damit, wie
        von der SPD seit Langem gefordert, die berechtigten Be-
        denken aller Fachverbände am PEPP aufgegriffen haben
        und eine Lösung vorlegen, die gerade für Menschen mit
        schwersten psychischen Erkrankungen eine Verschlech-
        terung in der Versorgung verhindert . Das war auch das
        Ziel unserer Vereinbarung im Koalitionsvertrag . An die-
        ser Stelle möchte ich noch einmal dem Ministerium und
        den Fachverbänden danken, die die Chance, die wir mit
        der Vorgabe des strukturierten Dialogs eröffnet haben,
        produktiv genutzt haben . Nicht zuletzt hat das gemein-
        same Grundlagenpapier nahezu aller Fachverbände die
        wesentlichen Impulse für die Eckpunkte und damit für
        das Gesetz geliefert .
        Ganz wesentlich ist dabei die Umstellung auf ein bud-
        getorientiertes Entgeltsystem . Das krankenhausindivi-
        duelle Budget, das regionale und strukturelle Besonder-
        heiten berücksichtigt, bietet die Grundlage für eine gute
        Versorgung . Es wird von den Verhandlungspartnern vor
        Ort abhängen, dies entsprechend auszukleiden .
        Besonders freut mich an dieser Stelle, dass wir mit
        der Fortführung der Psychiatrie-Personalverordnung,
        PsychPV, auch weiterhin eine verbindliche Personalbe-
        messungsgrundlage erhalten, bis diese durch eine neue
        Richtlinie des GBA abgelöst wird . Und hier ist die Vorga-
        be jetzt ebenfalls völlig klar: Sie wird eine verbindliche
        Grundlage sein, die zugleich – und das ist unverzicht-
        bar – einer konkreten Nachweispflicht unterworfen ist.
        Gerade in der Psychiatrie hat eine angemessene Per-
        sonalausstattung einen zentralen Einfluss auf einen er-
        folgreichen Behandlungsprozess, und das gilt für alle
        Berufsgruppen gleichermaßen . Der GBA erhält die klare
        Vorgabe, bis 2020 die nötigen, soweit möglich, auf Evi-
        denz gestützten Grundlagen zu schaffen und in eine ent-
        sprechende Richtlinie zu überführen . Und wir erwarten,
        dass dies auch in dem genannten Zeitrahmen geschieht .
        Für uns ist es selbstverständlich, dass sich die so fest-
        gelegte Personalausstattung in den Budgets, also bei der
        Finanzierung wiederfindet, wobei auch tarifliche Fragen
        ausreichend berücksichtigt sein müssen .
        In vielen Fällen sind wir leider noch von einer 100-pro-
        zentigen Umsetzung der PsychPV entfernt . Daher wird
        auf dem Weg hin zur neuen Personalrichtlinie eine konti-
        nuierliche Anpassung zwingend erfolgen müssen . In den
        Kalkulationshäusern soll die 100-prozentige Erreichung
        der PsychPV bereits grundsätzlich vorgeschrieben wer-
        den . Es ist aus unserer Sicht richtig, die Personalfrage
        so deutlich zu fokussieren; denn ein großer Mangel des
        bisherigen PEPP war, dass gerade in der neu angedachten
        Personalrichtlinie keine Verbindlichkeit lag .
        Es werden zugleich die Regelungen für die Psychia-
        trischen Institutsambulanzen, PIA, weiterentwickelt mit
        dem Ziel, dass die tatsächliche Leistungserbringung in
        der Bedarfsplanung eine angemessene Berücksichtigung
        finden kann. Die PIA ist eine ganz wesentliche Kompo-
        nente der Überleitung und der Entlastung im ambulanten
        System . Eine pauschale Anrechnung, wie bisher, wird
        der tatsächlichen Bedarfsermittlung im ambulanten Be-
        reich jedoch nicht gerecht .
        Das Gesetz wird heute eingebracht, und wir werden –
        natürlich unter Berücksichtigung der Anhörung – in die
        parlamentarische Diskussion einsteigen . Dabei wird zu
        klären sein, ob das mit den Eckpunkten Angedachte aus-
        reichend berücksichtigt ist . Vor allen Dingen wird sich
        zeigen, ob das Ziel einer stationären Psychiatrie, für alle
        Patienten eine bedarfsgerechte und gute Versorgung bei
        hoher Transparenz zu gewährleisten – wozu etwa auch
        der Krankenhausvergleich gehört –, erreicht werden
        kann . Wie gewohnt: Nachbesserungen sind nicht ausge-
        schlossen .
        Mit dem Gesetz werden zudem Leistungen der stati-
        onsäquivalenten Versorgung neu eingeführt . Durch diese
        Leistungen sollen Menschen mit schwersten psychischen
        Erkrankungen auch zu Hause Hilfe erfahren können . Ob-
        gleich meine Kollegin auf diesen Bereich detailliert ein-
        gehen wird, ist mit einzubeziehen, ob und wie wir hier
        die Erfahrungen aus den parallel zum PEPP entwickelten
        Modellen nach § 64b berücksichtigen können bzw . ob an
        dieser Stelle mehr Raum für Entwicklung gegeben wer-
        den muss .
        Ich freue mich auf die anstehenden Diskussionen,
        und – das sei mir zum Schluss gestattet – es freut mich
        vor allen Dingen, dass PEPP abgelöst wird .
        Wir schaffen mit dem Gesetz eine sinnvolle und drin-
        gend notwendige Weiterentwicklung in der Versorgung
        und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische
        Leistungen . Ich will jedoch nicht verhehlen, dass es auch
        mit dem Gesetz noch ein weiter Weg zu einer unbedingt
        erforderlichen, wirklich vernetzten und sektorenüber-
        greifenden Versorgung ist . Aber es gilt, im Sinne aller
        Beteiligten diesen Weg konsequent zu gehen .
        Helga Kühn-Mengel (SPD): Mehrfach hat sich der
        Bundestag in den letzten Jahren mit der Finanzierung
        psychiatrischer Krankenhausbehandlung befasst . Schon
        der Name des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfs macht
        deutlich, dass es dieses Mal nicht nur um die Vergütung,
        sondern auch und sogar vorwiegend um die Weiterent-
        wicklung der Versorgung geht . Das ist der Schwerpunkt
        dieses Gesetzentwurfs . Wesentliches Merkmal einer
        strukturellen Weiterentwicklung psychiatrischer und
        psychosomatischer Behandlung ist die Neuaufnahme
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18959
        (A) (C)
        (B) (D)
        der stationsäquivalenten Behandlung in den Katalog
        der Krankenhausleistungen . Damit ist Home Treatment
        gemeint . Eine psychiatrische Unterstützung kann eben
        nicht nur im Krankenhaus, sondern beispielsweise auch
        in der Wohnung, eventuell auch am Arbeitsplatz stattfin-
        den .
        Wir können hier auf die Erfahrungen aus den Model-
        len nach § 64b zurückgreifen, die parallel zum PEPP ent-
        wickelt wurden . Und diese Erfahrungen zur integrierten
        Versorgung sind positiv . Es gibt eben psychisch kranke
        Menschen, die Krankenhausbehandlung benötigen, aber
        nicht bereit sind, in ein Krankenhaus zu gehen . Vielleicht
        machen ihnen die vielen Menschen Angst oder auch nur
        der eine Mitpatient, der dann mit im Zimmer liegt; viel-
        leicht scheuen sie aus religiösen Gründen eine gemischt-
        geschlechtliche Station, vielleicht können sie sich außer-
        halb der eigenen Wohnung nicht mehr gut orientieren,
        oder sie hängen vielleicht so stark an Bezugspersonen,
        dass sie sich von diesen nicht trennen können . Für solche
        Menschen wird mit diesem Gesetz eine Krankenhausbe-
        handlung im eigenen Lebensumfeld ermöglicht . Das ist
        ein großer Fortschritt .
        Immer wieder müssen wir uns klarmachen, dass psy-
        chisch Kranke einen anderen Krankheitsverlauf und Um-
        gang mit der Krankheit zeigen . Während die somatisch
        Erkrankten aktiv auf das Gesundheitssystem zugehen,
        zieht sich der psychisch Kranke häufig zurück, wird in-
        aktiv, den Hilfsangeboten weniger zugänglich und muss
        oft erst für eine Behandlung gewonnen werden . Nicht
        ohne Grund wurde im SGB V festgeschrieben, dass die
        besonderen Belange psychisch Kranker zu berücksichti-
        gen seien .
        Mit der Einführung einer stationsäquivalenten psy-
        chiatrischen Behandlungsmöglichkeit im häuslichen
        Umfeld wird eine Lücke zwischen stationärer und ambu-
        lanter Behandlung geschlossen mit der Aufgabe, die sek-
        torenübergreifende Versorgung zu stärken . Das haben die
        Fachverbände seit Langem gefordert, wir haben es uns
        im Koalitionsvertrag als Ziel gesetzt, und wir gehen jetzt
        an die Umsetzung . Ein wichtiger Schritt . Wir ermögli-
        chen aber nicht nur eine flexiblere Behandlung durch die
        Krankenhäuser, sondern wollen auch die Zusammenar-
        beit der Kliniken mit niedergelassenen Psychiaterinnen
        und Psychiatern, Anbietern von Integrierter Versorgung,
        Psychotherapeuten, sonstigen Therapeuten und Pflege-
        diensten intensivieren . Im Gesetz ist ausdrücklich festge-
        halten: Leistungen im Rahmen der stationsäquivalenten
        Behandlung können ganz oder teilweise vom Kranken-
        haus auch an andere an der ambulanten psychiatrischen
        Versorgung teilnehmende Leistungserbringer delegiert
        werden .
        Die Vernetzung der regionalen Hilfen ist insbesonde-
        re für schwer psychisch kranke Menschen wichtig, die
        gleichzeitig oder aufeinanderfolgend mehrere Hilfen be-
        nötigen: einen personenzentrierten Hilfemix, multipro-
        fessionell, interdisziplinär und integriert . Themen wie
        Arbeit, Freizeitgestaltung, Selbstversorgung und Teilha-
        be am gesellschaftlichen Leben sind dabei zu berücksich-
        tigen . Solche Leistungen müssen gut koordiniert werden .
        Im Krankenhaus ist die tägliche Abstimmung unter den
        an der Behandlung Beteiligten selbstverständlich . Im am-
        bulanten Bereich findet eine solche Abstimmung seltener
        statt . Als Hilfe zum Zugang zu ambulanten Leistungen
        und zur Koordination derselben haben wir vor 15 Jahren
        die Soziotherapie im SGB V verankert . Sie kann und soll
        additive Leistungen von unterschiedlichen ambulanten
        Leistungserbringern zu einem Hilfeprogramm bündeln,
        sie soll dabei den schwer psychisch kranken Menschen
        verlässlich begleiten . Leider wird Soziotherapie noch im-
        mer nicht überall angeboten . Auch dort, wo es sie gibt,
        wird sie nur selten genutzt .
        Das ambulante Hilfesystem muss auch dazu in der
        Lage sein, koordinierte Hilfeprogramme zu erbringen .
        Man kann auch von Komplexleistungen sprechen . Das
        soll nicht die stationsäquivalente Behandlung überneh-
        men . Diese ersetzt stationäre Behandlung, nicht am-
        bulante durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte,
        Psychotherapeuten und sonstige Therapeuten . Deren
        Leistung muss allerdings gerade bei schwer psychisch
        Kranken stärker koordiniert werden . Dazu kann die So-
        ziotherapie dienen . Wir sollten sie endlich in das Versor-
        gungsgeschehen und in dieses Gesetz einbeziehen .
        Wir haben heute eine zunehmende Inanspruchnahme
        psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen
        und damit eine weitaus häufigere Behandlung seelischer
        Erkrankungen als früher . Diese Krankheitsbilder sind
        auch eine Hauptursache für langwierige Arbeitsunfähig-
        keit und frühe Verrentung . Zu einer guten Behandlung
        gehört der Blick auf die individuellen Bedürfnisse des
        Patienten . Gerade bei seelischen Erkrankungen gilt dies
        besonders . Das Gesetz stärkt die Sicherstellung einer gu-
        ten Versorgung .
        Harald Weinberg (DIE LINKE): Zu Beginn möchte
        ich Folgendes festhalten: Der Widerstand und der Protest
        der Fachverbände und der betroffenen Kolleginnen in
        den psychiatrischen Einrichtungen zusammen mit ihrer
        Gewerkschaft verdi gegen die Einführung eines Pauscha-
        len Entgeltsystems in Psychiatrie und Psychosomatik,
        PEPP, hat sich gelohnt: PEPP kommt nicht so wie ge-
        plant – und das ist gut so . Es ist aber noch nicht weg, es
        droht, durch die Hintertür eingeführt zu werden .
        Und das wäre falsch, denn eine angemessene psychi-
        atrische Versorgung der Patientinnen und Patienten kann
        nicht gewährleistet sein, wenn den Krankenhäusern für
        ihre Patientinnen und Patienten nicht die tatsächlich ent-
        stehenden Kosten erstattet werden, sondern irgendwie
        ermittelte Durchschnittskosten . Man muss der SPD in
        dieser Frage zugestehen, dass sie sich in der Koalition
        für Verbesserungen eingesetzt hat – etwas, was man ja
        in diesen Tagen von der SPD nicht in allen Fragen sagen
        kann, wenn man zum Beispiel ihr Einknicken bei CETA
        oder ihren Eiertanz bei der hälftigen Finanzierung der
        Krankenkassen durch die Arbeitgeber anschaut . Mein
        Glückwunsch dazu!
        Nach den Eckpunkten liegt nun der Gesetzentwurf
        zum PsychVVG – noch so ein schönes Kürzel – vor .
        Ausgeschrieben heißt das: Gesetz zur Weiterentwicklung
        der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und
        psychosomatische Leistungen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618960
        (A) (C)
        (B) (D)
        Im Rahmen meiner viel zu kurzen Redezeit kann ich
        nur kurz auf drei Punkte eingehen:
        Erstens die Möglichkeit für die Krankenhäuser, eine
        stationsäquivalente Behandlung einzurichten, das soge-
        nannte Home-Treatment, zweitens die Einführung eines
        krankenhausindividuellen Budgetsystems verbunden
        mit Einführung eines systematischen Krankenhausver-
        gleichs, drittens Bestimmungen zur Mindestpersonalaus-
        stattung und ihre Kontrolle .
        Diese Möglichkeit einer stationsäquivalenten Versor-
        gung im häuslichen Umfeld der Patientinnen einzurich-
        ten, ist zunächst einmal sehr zu begrüßen . Neue, sektor-
        übergreifende Versorgungsformen sind gerade in diesem
        Bereich dringend erforderlich .
        Problematisch ist jedoch, dass dies an eine Verringe-
        rung der Bettenzahl gekoppelt ist . Hierzu sollen Kas-
        sen und Krankenhausgesellschaft auf der Bundesebene
        „Grundsätze(n) für den Abbau nicht mehr erforderlicher
        Betten aufgrund der Durchführung der stationsäquivalen-
        ten Behandlung“ vereinbaren . Nach diesen Grundsätzen
        sollen Krankenkassen und Krankenhaus vor Ort „im Be-
        nehmen“ mit den Ländern konkret Bettenabbau beschlie-
        ßen . Das ist ein starker Eingriff in die Planungshoheit der
        Länder bei der Krankenhausplanung, denn „Benehmen“
        bedeutet nicht, dass die Länder dabei wirklich mitbestim-
        men können . Ein Automatismus zum Bettenabbau jen-
        seits einer genauen Prüfung ihrer Erforderlichkeit darf es
        nicht geben . Es ist aus gutem Grund Aufgabe der Länder
        und nicht der Kostenträger, den Bedarf an Krankenhäu-
        sern festzulegen . Dieses Prinzip sollte nicht durchlöchert
        werden .
        Wichtig ist aus unserer Sicht, dass diese neuen Versor-
        gungsformen ausreichend personell und finanziell ausge-
        stattet werden . Und da sind einige Zweifel angebracht,
        ob sich die stationsäquivalente Behandlung kostenneut-
        ral umsetzen lässt .
        Die Vergütung soll auf Krankenhausebene durch die
        Vertragsparteien als Gesamtbudget vereinbart werden .
        Das soll gelten ab 2018 . In den Jahren 2018 und 2019
        erfolgt sie budgetneutral . Grundlage sind die Vorjahres-
        budgets, dabei wird ein krankenhausindividueller Basi-
        sentgeltwert ermittelt . Und hier kommt dann doch wieder
        der bundeseinheitliche PEPP-Katalog zur Anwendung .
        Ab 2020 gelten dann die neuen Regelungen für die Er-
        mittlung des Gesamtbudgets . Sie enthalten ein deutliches
        Droh- und Druckpotenzial zur Durchsetzung von Durch-
        schnittspreisen . Es werden Bundesdurchschnittsentgelte
        für Leistungen ermittelt und als Vergleichsmaßstab he-
        rangezogen . Krankenhäuser und Kassen sollen vor Ort
        beraten, wie über Anpassungsvereinbarungen die Aus-
        gaben an den Bundesdurchschnitt angeglichen werden
        können . Das könnte einen ganz ähnlichen Effekt haben
        wie die in PEPP ursprünglich vorgesehene automatische
        Konvergenz .
        Einige Verbände und Organisationen sprechen in dem
        Zusammenhang von der Einführung von PEPP durch die
        Hintertür . Das ist aus meiner Sicht noch nicht entschie-
        den, aber die Gefahr ist unverkennbar .
        Bis einschließlich 2019 gilt die Psychiatrie-Perso-
        nalverordnung, Psych-PV, als Personalbemessungs-
        instrument weiter . Ab 2020 soll es verbindliche Min-
        destanforderungen für die berufsgruppenbezogene
        Personalausstattung geben . So weit, so gut . Diese sollen
        aber vom Gemeinsamen Bundesausschuss, G-BA, fest-
        gelegt werden, also von Kassen und Krankenhäusern .
        Damit besteht die Gefahr, dass die dringend notwendi-
        ge Personalbemessung nicht im Rahmen von Leitlinien
        evidenzbasiert erfolgt, sondern von Interessenkonflikten
        zerrieben und verwässert wird . Wir fordern, dass hier
        Fachgesellschaften, Gewerkschaft und Patientenorgani-
        sationen in die Entscheidungen eingebunden werden .
        Außerdem kann man Zweifel bekommen, wie ernst
        es die Bundesregierung mit Verbesserungen beim Perso-
        nal meint . Derzeit wird die durchschnittliche Deckungs-
        quote der Psych-PV um die 90 Prozent geschätzt . Wenn
        wir 100 Prozent Erfüllung der Personalvorgaben wollen,
        müssten die Personalkosten in einer Größenordnung von
        600 Millionen Euro pro Jahr steigen . Der Gesetzentwurf
        geht aber nur von 65 Millionen im Jahr 2018 aus . Das
        reicht hinten und vorne nicht . Wenn die Bundesregierung
        das, was sie vorhat, auch ernst nähme, dann müsste sie
        wesentlich mehr Geld einplanen . Notwendig wäre auch
        ein Sanktionsmechanismus, der Krankenhäuser belohnt,
        die Stellen schaffen, oder die bestraft, die es nicht tun .
        Aber der Gesetzentwurf sieht ja noch nicht einmal vor,
        dass die Kliniken den Kassen nachweisen müssen, ob
        sie die zusätzlichen Mittel bis 2019 für Personal einset-
        zen oder für eine Dividendenerhöhung ihrer Aktionäre .
        So wird das nichts! Da auch für die notwendige Aufsto-
        ckung der Personalmittel Referenzwerte der Kalkulati-
        onskrankenhäuser herangezogen werden sollen, muss
        auf jeden Fall sichergestellt sein, dass die in die Kalku-
        lation einbezogenen Häuser die Vorgaben der Psych-PV
        voll erfüllen . Ansonsten sind sie aus der Stichprobe aus-
        zuschließen .
        Fazit: Das PsychVVG hat einiges an Licht zu bieten,
        aber auch noch ziemlich viel Problematisches, das sich
        im Schatten findet. Ich hoffe, wir werden das Gesetz in
        den Beratungen noch erheblich verbessern, denn das ist
        im Sinne der Patientinnen und Patienten dringend nötig .
        Aber wir wissen zu würdigen, dass dies seit Jahren die
        erste Regelung ist, die zumindest vordergründig nicht in
        Richtung Markt und Wettbewerb geht, sondern die Ver-
        sorgung im Fokus hat . Auch im Antrag der Grünen sind
        einige vernünftige Vorschläge enthalten, die die Koaliti-
        on prüfen sollte .
        Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Bundesregierung hat den dringenden Kor-
        rekturbedarf am alten, von CDU und FDP eingerichteten
        PEPP-System endlich erkannt . Insofern geht der Gesetz-
        entwurf in die richtige Richtung . Die Neuausrichtung hin
        zu einem Budgetsystem wird aber nicht konsequent voll-
        zogen . Es bleibt zu befürchten, dass durch die Hintertür
        eine preisorientierte Kalkulation entlang von Einzelleis-
        tungen fortgeschrieben wird . Der Gesetzentwurf bleibt
        weit hinter seinen Zielen, die sektorenübergreifende Be-
        handlung in der psychiatrischen Versorgung zu fördern
        sowie die Transparenz und die Leistungsorientierung der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18961
        (A) (C)
        (B) (D)
        Vergütung zu verbessern, zurück . Der deutliche Anstieg
        von Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Kran-
        kenhäusern, häufig wiederkehrende stationäre Aufenthal-
        te, lange Wartezeiten in der ambulanten Behandlung und
        ein fortdauernder Anstieg von frühzeitiger Erwerbsun-
        fähigkeit sind deutliche Hinweise, dass die Versorgung
        psychisch erkrankter Menschen dringend verbessert wer-
        den muss .
        Ziel muss ein bedarfsgerechtes, regionales, psychia-
        trisch/psychotherapeutisches und psychosoziales Ver-
        sorgungsnetz sein, das flexibel verschiedenste personen-
        zentrierte und lebensweltbezogene Behandlungsformen
        ermöglicht: die ambulante Begleitung in den eigenen
        Alltag während, nach oder statt einem stationären Auf-
        enthalt, die enge Abstimmung mit gemeindenahen so-
        zialpsychiatrischen Hilfen im Gemeindepsychiatrischen
        Verbund, die Einbeziehung von Psychiatrieerfahrenen
        und Angehörigen sowie eine ambulante Krisenbeglei-
        tung . Ein Entgeltsystem muss diese Veränderungen er-
        möglichen und befördern .
        Ein sehr kritischer Punkt im alten PEPP war die Fra-
        ge der Personalausstattung, weil die alte Psych-PV ab-
        geschafft wurde und neue Personalstandards noch durch
        den G-BA entwickelt werden sollten . Gut ist, dass die
        Psych-PV jetzt weiter gilt und auch deren Umsetzung
        nachgehalten wird . Nicht gut ist, dass erst ab 2020 der
        Nachweis gegenüber den Krankenkassen geführt werden
        muss, dass die Stellen auch besetzt waren . Wer Gelder
        für Personal erhält, muss dieses auch für Personal aus-
        geben . Klar ist, wir haben Weiterentwicklungsbedarf .
        Der für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
        vention erforderliche Personalbedarf zur Vermeidung
        von Zwangsbehandlungen muss gesondert erfasst und
        vergütet werden . Außerdem müssen die in der UN-Kin-
        derrechtskonvention geschützten Besonderheiten der
        Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie stär-
        ker berücksichtigt werden . Uns reicht nicht, wenn nur die
        Selbstverwaltung darüber entscheidet . Wir wollen, dass
        eine unabhängige, trialogisch besetzte Expertenkommis-
        sion die Weiterentwicklung in der psychiatrischen Ver-
        sorgung begleitet .
        Mit dem Gesetzentwurf wird es Krankenhäusern in
        einem ersten Schritt ermöglicht, Patientinnen und Pati-
        enten in ihrem Lebensumfeld zu behandeln, was im An-
        schluss an die stationäre Versorgung zu einem gleitenden
        Übergang in den ambulanten Bereich beitragen kann . Das
        finden wir gut. Es fehlen jedoch Maßnahmen für die am-
        bulante Versorgung, die es ermöglichen, Menschen mit
        schweren psychischen Erkrankungen ausreichend inten-
        siv zu behandeln, um stationäre Aufnahmen im Vorfeld
        zu vermeiden . Ziel muss es sein, dass die verschiedenen
        Leistungserbringer in einem gemeindepsychiatrischen
        Verbund abgestimmte Behandlungen aus einer Hand
        auch im häuslichen Umfeld und unter Einbeziehung des
        familiären und sozialen Umfelds anbieten . Hierfür sind
        rechtliche Vorgaben für Modellvorhaben auch in der am-
        bulanten Versorgung zu schaffen sowie deren Finanzie-
        rung sicherzustellen .
        Abschließend möchte ich noch auf den Griff in den
        Gesundheitsfonds eingehen, der ebenfalls im PsychVVG
        geregelt ist . Die Bundesregierung kann keine triftigen
        Gründe dafür nennen, warum sie für die Mehrbelastun-
        gen aufgrund der gesundheitlichen Versorgung von Asyl-
        berechtigten und der Telematikinfrastruktur 1,5 Milliar-
        den Euro veranschlagt . Eigentlich geht es ihr darum, den
        Anstieg von Zusatzbeiträgen im Wahljahr zu mildern .
        Die Begründung ist nur herangezogen und hält der sach-
        lichen Überprüfung nicht stand . Die gesundheitliche Ver-
        sorgung von nicht erwerbstätigen Asylberechtigten wird
        wie bei allen SGB-II-Beziehenden aus Steuermitteln fi-
        nanziert . Dieses Vorgehen ist unverantwortlich . Denn es
        verstärkt die vielfältigen Ressentiments gegen Flüchtlin-
        ge und verstärkt Befürchtungen von Versicherten, dass
        sie wieder einmal die Zeche zahlen müssen .
        Ingrid Fischbach, Parl . Staatssekretärin beim Bun-
        desminister für Gesundheit: Die Sicherung der Qualität
        in der Versorgung mit psychiatrischen und psychoso-
        matischen Leistungen in Deutschland ist der Bundes-
        regierung ein wichtiges Anliegen . Rund 41 Jahre nach
        der sogenannten „Psychiatrie-Enquete“ des Deutschen
        Bundestages hat sich vieles in der Versorgung seelisch
        erkrankter Menschen verbessert . Was Therapeuten und
        Einrichtungen hier leisten, verdient unsere besondere
        Wertschätzung . Zur Anerkennung gehört dabei auch eine
        angemessene finanzielle Honorierung.
        Bevölkerungsweit haben wir es mit einer zunehmen-
        den Inanspruchnahme psychiatrischer und psychothera-
        peutischer Leistungen zu tun und damit einer weitaus
        häufigeren Behandlung seelischer Erkrankungen als
        früher . Der heute vorliegende Gesetzentwurf wird dazu
        beitragen, die Versorgung auf diesem Feld nachhaltig zu
        stärken .
        Durch die Neugestaltung streben wir – wie zuvor be-
        reits auf anderen Feldern der Versorgung – eine Förde-
        rung der sektorenübergreifenden Behandlung an, also
        eine Verzahnung von ambulanter und stationärer Versor-
        gung . Stationäre Aufenthalte können hierdurch verkürzt
        oder ganz vermieden werden, was den Patientinnen und
        Patienten – und insbesondere seelisch erkrankten Kin-
        dern – unmittelbar zugutekommt . Denn Behandlungen
        im gewohnten Lebensumfeld können helfen, Trennungen
        und Beziehungsabbrüche zu vermeiden, Bindungen und
        Familienkompetenzen zu erhalten oder zu verbessern
        und dadurch den Erfolg der Behandlung zu stärken .
        Die Koalition hat sich in dieser Wahlperiode intensiv
        damit beschäftigt, wie ein neues Vergütungssystem in der
        Psychiatrie und Psychosomatik den Bedürfnissen seelisch
        Erkrankter gerecht werden kann und gleichzeitig den
        Zielen Leistungsorientierung und Transparenz gerecht
        wird . Der Gesetzentwurf zielt damit in seiner Grundaus-
        richtung auf eine Weiterentwicklung der Versorgung und
        der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische
        Leistungen . Um dies zu erreichen, werden systematische
        Veränderungen des Vergütungssystems vorgenommen .
        In einem Punkt waren sich alle an der Erarbeitung des
        Gesetzentwurfes Beteiligten von Anfang an einig: Obers-
        te Zielsetzung muss die Sicherstellung einer guten Ver-
        sorgung für seelisch kranke Menschen sein .
        Eine seelische Erkrankung kann nun einmal nicht mit
        einem gebrochenen Arm gleichgesetzt werden . Ein und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618962
        (A) (C)
        (B) (D)
        dasselbe Krankheitsbild kann unter unterschiedlichen
        Begleitumständen auch unterschiedliche Therapieansät-
        ze erfordern . Dies ist mit festen Preisen bei seelischer Er-
        krankung also nur schwer zu erfassen . Der Gesetzentwurf
        sieht vor, dass psychiatrische und psychosomatische Kli-
        niken ihr Budget weiterhin individuell verhandeln kön-
        nen und regionale oder strukturelle Besonderheiten (in
        der Leistungserbringung) dabei berücksichtigt werden
        können . Im Ergebnis wird damit die Verhandlungsebene
        vor Ort gestärkt .
        Zugleich halten wir an den Zielen Transparenz und
        Leistungsorientierung fest . Dies spiegelt sich unter ande-
        rem in dem Vorschlag wider, an einem bundesweiten und
        empirisch kalkulierten Entgeltkatalog festzuhalten . Denn
        es ist zu gewährleisten, dass eine auskömmliche Finan-
        zierung auch in ein entsprechendes Behandlungsangebot
        umgesetzt wird .
        Durch die parallele Einführung eines leistungsbezo-
        genen Krankenhausvergleichs wird transparent, inwie-
        weit unterschiedliche Budgethöhen von Krankenhäusern
        auf Leistungsunterschiede, regionale oder strukturelle
        Besonderheiten in der Leistungserbringung oder aber
        andere klinikindividuelle Aspekte zurückzuführen sind .
        Die leistungsorientierte Ausgestaltung eröffnet die Mög-
        lichkeit, Versorgungsstrukturen zu analysieren und zu
        optimieren . Damit soll der Vergleich den Krankenhäu-
        sern und Kostenträgern vor Ort ermöglichen, ein der
        Leistungserbringung angemessenes Budget zu verhan-
        deln . In der Vergleichbarkeit der Einrichtungen auf der
        Grundlage ihrer Leistungen liegt die Chance für mehr
        Vergütungsgerechtigkeit zwischen den Einrichtungen .
        Gleiches kann gleich und Ungleiches ungleich vergütet
        werden .
        Für Menschen, die seelisch erkrankt sind, ist die per-
        sönliche Zuwendung vonseiten des Behandlungs- und
        Pflegepersonals besonders wichtig. Eine ausreichende
        Personalausstattung in den Kliniken ist mir daher ein
        besonderes Anliegen . Um dies zu erreichen, soll der Ge-
        meinsame Bundesausschuss beauftragt werden, in seinen
        Qualitätsrichtlinien (mit Wirkung zum 1 . Januar 2020)
        verbindliche Mindestpersonalvorgaben für die personelle
        Ausstattung der stationären psychiatrischen und psycho-
        somatischen Einrichtungen festzulegen .
        Entsprechende Qualitätsrichtlinien sollen möglichst
        auf wissenschaftlichen Nachweisen beruhen . Sie sollen
        die Voraussetzungen schaffen, dass Behandlungsstan-
        dards von hochwertigen Leitlinien realisiert werden kön-
        nen und somit zu einer Behandlung der Patientinnen und
        Patienten nach medizinisch besten verfügbaren Erkennt-
        nissen beitragen .
        Zur Stärkung der sektorenübergreifenden Versorgung
        können Menschen mit schweren psychischen Erkrankun-
        gen in akuten Krankheitsphasen auch in ihrem häusli-
        chen Umfeld (sog . „home treatment“) durch ein mobiles,
        multiprofessionelles Behandlungsteam versorgt werden .
        Ambulante Leistungserbringer werden hier mit einbezo-
        gen . Damit werden die Bedarfsgerechtigkeit und die Fle-
        xibilität der Versorgung erhöht .
        Damit ausreichend Zeit für die Ausgestaltung des Ent-
        geltsystems im Sinne eines Budgetsystems bleibt, wird
        die Phase, in der Krankenhäuser das System freiwillig
        anwenden können (sog . „Optionsphase“), um ein Jahr bis
        Ende 2017 verlängert . Darüber hinaus werden die Jah-
        re 2017 bis 2019 weiterhin budgetneutral ausgestaltet .
        D . h ., den Kliniken entstehen durch das neue Entgeltsys-
        tem in diesen Jahren weder Gewinne noch Verluste . Die
        mit der langen budgetneutralen Einführungsphase ver-
        bundenen geschützten Bedingungen ermöglichen es den
        Einrichtungen, sich bis zur ökonomischen Wirksamkeit
        ab dem Jahr 2020 auf die neuen Strukturen einzustellen .
        Alles in allem glaube ich: Man kann mit Fug und
        Recht sagen, dass mit dieser Neuausrichtung die Weiter-
        entwicklung des Psych-Entgeltsystems auf einem guten
        Weg ist .
        Lassen Sie mich aber auch noch einige Worte zu The-
        men jenseits der Versorgung von seelisch kranken Men-
        schen sagen, die der Gesetzentwurf ebenfalls aufnimmt .
        So sollen zum Beispiel die Deutsche Krankenhaus-
        gesellschaft und der Spitzenverband der Gesetzlichen
        Krankenversicherung anhand gemeinsam festzulegender
        Kriterien ein bundesweites Verzeichnis der Standorte von
        Krankenhäusern und ihren Ambulanzen erstellen, um un-
        ter anderem eine bessere Grundlage für die Qualitätssi-
        cherung, Krankenhausplanung und Statistik zu schaffen .
        Im Gesetzentwurf ist auch vorgesehen, dass wir im
        Jahr 2017 einmalig 1,5 Milliarden Euro aus der Liqui-
        ditätsreserve entnehmen . Hiermit sollen vorübergehende
        Mehrbelastungen der gesetzlichen Krankenkassen im
        Zusammenhang mit der gesundheitlichen Versorgung
        von gesetzlich versicherten Asylberechtigten sowie im
        Hinblick auf Investitionen in den Aufbau einer moder-
        nen und innovativen Versorgung (Aufbau der Telematik-
        Infra struktur) finanziert werden.
        Die Integration der Asylberechtigten in den Arbeits-
        markt ist eine der wichtigsten Aufgaben, die wir auf allen
        gesellschaftlichen Ebenen mit einer großen Kraftanstren-
        gung meistern müssen . Gerade auch die sozialen Siche-
        rungssysteme sind darauf angewiesen, dass möglichst
        viele Asylberechtigte zu Beitragszahlern werden . Je bes-
        ser die Integration gelingt, desto schneller können wir die
        Skeptiker davon überzeugen, dass Integration nicht nur
        aus humanitärer Verantwortung geschieht, sondern eben
        auch eine Investition in die Zukunft ist, und umso eher
        kann auch die aktuelle Mehrbelastung für die gesetzliche
        Krankenversicherung durch steigende Beitragseinnah-
        men zu einer Chance werden .
        Aus diesem Grund halte ich eine Zwischenfinanzie-
        rung durch eine Entnahme aus der Liquiditätsreserve für
        gerechtfertigt . Es erscheint mir nicht sachgerecht, stei-
        gende Zusatzbeiträge zu akzeptieren, solange wir in der
        Liquiditätsreserve noch umfangreiche Reserven haben,
        um außergewöhnliche und vorübergehende Belastungen
        aufzufangen .
        Insgesamt haben wir daher für das Jahr 2017 eine ver-
        tretbare Lösung gefunden . Wir stellen sicher, dass die
        Versicherten nicht zusätzlich belastet werden . Dennoch
        leistet auch die gesetzliche Krankenversicherung einen
        Beitrag zur Bewältigung der gesamtgesellschaftlichen
        Herausforderung durch die Flüchtlingskrise .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18963
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 18
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
        Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten
        im Strafverfahren und zur Änderung des Schöf-
        fenrechts (Tagesordnungspunkt 23)
        Alexander Hoffmann (CDU/CSU): In einem Recht-
        staat gilt es, auch die Rechte von Leuten, die unter Ver-
        dacht stehen, zu stärken . Deshalb freue ich mich, dass
        wird bei der Umsetzung des Fahrplans zur Stärkung der
        Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten
        in Strafverfahren wieder einen Schritt weiter gekommen
        sind .
        Die vom Europäischen Parlament und dem Europä-
        ischen Rat beschlossene Richtlinie 2013/48/EU wird
        nun auch durch punktuelle Veränderungen in unserem
        deutschen Gesetz eingehalten . Diese Richtlinie bekräf-
        tigt das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in
        Strafverfahren sowie bei Verfahren zur Vollstreckung des
        Europäischen Haftbefehls . Sie beschließt das Recht auf
        Benachrichtigung eines Dritten und von Konsularbehör-
        den bei Freiheitsentzug eines Jugendlichen . Wir haben
        schon immer auf europäischer Ebene für diese Mindest-
        standards plädiert und damit am Ende auch Recht be-
        halten . Die Grundaussagen unseres Gesetzentwurfs sind
        lediglich minimale Veränderungen in unserem bereits
        bestehenden Recht .
        In der Strafprozessordnung geht es darum, das Recht
        auf Rechtsbeistand zu festigen und gleichzeitig den Bei-
        stand bei einem polizeilichen Verhör zu gewährleisten .
        Auch im Jugendgerichtsgesetz wird nur eine Kleinig-
        keit eingefügt, die in der Praxis so meistens schon An-
        wendung findet. Es geht um die Weitergabe von Informa-
        tionen an den Erziehungsberechtigen oder gesetzlichen
        Vertreter oder Konsularbehörden während des Freiheits-
        entzugs .
        Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in
        Strafsachen wird um die Möglichkeit erweitert, einen
        Rechtsbeistand im ersuchenden Mitgliedstaat zu benen-
        nen .
        Hierbei bot sich die Möglichkeit zur Änderung des
        Gerichtsverfassungsgesetzes in Bezug auf die ehrenamt-
        lichen Richter in der Strafrechtspflege, die sogenannten
        Schöffen, die eine historische und wichtige Rolle in unse-
        rem Rechtssystem spielen . Die Schöffentätigkeit ist eine
        ehrenamtliche Tätigkeit, die jeder deutsche Bürger über
        18 ausüben kann . Wie wichtig das Ehrenamt in unserer
        Bundesrepublik ist, sollte jedem von uns bewusst sein:
        Rund ein Drittel aller deutschen Bürger übt ein Ehren-
        amt aus . Es darf und soll für uns nicht wie eine Floskel
        klingen, aber es kann nicht oft genug betont werden, wie
        wichtig alle Ehrenamtlichen für unsere Gesellschaft sind .
        Das Schöffensystem, welches schon seit dem Mittelalter
        in Deutschland und nun auch in einigen anderen Län-
        dern existiert, soll wichtiger Bestandteil unseres Rechts-
        systems bleiben . Sie sollen weiterhin das Vertrauen der
        Bürgerinnen und Bürger in die Justiz bestärken . Zudem
        dienen die Schöffen als Rechtsprechungsorgan, das für
        lebensnahe Rechtsprechung sorgen kann, und sie sind
        ein hervorragendes Symbol unserer Volkssouveränität
        in Deutschland . Somit sehe ich die Schöffen als wich-
        tigen und zu erhaltenden Bestandteil unseres Rechtspre-
        chungsorgans . Aus diesen Gründen halte ich eine Ände-
        rung des Gerichtsverfassungsgesetzes in Bezug auf die
        ehrenamtlichen Richter in der Strafrechtspflege für einen
        sehr sinnvollen Vorschlag .
        Im Zuge der Debatte über den Gesetzentwurf zur
        Umsetzung der EU-Richtlinie sollten wir auch über eine
        andere wichtige Reform sprechen . Herr Minister Maas,
        Sie haben am Anfang der Legislaturperiode die Reform
        der StPO groß angekündigt . Diese Ankündigung hat in
        Juristenkreisen und auch bei anderen Menschen, die mit
        der StPO arbeiten, großes Interesse und Erwartungen ge-
        weckt . Bedauerlicherweise warten wir noch immer auf
        den Reformvorschlag, der von Ihnen einst so großartig
        angekündigt worden ist . Nicht nur die Richterinnen und
        Richter sind enttäuscht, sondern auch wir . Wir sollten die
        Gelegenheit nutzen, im Zuge der Beratung des hier vor-
        liegenden Gesetzentwurfs zu überlegen, ob wir nicht den
        einen oder anderen dringenden Reformpunkt der StPO
        ebenfalls noch aufnehmen .
        Insgesamt denke ich, dass der von der Regierung vor-
        gelegte Gesetzentwurf auch dafür als gute Grundlage
        dienen kann – wie auch für die weiteren Beratungen und
        Diskussionen .
        Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Die Stärkung
        von Verfahrensrechten von Verdächtigen und Beschul-
        digten ist von enormer Bedeutung für die Bürgerinnen
        und Bürger und damit für unseren Rechtsstaat als Gan-
        zen . In diesem Sinne erstellte die EU im Jahr 2009 einen
        Fahrplan zur Verbesserung der Umsetzung der elemen-
        taren Grundrechte im Verfahrensrecht . Ein Meilenstein
        dieses Fahrplans ist die 2013 beschlossene Richtlinie zur
        Stärkung von Verfahrensrechten . In dem vorliegenden
        Gesetzentwurf wird diese Richtlinie nun in deutsches
        Recht umgesetzt .
        Das deutsche Verfahrensrecht erfüllt bereits jetzt ei-
        nen Großteil der Anforderungen der Richtlinie . An eini-
        gen Stellen gibt es aber noch Handlungsbedarf . In diesem
        Rahmen warten wir auch alle weiterhin auf die groß an-
        gekündigte umfassende Reform der Strafprozessordnung
        aus Ihrem Haus, verehrter Herr Justizminister Maas . Am
        Beginn des vierten und damit letzten Jahres dieser Le-
        gislaturperiode hält sich meine Hoffnung auf den großen
        Wurf in diesem zentralen Bereich unseres Rechtssystems
        in sehr engen Grenzen . Die notwendigen Änderungen
        hätten nämlich im Rahmen der Reform des Strafprozess-
        rechts vorgenommen werden können .
        Insgesamt werden vier Änderungen zur Umsetzung
        der Richtlinie nötig .
        Erstens soll ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers
        bei der polizeilichen Vernehmung etabliert werden . Dem
        Beschuldigten bereits in diesem Stadium einen Rechts-
        beistand an die Seite zu stellen, ist ein Kernstück der
        Umsetzung der genannten Richtlinie .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618964
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zweitens werden mögliche Kontaktsperren gemäß
        §§ 31 ff . EGGVG eingeschränkt . Diese sollen in Zukunft
        nicht mehr den Verteidiger einschließen . Nur so kann ein
        uneingeschränkter Rechtsbeistand des oder der Verdäch-
        tigen bzw . Beschuldigten gesichert werden . Momentan
        ist es möglich, den Verdächtigten bzw . Beschuldigten
        jeglichen Kontakt zur Außenwelt zu untersagen, wenn
        eine gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
        von einer terroristischen Vereinigung ausgeht und die
        Kontaktsperre zur Abwehr der Gefahr geboten ist . Dies
        steht im Widerspruch zu dem in Artikel 47 und 48 der
        EU-Grundrechtscharta gewährleisteten Recht auf wirk-
        samen Rechtsbehelf und den Verteidigungsrechten . Eine
        Gesetzesänderung ist dementsprechend erforderlich .
        Drittens soll im Falle eines Europäischen Haftbefehls
        die gesuchte Person über das Recht informiert werden,
        im ersuchenden Mitgliedsstaat einen Rechtsbeistand be-
        nennen zu können, um die Grundrechte auf wirksamen
        Rechtsbehelf und Verteidigung rundum zu sichern .
        Viertens regelt der neue Gesetzentwurf eindeutig, dass
        bei Festnahmen von Jugendlichen die Erziehungsberech-
        tigten oder die gesetzlichen Vertreter so bald wie möglich
        zu unterrichten sind . Momentan ist dies nur indirekt gem .
        § 67 JGG geregelt . Durch die Richtlinie sehen wir eine
        explizite Regelung als geboten an . Allerdings fordern wir
        eine Angleichung der Ausnahmeregelungen des neuen
        § 67a JGG an den § 67 JGG . Die Umstände, unter denen
        eine Benachrichtigung der Erziehungsberechtigten oder
        gesetzlichen Vertreter ausnahmsweise ausbleiben darf,
        müssen neu festgelegt werden . Denn § 67 JGG und § 67a
        JGG sichern das elterliche Erziehungsrecht von Vater
        und Mutter aus Artikel 6 GG . Dieses ist für uns von her-
        ausragender Bedeutung und gehört gesichert .
        Mit diesen Änderungen ist es uns möglich, das Recht
        des Verdächtigen bzw . Beschuldigten auf ein faires Ver-
        fahren weiter zu stärken . Gleichzeitig wird auch der
        Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
        schenrechte Rechnung getragen, der in seinem Urteil im-
        mer wieder Verdächtigen und Beschuldigten ein Zugang
        zu Rechtsbeistand und Verteidigung ohne Einschränkung
        zuspricht .
        Darüber hinaus trägt die Umsetzung der Richtlinie
        zur Weiterentwicklung des gemeinsamen europäischen
        Rechtsraumes bei . In Artikel 82 Absatz 1 AEUV wurde
        festgelegt, dass Urteile in Strafsachen gegenseitig aner-
        kannt werden sollen . Um das hierfür notwendige Ver-
        trauen zu schaffen, müssen gemeinsame Mindeststan-
        dards für Rechte von Verdächtigen bzw . Beschuldigten
        festgelegt werden .
        Neben der Umsetzung der erwähnten Richtlinie sollen
        Veränderungen beim Schöffenrecht vorgenommen wer-
        den . Aufgrund des akuten Schöffenmangels sind Maß-
        nahmen zur Stärkung des Schöffenbestandes dringend
        notwendig. Daher soll die verpflichtende Unterbrechung
        der Schöffentätigkeit nach zwei aufeinanderfolgenden
        Amtszeiten wegfallen . So wird vor allem eine länge-
        re Tätigkeit von engagierten, erfahrenen Bürgerinnen
        und Bürgern als Schöffen möglich . Nach der jetzigen
        Regelung haben sie nach der Zwangspause häufig das
        Höchstalter von 75 Jahren überschritten, und eine wei-
        tere Beteiligung ist ausgeschlossen . Im Gegenzug soll
        eine weitere Möglichkeit geschaffen werden, das Amt
        abzulehnen, um den Interessen der Schöffen Rechnung
        zu tragen und eine Überlastung zu verhindern .
        Mithilfe dieser Änderung ist es uns möglich, das Ver-
        trauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung aufrecht-
        zuerhalten und lebensnahe Urteile langfristig zu gewähr-
        leisten .
        Die Bundesrepublik setzte sich stets für die Schaf-
        fung von gemeinsamen Mindeststandards innerhalb der
        Europäischen Union ein . Mit dem vorliegenden Entwurf
        setzen wir diesen Standard in unserer Rechtsordnung um
        und stärken gleichzeitig unseren Rechtsstaat .
        Dirk Wiese (SPD): Deutschland ist bei den Verfah-
        rensrechten von Beschuldigten grundsätzlich gut aufge-
        stellt . Wir erfüllen die europäischen Vorgaben weitge-
        hend und haben weltweit einen der höchsten Standards .
        Ab und an gibt es natürlich Nachbesserungsbedarf, bei-
        spielsweise wenn trotz Umsetzungsbedarf Richtlinien
        des Europäischen Parlaments und des Rates noch nicht in
        nationales Recht kodifiziert wurden. So ist es auch hier.
        Der heute hier in erster Lesung zu beratende Gesetzent-
        wurf zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldig-
        ten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffen-
        rechts setzt hauptsächlich die Richtlinie 2013/48/EU vom
        22 . Oktober 2013 um . Kernpunkt des Gesetzentwurfs ist
        die Änderung der Vorschriften über eine Kontaktsperre
        in den §§ 31 bis 36 des Einführungsgesetzes zum Ge-
        richtsverfassungsgesetz . Eine solche Kontaktsperre wird
        den Zugang zum Verteidiger nicht mehr in allen Fällen
        ausschließen . Außerdem verankern wir gesetzlich ein
        ausdrückliches Anwesenheitsrecht des Verteidigers, ins-
        besondere bei polizeilicher Befragung, bei Ermittlungs-
        maßnahmen und bei Identifizierungs- und Vernehmungs-
        gegenüberstellungen .
        Zusätzlich wird im JGG eine neue Regelung aufge-
        nommen werden, dass der Erziehungsberechtigte und der
        gesetzliche Vertreter eines Jugendlichen grundsätzlich so
        bald wie möglich unter Angabe von Gründen zu unter-
        richten sind, wenn dem Jugendlichen die Freiheit entzo-
        gen wurde . Einzige Ausnahme bildet hier die erhebliche
        Gefährdung des Kindeswohls durch eine solche Unter-
        richtung . Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn die
        Eltern verdächtigt werden, an der vorgeworfenen Tat be-
        teiligt gewesen zu sein . Hier besteht dann die naheliegen-
        de Gefahr, dass die Eltern im wesentlichem Maße von ih-
        ren eigenen Interessen geleitet werden und dass sich dies
        im Hinblick auf das Kindeswohl abträglich auswirkt .
        Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in
        Strafsachen wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf
        ebenfalls ergänzt. Hier wird die Verpflichtung verankert
        werden, in Verfahren zur Vollstreckung eines Europä-
        ischen Haftbefehls die gesuchte Person auch über ihr
        Recht zu unterrichten, im ersuchenden Mitgliedstaat ei-
        nen Rechtsbeistand zu benennen .
        Als letzter Punkt sind noch der Wegfall der ver-
        pflichtenden Unterbrechung der Schöffentätigkeit nach
        zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden und die Erwei-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18965
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        (B) (D)
        terung der Möglichkeiten, ein Schöffenamt abzulehnen,
        zu benennen .
        Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Diese Rede geht
        zu Protokoll und bietet so einen guten Anlass, etwas
        grundsätzlicher zu werden .
        Immer wieder sieht sich die EU in der Kritik . Dabei
        wird häufig vergessen, dass es die Regierungen der Mit-
        gliedstaaten sind, die erheblichen Einfluss auf die Ge-
        setzgebung innerhalb der EU haben, und zumindest in
        Deutschland über den Artikel 23 GG und das EUZBBG
        erhebliche Mitbestimmungsrechte für den Bundestag
        existieren . Natürlich muss die EU demokratischer, fried-
        licher und sozial gerechter werden . Eine Pauschalkritik
        an der EU allerdings wird ihrer Rolle nicht gerecht .
        Das zeigt sich auch am vorliegenden Gesetz zur Stär-
        kung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Straf-
        verfahren; denn dieses Gesetz basiert auf der Richtli-
        nie des Europäischen Parlaments und des Rates vom
        22 . Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem
        Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur
        Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über
        das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Frei-
        heitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Drit-
        ten und mit Konsularbehörden während des Freiheits-
        entzugs . Diese Richtlinie, die Mindeststandards festlegt,
        zeigt, dass es mit der EU möglich ist, eine Erhöhung der
        Mindeststandards zu erreichen . Davon sollte es viel mehr
        geben, gerade weil die Idee eines Vereinigten Europa
        eine gute Idee ist und die Idee der Nationalstaaten sich
        überholt hat .
        Es ist besonders positiv hervorzuheben, dass die
        Richtlinie eine Angleichung der Standards auf höhe-
        rem Niveau als bislang gerade im sensiblen Bereich des
        Strafverfahrensrechts ermöglicht . Gerade der Umgang
        mit Beschuldigten im Strafverfahren ist immer wieder
        ein Gegenstand populistischer und einfacher Antworten,
        Antworten, die dann kaum mit der Würde des Menschen
        in Übereinstimmung zu bringen sind . Es ist deshalb au-
        ßerordentlich zu begrüßen, dass mit der Richtlinie und
        dem darauf basierenden und heute zu debattierenden
        Gesetz die Rechte von Beschuldigten im Strafverfahren
        gestärkt werden .
        Das vorliegende Gesetz setzt die Richtlinie nun in
        deutsches Recht um und nimmt Änderungen unter an-
        derem an der Strafprozessordnung, StPO, vor . Die StPO
        ist derzeit Gegenstand noch mindestens zweier weiterer
        Gesetzgebungsverfahren . Aus Sicht der Rechtsanwender
        und Rechtsanwenderinnen, aber auch derjenigen, die im
        parlamentarischen Verfahren die einzelnen Vorschläge
        prüfen und bewerten sollen, wäre es sicherlich wün-
        schenswert, dass zukünftig versucht wird, keine paral-
        lelen Gesetzgebungsverfahren in Bezug auf ein Gesetz
        durchzuführen .
        Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf Änderungen
        am Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz,
        EGGVG, und im Jugendgerichtsgesetz, JGG vor .
        In der StPO soll mit dem vorliegenden Gesetz ein
        Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei polizeilichen
        Vernehmungen festgeschrieben werden . Gleichzeitig
        soll mit einer Änderung der Vorschriften über eine Kon-
        taktsperre in den §§ 31 bis 36 im EGGVG eine solche
        Kontaktsperre den Zugang zum Verteidiger nicht mehr in
        allen Fällen ausschließen . Schließlich soll mit der Ände-
        rung im JGG festgeschrieben werden, dass der bzw . die
        Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter ei-
        nes Jugendlichen so bald wie möglich unter Angabe von
        Gründen zu unterrichten sind, wenn dem Jugendlichen
        die Freiheit entzogen wurde .
        Damit werden in der Umsetzung der Richtlinie Ver-
        fahrensrechte von Beschuldigten in Strafverfahren ge-
        stärkt, was die Linke ausdrücklich begrüßt . Es ist explizit
        zu begrüßen, dass neben den bereits in § 168c Absatz 1
        StPO und § 163a Absatz 2 in Verbindung mit § 168c
        Absatz 1 StPO verankerten Anwesenheitsrechtes eines
        Rechtsbeistandes bei Beschuldigtenvernehmungen im
        Ermittlungsverfahren bei richterlichen und staatsanwalt-
        schaftlichen Vernehmungen nun durch eine Ergänzung
        des § 163a Absatz 4 StPO dieses Anwesenheitsrecht auch
        auf polizeiliche Beschuldigtenvernehmungen ausgedehnt
        wird . Es ist auch richtig, klarstellend aufzunehmen, dass
        dem Rechtsbeistand und auch der Staatsanwaltschaft
        nach der Vernehmung des Beschuldigten Gelegenheit
        zu geben ist, sich dazu zu erklären oder Fragen an den
        Beschuldigten zu stellen . Diese Regelungen stärken das
        faire Verfahren und sind damit auch ein Beitrag die De-
        mokratie zu stärken .
        Ebenfalls auf ausdrückliche Zustimmung der Lin-
        ken trifft die Umsetzung der Regelungen von Artikel 5
        der Richtlinie durch die Änderungen im JGG . Das JGG
        enthielt bislang gerade keine ausdrückliche Bestimmung
        darüber, dass, soweit einem Jugendlichen die Freiheit
        entzogen wurde, „die Person, die Inhaberin der elterli-
        chen Verantwortung für das Kind ist“, von dem Freiheits-
        entzug und den Gründen hierfür zu unterrichten ist . Der
        neue § 67a JGG ändert das nunmehr und schafft auch
        hier mehr Rechte für Beschuldigte .
        Schließlich treffen auch die Änderungen in §§ 31 ff .
        EGGVG auf die Zustimmung der Linken . Die Kon-
        taktsperre an sich, das heißt die Unterbindung jeglicher
        Verbindung zwischen Gefangenen und der Außenwelt,
        trifft dabei nach wie vor auf die Kritik der Linken . In-
        sofern hätten wir uns durchaus auch vorstellen können,
        die Regelungen in den §§ 31 ff . EGGVG zu streichen .
        Die grundsätzliche Herausnahme des Kontaktes zum
        Verteidiger bzw . zur Verteidigerin aus dem Anwendungs-
        bereich der §§ 31 ff . EGGVG ist jedoch ein Schritt in die
        richtige Richtung .
        Gerade um die Idee von Europa zu stärken, wäre es
        wünschenswert, wenn durch die EU mehr solcher Richt-
        linien verabschiedet werden . Dann macht die Umsetzung
        in deutsches Recht Spaß .
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Schaffung EU-weiter gemeinsamer Mindest-
        standards für Strafverfahren ist grundsätzlich ein wich-
        tiger und richtiger Schritt . Ein solcher Schritt soll durch
        die Umsetzung einer EU-Richtlinie gegangen werden .
        Es geht um das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbei-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618966
        (A) (C)
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        stand in Strafverfahren, im Verfahren zur Vollstreckung
        eines Europäischen Haftbefehls, um das Recht auf Be-
        nachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das
        Recht auf Kommunikation mit Dritten sowie mit Konsu-
        larbehörden während des Freiheitsentzugs . Im deutschen
        Recht sind die meisten Vorgaben aus der Richtlinie be-
        reits verankert . Das vorliegende Gesetz sieht nur kleinere
        weitere Änderungen vor . Diese enthalten Positives, zum
        Beispiel dass nun ein ausdrückliches Anwesenheitsrecht
        des Verteidigers bei polizeilichen Vernehmungen vorge-
        sehen ist . Und wenn jemand aufgrund eines EU-Haft-
        befehls festgenommen wird, soll er zukünftig darüber
        informiert werden, dass er auch im ersuchenden Mit-
        gliedstaat einen Anwalt nehmen kann und wie er das be-
        werkstelligen kann .
        Negativ und unverständlich hingegen ist, dass an den
        Vorschriften zur Kontaktsperre herumgedoktert wurde,
        statt sie gänzlich zu streichen . Diese Regelungen wur-
        den seit ihrer Einführung 1977 nie mehr angewendet .
        Im letzten Jahr hatte Justizminister Maas angekündigt,
        diesen alten Zopf abzuschneiden und die Kontaktsperre
        zum Verteidiger aus dem Gesetz zu streichen . Jetzt ist sie
        immer noch drin – wenn auch eingeschränkter . Minister
        Maas sagte zur Begründung der Streichung, Gesetzge-
        bung müsse auf der „Höhe der Zeit“ sein . Das bedeute
        nicht nur, die Befugnisse des Staates auszuweiten . Wenn
        staatliche Befugnisse ihre Notwendigkeit verloren hät-
        ten, dann solle der Gesetzgeber auch den Mut und die
        Kraft haben, sie wieder abzuschaffen . Recht hatte der
        Mann . Jetzt müsste der Minister zeigen, dass er Mut und
        Kraft hat, die Streichung dieser völlig überflüssigen und
        höchst bedenklichen Regelung voranzutreiben .
        Das eigentliche Problem der europäischen Zusam-
        menarbeit bei der Strafverfolgung in der EU aber re-
        geln die EU-Richtlinie und der vorliegende Gesetzent-
        wurf nicht . Das ist die Angleichung von Strafrecht und
        Strafverfahrensrecht unter Wahrung der Grundsätze der
        Grund- und Menschenrechte aus den Europäischen Ver-
        trägen und der hohen rechtsstaatlichen Standards der
        Verfassungen von Staaten wie Deutschland . Auch in der
        deutschen Strafprozessordnung gibt es sicher einiges an
        Reformbedarf . Wir arbeiten ständig daran . Gleichwohl
        ist das rechtsstaatliche Niveau höher als in einigen an-
        deren EU-Staaten . Das kann etwa bei der Vollstreckung
        eines Europäischen Haftbefehls zu rechtsstaatlich be-
        denklichen Situationen führen . Auch in Deutschland
        können Personen festgenommen werden, gegen die in
        einem anderen EU-Mitgliedstaat ein Haftbefehl vorliegt .
        Das kann zu einer wirksamen Strafverfolgung beitragen,
        weil sich eine Person, gegen die ein Haftbefehl ergan-
        gen ist, diesem nicht einfach durch Absetzen ins Ausland
        entziehen kann . Sie kann zur Strafverfolgung oder Voll-
        streckung einer Freiheitsstrafe an das andere EU-Land
        übergeben werden . Der EU-Haftbefehl vereinfacht und
        beschleunigt den Ablauf im Vergleich zum herkömmli-
        chen, oft langwierigen Auslieferungsverfahren erheblich .
        Das Verfahren, das auf dem Grundsatz der gegensei-
        tigen Anerkennung beruht, ist aber nur akzeptabel, wenn
        die rechtlichen Standards und Beschuldigtenrechte ver-
        gleichbar gut geregelt sind . Ist es nicht so, wird es pro-
        blematisch . Die Besonderheit des EU-Haftbefehls ist es
        nämlich, dass die Rechtmäßigkeit eines Haftbefehls aus
        einem anderen Mitgliedstaat nicht nochmals gesondert
        nach nationalen Bestimmungen überprüft werden darf .
        Das betrifft dann natürlich ebenso das Rechtsstaatsni-
        veau und die Beschuldigtenrechte . Auch das Erfordernis
        der beiderseitigen Strafbarkeit ist beim EU-Haftbefehl
        eingeschränkt .
        Welche Schwierigkeiten es gibt, zeigt ein aktueller
        Fall aus Rumänien . Hier wurde gegen einen deutschen
        Staatsbürger, der in Rumänien lebt und dort Verleger ei-
        ner regierungskritischen Zeitung ist, ein Verfahren we-
        gen angeblicher Korruption eingeleitet . Mittlerweile ist
        er verurteilt und sitzt in Rumänien in Haft . Sein Sohn
        übernahm die Geschäfte des Vaters . Nun werden auch
        gegen ihn plötzlich Korruptionsvorwürfe erhoben . Er
        wurde aufgrund eines Ersuchens der rumänischen Be-
        hörden in England festgenommen, kam dort in Untersu-
        chungshaft . Im November soll über seine Überstellung
        entschieden werden . Vieles deutet auf ein politisch moti-
        viertes Verfahren hin . All dies verdeutlicht die Probleme,
        die Ersuchen aus EU-Mitgliedstaaten verursachen kön-
        nen, in denen rechtsstaatlich bedenkliche Bedingungen
        herrschen, es ein völlig anderes Strafverfahrensrecht und
        auch andere Straftatbestände gibt .
        Zumindest hat der Gerichtshof der Europäischen
        Union, EuGH, im April dieses Jahres entschieden, dass
        Europäische Haftbefehle aus Ungarn und Rumänien in
        Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten nicht ohne
        Weiteres vollstreckt werden dürfen . Zuvor müssen die
        Behörden Informationen über die dortigen Haftbedin-
        gungen abfragen . Der EuGH hat allerdings gleichzeitig
        erklärt, dass die allgemeinen Haftbedingungen im ersu-
        chenden Staat allein noch kein Grund seien, die Vollstre-
        ckung eines europäischen Haftbefehls abzulehnen .
        Wirklich helfen kann also nur die Rechtsangleichung
        im Strafrecht und Strafverfahrensrecht im gesamten EU-
        Raum und eine entsprechende Rechts- und Staatspraxis,
        selbstverständlich unter Wahrung höchster rechtsstaatli-
        cher Standards . Sonst wird uns diese Diskussion immer
        wieder einholen, wie zum Beispiel bei Einführung der
        geplanten Europäischen Staatsanwaltschaft . Auch hier-
        bei wollen wir natürlich nicht hinter Standards, die unse-
        re deutsche Rechtsordnung hält, zurückbleiben .
        Mir ist klar, wie hoch kompliziert die komplette
        Rechtsangleichung ist . Aber ohne sie bleiben die kleinen
        Schritte Stückwerk, das häufig unpraktikabel ist und in
        den Einzelfällen zu unbefriedigenden und ungerechten
        Ergebnissen führen kann .
        Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
        minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir be-
        fassen uns heute in erster Lesung mit dem Entwurf des
        Zweiten Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von
        Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des
        Schöffenrechts . Dieses Vorhaben knüpft mit seinem Ti-
        tel an das Gesetz zur Stärkung der Beschuldigtenechte
        an, das wir in der vergangenen Legislaturperiode bera-
        ten und beschlossen haben, um das deutsche Recht an
        die Vorgaben der Europäischen Union zur Stärkung der
        Rechte des Beschuldigten im Bereich der Dolmetschung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18967
        (A) (C)
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        und bei der Unterrichtung über seine Rechte und über
        den Tatvorwurf anzupassen . Wie auch jetzt bestand be-
        reits damals nur ein geringfügiger Umsetzungsbedarf,
        weil das deutsche Strafverfahrensrecht die Beschuldig-
        tenrechte umfassend in den Blick nimmt und bereits
        heute in hohem Maße schützt . Deutschland hat sich vor
        diesem Hintergrund immer besonders engagiert für einen
        hohen europäischen Standard der Beschuldigtenrechte
        im Strafverfahren eingesetzt und die europäische Road
        Map für die Beschuldigtenrechte massiv vorangetrieben .
        Aktuelle internationale Entwicklungen zeigen uns, dass
        wir auch über die EU hinaus für hohe Mindeststandards
        im Strafverfahren eintreten müssen . Das gilt insbesonde-
        re auch für den Bereich, der mit dem jetzt zu beratenden
        Vorhaben umgesetzt werden soll: das Recht auf Zugang
        zu einem Rechtsanwalt .
        Wer sich mit dem Vorwurf einer Straftat konfrontiert
        sieht, muss das Recht haben, sich frühzeitig und wäh-
        rend des gesamten Verfahrens von einem unabhängigen
        Rechtsanwalt als Verteidiger beraten und unterstützen zu
        lassen . Dieses Recht auf anwaltlichen Beistand gehört
        zu den fundamentalen Grundrechten des Beschuldigten
        im Strafverfahren . Es muss gerade auch bei schweren
        und schwersten Tatvorwürfen grundsätzlich ohne Ein-
        schränkungen gewährt werden . Ausnahmen müssen auf
        extreme Sondersituationen zur Abwehr gegenwärtiger
        Gefahren für Leib oder Leben Dritter beschränkt bleiben .
        Die Vorschriften über die sogenannte Kontaktsperre sol-
        len daher künftig uneingeschränkt nur noch gegenüber
        Mitgefangenen und Dritten zur Anwendung kommen,
        gegenüber einem Verteidiger nur noch in den ganz engen
        Grenzen, die sich aus der EU-Richtlinie ergeben .
        Daneben sieht der Gesetzentwurf nur geringfügige,
        überwiegend klarstellende Regelungen vor, um die deut-
        sche Rechtslage den europäischen Vorgaben anzupassen .
        Ich nenne hierzu nur beispielhaft die Anwesenheitsrechte
        des Verteidigers bei Vernehmungen und Gegenüberstel-
        lungen, die, um sie effektiv auszugestalten, einhergehen
        müssen mit einem aktiven Frage- und Äußerungsrecht
        des Verteidigers .
        Wir haben das vorliegende Gesetzgebungsvorha-
        ben um einen weiteren Punkt ergänzt, der ebenfalls das
        Strafverfahren betrifft . Schöffen sollen in Zukunft auch
        länger als zwei Amtsperioden ohne Unterbrechung tätig
        sein dürfen . Vor allem aktive Seniorinnen und Senioren
        können das Schöffenamt somit durchgehend bis zum Er-
        reichen der Altersgrenze ausüben .
        Die Bundesregierung legt damit einen Gesetzentwurf
        vor, der zum einen die Beschuldigtenrechte den europa-
        rechtlichen Vorgaben entsprechend stärkt und zum ande-
        ren dafür Sorge trägt, dass vorhandenes Engagement für
        das Schöffenamt auch zum Einsatz kommen kann .
        Anlage 19
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Än-
        derung des Bundesfernstraßenmautgesetzes (Ta-
        gesordnungspunkt 25)
        Karl Holmeier (CDU/CSU): Mit der stetigen Erwei-
        terung und Vertiefung der Lkw-Maut bekennt sich die
        Große Koalition zum Wechsel von der Steuer-hin zur
        Nutzerfinanzierung. In diesem Tenor ist auch der Ent-
        wurf des Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
        fernstraßenmautgesetzes zu sehen, über das wir heute in
        erster Lesung beraten .
        Der Erhalt und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
        ist eine Daueraufgabe . Eine gute Infrastruktur ist von
        entscheidender Bedeutung für eine gute Wirtschaftsent-
        wicklung . Die deutsche Verkehrspolitik steht tatsächlich
        vor gewaltigen Herausforderungen, vor allem bei der
        Straßeninfrastruktur . Hier bedarf es enormer Anstren-
        gungen .
        Einen großen Beitrag zur Bewältigung dieser Heraus-
        forderungen haben wir heute Morgen mit der Einbrin-
        gung des Bundesverkehrswegeplans 2030 erbracht .
        Dies hat die Union mit ihrem CSU-Verkehrsminister
        Alexander Dobrindt erkannt . Wir haben es angepackt!
        Wir haben besondere Anstrengungen unternommen, um
        zusätzliche Ausgaben für eine moderne, sichere und leis-
        tungsstarke Verkehrsinfrastruktur auf den Weg zu brin-
        gen . Daran halten wir auch in Zukunft fest .
        Wir werden Straßen, Schienen- und Wasserwege er-
        halten und weiter ausbauen . Diesem Ziel dient auch die
        mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beabsichtigte Aus-
        weitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen .
        Der Bund erhebt die Lkw-Maut bislang auf rund
        12 800 Kilometern Bundesautobahnen sowie auf rund
        2 300 Kilometern autobahnähnlicher Bundesstraßen .
        Obgleich Lkw sämtliche Bundesstraßen befahren und die
        Verkehrsinfrastruktur damit belasten, ist der Großteil der
        etwa 40 000 Kilometer Bundesstraßen noch nicht maut-
        pflichtig. Mit der zusätzlichen Erhebung der Lkw-Maut
        auf allen Bundesstraßen sollen zusätzliche Einnahmen
        generiert werden, die in die Infrastruktur reinvestiert
        werden . Die Höhe der Einnahmen hängt natürlich von
        den jeweiligen Fahrleistungen ab, die Lkw auf den Bun-
        desstraßen erbringen . Die bisherigen Schätzungen belau-
        fen sich auf bis zu 2 Milliarden Euro, die der Bund mit
        der neuen Stufe der Lkw-Maut ab 2018 mehr einnehmen
        wird, ein Milliardenbetrag, der nach Abzug der Betrei-
        berkosten voll dem Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfra-
        struktur zugutekommen wird .
        Unser Verkehrsminister Alexander Dobrindt steht für
        Investitionsrekorde und den größten Infrastrukturhaus-
        halt, der jemals in den Deutschen Bundestag eingebracht
        wurde: Fast 14 Milliarden Euro für die Infrastruktur im
        Jahr 2017 . Das ist noch einmal ein Zuwachs von knapp
        10 Prozent im Vergleich zum Jahr 2016 . Für 2018 ist in
        Relation zu den Ausgaben im Jahr 2014 gar ein Rekord-
        mittelaufwuchs von 40 Prozent vorgesehen . Die Investi-
        tionen in die Infrastruktur sind von 10,4 auf 14,4 Milliar-
        den Euro gestiegen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618968
        (A) (C)
        (B) (D)
        Wir haben einen klaren Schwerpunkt: Es geht uns um
        Zukunftsinvestitionen in die Infrastruktur . Denn Mobili-
        tät schafft Arbeit und Wohlstand .
        Mit der Lkw-Maut generieren wir nicht nur zusätz-
        liche Einnahmen . Die durchdachte Ausgestaltung hat
        darüber hinaus in der Transportbranche Anreize für In-
        vestitionen in eine ökologische Flotte gesetzt . Die Maut
        hat sich also auch als ein wirksames Instrument zur be-
        schleunigten Modernisierung der von Mautgebühren be-
        troffenen Fahrzeugflotte erwiesen. Die Modernisierung
        wirkt sich positiv auf die Menschen aus, die unmittel-
        bar an den Straßen wohnen – vor allem natürlich in Bal-
        lungsgebieten .
        Wir betreiben eine ökologische Verkehrspolitik .
        Ich freue mich auf die nun anstehenden parlamentari-
        schen Beratungen im Verkehrsausschuss . Dabei sollten
        unsere Forderungen aus dem Entschließungsantrag vom
        25 . März 2015 zum Entwurf des Dritten Gesetzes zur
        Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes Eingang
        in die Beratungen finden. Mir geht es vor allem darum,
        dass Handwerksbetriebe nicht benachteiligt werden . Dar-
        über hatten wir schon bei der Erweiterung der Lkw-Maut
        auf Fahrzeuge mit 7,5 Tonnen lange diskutiert . Ziel wäre,
        eine eigene Fahrzeuggruppe zwischen 7,5 und 12 Tonnen
        einzuführen .
        Entscheidend wird auch sein, dass die Mautsätze auf
        Bundesautobahnen und Bundesstraßen die gleiche Höhe
        aufweisen . Hier muss unbedingt ein Weg gefunden wer-
        den, den ländlichen Raum ohne Autobahnanbindung
        nicht durch höhere Mautsätze auf Bundesstraßen zu be-
        nachteiligen .
        Das alles wird zu spannenden Beratungen führen .
        Packen wir es an!
        Thomas Viesehon (CDU/CSU): Das Vierte Gesetz
        zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes, das
        wir heute in erster Lesung im Bundestag beraten, ist ein
        weiterer Baustein einer vorzugsweise durch den Nutzer
        finanzierten Verkehrsinfrastruktur; denn damit wird zu-
        künftig auch auf allen Bundesstraßen die Lkw-Maut er-
        hoben .
        Ich danke Bundesverkehrsminister Alexander
        Dobrindt für die konsequente und gradlinige Fortschrei-
        bung dieser eingeschlagenen Richtung und die Umset-
        zung unserer Vereinbarung zur Ausweitung der Maut-
        pflicht aus unserem Koalitionsvertrag.
        Die Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen
        generiert jährliche Mehreinnahmen von knapp 2 Milliar-
        den Euro . Zuzüglich der jetzigen Nettomauteinnahmen
        von 3,4 Milliarden Euro stehen damit mehr als 5 Milli-
        arden Euro jährlich zweckgebunden im Verkehrshaushalt
        für die Straßeninfrastruktur des Bundes zur Verfügung .
        Unsere derzeitigen Gesamtausgaben für den Erhalt
        und den Neubau von Bundesautobahnen und Bundes-
        fernstraßen belaufen sich – nach Einläuten des Investi-
        tionshochlaufs durch diese Bundesregierung – auf circa
        9 Milliarden Euro im Jahr .
        Damit beteiligt sich die Güterkraftverkehrsbranche in
        direkter Form zu mehr als der Hälfte an den Gesamtkos-
        ten für die in Anspruch genommene Infrastruktur . Dar-
        über hinaus trägt sie die nicht unerheblichen Kosten für
        etwaige Umstellungen der Geräte und Mehrverwaltung .
        Dafür und für die Bereitschaft in den vergangenen
        Jahren, die im Koalitionsvertrag beschlossene Auswei-
        tung der Maut ohne großen Widerstand mitzutragen,
        möchte ich den vielen Unternehmerinnen und Unterneh-
        mern der Güterkraftverkehrsbranche an dieser Stelle ein-
        mal ausdrücklich danken; denn sie stehlen sich nicht aus
        ihrer Verantwortung . Sie sind, wie wir alle wissen, das
        Rückgrat der erfolgreichen deutschen Wirtschaft .
        Mit der Mautausweitung erreichen wir aber nicht nur
        eine breitere Basis für die Finanzierung unserer Straßen-
        verkehrswege; es gelingt uns so auch besser, diejenigen,
        die für den Verschleiß der Infrastruktur hauptsächlich
        verantwortlich sind, stärker zu belasten .
        Damit schaffen wir die gerechtere Kostenteilung zwi-
        schen den privaten Nutzern, die mit dem Pkw die Straße
        wenig abnutzen, und den Transportunternehmen mit ih-
        ren schweren Nutzfahrzeugen .
        Darüber hinaus will das Bundesverkehrsministerium
        bis Ende nächsten Jahres die Ausweitung der Maut auf
        kleinere Lkws mit einem zulässigen Gesamtgewicht von
        3,5 bis 7,5 Tonnen und auf Fernbusse prüfen . Gleiches
        gilt für die Einbeziehung von Lärmkosten .
        Neben dem finanziellen Aspekt hat die Ausweitung der
        Maut aber auch positive Auswirkung in Sachen Nachhal-
        tigkeit: Die steigenden Kosten und die Einstufung nach
        Emissionsklassen bilden für die Unternehmen den An-
        reiz, möglichst emissionsarme Fahrzeuge einzusetzen .
        Wir alle wünschen uns zudem eine weitere Verlagerung
        der Gütertransporte von der Straße auf die Schiene und
        die Wasserstraße . Hier trägt die Mautausweitung im di-
        rekten Wettbewerb zu einer Stärkung dieser alternativen
        Verkehrsträger bei .
        Ich habe als Berichterstatter für meine Fraktion in den
        letzten Jahren in diesem Zusammenhang viele Gesprä-
        che zum kombinierten Verkehr geführt . Einige Produ-
        zenten in Deutschland haben gute Erfahrungen mit dem
        verknüpften Weg über Straße und Schiene gemacht . Für
        etliche Schwertransporte ist der Weg über die deutschen
        Binnenwasserstraßen nach wie vor der effizienteste
        Transportweg .
        Viele wollen ihren Beitrag zur weiteren Einsparung
        von CO2 leisten, aber sie können ihre Lieferketten nur
        dann weg von der Straße verlagern, wenn dieser Weg
        wirtschaftlich ist . Da spielen die Transportkosten, aber
        auch der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle .
        Dennoch werden wir in Zukunft nicht auf den Liefer-
        weg über die Straße verzichten können . Wir müssen den
        Verkehr und seine Infrastruktur hierzulande sichern . Das
        ist unerlässliche Voraussetzung für eine zuverlässig funk-
        tionierende Wirtschaft in Deutschland .
        Mit der weiteren Ausweitung der Maut und den damit
        erreichten zweckgebundenen Mehreinnahmen sichern
        wir nicht nur den derzeitigen Investitionshochlauf für die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18969
        (A) (C)
        (B) (D)
        Straße, sondern sorgen in Kombination mit den weite-
        ren Steuereinnahmen auch dafür, dass die enormen Ge-
        samtinvestitionen des Bundesverkehrswegeplanes 2030
        in Straße, Schiene und Wasserstraße sicher finanzierbar
        sind. Hiervon profitiert letztlich auch die Schieneninf-
        rastruktur, die Voraussetzung für einen weiteren Ausbau
        unseres Schienengüterverkehrsnetzes ist .
        Mit dem jetzt zur Beratung vorliegenden Gesetz wer-
        den wir unsere erfolgreiche Verkehrspolitik weiter fort-
        setzen und Versäumnisse der Vergangenheit beseitigen;
        denn das Gesetz ist gerecht, es stärkt die Nachhaltigkeit
        und schafft über die Zweckbindung die Finanzierungssi-
        cherheit für unsere Verkehrsinfrastruktur!
        Sebastian Hartmann (SPD): Im Mittelpunkt des
        Vierten Änderungsgesetzes steht die Ausweitung der
        Mauterhebung für Lkw oberhalb 7,5 Tonnen auf alle
        Bundesstraßen – ein Netz von 40 000 Kilometern, auf
        dem ab Mitte 2018 Beiträge zur Nutzerfinanzierung für
        die Infrastrukturkosten geleistet werden . Wir freuen uns,
        dass mit dieser Ausdehnung vom bisher auf Bundesau-
        tobahnen und einige zweispurige Bundesstraßen be-
        grenzten Aufkommen dann erhebliche Mehreinnahmen
        verbunden sein werden, die der Verkehrsinfrastruktur zu-
        gutekommen . Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich von
        Anfang an dafür stark gemacht, diese Ausweitung noch
        in dieser Legislaturperiode zu beschließen .
        Was zur Umsetzung des geänderten Bundesfernstra-
        ßenmautgesetzes benötigt wird, ist das nächste Wege-
        kostengutachten, das die Berechnung und Festlegung der
        Mautsätze für den Zeitraum nach 2017 vornehmen muss .
        Bereits im aktuellen Wegekostengutachten 2013 bis 2017
        waren Veränderungen in der Berechnungsgrundlage nötig
        geworden, um zum Beispiel Umweltkosten veranschla-
        gen zu können, aber auch das veränderte Zinsniveau an-
        zulegen . Für die nächste Stufe wird es darauf ankommen,
        angemessene Mautsätze zu finden, die im Spannungsge-
        flecht aus Vorgaben der EU-Wegekostenrichtlinie, Voll-
        kosten der Bundesstraßen und Belastungsgrenzen ihrer
        Nutzer ermittelt werden müssen . Zu vermeiden ist, dass
        durch Umrechnung der Vollkosten auf die Fahrleistung
        als Grundlage der Mautsätze auf Bundesstraßen am Ende
        die maximal zulässigen Mautteilsätze viel höher liegen
        als auf Bundesautobahnen . Einheitliche Mautteilsätze
        sind deshalb eine Forderung der Wirtschaft .
        Neu ist im Bundesfernstraßenmautgesetz ab die-
        ser vierten Änderung vor allem, dass ein Teil der Bau-
        last an den Bundesstraßen nicht mehr beim Bund liegt:
        Auf 8 Prozent des gesamten Netzes beziffert der Ge-
        setzentwurf die Streckenabschnitte von Bundesstraßen,
        die als Ortsdurchfahrten in Kommunen von mehr als
        80 000 Einwohnern verlaufen . Hier wird eine Auskeh-
        rung der Mauteinnahmen über die Bundesländer statt-
        finden, in deren finanzverfassungsrechtlicher Zuständig-
        keit sich die Gemeinden befinden. Ihre Verwendung soll
        zweckgebunden sein .
        Bei aller Freude über die erfolgreiche Weichenstel-
        lung darf nicht in Vergessenheit geraten, dass der tech-
        nische und geschäftliche Betrieb der Mauterhebung un-
        bedingt über das Vertragsende der Toll Collect hinaus
        sichergestellt werden muss . Der Betreibervertrag der
        mit den technischen Umsetzungen zur Ausweitung der
        Mauterhebung betrauten Toll Collect GmbH endet im
        August 2018 – auf keinen Fall darf es danach zu einer
        Unterbrechung des Betriebs kommen, mit der die Ein-
        nahmen aus der Nutzerfinanzierung gefährdet würden.
        Herbert Behrens (DIE LINKE): Eigentlich ist heute
        ein Tag zur Freude; denn mit der Ausweitung der Lkw-
        Maut auf alle Bundesstraßen wird eine Forderung erfüllt,
        die von allen im Parlament vertretenen Parteien seit Jah-
        ren erhoben wird .
        Mit der Mautausweitung wird vor allem ein Wettbe-
        werbsnachteil der Bahn beim Güterverkehr deutlich ver-
        ringert, die bekanntlich für jeden gefahrenen Kilometer
        bezahlen muss . Diese Ungleichbehandlung ist einer der
        Gründe dafür, dass in den letzten Jahren immer mehr
        Güter auf der Straße transportiert werden und der Gü-
        terverkehr auf der Schiene stagniert . Ich bin mir sicher,
        dass wir hier im Parlament diesen Trend umkehren kön-
        nen, und die Mautausweitung ist ein erster Schritt in die-
        se Richtung . Dass dieser Weg beschritten werden muss,
        sollte jedem klar sein; denn die negativen Folgen des
        massiv wachsenden Straßengüterverkehrs für Mensch
        und Umwelt wird niemand ernsthaft bestreiten .
        Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und die-
        se Details trüben meine Freude ungemein . Es gibt eine
        lange Liste von Einwänden gegen dieses Gesetz und die
        Mautpolitik der Bundesregierung, von denen ich nur drei
        ansprechen möchte .
        Erstens: Wieder einmal konnte sich die Bundesregie-
        rung nicht dazu durchringen, auch die Fernbusse in die
        Mautpflicht zu nehmen. Mit der Mautbefreiung für Fern-
        busse widerspricht die Bundesregierung ihrem eigenen
        Credo, das Verursacherprinzip zu stärken und zunehmend
        auf eine Nutzerfinanzierung zu setzen. In ihrer Gegenäu-
        ßerung zur Stellungnahme des Bundesrates verweist die
        Bundesregierung darüber hinaus eindringlich auf den
        Gleichheitsgrundsatz, wenn sie dessen Forderung nach
        der Ausnahme landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge von
        der Mautpflicht kategorisch ausschließt. Offensichtlich
        sind Fernbusse aber gleicher als Fahrzeuge der Landwirt-
        schaft, oder anders ausgedrückt: Die Regierung hat selbst
        keine Argumente mehr, eine Fernbusmaut abzulehnen .
        Herr Dobrindt! Aus ihrem Hause hätte ich jetzt we-
        nigstens mit einer Maut für ausländische Busunterneh-
        men gerechnet – zum Glück musste ich einen solchen
        Unsinn wie bei der Pkw-Maut in ihrem Gesetzentwurf je-
        doch nicht finden. Die Linke wird jedoch darauf dringen,
        dass eine Maut für Fernbusse in diesem Gesetz zu finden
        sein wird . Eine Fernbusmaut ist nämlich „fair, sinnvoll,
        gerecht“ und vor allem längst überfällig!
        Zweitens entpuppt sich der Gesetzentwurf als riesige
        Datenkrake . Jetzt müssen Daten 120 Tage lang gespei-
        chert werden, die früher nicht einmal übermittelt wur-
        den – nämlich die Positionsdaten aller Lkw, und zwar un-
        abhängig davon, ob sie auf einer mautpflichtigen Straße
        unterwegs sind oder nicht . Dies kommt der Totalüberwa-
        chung aller Speditionen gleich; denn es geht hier schlicht
        um Bewegungsprofile! Der Hinweis, dass die Daten nach
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618970
        (A) (C)
        (B) (D)
        einem Tag anonymisiert werden sollen, beruhigt mich da
        wenig . Vor allem bleibt völlig unklar, wo diese Datensät-
        ze überall abgelegt werden und wer diese Daten nutzen
        darf . Sollte es der Fall sein, dass sie vom Mautbetreiber
        Toll Collect – bei dem die Daten ja auflaufen – kommer-
        ziell genutzt werden dürfen, wäre das ein Geschenk im
        Wert von mehreren hundert Millionen Euro . Mit so ei-
        nem Datensatz können nämlich kostenpflichtige Zusatz-
        dienste angeboten werden, und Toll Collect hätte dann
        neben dem reinen Mauteinzug ein weiteres Monopol,
        was ich nicht akzeptieren kann . Also, beim Thema Da-
        tenerfassung und Datennutzung muss dringend nachge-
        bessert werden .
        Beim Stichwort Toll Collect komme ich zum grund-
        legenden Kritikpunkt an der Mautpolitik des Verkehrs-
        ministeriums . Die ganze Mautausweitung steht nämlich
        vergaberechtlich auf mehr als wackligen Füßen . Die
        Direktvergabe der technischen Aufrüstung des Mautsys-
        tems an Toll Collect dürfte dem Europarecht widerspre-
        chen; denn so ein großer Auftrag muss eigentlich ausge-
        schrieben werden . Zieht ein Konkurrent von Toll Collect
        doch noch vor Gericht, kann das ganze Unterfangen der
        Mautausweitung noch scheitern . Es kann nicht angehen,
        dass der Verkehrsminister ständig eine Politik der Hin-
        terzimmerdeals betreibt; denn das hat mit nachhaltiger
        Verkehrspolitik nichts zu tun . Diesen Stil kann man lei-
        der mit einem einfachen Änderungsantrag nicht ändern .
        Neuen Wind im BMVI kann wohl nur die Bundestags-
        wahl bringen .
        Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dass die
        Linke neben einem Ausrufungszeichen sehr viele Fra-
        gezeichen bei der Mautausweitung sieht . Ich hoffe aber
        sehr, wenn ich zum Beispiel an die Äußerungen von
        Martin Burkert zur Fernbusmaut denke, dass wir gemein-
        sam im parlamentarischen Verfahren wenigstens den Ge-
        setzentwurf zu einer runden Sache machen können .
        Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Bundesregierung möchte mit dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf die Maut für Lastkraftwagen (Lkw-Maut)
        auf alle Bundesstraßen ausweiten . Aktuell gilt diese fast
        ausschließlich auf Autobahnen und vierspurigen Bundes-
        straßen . Die Ausweitung soll in Kürze rund 2 Milliarden
        Euro zusätzlich in den Bundeshaushalt spülen .
        Wir meinen: Zusätzliche Einnahmen im Verkehrsbe-
        reich sind dringend notwendig, da wir einen riesigen Sa-
        nierungsstau aus den letzten Jahren vor uns herschieben .
        Daher haben wir auch schon immer eine Ausweitung der
        Lkw-Maut gefordert, damit der Bund genügend Geld zur
        Verfügung hat, um die kaputten Straßen zu reparieren .
        Deutschland liegt beim Zustand seiner Verkehrsinfra-
        struktur weit zurück, und entsprechend groß ist der Nach-
        holbedarf . Wir haben in den nächsten Jahren die Mam-
        mutaufgabe nachholende Sanierung zu stemmen – und
        zusätzlich den laufenden Erhaltungsbedarf . Dafür sind
        die zusätzlichen Mittel durch die Ausweitung der Lkw-
        Maut auf alle Bundesstraßen ein Beitrag .
        Der Verkehrsminister muss aber aufpassen, dass die
        Mehreinnahmen nicht in die falschen Kanäle laufen .
        Diese Gefahr besteht . Denn Herr Dobrindt hat bayeri-
        sche CSU-Kollegen, die bei ihm auf der Matte stehen,
        um ihre Ortsumgehung im Wahlkreis zu bekommen . Wir
        stellen gerade einen Bundesverkehrswegeplan auf, und
        es werden aktuell die Ausbaugesetze zur Umsetzung des
        BVWP beraten . Wenn Sie, wie am Mittwoch geschehen,
        in den laufenden Prozess eingreifen und verfrüht das
        Füllhorn öffnen, dann ist das Investition nach Gutsher-
        renart und nichts anderes . Wir brauchen Investitionen,
        die dem Gesamtnetz dienen – und nicht einzelnen Abge-
        ordneten vermeintlich die Wiederwahl sichern .
        Ein weiteres wichtiges Thema: Was Sie bei diesem
        Gesetz verpasst haben, ist die Berücksichtigung von
        innerörtlichen Ausweichverkehren . Hier brauchen Sie
        dringend eine echte Lösung, Herr Dobrindt . Ich habe
        Sie dazu bereits im Rahmen der Regierungsbefragung
        am 11 . Mai 2016 angesprochen . Aber richtig verstanden
        haben Sie die Problematik anscheinend noch nicht: Sie
        beabsichtigen nämlich, auch sämtliche Ortsdurchfahr-
        ten zu bemauten . Die Bundesstraßen werden dort dann
        bemautet, aber auf Landes- oder Gemeindestraßen wird
        keine Maut erhoben . Dies wird unweigerlich wieder zu
        innerörtlichen Ausweichverkehren führen . Ein Konzept,
        wie Sie dem begegnen wollen, fehlt komplett .
        Diese Problematik wird unweigerlich entstehen . Am
        einfachsten und sinnvollsten wäre es natürlich, die Lkw-
        Maut auf den Bundesstraßen nur außerörtlich zu erheben .
        Dann sparen sie sich auch die Verrenkungen, um das
        beim Bund eingenommene Geld für die Nutzung der
        innerörtlichen Bundesstraßen verlustfrei zu den großen
        Kommunen zu bekommen . Denn ab 80 000 Einwohner
        haben ja die Städte die Zuständigkeit für die Baulast der
        Bundesstraßen . Direkt zahlen können wir aber nicht an
        die Städte, sondern nur an die Länder . Da bin ich ja mal
        gespannt, ob die dort erhobenen Mauteinnahmen dann
        auch wirklich ohne Bearbeitungsgebühr der Länder an
        die Städte gelangen .
        Die Bundesländer und Kommunen sind daran interes-
        siert, ihre Städte möglichst brummifrei zu halten oder die
        Brummis zumindest auf den Hauptstraßen zu halten . Für
        sinnvoll durchdachte Lösungen werden Sie da sicherlich
        Partner finden. Bessern Sie also den Gesetzentwurf ent-
        sprechend nach – für eine ganzheitliche Verkehrspolitik
        in Deutschland und für weniger Belastungen durch Lärm
        und Emissionen in den Städten und Gemeinden! Machen
        Sie endlich Verkehrspolitik aus einem Guss und nicht so
        ein ideologisches Flickwerk!
        Anlage 20
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung
        der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarkts-
        tabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSA-
        NeuOG) (Tagesordnungspunkt 26)
        Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Mit dem Aus-
        bruch der Finanzkrise im Jahre 2008 schaute die Welt in
        den Abgrund; denn die Finanzmärkte als Schlüsselmärk-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18971
        (A) (C)
        (B) (D)
        te unseres Wirtschaftssystems waren praktisch funkti-
        onsunfähig . Misstrauen hatte die Banken und andere
        Finanzakteure ergriffen, Finanzinstitutionen waren nicht
        länger bereit, einander Geld zu leihen . Dominoeffekte
        konnten das Finanzsystem zum Einsturz bringen, mit
        ungeahnten Folgen für die Wirtschaft, für Unternehmen
        und Arbeitsplätze, für die Finanzierung der Infrastruktur
        bis zu den Spareinlagen für die Altersvorsorge . Der Staat
        war zu diesem Zeitpunkt die einzige Institution, die noch
        in der Lage war, Vertrauen wiederherzustellen . Nach den
        Beschlüssen der G 7 und der Mitglieder der Euro-Zone
        wurden weltweit Maßnahmen zur Stabilisierung und
        zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des Finanzsystems er-
        griffen . Der Bundestag beschloss, bis zu 400 Milliarden
        Euro Garantien und bis zu 80 Milliarden Euro Kapitalhil-
        fen unter strengen Bedingungen für die Finanzinstitutio-
        nen bereitzustellen . Nach acht Jahren können wir festhal-
        ten: Die 168 Milliarden Euro in Anspruch genommene
        Garantien wurden inzwischen vollständig zurückgeführt .
        Keine dieser Garantien ist ausgefallen . Von den Kapital-
        hilfen in Höhe von maximal 29,4 Milliarden Euro wur-
        den 14,8 Milliarden Euro zurückgeführt, 14,6 Milliarden
        Euro stehen noch aus .
        Bis heute liegt die Kontrolle und Abwicklung aller
        Maßnahmen in der Hand der Bundesanstalt für Finanz-
        marktstabilisierung, FMSA . Daneben konnte die FMSA
        als zusätzliches Stabilisierungsinstrument sogenannte
        Abwicklungsanstalten, Bad Banks, gründen . Risikopo-
        sitionen und nichtstrategisch notwendige Geschäftsbe-
        reiche von Banken konnten so abgespalten werden, um
        anschließend die Portfolien möglichst wertschonend ab-
        zubauen . Über 70 Prozent des Volumens der Ersten Ab-
        wicklungsanstalt, EAA, entstanden aus der WestLB, und
        circa 50 Prozent der FMS-Wertmanagement, entstanden
        aus der Hypo Real Estate, HRE, konnten inzwischen ab-
        gebaut werden .
        Eine weitere Aufgabe übernahm die FMSA mit der Er-
        hebung einer nationalen Bankenabgabe, die dazu beitra-
        gen sollte, das zukünftig nicht der Steuerzahler, sondern
        die Banken selbst eine finanzielle Basis schaffen, aus de-
        nen die Kosten einer möglichen Abwicklung von Banken
        finanziert werden können. Deutschland war hier Vorreiter
        in Europa . Denn mit dem deutschen Restrukturierungs-
        gesetz inklusive der Bankenabgabe wurde die Blaupause
        für den europäischen einheitlichen Abwicklungsmecha-
        nismus zum 1 . Januar 2016 vorgelegt . Mit der Umset-
        zung der Bankenunion, wonach erstens die Europäische
        Zentralbank, EZB, die Aufsicht über die 120 größten und
        international vernetzten Banken übernahm, wurde zwei-
        tens auch ein neuer Abwicklungsmechanismus für gro-
        ße Banken geschaffen . Auch die 21 größten deutschen
        Banken fallen nun in den Zuständigkeitsbereich der eu-
        ropäischen Abwicklungsbehörde . Im Falle der Sanierung
        oder Abwicklung einer Bank werden zukünftig zuerst die
        Eigentümer und Gläubiger von Banken herangezogen,
        bevor ein von den Banken selbst zu finanzierender Fonds
        im Falle der Abwicklung einer Bank zur Finanzierung in
        Anspruch genommen werden kann . Damit soll die Ver-
        antwortung und Haftung bei den Banken verbleiben und
        verhindert werden, dass der Steuerzahler für die Fehler
        von Banken zahlen muss .
        Mit der Errichtung der Bankenunion verbleibt für die
        FMSA damit nur noch der Verantwortungsbereich für die
        eher kleinen deutschen Banken, und sie wird damit zur
        nationalen Abwicklungsbehörde . Deshalb soll mit dem
        vorliegenden Gesetz die Bundesanstalt für Finanzmarkt-
        stabilisierung weiterentwickelt und umstrukturiert wer-
        den . Die bisherigen Aufgaben der FMSA werden auf die
        Finanzagentur des Bundes und auf die Bundesanstalt für
        Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, übertragen . Da seit
        dem 31 . Dezember 2015 die Antragsfrist für den neue
        Maßnahmen für Finanzmarktstabilisierungfonds ausge-
        laufen sind, steht dieser nicht mehr für neue Maßnahmen
        zur Verfügung . Die Überwachung und Abwicklung be-
        stehender Maßnahmen konzentrieren sich heute auf die
        Minderheitsbeteiligungen an der Commerzbank und der
        pbb, Deutsche Pfandbriefbank, der stillen Einlage bei der
        Portigon AG, Nachfolge WestLB, und zum anderen auf
        die Aufsicht über die eigenen Abwicklungsanstalten EAA
        und FMS-Wertmanagement . Mit dem Abbau der Portfo-
        lien und der Reduzierung der bisherigen Maßnahmen soll
        aus Effizienzgesichtspunkten und auch im Interesse der
        Personalstabilität die FMSA in die Finanzagentur des
        Bundes übertragen werden . Die Finanzagentur hat bisher
        auch die Refinanzierung des Finanzmarktstabilisierungs-
        fonds übernommen und war stets beratendes Mitglied im
        interministeriellen Lenkungsausschuss der FMSA .
        Die FMSA als nationale Abwicklungsbehörde mit der
        Zuständigkeit für die Abwicklung der eher kleinen Ban-
        ken soll zum 1 . Januar 2018 auf die Bundesanstalt für
        Finanzdienstleistungsaufsicht übertragen werden . Die
        umfangreiche Expertise und Kapazitäten, die inzwischen
        bei der FMSA aufgebaut wurden, haben eine schlagkräf-
        tige Abwicklungseinheit geschaffen . Diese wird zukünf-
        tig, unabhängig von der Aufsichtsfunktion der BaFin, als
        eigenständige Organisationseinheit mit eigener Exekuti-
        vdirektion ausgestattet werden .
        In weiteren Beratungen ist darauf zu achten, dass auch
        in Zukunft die parlamentarische Kontrolle und Überwa-
        chung wie bei dem bisherigen parlamentarischen Finanz-
        marktgremium gewährleistet ist .
        Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Die Finanzmarkt-
        krise und insbesondere die folgende Insolvenz von
        Lehman Brothers in den USA und Deutschland im Sep-
        tember 2008 haben – wie wir alle wissen – staatliche
        Rettungseingriffe notwendig gemacht . In kürzester Zeit
        wurde der Finanzmarktstabilisierungsfonds (SoFFin/
        FMS) eingerichtet . Zur Verwaltung dieses Fonds sowie
        zur Umsetzung und Überwachung der Stabilisierungs-
        maßnahmen des Fonds, der in der Spitze mit einem Etat
        von 480 Milliarden Euro ausgestattet war, wurde die
        Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA)
        eingerichtet . Mit diesem Fonds konnten Banken, die in
        Schieflage geraten waren, wie zum Beispiel die Hypo
        Real Estate, die WestLB oder die Commerzbank, stabili-
        siert werden . Insgesamt wurden 168 Milliarden Euro an
        Liquiditätsgarantien und 29,4 Milliarden Euro an Kapi-
        talhilfen eingesetzt .
        Diese Liquiditätsgarantien wurden inzwischen voll-
        ständig zurückgeführt, ohne dass dabei eine dieser
        Garantien ausgefallen ist . Im Gegenteil: Für die Inan-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618972
        (A) (C)
        (B) (D)
        spruchnahme der Garantie haben die Institute gezahlt .
        Des Weiteren wurden die Kapitalhilfen zu einem großen
        Teil auch wieder zurückgeführt . Hier stehen zurzeit noch
        circa 14,6 Milliarden Euro aus . Als weiteres Stabilisie-
        rungsinstrument trat im Jahr 2009 die bundesrechtliche
        Abwicklungsanstalt hinzu . Die Bundesanstalt für Fi-
        nanzmarkstabilisierung konnte nun Abwicklungsanstal-
        ten gründen, die Risikopositionen und nicht strategienot-
        wendige Geschäftsbereiche von Banken übernahmen .
        Zweck dieser Abwicklungsanstalten ist es, die übernom-
        menen Risikopositionen wertschonend abzubauen . Die
        FSMA machte von dieser Möglichkeit auch zweimal Ge-
        brauch . 2009 gründete sich die Erste Abwicklungsanstalt
        (EAA), die in mehreren Schritten in großem Umfang
        Risikopositionen der WestLB übernahm . 2010 wurde da-
        rüber hinaus die FMS-Wertmanagement gegründet, die
        Risikopositionen der HRE-Gruppe übernahmen .
        Im Laufe der Zeit hat sich der gesetzliche Rahmen der
        Finanzmarktstabilisierung in Deutschland verändert und
        weiterentwickelt . So ist es gut und richtig, dass die Ban-
        kenabwicklungen nicht mehr vom Steuerzahler, sondern
        von den Eigentümern und Gläubigern der betroffenen
        Banken sowie von den aus Beiträgen der Banken finan-
        zierten Abwicklungsfonds getragen werden . Ferner ist
        die Entwicklung von der staatlichen Stützung von Ban-
        ken hin zur Finanzierung der Abwicklung von Banken
        durch Eigentümer, Gläubiger und Banken mit Auslau-
        fen der Antragsfrist für neue Maßnahmen des FMS zum
        31 . Dezember 2015 einerseits und die Errichtung des
        europäischen einheitlichen Abwicklungsmechanismus
        (Single Resolution Mechanism, SRM) zum 1 . Januar
        2016 andererseits weitgehend abgeschlossen .
        Die Aufgaben der FMSA beschränken sich daher nur
        noch auf die Verwaltung der noch ausstehenden Maßnah-
        men . Dies umfasst zum einen die Verwaltung der beste-
        henden Minderheitsbeteiligungen des FMS an der Com-
        merzbank und der pbb Deutsche Pfandbriefbank sowie
        der stillen Einlagen bei der Portigon AG und zum ande-
        ren die Aufsicht über die Abwicklungsanstalten EAA und
        FMS-Wertmanagement .
        Der nun hier vorliegende Gesetzentwurf zur Neuord-
        nung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarkts-
        tabilisierung trägt diesem Umstand Rechnung . Hiernach
        ist es aus Effizienzgesichtspunkten geboten, die FMSA in
        ihrer jetzigen Form umzustrukturieren .
        So sollen die Aufgaben als Nationale Abwicklungsbe-
        hörde (NAB) als eigener Geschäftsbereich in die Bun-
        desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)
        eingegliedert werden . Die Verwaltung des Finanzmarkt-
        stabilisierungsfonds soll in die Bundesrepublik Deutsch-
        land – Finanzagentur GmbH (Finanzagentur) integriert
        werden .
        In der BaFin soll ein neuer Geschäftsbereich (Ab-
        wicklung) eingerichtet werden . Hier wird der gesamte
        Abwicklungsbereich der FMSA einschließlich der in die-
        sem Bereich tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
        der FMSA übertragen . Ziel ist es, den bereits jetzt inten-
        siven Informationsaustausch und die Zusammenarbeit
        von Aufsichts- und Abwicklungsbehörde weiter zu ver-
        einfachen . Durch die Schaffung eines zusätzlichen Ex-
        ekutivdirektors bzw . -direktorin soll auch die operative
        Unabhängigkeit der Abwicklungsfunktion von der Auf-
        sichtsfunktion gewährleistet werden . Durch eine eigene
        Vertretung der Abwicklungsbehörde im Direktorium der
        BaFin wird eine starke Leitung der Abwicklungsbehör-
        de geschaffen, die mit viel Gewicht deutsche Interessen
        auch auf internationaler Ebene vertreten kann .
        Festzustellen ist, dass die Aufgaben der Abwicklungs-
        behörde auf der einen Seite schnell gewachsen sind,
        während die Aufgaben im FMS-Bereich durch Schlie-
        ßung des FMS für neue Maßnahmen und Rückführung
        bestehender Maßnahmen in den letzten Jahren deutlich
        zurückgegangen sind . Dies wird auch zukünftig fort-
        schreiten . Da die FMSA ohne den Abwicklungsbereich
        als kleine Behörde zurückbleiben würde, ist es sinnvoll,
        die FMSA in eine größere Einheit zu integrieren . Dabei
        kommt eine Eingliederung dieses Teils in die BaFin we-
        gen Interessenkonflikten zwischen Bankenaufsicht und
        Beteiligungsführung nicht in Betracht . Insofern ist hier
        mit der Finanzagentur meines Erachtens ein richtiger und
        kompetenter Partner gefunden worden . Die Finanzagen-
        tur ist bereits jetzt mit Fragen des FMS vertraut, da sie
        die Refinanzierung des FMS übernommen hat.
        Wir werden versuchen, den vorliegenden Gesetzent-
        wurf noch in diesem Jahr abzuschließen, damit bis 2018
        alle Kernaufgaben umgesetzt werden können . Wir wer-
        den also mit den Beteiligten Gespräche führen und disku-
        tieren . Auf diese Diskussion freue ich mich und bedanke
        mich für Ihre Aufmerksamkeit .
        Roland Claus (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf
        der Bundesregierung setzt die Logik von Koalition und
        Regierung zur staatlichen Rettung von Banken fort . Seit
        2008 werden mit Steuergeldern Banken gerettet und
        gesichert, die in der Finanzkrise 2007/08 in Schwierig-
        keiten geraten waren . Die Fraktion Die Linke hatte sich
        2008 gegen den Weg der staatlichen Bankensicherung
        aus guten Gründen ausgesprochen . Gregor Gysi hatte
        dazu 2008 im Bundestag erklärt:
        Verantwortlich für diese Krise sind nicht nur Bank-
        manager – die stehen allerdings ganz oben an –,
        sondern auch Politikerinnen und Politiker, Wissen-
        schaftlerinnen und Wissenschaftler und Journalis-
        tinnen und Journalisten, die uns jahrelang gepredigt
        haben, dass die Freiheit der Finanzmärkte zu einer
        gigantischen Wirtschaft führt . Aber das Gegenteil
        ist passiert . Wir haben es nicht nur mit einer Krise
        auf den Finanzmärkten zu tun, sondern auch in den
        Bereichen Wirtschaft, Politik und Demokratie, was
        zum Teil noch geleugnet wird . Oskar Lafontaine hat
        darauf hingewiesen, dass der von Ihnen zunächst be-
        rufene und dann wieder zurückgetretene Tietmeyer
        erklärt hatte, dass die Finanzmärkte die Politik be-
        herrschen . Heute sagen Sie, dass Sie zu diesem Ge-
        setz gezwungen sind . Damit räumen Sie ein, immer
        noch beherrscht zu werden . Die Kernfrage lautet
        deshalb, zu welchen Veränderungen wir kommen
        müssen, um so etwas zukünftig auszuschließen .
        Seit Bestehen des Sonderfonds für die Finanzmarkt-
        stabilisierung und der entsprechenden Bundesanstalt hat
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18973
        (A) (C)
        (B) (D)
        dieser Fonds auf Kosten der Steuerzahler 22,6 Milliarden
        Euro Verlust angesammelt, nach öffentlich zugänglichen
        Informationen der FMSA . Die durch SPD und Grüne,
        anschließend durch CDU/CSU und SPD systematisch
        betriebene Deregulierung der Finanzmärkte ermöglichte
        Finanzinstituten spekulative Geschäfte, die zu Milliar-
        denverlusten führten, die zum großen Teil auf die Steu-
        erzahlerinnen und Steuerzahler abgewälzt wurden . Ein
        Beispiel ist die Commerzbank, die auf Grundlage des ers-
        ten Finanzmarktstabilisierungsgesetzes mit über 18 Mil-
        liarden Euro staatlichem Kapital ausgestattet wurde . Der
        Aktienanteil daran ist inzwischen weitgehend entwertet .
        Auf den Anteil an stillen Einlagen hat die Commerzbank
        nur einen Bruchteil der ursprünglich vereinbarten Zinsen
        gezahlt . Gleichzeitig hat die Commerzbank die Bundes-
        hilfen genutzt, um sich Wettbewerbsvorteile insbesonde-
        re gegenüber Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu
        verschaffen, also genau gegenüber denjenigen Finanzin-
        stituten, die am wenigsten zur Finanzkrise beigetragen
        haben .
        Koalition und Bundesregierung haben darauf ver-
        zichtet, die Verursacher und Nutznießer der Krise in die
        Pflicht zu nehmen. Die ungelöste Bankenkrise ist immer
        noch eine Bedrohung der europäischen Staaten, weil das
        Gewicht der Finanzmärkte auch die Rettungsboje der
        Staatshaushalte unter Wasser drückt . Beschlossen hatte
        die Koalition eine Pseudobankenabgabe, die nach oben
        gedeckelt ist und von der Vorstellung ausgeht, dass die
        nächste Finanzkrise schwach ausfallen und erst „in ei-
        nem halben Jahrhundert“ stattfinden wird. Eine solche
        Annahme ist nicht nur naiv, sondern bedient bewusst die
        Lobbyinteressen der Finanzbranche zulasten der Steuer-
        zahlerinnen und Steuerzahler . Außer gegen Euro-Staaten
        richten Banken und Hedge-Fonds ihre spekulativen An-
        griffe auch auf Rohstoffe und Nahrungsmittel . Das Leid
        der Opfer dieser Spekulationswellen wird von den Ak-
        teuren in Kauf genommen .
        Schädliche Finanzinstrumente und Aktivitäten müs-
        sen verboten werden, zum Beispiel Hedge-Fonds,
        Schattenbanken, ungedeckte Leerverkäufe und Wertpa-
        piere auf Grundlage von Kreditausfallversicherungen
        ohne eigenen Kredit . Insolvente Banken sind zu ver-
        gesellschaften – mit dem Ziel einer Einbindung ihrer
        volkswirtschaftlich sinnvollen Tätigkeitsbereiche in ein
        öffentliches Bankensystem und der Abwicklung ihrer un-
        produktiven Bestandteile . Über eine Re-Regulierung der
        Finanzmärkte und die Stärkung der Eigenkapitalanfor-
        derungen hinaus müssen spekulative Exzesse durch eine
        Finanztransaktionsteuer und einen Finanz-TÜV einge-
        dämmt, Privatbanken verstaatlicht werden . Der Banken-
        sektor muss auf seine Kernfunktionen Zahlungsverkehr,
        Ersparnisbildung und Finanzierung zurückgeführt und
        entsprechend geschrumpft werden, damit die Steuerzah-
        lerinnen und Steuerzahler nicht immer wieder aufs Neue
        erpresst werden .
        Im Gesetzentwurf zur Neuordnung der FMSA wer-
        den die vorgesehenen strukturellen Veränderungen dar-
        gestellt . Die parlamentarische Begleitung soll weiter in
        dem ausschließlich geheim tagenden Finanzmarktgre-
        mium erfolgen . Auch dieses Geheimgremium hatte mei-
        ne Fraktion seit 2008 kritisiert . Die jetzt beabsichtigten
        Strukturänderungen sind weitgehend nachvollziehbar,
        aber sie folgen weiterhin der falschen Logik . Die Frak-
        tion Die Linke spricht sich für die Überweisung in die
        vorgeschlagenen Ausschüsse, aber gegen den Gesetzent-
        wurf aus .
        Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Mit dem FMSA-Neuordnungsgesetz sind zwei wichtige
        Änderungen verbunden . Die Eingliederung der Tätigkeit
        des FMSA als Nationale Abwicklungsbehörde in die
        BaFin und die Überführung der Verwaltung des Finanz-
        marktstabilisierungsfonds und der „Bad Banks“ in die
        Finanzagentur GmbH .
        Das Positive zuerst: Mit der Integration der Bad Banks
        in die Finanzagentur kann nun deren Refinanzierung di-
        rekt über die Agentur zu besseren Konditionen als bisher
        stattfinden. Wir haben bereits seit 2012 immer wieder
        auf das Einsparpotenzial verwiesen, welches sich durch
        eine direkte Refinanzierung durch die Finanzagentur des
        Bundes ergeben würde . Das ist erst als inhaltlich falsch
        abgetan und dann, als die Richtigkeit unserer grünen
        Argumentation erkannt wurde, aus politischen Gründen
        vom Bundesfinanzministerium abgelehnt worden. Wir
        begrüßen, dass die Bundesregierung nun unseren Vor-
        schlag doch aufgreift und die Verschwendung von Steu-
        ergeldern beendet . Bedauerlich ist, dass von dieser Mög-
        lichkeit nicht deutlich früher Gebrauch gemacht wurde .
        Wäre die Refinanzierung bereits im Jahr 2012 umge-
        stellt worden, hätte bis heute nach meiner konservativen
        Schätzung ein niedriger dreistelliger Millionenbetrag
        eingespart werden können . Für diese unnötigen Zinsaus-
        gaben zulasten des Steuerzahlers trägt der Bundesfinanz-
        minister die Verantwortung .
        Diskussionsbedarf haben wir in diesem Zusammen-
        hang jedoch bei der genauen Konstruktion der Integrati-
        on der Bad Banks in die Finanzagentur: Die Finanzagen-
        tur ist eine GmbH und soll jetzt mit der Trägerschaft der
        FMSA beliehen werden und dabei der Rechts- und Fach-
        aufsicht des BMF unterstehen . Gleichzeitig untersteht
        die FMSA weiterhin direkt der Rechts- und Fachaufsicht
        des BMF . Warum ist dieses exotische Konstrukt notwen-
        dig? Da überzeugt mich die Begründung noch nicht .
        Fragen haben wir auch bei der Nationalen Abwick-
        lungsbehörde, die in die BaFin integriert werden soll . Die
        FMSA und in Zukunft die BaFin sind als nationale Be-
        hörden in den europäischen Abwicklungsmechanismus
        eingebunden . Dies ist ein relativ neues Konstrukt, und
        viele Punkte bleiben unklar .
        Zunächst ist wichtig, dass hier keine demokratischen
        Kontroll- und Rechenschaftslücken entstehen . Die Nati-
        onale Abwicklungsbehörde wird in die BaFin als neuer
        Geschäftsbereich eingegliedert mit fünftem Exekutivdi-
        rektor . Das FinDAG sieht in § 2 die „Rechts- und Fach-
        aufsicht“ des BMF über die BaFin vor . Diese kollidiert
        aber mit Artikel 47 der SRM-Verordnung, nach welchem
        die nationale Abwicklungsbehörde „unabhängig“ han-
        deln soll . Hier sollten wir überprüfen, wie die vom EU-
        Recht geforderte Unabhängigkeit mit der BMF-Aufsicht
        zusammenpasst . Wo liegen die entsprechenden Kon-
        trollrechte und wem gegenüber ist die BaFin in diesem
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618974
        (A) (C)
        (B) (D)
        Zusammenhang rechenschaftspflichtig? Gegebenenfalls
        sind die entsprechenden Rechte und Pflichten zu kodi-
        fizieren.
        Der vorliegende Entwurf sieht eine Zusammenfüh-
        rung der Abwicklung und der Aufsicht in der BaFin vor .
        Dies ist nach der Richtlinie so möglich und auch in ande-
        ren Ländern üblich. Um aber Interessenkonflikte zu ver-
        meiden, zum Beispiel die Verschleppung einer nötigen
        Bankenabwicklung, um ein Aufsichtsversagen zu ver-
        schleiern, ist in der BRRD eine Trennung von Aufsicht
        und Abwicklungsbehörde vorgesehen . Der Entwurf der
        Bundesregierung setzt die entsprechenden Regelungen
        zur operativen Unabhängigkeit und der organisatorischen
        Trennung in der Satzung der BaFin um . Hier sollten wir
        nochmals genauer hinschauen, ob die getroffenen Regeln
        ausreichen, um Interessenkonflikte zu vermeiden, oder
        ob weitergehende Maßnahmen nötig sind .
        Auch in diesem Zusammenhang zu erwähnen sind die
        Prüfungsrechte durch den Bundesrechnungshof . Dieser
        berichtete im Januar 2016 über eine Verkürzung der Prü-
        fungsrechte bei Stabilisierungsmaßnahmen, die Mittel
        aus dem Europäischen Abwicklungsfonds erfordern . Die
        Prüfrechte sind ab dem Jahr 2016 auf den Europäischen
        Rechnungshof übergegangen . Die Prüfungen, die dieser
        durchführen kann, sind aber deutlich weniger umfang-
        reich als die bisherig durch den BRH durchgeführten
        Prüfungen . Hier wäre zu prüfen, ob eine Kompensation
        möglich ist . Das hatte ich schon bei der entsprechenden
        Gesetzgebung angesprochen, dass wir uns damit be-
        schäftigen sollten .
        Nennen will ich auch die parlamentarische Kontrol-
        le: Das Finanzmarktgremium bleibt weiter für Kontrolle
        des Finanzmarktstabilisierungsfonds zuständig . Zukünf-
        tig wird es insofern auch Vertreter der Geschäftsführung
        der Finanzagentur laden können . Eine vergleichbare An-
        passung in § 16 Restrukturierungsfondsgesetz bezüglich
        Vertreter der BaFin, die zukünftig nach § 1 Restrukturie-
        rungsfondsgesetz den Restrukturierungsfonds verwaltet,
        fehlt allerdings .
        Im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf will ich
        auch die Geheimhaltungsvorschriften in § 10a Finanz-
        marktstabilisierungsfondsgesetz (FMStFG) und § 16 Re-
        strukturierungsfondsgesetz thematisieren . Hier fehlt eine
        Regelung zur Entbindung von der Geheimhaltung . Mir
        leuchtet es nicht ein, warum es bei der Kontrolle über die
        Geheimdienste nach § 10 Absatz 2 Kontrollgremiumge-
        setz (PKGrG) möglich ist, dass eine Mehrheit von zwei
        Dritteln der anwesenden Mitglieder des Parlamentari-
        schen Kontrollgremiums diese Entbindung vornimmt .
        Aber bei der Überwachung der Bankenrettung soll es
        grundsätzlich unmöglich sein . Was macht Bankenrettung
        noch sensibler als das Handeln der Geheimdienste?
        Jens Spahn, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
        minister der Finanzen: Der am 20 . Juli 2016 von der
        Bundesregierung beschlossene Gesetzentwurf sieht die
        Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanz-
        marktstabilisierung, der FMSA, vor . Dieses Vorhaben
        markiert einen weiteren wichtigen Schritt bei der Bewäl-
        tigung der Finanzmarktkrise . Damit knüpfen wir an die
        Schließung des Finanzmarktstabilisierungsfonds FMS
        für neue Maßnahmen zum Ende des letzten Jahres an .
        Es ist vorgesehen, die im Jahr 2008 zum Höhepunkt
        der Finanzkrise gegründete FMSA in ihrer heutigen Form
        aufzulösen . Die zum damaligen Zeitpunkt angesichts ei-
        nes drohenden Zusammenbruchs unseres Finanzsystems
        notwendige Rettung notleidender Banken durch den Ein-
        satz von Steuergeldern, den sogenannten Bail-out, haben
        wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern über-
        wunden .
        Im Rahmen der Bankenunion haben wir eine neue
        Ordnung mit dem Fokus auf den sogenannten Bail-in
        eingeführt . Hierdurch werden die Eigentümer und Gläu-
        biger der Banken bei einer Schieflage in die Verantwor-
        tung genommen . Das ist essentiell, um die Grundlagen
        der sozialen Marktwirtschaft auch im Finanzsektor
        durchzusetzen . Wer als Eigentümer Gewinne einstreicht,
        muss auch im Krisenfall die Verantwortung und Kosten
        tragen, Risiko und Haftung müssen in Einklang gebracht
        werden . Einen Bail-out durch den Steuerzahler darf es
        nicht mehr geben .
        Die Neuordnung des Finanzkriseninstruments FMSA
        ist eine weitere Konsequenz in diesem Prozess . Für den
        FMS, in dem sich die restlichen staatlichen Beteiligungen
        aus der Krise befinden und für den die FMSA ursprüng-
        lich gegründet wurde, schaffen wir eine zukunftsfähige
        Verwaltung . Gleichzeitig legen wir den Grundstein für
        eine schlagkräftige nationale Abwicklungsbehörde . Las-
        sen Sie mich dabei einige Elemente besonders hervor-
        heben .
        Erstens: Die Verwaltung des Finanzmarktstabilisie-
        rungsfonds FMS soll auf die Finanzagentur übergehen .
        Die Finanzagentur ist bereits für die Refinanzierung des
        FMS für den Bund zuständig . So schaffen wir eine Ver-
        waltung aus einer Hand . Die können wir zum Anlass neh-
        men, die Zinsvorteile des Benchmark-Emittenten Bund
        auch für die Refinanzierung der Abwicklungsanstalt
        zu nutzen, für die der FMS ohnehin der alleinige Ver-
        lustausgleich verpflichtet ist: Die FMS Wertmanagement
        in München . Dies wird erhebliche Kosteneinsparungen
        zugunsten des Steuerzahlers ermöglichen .
        Zweitens: Der Bereich nationale Abwicklungsbe-
        hörde wird dagegen, wie bereits in der Umsetzung der
        europäischen Richtlinie zur Sanierung und Abwicklung
        von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, der BRRD,
        vorgesehen, in die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
        tungsaufsicht, BaFin, eingegliedert . Dies ermöglicht es,
        die Entscheidungen in Krisensituationen auf nationaler
        Ebene unter einem Dach zusammenzuführen . Zudem
        werden der Informationsaustausch und das Zusammen-
        spiel zwischen den nationalen und europäischen Akteu-
        ren im Bankenaufsichts- und Abwicklungsbereich er-
        leichtert . Gleichzeitig werden die europäischen Vorgaben
        zur strukturellen Trennung von Aufsichts- und Abwick-
        lungseinheit durch die organisatorische Verankerung der
        nationalen Abwicklungsbehörde als eigenständiger Ge-
        schäftsbereich der BaFin umgesetzt .
        Die Aufgaben der FMSA werden also in zwei Bereiche
        aufgeteilt: auf der einen Seite die Verwaltung des FMS,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18975
        (A) (C)
        (B) (D)
        die auf die Finanzagentur übergeht; auf der anderen Seite
        die Abwicklungssäule, die in die BaFin integriert wird .
        Durch die Überführung in bereits bestehende und gut
        funktionierende größere Einheiten können die anstehen-
        den Aufgaben künftig effizient und zielorientiert erle-
        digt werden . Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
        FMSA gehen in die jeweiligen Institutionen über, sodass
        sich ihnen langfristige Perspektiven eröffnen und sie ihre
        über Jahre aufgebaute Expertise auf dem Spezialgebiet
        der Bankenstabilisierung und Bankenabwicklung in die
        neuen Strukturen einbringen können .
        Um Rechtsunsicherheiten zu beseitigen, wird überdies
        klargestellt, inwieweit die Regelungen der Bundeshaus-
        haltsordnung auf die bundesrechtlichen Abwicklungsan-
        stalten nach § 8a Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz
        anzuwenden sind . Einerseits wird hierdurch dem Um-
        stand Rechnung getragen, dass die Abwicklungsanstal-
        ten letztlich durch Steuergelder finanziert werden. Dies
        gilt insbesondere für die Anwendbarkeit des Grundsatzes
        der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit . Anderseits wird
        Rechtssicherheit für die Abwicklungsanstalten geschaf-
        fen, indem explizit klargestellt wird, dass sonstige Rege-
        lungen der Bundeshaushaltsordnung nicht anzuwenden
        sind . Dies erleichtert es den Abwicklungsanstalten, ihren
        Auftrag bestmöglich auszuführen, die noch verbleiben-
        den Portfolios im Sinne des Steuerzahlers gewinnorien-
        tiert bzw . verlustminimierend zu veräußern .
        Die FMSA hat in den letzten Jahren bei der keines-
        wegs leichten Aufgabe, die Folgen der Finanzkrise von
        2008 und 2009 zu bewältigen, exzellente Arbeit geleistet .
        Dafür gilt den Verantwortlichen, stellvertretend den Mit-
        gliedern des Leitungsausschusses, unser aller Dank . Klar
        ist aber auch, dass, wenn die Aufgaben einer Institution
        abnehmen, man nicht zuletzt im Interesse der operativen
        Stabilität und zur Sicherheit der Beschäftigten zukunfts-
        fähige Strukturen schaffen muss . Ich bin überzeugt, dass
        wir mit diesem Gesetz dazu genau die richtige Weichen-
        stellung vornehmen .
        Anlage 21
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
        gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
        führung unionsrechtlicher Vorschriften über das
        Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch
        (Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammge-
        setz – LwErzgSchulproG)
        (Tagesordnungspunkt 27)
        Katharina Landgraf (CDU/CSU): Als Berichter-
        statterin für gesunde Ernährung freue ich mich, über die
        aktuellen Entwicklungen bei den Schulprogrammen für
        Schulobst und Schulmilch zu sprechen .
        Als ich am 20 . Februar 2014 hier schon einmal über
        die Vorhaben und Ankündigungen aus Brüssel berichtet
        habe, konnten wir es als gute Nachricht verbuchen, dass
        die Länder mehr Geld für das Schulobstprogramm er-
        halten sollten und selber weniger dafür zahlen mussten .
        Damals wurde der Kofinanzierungsanteil der Länder von
        50 Prozent auf 25 Prozent gesenkt . Jetzt entfällt er sogar
        ganz!
        Damals verkündete Brüssel auch erstmals, dass die
        Obst- und Schulmilchprogramme zusammengeführt
        werden sollen . Und siehe da: Heute schaffen wir mit der
        Umsetzung der EU-Verordnung die nationale Grundlage
        für die Zusammenlegung der bisher getrennten Program-
        me für Schulobst und -gemüse und Schulmilch . Mit der
        heutigen Verabschiedung des Gesetzes zur Durchführung
        unionsrechtlicher Vorschriften über das Schulprogramm
        für Obst, Gemüse und Milch lösen wir das Schulobstge-
        setz und die Schulmilch-Durchführungsverordnung ab .
        Mit dieser Vereinfachung und dem gleichzeitigen Weg-
        fall des Eigenanteils der Länder bietet sich die Chance,
        dass Kinder in allen Bundesländern von beiden Program-
        men profitieren. Die Realisierung des Programms wird
        dadurch vereinfacht, und es wird eine Basis für eine ein-
        heitliche Verteilung des zur Verfügung stehenden Bud-
        gets geschaffen .
        Ebendieses Budget wird zudem erhöht . Das EU-Parla-
        ment verabschiedete im Frühjahr dieses Jahres nicht nur
        die Zusammenlegung der Programme, sondern entschied
        auch, dass die Finanzmittel um 20 Millionen Euro erhöht
        werden . Die Mitgliedstaaten, die am Schulprogramm teil-
        nehmen, verpflichten sich auch zu pädagogischen Maß-
        nahmen . So sollen die Kinder über gesunde Ernährung
        sowie über lokale Nahrungsmittelketten, ökologischen
        Landbau, nachhaltige Erzeugung oder die Bekämpfung
        der Lebensmittelverschwendung aufgeklärt werden . Kin-
        dern soll auch die Landwirtschaft wieder nähergebracht
        werden, beispielsweise durch Besuche von Bauernhöfen .
        Ich halte es weiterhin für durchweg begrüßenswert,
        dass sich die Europäische Union für die gesunde Ernäh-
        rung der jungen Generation einsetzt . Die nationale Politik
        muss zudem alles dafür tun, um die Rahmenbedingungen
        zu schaffen, Anreize zu setzen und Ideen mit einem aus
        EU-Mitteln finanzierten Programm zu begleiten.
        Es gibt aber auch Grenzen hinsichtlich des Hand-
        lungsspielraums der EU und auch der Berliner Politik .
        Die Begeisterung für die tägliche Portion Obst und Ge-
        müse muss vor Ort geweckt werden . Auf den Geschmack
        kommen Mädchen und Jungen im wahrsten Sinne des
        Wortes, indem ihnen in ihren frühen Jahren das entspre-
        chende Angebot durch die sie betreuenden Erwachsenen
        und Pädagogen gemacht wird .
        Bestimmte Entscheidungen können nicht von der Po-
        litik aus der Ferne getroffen werden . So sollte bei der
        praktischen Umsetzung darauf geachtet werden, dass vor
        allem Obst und Gemüse in die Schulen kommt, welches
        regional bezogen wird . Das ist eine Gestaltungsmöglich-
        keit der Träger vor Ort, die sich dieser verantwortungs-
        voll annehmen sollten und dies auch tun . An dieser Stelle
        wünsche ich mir, dass die Schulen ein solches Angebot
        nicht als ein von oben verordnetes Übel ansehen, das nur
        mehr Arbeit macht . Das Programm sollte Bestandteil des
        gesamten Schulbetriebs und des Unterrichtsprogramms
        sein . Kurzum: Es sollte zum ganz normalen Alltag in den
        Schulen und Einrichtungen gehören .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618976
        (A) (C)
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        Aber auch Schulen haben nur begrenzt die Möglich-
        keit, ihre Schützlinge mit gesunden Lebensmitteln in
        Kontakt zu bringen . Das tatsächliche Leben mit Obst und
        Gemüse findet vor allem in den Familien und nur sukzes-
        siv in den Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen
        statt . Dass es da läuft, hängt einzig und allein vom Be-
        wusstsein der Familie ab . Der Idealfall wäre, wenn Vater
        und Mutter selbst mit dem Thema „gesunde Ernährung“
        und vor allem mit viel Obst und Gemüse aufgewachsen
        sind . Die eigene Erfahrung, die man in seiner persönli-
        chen Entwicklung, in seiner Umgebung, in seiner Fami-
        lie gemacht hat, ist die beste Wissens- und Handlungs-
        grundlage . Ist das nicht gegeben, so braucht man eine
        entsprechende pädagogische Begleitung . An dieser Stelle
        greift dann das Obst- und Gemüseprogramm in den Kitas
        und Schulen wieder und ist allein schon aus diesen Grün-
        den nur zu begrüßen .
        Eine gesunde Ernährung und Bewegung sind die
        Grundlagen für ein gesundes Aufwachsen . Dabei ist das
        Wissen über gesunde Ernährung der zentrale Bestandteil .
        Dieser wird wesentlich im Kindesalter erlernt und ge-
        bildet . Die hier erworbenen Ernährungsmuster behalten
        Kinder und Jugendliche oft ein Leben lang .
        Die Evaluationen des Schulmilch- und des Schulobst-
        programms haben eine deutliche Zunahme der Beliebt-
        heit und Akzeptanz von Milch, Obst und Gemüse erge-
        ben . Zudem stieg das Bewusstsein der Kinder um die
        Wichtigkeit von Milch, Obst und Gemüse als Bestandteil
        einer gesunden Ernährung . Daher appelliere ich an alle
        Bundesländer, die sich bisher noch nicht an den Program-
        men beteiligt haben, dies zum Wohle der Kinder schnell
        nachzuholen, und freue mich über die Unterstützung zur
        Umsetzung dieser Ziele aus Brüssel .
        Jeannine Pflugradt (SPD): Um Kinder und Jugend-
        liche an Obst sowie Gemüse außerhalb ihres familiären
        Umfeldes heranzuführen, hat die Europäische Union im
        Jahr 2009 ein Schulobst- und -gemüseprogramm in den
        Mitgliedstaaten eingeführt . Mit dem Programm werden
        seitdem jährlich europaweit 150 Millionen Euro Ge-
        meinschaftsbeihilfe für die teilnehmenden Staaten be-
        reitgestellt .
        Vor zweieinhalb Jahren (im Januar 2014) legte die
        EU-Kommission einen Vorschlag für ein neues, um-
        fassendes Schulprogramm vor . Dieser sieht vor, das
        Schulobst- und -gemüseprogramm sowie das Schul-
        milchprogramm auf Basis der beschlossenen Mittel zu-
        sammenzufassen . Der Hauptgrund für eine Zusammen-
        legung war die aufkommende Kritik an der Effektivität
        der beiden einzelnen Programme .
        Mitte Dezember 2015 fiel endlich eine positive
        Entscheidung zugunsten einer organisatorischen Zu-
        sammenlegung beider Schulprogramme . Das neue
        EU-Schulprogramm soll nun 100 Prozent der Kosten der
        Mitgliedstaaten durch die EU übernehmen . Es fällt dem-
        nach unter die EU-Beihilferegelungen der Gemeinsamen
        Agrarpolitik (GAP). Die bisherige Kofinanzierung, die
        möglicherweise einige Bundesländer davon abhielt, das
        Programm auch umzusetzen, entfällt dadurch . Die Bei-
        hilfen sollen ab dem Schuljahr 2017/18 gelten . Das be-
        deutet, dass ab 2017 die zur Verfügung stehenden finan-
        ziellen Mittel für Schulmilch bei 100 Millionen Euro und
        für Schulfrucht bei 150 Millionen Euro liegen . Deutsch-
        land stehen davon pro Schuljahr durchschnittlich 20 Mil-
        lionen Euro zur Verfügung, die das Bundesministerium
        für Ernährung und Landwirtschaft an die teilnehmenden
        Bundesländer verteilt . Mit dem vorliegenden Gesetz
        schaffen wir die Voraussetzungen, die EU-Verordnung in
        nationales Recht umsetzen .
        Um am Programm teilnehmen zu können, müssen die
        Mitgliedstaaten für jedes Schuljahr eine nationale Stra-
        tegie einreichen, in der sie darlegen, wie das Programm
        ausgestaltet werden soll . In Deutschland sind die Bundes-
        länder für die Durchführung des Programms zuständig .
        Diese reichen je nach Ressourcen und regionalen Beson-
        derheiten ihre regionalen Strategien beim Bund ein . Die
        Strategie muss Angaben über Budget, Zielgruppen, Zeit-
        raum, förderungswürdige Produkte und die geplanten
        flankierenden Maßnahmen enthalten. Flankierende Maß-
        nahmen (Ernährungsbildung und Ernährungsaufklärung)
        unterstützen die Abgabe der Erzeugnisse und stehen im
        direkten Zusammenhang mit den Zielen des Programms .
        Erfreulich ist, dass nunmehr neun Bundesländer daran
        teilnehmen (BW, BY, HB, NI, NW, RP, SL, ST, TH) .
        Ziel ist die dauerhafte Erhöhung des Konsums von
        Obst und Gemüse sowie Milch bei Kindern, um einen
        Beitrag zur ausgewogenen Ernährung sowie der Ernäh-
        rungsbildung zu leisten . Momentan haben in Deutsch-
        land fast 2 Millionen Kinder und Jugendliche (3- bis
        17-jährige) Übergewicht . Das ist besorgniserregend und
        erschreckend . Das sind rund 15 Prozent . Neben dem An-
        gebot einer ausgewogenen Ernährung müssen deshalb
        auch die Ernährungsbildung verbessert und die Bewe-
        gungsangebote optimiert werden, denn nur das Wissen
        um eine ausgewogene Ernährung reicht nicht aus, um
        das tatsächliche Ernährungsverhalten zu verändern . Bei-
        spielsweise sollten Kinder lernen, woher die Nahrung
        kommt, die gerade verzehrt wird, wie sie produziert wird
        und wie sie am Ende im Supermarkt landet .
        90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer, der Schullei-
        terinnen und Schulleiter der in Deutschland beteiligten
        Schulen sagen übereinstimmend, dass spezifische Er-
        nährungsprogramme ohne Probleme in den Schulalltag
        integriert werden können . Doch in über 34 Prozent der
        Schulen wird nicht täglich Obst und Gemüse angeboten .
        Dabei ist es wichtig, dass alle Kinder und Jugendlichen
        unabhängig von der sozialen Herkunft davon profitieren.
        Niemand darf aus sozialen Gründen ausgeschlossen,
        niemand sollte diskriminiert werden . Ein gemeinschaft-
        licher Verzehr beeinflusst sowohl das Zusammengehö-
        rigkeitsgefühl als auch die Denkweise über Ernährung .
        Ich persönlich halte ausgewogene Essgewohnheiten
        von klein auf für enorm wichtig und sehe sie auch als
        eine Grundlage für einen gesunden Lebensstil . Obst,
        Gemüse sowie Milchprodukte sind dabei unentbehrlich
        für eine vollwertige, ausgewogene Ernährung . Diese Le-
        bensmittel enthalten neben Vitaminen, Mineralstoffen,
        Ballaststoffen sowie Kohlenhydraten auch einen hohen
        Wasseranteil . Kinder und Jugendliche können mit die-
        sem Schulprogramm erfahren, dass vermeintlich nur
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18977
        (A) (C)
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        „gesunde“ Lebensmittel auch gut schmecken . Darüber
        hinaus hat ausgewogene Ernährung eine positive Wir-
        kung in der Vorbeugung zahlreicher lebensstilbedingter
        Erkrankungen .
        Gerade in der heutigen Zeit von Ganztagsschulen ist
        die Schule auch ein Lernort für gesellschaftliche Auf-
        gaben geworden . Eltern möchten ihre Kinder während
        der Schulzeit gut behütet wissen . Dazu zählt auch eine
        gute Essensversorgung . Außerdem werden Wertevorstel-
        lungen nicht nur von den Eltern weitergegeben, sondern
        auch von Lehrern und Mitschülern . Wenn in der Fami-
        lie nicht regelmäßig Obst und Gemüse auf dem Tisch
        steht, können abgestimmte Schulprogramme während
        der Schulzeit neue Essgewohnheiten schaffen . Durch die
        Einführung von Schulprogrammen übernimmt die Bun-
        desregierung demnach eine kleine Mitverantwortung für
        eine ausgewogene Ernährung von Schulkindern .
        Die bereitgestellten EU-Mittel sind sicherlich nicht
        ausreichend, um das Gesamtproblem von Übergewicht
        und Fettleibigkeit in den Griff zu bekommen . Program-
        me, wie die Verteilung von Obst, Gemüse und Milch an
        Schulen, bieten sicherlich nur einen Anstoß . Wenn sich
        die Bundesregierung noch intensiver um das Thema
        Schulverpflegung bemühen würde, würde ich mich noch
        mehr freuen . Was das neue Bundeszentrum für Ernäh-
        rung in diesem Bereich leisten kann, müssen wir abwar-
        ten . Deshalb sollten wir weiterhin über eine Lockerung
        des Kooperationsverbots im Bereich Schulverpflegung
        nachdenken . Nicht alles, was von den Bundesländern ge-
        tan wird, ist schlecht, wie in den Paradeländern Saarland
        und Berlin zu sehen ist, und nicht alles, was der Bund im
        Bereich Ernährung und Schulverpflegung vorhat, muss
        sich per se positiv auf die Problematik auswirken . Den-
        noch ist es längst überfällig, über Synergien zwischen
        Bundes- und Länderkompetenzen nachzudenken und sie
        effektiv zu bündeln . Das Wohl der Kinder und Jugendli-
        chen muss dabei im Mittelpunkt stehen und uns als Leit-
        bild dienen .
        Karin Binder (DIE LINKE): Seit Jahren fördert die
        EU die Abgabe von Milch sowie Obst und Gemüse an
        Schülerinnen und Schüler . Dafür gibt es zwei gute Grün-
        de: erstens die Förderung des Absatzes von Milch, Obst
        und Gemüse aus der Landwirtschaft und zweitens die
        Förderung gesunder Ernährung von Kindern . Die Idee
        dahinter: Lernen wir schon als Kinder, regelmäßig Obst
        und Gemüse zu essen und Milch zu trinken, wird dies zu
        einer gesunden Ernährungsgewohnheit, die wir ein Le-
        ben lang beibehalten . Auch das stärkt dann später wieder
        die heimische Landwirtschaft .
        Dass es in unserer Gesellschaft in Sachen gesunder
        Ernährung Handlungsbedarf gibt, ist unbestritten . Wir
        müssen schon seit Jahren zunehmend gesundheitsbe-
        lastende Ernährungsweisen feststellen, von der bereits
        Kinder und Jugendliche betroffen sind . Jedes siebte Kind
        leidet an Übergewicht, fast jedes zweite davon ist fettlei-
        big . Jede beziehungsweise jeder vierte Jugendliche leidet
        an Essstörungen .
        Ein Grund ist im modernen Arbeitsalltag vieler Fami-
        lien zu finden. In der Hektik zwischen Job, Schule, Fa-
        milie und weiteren Verpflichtungen müssen Mahlzeiten
        schnell zubereitet sein . Essen wird durch ein zunehmen-
        des Angebot an Fertigmahlzeiten mit nicht erkennbarer
        Zusammensetzung bestimmt . Frisch zubereitete Gerichte
        und insbesondere frisches Obst und Gemüse kommen
        zu kurz . Allgegenwärtige, teils aggressive Werbung
        lenkt besonders Kinder und Jugendliche und deren El-
        tern gezielt auf unausgewogene Produkte wie Fastfood,
        Snacks und Softdrinks . Das hat auch die EU-Kommissi-
        on erkannt und betonte schon 2014 in einer Auswertung
        zum Schulmilch- und Schulobstprogramm: „Diese Ent-
        wicklung durch die modernen Ernährungstrends hin zu
        stark verarbeiteten Nahrungsmitteln mit oftmals hohen
        Beimengungen von Zucker, Salz und Fett verstärkt sich
        besonders bei jüngeren Altersgruppen weiter .“
        Es gibt also dringenden Handlungsbedarf . Eine Maß-
        nahme ist jetzt die Bündelung und Vereinfachung der
        Schulprogramme . Dass davon am Ende auch die heimi-
        schen Erzeuger direkt profitieren sollen, ist zu begrüßen.
        Eine wichtige Voraussetzung für uns ist aber, dass aus-
        schließlich unverarbeitete Erzeugnisse, also die natürli-
        chen Rohprodukte, angeboten werden . Das ist so in dem
        Gesetzentwurf nur unzureichend geklärt . Wenn nämlich
        am Ende wieder nur stark gesüßte Kakaogetränke oder
        Joghurtprodukte mit absurd hohen Zuckeranteilen an
        die Kinder verteilt werden – samt der damit verbunde-
        nen Markenwerbung und irreführenden Angaben zum
        Inhalt –, ist das Schulmilchprogramm für die Katz . Das
        würde die Idee gesunder Ernährung ad absurdum führen .
        Dann profitieren wieder nur die großen Lebensmittelkon-
        zerne, und die Bauern und die Kinder zahlen drauf .
        Der Nachteil des jetzt vorgesehenen Schulprogramms
        für Obst, Gemüse und Milch ist, dass nur ein kleiner Teil
        von Schulen davon profitieren wird. Das Programm ist
        auf Grundschulen beschränkt, und die begrenzten Mit-
        tel reichen auch nur, um einen Teil der Schulklassen zu
        versorgen . Weder Kitas noch Sekundarschulen haben et-
        was von dem Programm, obwohl ein möglichst frühes
        Kennenlernen und regelmäßiges Angebot ausgewogener
        Lebensmittel für die Ernährungsbildung wichtig sind .
        Im Sinne staatlicher Vorsorge wäre es daher, dass das
        Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
        die Vollfinanzierung sicherstellt. Stellen Sie die Kofinan-
        zierung der EU-Mittel von 30 Millionen Euro aus dem
        Bundeshaushalt zur Verfügung . Das Geld kann an ande-
        rer Stelle, beispielsweise durch Verzicht auf wirkungslo-
        se Imagekampagnen wie „Macht Dampf“ oder „Zu gut
        für die Tonne“, eingespart werden .
        Wenn die Bundesregierung die gesunde Ernährung
        unserer Kinder und die Stärkung der heimischen Land-
        wirtschaft ernst nimmt, übernimmt sie beim Schulpro-
        gramm Verantwortung und sorgt für ein Schulmilch- und
        Schulobstprogramm, an dem alle Kinder teilhaben und
        teilnehmen können .
        Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach
        langwierigen Verhandlungen ist das neue EU-Programm
        zur Abgabe von Obst, Gemüse und Milch in Schulen und
        Kindertagesstätten auch bei uns im Bundestag gelandet .
        Der vorliegende Gesetzentwurf ist nur ein Anfang, der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618978
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        noch vieler weiterer Bestimmungen bedarf, damit die
        Länder damit arbeiten können . Leider liegt der Entwurf
        erst jetzt vor, und die Durchführungsbestimmungen
        eben dann noch später, sodass die von der EU geforder-
        te Umsetzung mit den entsprechenden Vorlaufzeiten für
        die Haushaltsplanungen 2017 nach Auskünften aus den
        Bundesländern schon wieder in Verzug geraten ist . Ob
        mit dem neuen EU-Schulprogramm eine Verwaltungs-
        vereinfachung einhergeht, wie dies vorab proklamiert
        wurde, bleibt abzuwarten . Skepsis kommt auch hier aus
        den Ländern, die eine Verwaltungsvereinfachung derzeit
        eher nicht sehen .
        Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass die Europäi-
        sche Union insgesamt rund 250 Millionen Euro in allen
        teilnehmenden Mitgliedstaaten investiert . Zum Schul-
        jahr 2017/18 stehen für Deutschland mindestens 29 Mil-
        lionen Euro aus Brüssel bereit . In Deutschland beteiligen
        sich leider erst neun Bundesländer an diesem guten Pro-
        gramm . Die Abgabe von Milch erfolgt in 14 Bundeslän-
        dern . Die Beteiligung an diesem Programm muss weiter
        erhöht werden .
        Das Ziel des Programmes ist es, Schülerinnen und
        Schülern zu ermöglichen, einen gesunden Lebensstil
        zu erlernen, und ihnen landwirtschaftliche Prozesse na-
        hezubringen . Schulen sind die Orte, wo wir alle Kinder
        erreichen . Hier müssen Gesundheitserziehung und Er-
        nährungsbildung ansetzen . Hier müssen die Leitbilder
        nachhaltigen und regionalen Wirtschaftens vermittelt
        werden. Das Programm verpflichtet Schulen neben der
        Ausgabe von Obst, Gemüse und Milch, auch begleitende
        Ernährungsbildungsprojekte durchzuführen . Es ist zum
        Beispiel möglich, dass sich die Kinder im Rahmen die-
        ses Programmes die Bauernhöfe mit den Obstbäumen
        und Gemüsefeldern anschauen können, um zu sehen, wie
        ihre Nahrungsmittel produziert werden . Es geht darum,
        Bezug zu den Lebensmitteln und Wertschätzung zu er-
        reichen . Das kann kein Lehrbuch vermitteln, sondern nur
        das eigene Erfahren, Entdecken und Erschmecken . Auch
        müssen die Projekte genutzt werden, Kindern die Folgen
        einer globalisierten Nahrungsproduktion, der Massen-
        tierhaltung und des hohen Einsatzes von Pestiziden zu
        erklären . All das lässt sich durch intelligent gestaltete
        Schulernährungsprogramme erreichen und wird bereits
        von vielen Bundesländern ganz hervorragend praktiziert .
        Festzustellen ist aber auch, dass dieses Programm nur
        ein Baustein von vielen im Kampf gegen die Fehlernäh-
        rung bei Kindern und Jugendlichen und in dem Bemühen
        ist, Kinder gesund aufwachsen zu lassen . Der Ausbau
        einer gesunden Gemeinschaftsverpflegung ist ein wich-
        tiger Baustein, Fehlernährung zu stoppen und soziale
        Ungleichheiten aufzufangen . Kinder und Jugendliche,
        die den ganzen Tag in der Kita und in der Schule ver-
        bringen, brauchen hochwertiges, gesundes und leckeres
        Schulessen .
        In einer vom BMEL in Auftrag gegebenen Studie, die
        bundesweit die Qualität der Verpflegung in Kitas unter-
        suchte und im Januar 2016 veröffentlicht wurde, wird
        einmal mehr die große Bedeutung von verbindlichen
        Qualitätsstandards festgestellt . In den Kitas, in denen
        der DGE-Standard umgesetzt wird, verbessert sich die
        Qualität des Mittagessens, die Zufriedenheit mit der Ver-
        pflegung steigt, und der Speiseplan wird abwechslungs-
        reicher . Es kommen mehr frische Lebensmittel, mehr
        Nahrung in Bioqualität und mehr regionale Produkte zum
        Einsatz . Gemüse, Salate, Obst, fettarme Milchprodukte
        und Fisch stehen häufiger auf dem Tisch, Fleischwaren
        und süße Speisen hingegen seltener . Dies hat positive
        Auswirkungen auf die Nährstoffversorgung der Kinder .
        Aus der Studie lässt sich ganz deutlich ableiten, dass
        durch den Einsatz dieses Instruments ein gesundheitsför-
        derndes Verpflegungsangebot in der Kita gesichert wird
        und die Ernährung einen höheren Stellenwert erlangt .
        Das Problem: Es verfügen nur 35 Prozent der Kitas
        über ein Verpflegungskonzept, weitere 10 Prozent sind
        dabei, eines zu erarbeiten; in über 40 Prozent fehlt es
        komplett . Nur knapp 30 Prozent nutzen die „DGE-Qua-
        litätsstandards für die Verpflegung in Tageseinrichtungen
        für Kinder“ als Basis für die Verpflegung.
        In den Schulen sieht es im Übrigen nicht besser aus .
        Und was macht Bundesminister Schmidt mit dieser
        Datenlage und der Forderung der DGE und anderer Ex-
        perten, die Qualitätsstandards verbindlich einzuführen?
        Statt anzupacken und einen vernünftigen politischen
        Rahmen zu setzen, schiebt der Minister die Verantwor-
        tung den Bundesländern, den Schulen, den Lehrerinnen
        und Lehrern und den Eltern zu – immer mit dem Hinweis
        auf die fehlende Zuständigkeit .
        Trotz dieser angeblich fehlenden Zuständigkeit wird
        Schmidt aber immer wieder gerne aktiv, wenn er Foto-
        apparate und Mikrofone der Journalisten erblickt . Dann
        entwickelt er Schulmaterial, dann will er ein eigenes
        Fach „Ernährung“ aus dem Boden stampfen, und er führt
        teure Kampagnen durch, die nichts bewirken .
        Es reicht aber nicht aus, Musterbeschwerdebriefe an
        die Kommunen und Schulträger vorzuformulieren, die
        besorgte Eltern losschicken sollen . Mit seiner Forderung
        nach einem eigenen Schulfach „Ernährung“ hat Schmidt
        sogar Ernährungsexpertinnen und -experten verärgert .
        Namhafte Ökotrophologinnen haben sich in einem
        Brandbrief an den Minister gewandt, mit der Bitte, die
        Forderung nach einem eigenen Schulfach „Ernährung“
        einzustellen, da die Forderung zum „derzeitigen Stand
        kontraproduktiv und evtl . sogar schädlich“ ist .
        Aus unserer Sicht verhindert das Kooperationsverbot
        zwischen Bund und Ländern den sinnvollen und notwen-
        digen Ausbau der Ganztagsschulen und den damit ein-
        hergehenden Ausbau der Schulverpflegung. Wir fordern
        die Aufhebung des Kooperationsverbots, damit ein neues
        Ganztagsschulprogramm aufgelegt werden kann . Auf
        dieser neuen verfassungsrechtlichen Basis ließen sich
        mit den Bundesländern Vereinbarungen treffen, um Mit-
        tel aus diesem Programm für den notwendigen Auf- und
        Ausbau der Infrastruktur für Schulernährung zu nutzen .
        Dr. Maria Flachsbarth, Parl . Staatssekretärin beim
        Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft: Am
        28 . September 2016 wird zum 16 . Mal der Weltschul-
        milchtag stattfinden. Dieser wurde im Jahr 2000 von
        der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen,
        FAO, initiiert und wird mittlerweile in über 40 Ländern
        http://www.fitkid-aktion.de/qualitaetsstandard.html
        http://www.fitkid-aktion.de/qualitaetsstandard.html
        http://www.fitkid-aktion.de/qualitaetsstandard.html
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18979
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        gefeiert . Ziel der FAO ist es, die Aufmerksamkeit der
        Öffentlichkeit auf eine gesunde Ernährung mit Milch
        für Kinder und Jugendliche und auf die entsprechenden
        Förderprogramme zu richten . Der Hintergrund dazu gibt
        allerdings Anlass zur Sorge . Immer weniger Kinder früh-
        stücken zu Hause oder bringen eine ausreichende Pausen-
        verpflegung mit in die Kindertagesstätten oder Schulen.
        Die Konsequenzen für die Kinder können enorm sein .
        Sie sind unkonzentriert und nervös, können häufig die
        vielen neuen Informationen, die sie im Laufe des Tages
        erreichen, nicht verarbeiten . Auch das Immunsystem und
        die Ausdauer bei Sport und Spiel können leiden – denn
        sie profitieren ebenfalls erheblich von einer ausgewoge-
        nen und abwechslungsreichen Ernährung .
        Kinder werden durch Erziehung geprägt und lernen
        am Vorbild, gerade von den Eltern, auch wenn es um die
        Ernährung geht . Das Bewusstsein für Auswahl und Qua-
        lität der Nahrungsmittel und für die Esskultur werden
        zu Hause, aber auch häufig von Kita und Schule mitbe-
        stimmt . Heute wird schon fast jedes dritte Kind unter drei
        Jahren tagsüber außerhalb der Familie betreut . Viele Kin-
        dertagesstätten und Schulen sind Ganztagseinrichtungen,
        eine ausgewogene Außer-Haus-Verpflegung der Kinder
        wird daher zunehmend wichtig . Das Bundesministerium
        für Ernährung und Landwirtschaft setzt sich aus diesem
        Grund gemeinsam mit den Bundesländern dafür ein,
        dass möglichst viele Kinder in Kindertagesstätten und
        Schulen regelmäßig eine Portion Obst, Gemüse und auch
        Milch erhalten können . Die meisten von Ihnen kennen
        die tägliche Portion Schulmilch . Auch das Schulobst- und
        -gemüseprogramm erfreut sich wachsender Beliebtheit .
        Es ist allerdings in der Bevölkerung noch nicht ganz so
        bekannt . Daher möchte ich Ihnen kurz einen Überblick
        über die beiden bisherigen Programme geben .
        Das EU-Schulmilchprogramm kennen Generationen
        von Schülern . Es wurde bereits 1977 eingeführt und ist
        bis in die jüngste Vergangenheit eine Erfolgsgeschichte .
        Leider geht die Beteiligung immer weiter zurück . Man
        muss hier kritisch anmerken, dass circa 4,5 Cent EU-Bei-
        hilfe pro Portion, bei circa 40 Cent Warenwert, keinen
        ausreichenden Anreiz zur Beteiligung der Schülerinnen
        und Schüler bieten . Bisher ist die Abgabe von Schul-
        milch auch an keine Erfordernisse, wie zum Beispiel eine
        Ernährungserziehung, geknüpft . Doch gerade die Verste-
        tigung der begleitenden Ernährungsbildung ist eines der
        Hauptanliegen des Bundesministeriums für Ernährung
        und Landwirtschaft .
        EU-Schulobst- und –gemüseprogramm . Wir alle wis-
        sen: Obst und Gemüse liefern Kindern zahlreiche Vita-
        mine, Nährstoffe und auch Ballaststoffe . Um Kindern
        und Jugendlichen Obst und Gemüse schmackhaft zu ma-
        chen, hat die EU im Jahr 2009 ein Schulobst- und -gemü-
        seprogramm in den Mitgliedstaaten eingeführt und stellt
        dafür jährlich europaweit 150 Millionen Euro Gemein-
        schaftsbeihilfe für die Mitgliedstaaten zur Verfügung . In
        Deutschland sind die Bundesländer für die Durchführung
        des Programms zuständig . Mittlerweile neun Bundeslän-
        der nehmen im Schuljahr 2016/2017 am Programm teil
        und erhalten dafür rund 30 Millionen Euro Unionsbei-
        hilfe . Bisher müssen die teilnehmenden Bundesländer
        hier einen Kofinanzierungsanteil in Höhe von 25 Prozent
        einbringen .
        Die Kinder in den teilnehmenden Bildungseinrichtun-
        gen profitieren jedoch nicht nur durch die kostenlose Ab-
        gabe von Obst und Gemüse – ergänzt wird das Programm
        auch durch begleitende pädagogische Maßnahmen . Da-
        mit sollen Kindern zudem die Landwirtschaft und eine
        größere Palette landwirtschaftlicher Erzeugnisse nä-
        hergebracht werden, zum Beispiel durch Besuche von
        Schulklassen auf Bauernhöfen oder Obstanbaubetrieben .
        Weiterhin erhalten die Kinder Informationen über eine
        gesunde Ernährungsweise, über die Vermeidung von Le-
        bensmittelverschwendung und über lokale Nahrungsmit-
        telketten .
        Das Bundesministerium für Ernährung und Land-
        wirtschaft setzt sich auch weiterhin dafür ein, dem
        rückläufigen Verzehr von Milch und Milchprodukten
        bei Kindern entgegenzuwirken und den Verzehr von
        Obst und Gemüse zu erhöhen . Wir haben uns daher in
        Verhandlungen mit der EU dafür eingesetzt, dass beide
        Programme zusammengelegt werden – mit Erfolg: Ab
        dem Schuljahr 2017/2018 wird das neue Schulprogramm
        mit den beiden Komponenten Obst/ Gemüse und Milch
        eingeführt . Lassen Sie mich Ihnen nun die wichtigsten
        Eckpunkte des neuen EU-Schulprogramms erläutern .
        Die EU erhöht die jährliche Finanzausstattung des neu-
        en EU-Schulprogramms auf 250 Millionen Euro . Für die
        Abgabe von Schulmilch werden jährlich 100 Millionen
        Euro und für Schulobst und -gemüse jährlich 150 Milli-
        onen Euro zur Verfügung gestellt . Auf Deutschland ent-
        fallen davon für Schulobst und -gemüse jährlich mindes-
        tens 19,7 Millionen Euro und für Schulmilch mindestens
        9,4 Millionen Euro . Frisches Obst und Gemüse sowie
        reine Trinkmilch können nunmehr auch grundsätzlich
        kostenlos an die Kinder abgegeben werden . Für die Bun-
        desländer wird eine Teilnahme am neuen Schulprogramm
        noch attraktiver. So müssen diese künftig keine Kofi-
        nanzierungsmittel mehr für das neue Schulprogramm
        erbringen . Und schließlich, was wir sehr begrüßen, mit
        dem neuen Programm werden die begleitenden pädago-
        gischen Maßnahmen der Ernährungsbildung intensiviert .
        Nehmen Sie als Beispiel den Ernährungsführerschein
        für Schülerinnen und Schüler der dritten Klassen, der
        im Rahmen dieses Programms eingesetzt werden kann .
        So kommen wir auch dem von Bundesminister Christian
        Schmidt geforderten Schulfach Ernährung einen großen
        Schritt näher .
        Die veränderten unionsrechtlichen Grundlagen er-
        fordern nunmehr eine Anpassung der nationalen Re-
        gelungen, um die nationalen Voraussetzungen für die
        erfolgreiche und nachhaltige Einführung des EU-Schul-
        programms zu schaffen . Der vorliegende Gesetzent-
        wurf der Bundesregierung sieht folgende wesentliche
        Punkte vor: Ablösung des Schulobstgesetzes sowie
        der Schulmilchdurchführungsverordnung zum Schul-
        jahr 2017/2018, Übertragung der Befugnisse zur Durch-
        führung des neuen EU-Schulprogramms auf die Länder,
        Festlegung eines Verteilungsschlüssels, welcher die Auf-
        teilung der von der EU für Deutschland zur Verfügung
        gestellten Finanzmittel für die beiden Programmteile –
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618980
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        Schulobst- und -gemüse sowie Schulmilch – auf die Län-
        der festlegt .
        Mit diesem Gesetzentwurf möchte die Bundesregie-
        rung noch in diesem Jahr die Voraussetzungen schaffen,
        die den Ländern eine erfolgreiche Implementierung des
        Schulprogramms ermöglichen .
        Wir sollten uns dafür einsetzen, dass das Schulpro-
        gramm flächendeckend von allen Bundesländern durch-
        geführt wird, damit möglichst viele Kinder davon profi-
        tieren können . Unser gemeinsames Ziel muss es sein, das
        Bewusstsein für einen gesunden Lebensstil bei Kindern
        und Jugendlichen zu erreichen . Dafür müssen die Grund-
        lagen des Ernährungswissens im vorschulischen Bereich
        und im Schulunterricht verankert werden . Herr Bundes-
        minister Christian Schmidt setzt sich aus diesem Grund
        auch für ein eigenes Schulfach Ernährung ein . Jedes Kind
        sollte das Einmaleins einer gesunden Ernährung lernen –
        unabhängig von der Herkunft und vom Schultyp . Hierzu
        leistet das EU-Schulprogramm – insbesondere auch im
        Rahmen der begleitenden pädagogischen Maßnahmen –
        einen wichtigen Beitrag .
        Anlage 22
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des von der Bundesregierung eingebrachten
        Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der
        Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe
        – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
        dem Antrag der Abgeordneten Frank Tempel,
        Kathrin Vogler, Matthias W. Birkwald, weite-
        rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN-
        KE: Für eine zeitgemäße Antwort auf neue
        psychoaktive Substanzen
        (Tagesordnungspunkt 28 a und b)
        Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute debattieren
        wir im Rahmen des zugrundeliegenden Gesetzes über die
        Verbreitung von neuen psychoaktiven Stoffen (NPS), um
        durch die neu zu schaffende Regelung ihre Verfügbarkeit
        als Konsum- und Rauschmittel einzuschränken .
        Der Entwurf sieht ein weitreichendes Verbot des Um-
        gangs mit neuen psychoaktiven Stoffen und eine Straf-
        bewehrung des auf eine Weitergabe zielenden Umgangs
        mit NPS vor . Wir schließen damit eine Regelungslücke,
        weil nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes
        vom 10 . Juli 2014 die neuen psychoaktiven Stoffgruppen
        nicht mehr als Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelge-
        setzes eingeordnet werden können . Dies ist nötig, da das
        Auftreten und die Verbreitung von NPS eine Gefahr für
        die öffentliche Gesundheit darstellen können . Es ist in
        diesem Kontext nicht nur eine Regelungslücke, sondern
        auch eine Strafbarkeitslücke entstanden, welche noch
        nicht in die Anlagen des Betäubungsmittelgesetzes auf-
        genommen worden ist .
        Mit der Maßnahme des vorliegenden Gesetzentwurfes
        wird ein klares Signal gegeben, dass es sich um verbote-
        ne und gesundheitsgefährdende Stoffe handelt .
        Die Maßnahmen im Antrag der Fraktion Die Linke
        verkennen das Gefährdungspotenzial von Drogen hin-
        sichtlich der öffentlichen Gesundheit . Sie würden zu
        einer Verharmlosung des Drogenkonsums führen, was
        insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Jugendschut-
        zes nicht hinnehmbar ist . Die gesundheitlichen Schädi-
        gungen und Risiken einer späteren Suchterkrankung sind
        umso höher, je früher der Konsum von Drogen beginnt .
        Denn bei den neuen psychoaktiven Stoffen, den soge-
        nannten Legal Highs, Badesalzen oder Kräutermischun-
        gen handelt es sich, entgegen ihrer harmlosen Namen, um
        hochgefährliche Drogen . Die Verpackungen der Produk-
        te sind so aufgemacht, dass sie gerade bei Jugendlichen
        und jungen Erwachsenen den Eindruck erwecken, dass
        es sich um geprüfte Produkte von standardisierter Qua-
        lität handelt und der Konsum in Deutschland erlaubt ist .
        Hierin ist ein weiteres Problem zu sehen, da genau dies
        eben nicht der Fall ist . Im Gegensatz zu dem Konsum
        von bekannten legalen oder illegalen Drogen, bei denen
        die Gefahren zumindest grundsätzlich auch Jugendlichen
        bekannt sein sollten, ist dies bei Legal Highs nicht der
        Fall, und sie kommen sehr ungefährlich daher, wie etwa
        Energydrinks oder Kautabak .
        Die harmlos wirkenden gegenständlichen Produkte
        enthalten meist Betäubungsmittel oder ähnlich wirkende
        chemische Wirkstoffe in unterschiedlicher Konzentrati-
        on, die auf den bunten Verpackungen nicht ausgewiesen
        werden . Konsumenten rauchen, schlucken oder schnie-
        fen diese Produkte zu Rauschzwecken . Dem Bundeskri-
        minalamt wurden Fälle aus ganz Deutschland bekannt, in
        denen es nach dem Konsum dieser Produkte zu teilweise
        schweren, mitunter lebensgefährlichen Intoxikationen
        kam . Die meist jugendlichen Konsumenten mussten mit
        Kreislaufversagen, Ohnmacht, Psychosen, Wahnvorstel-
        lungen, Muskelzerfall bis hin zu drohendem Nierenver-
        sagen in Krankenhäusern notfallmedizinisch behandelt
        werden . Die Drogenbeauftragte warnt vor den unkalku-
        lierbaren Risiken des Konsums und der möglichen Straf-
        barkeit des Umgangs mit solchen Produkten .
        Ich bin davon überzeugt, dass durch die neue gesetz-
        liche Regelung neben dem Schutz von potenziellen Kon-
        sumenten auch gerade der Jugendschutz nachhaltig ver-
        bessert werden kann .
        Unter neuen psychoaktiven Substanzen werden bei-
        spielsweise auch synthetisch hergestellte Modifikationen
        bereits bekannter Drogen, bzw . Designerdrogen verstan-
        den . So sind bereits mehr als 130 synthetische Cannabi-
        noide entdeckt worden. Deren Rezeptoraffinität ist viel-
        fach stärker als die von Tretrahydrocannabinol (THC) .
        Weiterhin gehören dazu synthetische oder pflanzliche
        Substanzen, die teilweise – noch – nicht im Betäubungs-
        mittelgesetz gelistet sind, etwa synthetische Cathinone,
        sowie „Research Chemicals“, oft chemische Reinsubs-
        tanzen, die typischerweise mit dem Warnhinweis „Not
        for human consumption“ versehen sind und unter ihrem
        tatsächlichen Namen vertrieben werden .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18981
        (A) (C)
        (B) (D)
        Die Prävalenz des Konsums von neuen psychoakti-
        ven Substanzen in Europa sei aus methodischen Grün-
        den schwer zu ermitteln, hieß es bereits im Europäischen
        Drogenbericht 2015 .
        Es gibt leider einen Wettlauf zwischen dem Auftreten
        immer neuer chemischer Varianten bekannter Stoffe und
        den Verbotsregelungen im Betäubungsmittelrecht . Allein
        im Jahr 2015 wurden 98 neue psychoaktive Substanzen
        in der EU registriert, insgesamt bereits 560 und davon
        380 allein in den letzten fünf Jahren . Meist sind es nur
        kleine Veränderungen auf Molekülebene, aber eben die-
        se machen es für uns als Gesetzgeber unmöglich, immer
        wieder nachzusteuern und das Betäubungsmittelgesetz
        entsprechend schnell zu ändern . Diese Hasenjagd wer-
        den wir beenden .
        Deshalb ergänzen wird das Betäubungsmittelgesetz
        nicht um das Verbot einzelner Substanzen, sondern gan-
        zer Stoffgruppen . Neu ist auch, dass wir mit dem verwal-
        tungsrechtlichen Verbot und Sicherstellungs- und Ver-
        nichtungsbefugnissen die Verbreitung der Stoffe effektiv
        bekämpfen können .
        Die Bundesregierung hat mehrfach klargestellt, dass
        Handlungsverbote und Straf- bzw . Bußgeldbewährung
        notwendig sind, um vor allem junge Erwachsene zu
        schützen . Denn sie sind es, die sich oft in Unkenntnis
        der Gefährlichkeit der Stoffe gesundheitlich schädigen .
        Insbesondere werden auch Risiken durch den Mischkon-
        sum mit den neuen psychoaktiven Stoffen und anderen
        Drogen noch unkalkulierbarer .
        Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD bitten ferner
        das Gesundheitsministerium darum, zeitnah nach In-
        krafttreten des Gesetzes im Wege einer Ausschreibung
        dessen Auswirkungen in wesentlichen Bereichen über
        einen Zeitraum von zwei Jahren durch unabhängige Ex-
        pertinnen und Experten evaluieren zu lassen und dem
        Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages diese
        Evaluierung vorzulegen . Die Evaluierung soll insbeson-
        dere die Erfahrungen und Auswirkungen auf den Kon-
        sum von NPS, die Auswirkungen des Verzichts auf die
        Strafbewehrung des Erwerbs und Besitzes von NPS zum
        Eigenkonsum sowie Erfahrungen und Auswirkungen auf
        die Suchthilfe umfassen . Ferner sollen Erfahrungen der
        Strafverfolgungsbehörden und der Justiz beim Vollzug
        des Gesetzes ohne die Möglichkeit der Erhebung von
        Verkehrsdaten, die im Gesetz mit Blick auf die engen
        Vorgaben, unter anderem des EuGH, nicht aufgenomme-
        nen wurde, evaluiert werden . Hierdurch schaffen wir mit
        dem Gesetz auch einen nachhaltigen Problemlösungsan-
        satz .
        Emmi Zeulner (CDU/CSU): Lassen Sie mich mit
        dem Wichtigsten beginnen: Nicht handeln war und ist
        keine Option im Rahmen der neuen psychoaktiven Sub-
        stanzen . Denn die gesamte Gefährlichkeit ist im Moment
        noch nicht genau abzuschätzen, und wir haben als Poli-
        tik einen Schutzauftrag gerade für die Jugendlichen, die
        Zielgruppe der Händler sind und die diesen unberechen-
        baren Substanzen zum Opfer fallen .
        Doch was versteht man unter neuen psychoaktiven
        Substanzen – kurz NPS – überhaupt und was macht sie
        so gefährlich? Verharmlost werden Sie vor allem online
        in bunten Packungen, unter anderem als Badesalze, For-
        schungschemikalien oder Kräutermischungen angebo-
        ten, und suggerieren über den Begriff Legal Highs, dass
        der Inhalt legal und ungefährlich ist, ein legaler Rausch,
        den der Gesetzgeber nicht verbietet und der somit un-
        bedenklich zu sein scheint . Doch nichts könnte weiter
        davon entfernt sein . Die Landeskriminalämter schlagen
        höchsten Alarm; denn seit 2007 steigen die Fallzahlen in
        Verbindung mit NPS rasant an . Alleine in Bayern ist die
        Zahl der Einlieferung von Konsumenten, die aufgrund
        einer Intoxikation durch NPS ins Krankenhaus kamen,
        von sieben im Jahr 2010 auf unglaubliche 305 Intoxikati-
        onen 2015 angestiegen . Auch die Sicherstellungsfälle der
        Polizei in Bayern sind von acht im Jahr 2012 auf 1 341
        2015 explodiert . Davor dürfen wir unsere Augen nicht
        verschließen .
        Bei einem Gespräch mit dem Bayerischen Lande-
        skriminalamt hat sich mir die Schilderung einer Her-
        stellungsart sehr eingeprägt, die eine Gefahr dieser
        Substanzen deutlich zeigt . Bei dem Prozess wird das
        Trägermaterial, wie zum Beispiel verschiedene Kräuter,
        in eine Mischtrommel gegeben und mit den psychisch
        wirksamen Substanzen lose vermengt . Dann kommt es
        zur Abfüllung, das heißt aber, dass bei den ersten Päck-
        chen sehr viel von den relativ harmlosen leichteren Kräu-
        tern sein können, wohingegen die schwereren psychoak-
        tiven Substanzen sich am Boden der Trommel sammeln
        und dadurch bei den letzten Päckchen eine extrem hohe
        Potenzierung erfolgt . Diese Unkalkulierbarkeit der je-
        weiligen Potenz der NPS führt leicht zu Überdosen und
        ist neben dem einfachen anonymisierten Bestellvorgang
        über das Inter- oder Darknet einer der Gründe für die Ge-
        fährlichkeit .
        Doch warum sind die Stoffe dann noch legal? Hier
        stellt sich die größte Herausforderung für uns als Gesetz-
        geber. Denn im Moment findet ein Wettlauf der Hersteller
        mit der Politik statt . Wird ein Stoff über das Betäubungs-
        mittelgesetz in die Illegalität überführt, so wird innerhalb
        weniger Tage oder sogar Stunden ein neuer synthetischer
        Stoff durch eine minimale Veränderung der chemischen
        Zusammensetzung hergestellt, und es ergibt sich wieder
        eine zunächst legale Substanz . Deren Aufnahme in das
        BtMG muss dann wieder in einem aufwändigen Evidenz-
        prozess neu geprüft werden . Kurz gesagt: Es muss erst
        eine relevante Anzahl an Konsumenten nachweislich ge-
        schädigt worden sein, bevor eine Aufnahme ins Gesetz
        möglich ist . Doch wie viele jungen Menschen sollen die-
        sen Stoffen noch zum Opfer fallen und im schlimmsten
        Fall sterben, bis wir endlich Ihrer Ansicht nach handeln
        müssen, liebe Fraktion Die Linke?
        Der Handlungsbedarf besteht jetzt . Denn konnten
        manche Substanzen, die nicht dem BtMG unterfallen,
        vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im
        Jahr 2014 noch in das Arzneimittelgesetz eingeordnet
        werden, so fällt auch diese Möglichkeit nun weg . Der
        EuGH hat festgehalten, dass NPS nicht unter den Arznei-
        mittelbegriff fallen, weil sie gerade keine gesundheitsför-
        dernde Wirkung haben . Diese Entscheidung war absolut
        richtig . Doch sie hat eine Strafbarkeitslücke geschaffen .
        Unterfällt der Stoff nicht dem BtMG oder dem AMG,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618982
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        so kann er weiter im rechtsleeren und straflosen Raum
        gehandelt werden . Dies konnten wir nicht hinnehmen .
        Das Gesetz ist eine zwingende Konsequenz aus unserem
        Schutzauftrag für die Konsumenten von Substanzen, die
        über eine schwere Abhängigkeit bis zum Tode führen
        können .
        Um diese Lücke zu schließen und dem Katz-und-
        Mausspiel wirksam entgegenzutreten, unterstellen wir
        ganze Stoffgruppen der Strafbarkeit des neuen Gesetzes .
        So erschweren wir es den Herstellern die gezielte Modi-
        fikation, um der Illegalität zu entkommen. Kurz gesagt:
        Das Gesetz macht aus Legal Highs Illegal Highs . Hierbei
        geht es uns nicht um das Kriminalisieren der Konsumen-
        ten, sondern um den Schutz der Menschen vor hochge-
        fährlichen Substanzen und das Vorgehen gegen den Han-
        del damit .
        Um dieses Ziel zu erreichen setzt das Gesetz an meh-
        reren Stellen an: Erstens mit dem bereits erwähnten
        Verbot ganzer Stoffgruppen . Hier bestanden die Heraus-
        forderung darin, die Gruppen einerseits nicht so weit zu
        definieren, dass im Wege der Verordnungen möglichst
        wenig nachgesteuert werden muss, sie andererseits aber
        auch so eng zu fassen, dass ausschließlich psychoaktiv
        wirkende Stoffe dem Verbot unterfallen . Hier hat das
        Bundesgesundheitsministerium mit den Experten bei
        dem Zusammenstellen der Stoffgruppen eine unglaubli-
        che Arbeit geleistet . Danke dafür .
        Zweitens mit dem umfassenden Verbot des Handels,
        der Herstellung, der Ein-, Durch- und Ausfuhr, des Er-
        werbs, Besitzes und Verabreichens von NPS . Um gerade
        bei der noch geringen Evidenzlage keine Vorverurteilung
        der Konsumenten zu erwirken, wurden Besitz und Er-
        werb nicht der Strafbarkeit unterstellt . Dieser Punkt wird
        jedoch auch im Rahmen der Evaluation auf seine Wirk-
        samkeit hin überprüft werden . Denn gerade aufgrund der
        Schnelligkeit bei der Anpassung der Herstellung der NPS
        müssen wir hier immer aktuell bleiben, unsere Vorgaben
        überprüfen und, wenn nötig, zielgerichtet anpassen . Das
        Gesetz wird sich stetig weiterentwickeln . Doch wir ha-
        ben eine sehr gute Grundlage dafür geschaffen .
        Drittens geben wir den Strafverfolgungsbehörden
        Instrumente an die Hand, die ihnen Ermittlung, Sicher-
        stellung, Vernichtung und Handhabe gegen die Herstel-
        ler und die Händler erleichtern . Diese geben der Polizei
        mehr Handlungssicherheit und haben auch eine wichtige
        präventive Wirkung . Im Rahmen der Evaluation wird
        sich ergeben, ob wir die Instrumente erweitern müssen .
        Viertens haben wir ein sehr gutes System der Straf-
        tatbestände und Strafrahmen geschaffen, das sowohl in
        der strafrechtlichen Vorwerfbarkeit differenziert als auch
        im Strafrahmen, was dem Umstand gerecht wird, dass
        uns für viele Stoffe noch die langjährigen Evidenzstudi-
        en fehlen . Bei den Tatalternativen selbst unterscheiden
        wir gerade auch danach, ob hier gewerbsmäßig gehan-
        delt wird oder ob die NPS an Minderjährige abgegeben
        werden . Hier fällt die Strafe natürlich höher aus . Diese
        Unterscheidung ist wichtig, um hier individuell auch
        wirklich härter gegen den Handel vorzugehen, der gezielt
        junge Menschen anspricht .
        Am Ende bleibt mir, meine Worte vom Beginn zu
        wiederholen: Nicht handeln war hier keine Option . Ich
        lehne daher den Antrag von der Linken deutlich ab und
        begrüße den Gesetzentwurf ausdrücklich . Nicht die von
        Ihnen geforderte Legalisierung von Cannabis löst un-
        ser Problem, sondern ein aktives Vorgehen gegen diese
        neuen Strukturen und Substanzen . Denn mit dem NPSG
        nehmen wir diese neuen Stoffe mit Ihrer ganzen Ge-
        fährlichkeit ernst und schaffen einen guten Schutz- und
        Strafrahmen, der so dringend erforderlich ist . Wir dürfen
        nicht weiter tatenlos zusehen, wie diese neuen Drogen
        uns überschwemmen und die Zahl der Opfer exponentiell
        ansteigt . Wir mussten handeln, und dies haben wir mit
        dem neuen Gesetz getan .
        Burkhard Blienert (SPD): Der aktuelle Drogenbe-
        richt der Bundesregierung führt aus, dass im Jahr 2015
        insgesamt 39 NPS in Deutschland entdeckt wurden, die
        noch nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt wa-
        ren . Auf europäischer Ebene weist der Europäische Dro-
        genbericht 2016 im selben Jahr 98 neue Substanzen aus .
        Seit 2008, dem Jahr, in dem mit der Erfassung der NPS
        begonnen wurde, ist somit die Zahl auf rund 550 Sub-
        stanzen gestiegen . Alleine in 2015 gab es in Deutschland
        39 Todesfälle . Es war also dringend Zeit zum Handeln .
        Es war überdeutlich, dass der Weg, im Anhang zum Be-
        täubungsmittelgesetz die Substanzen aktualisiert aufzu-
        nehmen, nicht erfolgreich ist und der Wettlauf mit dem
        Kreieren neuer Substanzen nicht auf diese Weise gewon-
        nen werden kann .
        Mit dem heutigen Tag vollziehen wir nun einen wich-
        tigen Schritt hin zu einer neuen, moderneren Drogenpo-
        litik .
        Ich danke daher der Drogenbeauftragten, dass sie sich
        dieser komplexen Problemlage angenommen hat und
        trotz aller Widerstände an dem nun gefundenen Weg fest-
        gehalten hat .
        Mit dem vorliegenden Gesetz und der hierin bein-
        halteten Stoffgruppenstrafbarkeit beenden wir nun zum
        einen das leidige „Hase-und-Igel-Spiel“ zwischen Her-
        stellern dieser sogenannten Legal Highs und den Ord-
        nungsbehörden .
        Und zum Zweiten sehen wir von einer Strafverfol-
        gung des Konsumenten ab . Er bleibt somit quasi straffrei .
        Zukünftig bestrafen wir also Hersteller und Händler,
        nicht aber mehr den Konsumenten . Wir beenden somit
        auch die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Per-
        sonen, die diese Stoffe zum Aufputschen nehmen . Ich be-
        danke mich an dieser Stelle ausdrücklich auch bei allen
        Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern, die im Bun-
        desrat ebenfalls dieser Linie gefolgt sind, und auch bei
        meinen Fachkollegen im Gesundheitsausschuss, die an
        dieser Stelle den Ratschlägen der Experten und nicht den
        Rufen nach einer strikten Kriminalisierung gefolgt sind .
        Mit diesem neuen Ansatz eröffnen wir die Möglich-
        keit für eine verbesserte Präventionsarbeit . Wir brand-
        marken nicht mehr Konsumenten und bestrafen trotzdem
        die Händler und Hersteller dieser gefährlichen Stoffe .
        Wir können jetzt aber offen in einen Dialog mit Betrof-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18983
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        fenen über die Beweggründe des Konsums eintreten und
        Auswege aus der Sucht erarbeiten .
        Wichtig in Hinblick auf eine vorsorgende und ler-
        nende Präventionspolitik ist aber auch, dass Wirkungen
        dieser Gesetzgebung überprüft werden . Uns Sozialdemo-
        kraten war es daher wichtig, entsprechende Evaluationen
        ins Gesetz zu schreiben, die nach zwei Jahren stattzufin-
        den haben . Anhand der dann erhobenen Daten werden
        wir ablesen können, ob sich die Schwerpunktsetzung auf
        die Händlerebene bewährt hat .
        An dieser Stelle möchte ich allerdings auch noch ei-
        nen Aspekt aus der öffentlichen Anhörung anbringen, der
        für zukünftige Debatten im Bereich der Drogenpolitik
        und insbesondere der Cannabispolitik von Bedeutung
        sein dürfte: die angenommene Ausweichbewegung bei
        den Produzenten .
        Wir müssen natürlich im Blick haben, ob findige Her-
        steller über die definierten Stoffgruppen hinaus nun nach
        Substanzen suchen und diese dann schließlich auch auf
        dem Markt anbieten, die den nun verbotenen Stoffen in
        ihrer Wirkung ähneln . Sollte dies passieren, werden wir
        handeln!
        Lassen Sie mich aber an dieser Stelle auch noch mal
        einen weiteren Gedankenanstoß formulieren: Wer sich
        einen Überblick verschafft, wo die Problematik des
        NPS-Konsums besonders virulent ist, der erkennt sehr
        schnell, dass starke regionale Unterschiede beim Konsum
        der NPS gibt . Daher drängt sich der Verdacht auf, dass
        es auf Konsumentenseite Ausweichbewegungen gibt . Es
        liegt auf der Hand, dass viele Konsumenten Sorge haben,
        durch den Konsum anderer Drogen, wie beispielsweise
        Cannabis, kriminalisiert zu werden und daher auf die
        „legalen“ Badesalze und Kräutermischungen auswei-
        chen . Es dürfte daher schon mehr als ein Zufall sein, dass
        insbesondere in Bayern, dem Land mit der striktesten
        Verbotspolitik in Hinblick auf den Cannabiskonsum, die
        Konsumentenzahlen der Legal Highs relativ hoch sind .
        Ich plädiere daher auch an dieser Stelle dafür, dass wir
        uns nun auch offen der Diskussion um die Entkrimina-
        lisierung des Cannabiskonsums stellen . Natürlich darf
        es nicht darum gehen, Süchte zu banalisieren und den
        Cannabisrausch für alle zu legitimieren . Aber wir sollten
        uns endlich einen Ruck geben, von Bundesseite in abseh-
        barer Zeit zu ermöglichen, dass Modellkommunen einen
        regulierten Markt erproben .
        Martina Stamm-Fibich (SPD): Kräutermischungen,
        das sind für mich Teesorten – sonst nichts . Mit diesem
        Gedanken habe ich im April 2016 an Schulen in meinem
        Wahlkreis Erlangen eine Aufklärungskampagne gestar-
        tet . Im Vorfeld wurde ich immer wieder von Bürgerinnen
        und Bürgern und durch die lokale Presse auf die schlim-
        men Nebenwirkungen der sogenannten „Legal Highs“
        aufmerksam gemacht .
        „Legal Highs“ heißen richtigerweise neue psychoakti-
        ve Substanzen – oder abgekürzt NPS . Und dass die Dro-
        gen bislang legal waren, lag vor allem daran, dass die
        Hersteller der Drogen immer neue Substanzen kreiert ha-
        ben, wenn alte Stoffe von den Drogenbehörden erkannt
        und verboten wurden . Mit dem Gesetz zur Bekämpfung
        der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe werden die
        meisten der „Legal Highs“ nun illegal . Dieser Schritt ist
        wichtig und längst überfällig . Denn aktuell liefern sich
        Drogenhersteller und Drogenbehörden ein regelrechtes
        Katz-und-Maus-Spiel . Kaum entdecken die Behörden
        einen Stoff und verbieten die Zusammensetzung, wan-
        deln die Drogenhersteller die Inhaltsstoffe leicht ab und
        verkaufen künftig eine ebenso gefährliche Droge unter
        anderem Namen . Die Suche der Drogenbehörden beginnt
        dann erneut. Bis die Zusammensetzung identifiziert wer-
        den kann, vergeht wertvolle Zeit . Und in dieser Zeit kon-
        sumieren vor allem junge Menschen Drogen, die harm-
        lose Namen tragen, aber gefährliche Nebenwirkungen
        haben können . Konsumenten berichten von Panikatta-
        cken, Kreislaufproblemen, und Orientierungsverlust . So-
        gar Fälle von Herzstillstand sind bekannt . In Deutschland
        sind im vergangenen Jahr 25 Menschen an den Drogen
        gestorben .
        Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Verbreitung
        neuer psychoaktiver Stoffe sagt die Bundesregierung
        nun den Drogenherstellern den Kampf an . Denn künftig
        lassen sich ganze Stoffgruppen listen . Zwei Drittel der
        Stoffe, die Drogenhersteller verwenden können, werden
        mit den Stoffgruppen dann erfasst . Sie sind also quasi
        von vornherein verboten . Das Gesetz liest sich jetzt zwar
        wie ein Chemie-Lehrbuch, der Umfang macht es aber
        erst möglich, so viele Stoffe wie möglich abzudecken .
        Zwei Stoffgruppen sind hier besonders hervorzuheben:
        synthetische Cannabinoide, also Stoffe, die die Wirkung
        von Cannabis imitieren sollen – Konsumenten erwerben
        diese Stoffe unter dem Namen Kräutermischungen und
        den Amphetaminen verwandte Stoffe, käuflich zu erwer-
        ben unter dem harmlosen Namen Badesalze .
        Im fränkischen Forchheim wurde vor kurzem ein
        Laden geschlossen, der illegal Kräutermischungen und
        Badesalze vertrieb . Statt in solchen Läden können die
        Konsumenten „ihren Stoff“ aber auch viel einfacher be-
        ziehen: Sie bestellen die Drogen schnell und bequem im
        Internet und lassen sie zu sich nach Hause liefern . Das
        macht allerdings die Problematik noch größer und gravie-
        render . Denn dass junge Menschen leicht an die Drogen
        kommen, bedeutet nicht, dass die Drogen deshalb harm-
        los sind . Schwerer ist es dagegen, an die Konsumenten
        heranzukommen und sie über die Gefahren aufzuklären .
        Neben der gesetzlichen Regelung müssen für mich
        deshalb ganz klar auch Prävention und Aufklärung ste-
        hen . Wir müssen den Drogen den harmlosen Anschein
        nehmen und über die Risiken aufklären . Meine Aufklä-
        rungskampagne „Kräutermischung – Tee sonst nix“ ist
        bei den Schulen auf sehr große Resonanz gestoßen . Ge-
        meinsam mit der örtlichen Drogenhilfe mudra und dem
        größten Teeanbieter der Region gehe ich an Schulen und
        kläre Jugendliche über die Gefahren der Drogen auf . Die
        Mitarbeiter der mudra stellen sehr anschaulich dar, wel-
        che Gefahren in den Drogen stecken. Häufig werden sie
        von Eltern begleitet, die selbst ein Kind durch Drogen-
        konsum verloren haben . Mit der Kampagne sprechen wir
        die Probleme an, wir holen das Thema aus der Versen-
        kung und lassen zu, dass sich junge Menschen mit der
        Problematik auseinandersetzen . Wir zeigen ganz klar,
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618984
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        dass es hier nicht um Spaß geht, sondern dass der Kon-
        sum Leben kosten kann .
        Das zeigt auch ein erschreckender Vorfall vom
        Mai 2016 . Damals wurden in meinem Wahlkreis drei
        Teenager bewusstlos aufgefunden und ins Krankenhaus
        gebracht, nachdem sie Kräutermischungen konsumiert
        hatten . Solche Meldungen allein schrecken offensichtlich
        nicht ausreichend ab . Mittlerweile habe ich gemeinsam
        mit der mudra mehr als 14 Schulklassen in meinem Wahl-
        kreis besucht . Jede Schülerin und jeder Schüler bekommt
        am Schluss ein Päckchen echte Kräutermischungen von
        mir, also Tee – sonst nichts . Das soll zum kritischen
        Nachdenken anregen – auch dann, wenn das Gespräch
        vorbei ist . Lehrerinnen und Lehrer sind dankbar über die-
        ses Angebot . Viele sind mittlerweile verzweifelt, weil sie
        die Probleme zwar erkennen, aber nicht wissen, wie sie
        mit ihnen umgehen sollen .
        Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Verbreitung neu-
        er psychoaktiver Stoffe machen wir nun die rechtliche
        Seite wasserdicht . Wir deklarieren verbotene Stoffe . Und
        weil ein Verbot ohne Strafe höchst unwirksam ist, defi-
        niert das Gesetz auch das Strafmaß . Verboten werden ge-
        nerell die Herstellung, das Inverkehrbringen, der Handel
        und die Einführung der Drogen . Einzeltäter müssen mit
        einer Geldstrafe und mit bis zu drei Jahren Haft rechnen .
        Dealer und Banden müssen mit Haftstrafen von bis zu
        zehn Jahren rechnen .
        Aufklären müssen wir auch weiterhin – trotz neuem
        Gesetz . Wir haben noch einen weiten Weg, um den Ge-
        fahren der neuen psychoaktiven Substanzen angemessen
        begegnen zu können . Das Gesetz ist ein erster wichtiger
        Schritt . Aber er wird und kann nicht der letzte sein .
        Frank Tempel (DIE LINKE): Ganz offensichtlich
        ist der Bundesregierung ihre eigene Drogenpolitik zu
        peinlich . Deswegen diskutieren wir sie nicht im Ple-
        num . Stattdessen hat die Regierung unseren Tagesord-
        nungspunkt auf 00 .55 Uhr angesetzt . Das verhindert jede
        sinnvolle Debatte . Dabei müssten 39 Tote im Jahr 2015
        durch den Konsum von sogenannten neuen psychoakti-
        ven Stoffen – kurz NPS – eine parlamentarische Debatte
        im Plenum notwendig machen .
        Diese 39 Toten sind ein trauriges Sinnbild für die völ-
        lig verfehlte Drogenpolitik dieser Bundesregierung . Sie
        setzt vor allem auf das Mittel der Strafverfolgung . Die
        Verbotspolitik steckt den Kopf vor den Problemen in den
        Sand . Diese Drogenpolitik setzt darauf, dass mit einem
        Verbot auch die drogenbezogenen Probleme aus der Welt
        geschaffen werden . Gemessen an den Zielen der Scha-
        densminimierung und Generalprävention ist diese Ver-
        botspolitik aber krachend gescheitert .
        Gerade die immer stärkere Verbreitung von NPS ist
        eine direkte Folge des Drogenverbots . Beispiele aus Bay-
        ern, Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Län-
        dern zeigen: NPS werden vor allem dort konsumiert, wo
        der Preis und der Zugang zu illegalisierten Substanzen zu
        hoch und zu teuer sind . Konsumierende verzichten dann
        eben nicht auf Rauschmittel, sondern greifen dann quasi
        als Ersatz auf NPS zurück . Dabei sind diese Substanzen
        in ihrer Vielzahl überhaupt nicht erforscht . Insbesondere
        über die Langzeitrisiken des Konsums ist nichts bekannt .
        Übrigens ist dieses Ausweichverhalten keineswegs neu
        oder nur auf NPS beschränkt: Ich darf daran erinnern,
        das Schnüffeln von Klebstoff folgt der gleichen Logik .
        Es berauscht und dient als Ersatz für andere illegalisierte
        Substanzen . Trotzdem würde niemand auf die Idee kom-
        men, Klebstoff zu verbieten .
        Mit einem neugeschaffenen Gesetz zur Bekämpfung
        der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe überträgt die
        Bundesregierung nun den Verbotsansatz auf eine Viel-
        zahl von Substanzgruppen . So richtig es ist, die Verbrei-
        tung von NPS nicht unreguliert dubiosen Händlern zu
        überlassen, so falsch ist es, NPS durch ein Stoffgruppen-
        verbot zu begegnen . Diese Verbotspolitik wird weder die
        Verbreitung von NPS mindern noch wird sie die Anzahl
        der Drogentoten senken . Viel wahrscheinlicher ist, dass
        noch viel gefährlichere psychoaktive Stoffe durch die
        Produzenten entwickelt werden, um die Verbote immer
        weiter zu umgehen . Ihre Politik befeuert geradezu die
        Entwicklung immer riskanterer Substanzen .
        Mit der Ausweitung der Verbotspolitik auf NPS wird
        eine noch stärkere Versicherheitlichung der Drogenpoli-
        tik stattfinden. Was heißt das konkret? Der Gesetzentwurf
        möchte Maßnahmen und Befugnisse in der Telekommu-
        nikationsüberwachung erweitern, weil der Großteil der
        NPS online gehandelt wird . Zur Erinnerung: Schon jetzt
        findet die Hälfte aller Überwachungsanordnungen in der
        Telekommunikation aufgrund des Betäubungsmittelge-
        setzes statt . Täglich greifen Polizei und Staatsanwalt-
        schaft in die Grundrechte der Menschen ein, bis hin zum
        Eigenbedarfskonsumierenden . Diese Eingriffe in die per-
        sönlichen Freiheitsrechte werden zukünftig noch häufi-
        ger und noch eklatanter stattfinden und sind auf keinen
        Fall verhältnismäßig .
        Der im Gesetz vorgesehene Straftatbestand des Inver-
        kehrbringens ist der Grund, weshalb ich im Übrigen auch
        nicht die Hoffnung teile, dass künftig der bloße Besitz
        von NPS als entkriminalisiert gilt . Diese Hoffnung hat-
        ten einige Sachverständige bei der Anhörung im Gesund-
        heitsausschuss geäußert . Tatsächlich macht sich ein Kon-
        sumierender wegen des Inverkehrbringens oder wegen
        des Anstiftens zum Inverkehrbringen von NPS strafbar,
        wenn sie oder er bei einem ausländischen Onlineshop
        NPS bestellt . Dies gilt prinzipiell auch bei einer Bestel-
        lung bei einem inländischen Onlineshop . In diesem Fall
        werden aber zukünftige Gerichtsurteile zeigen, inwiefern
        Konsumierende wegen Anstiftung zum Inverkehrbringen
        belangt werden können . Schließlich hat der inländische
        Onlinehandel dann bereits NPS in Deutschland vorrätig
        gehalten . Zur Frage einer möglichen Kriminalisierung
        von NPS-Konsumierenden können Sie sich sehr gerne
        eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des
        Bundestages durchlesen, die ich in Auftrag gegeben und
        auf meiner Homepage dokumentiert habe .
        Die Alternative zum NPS-Verbot hat Die Linke in
        ihrem Antrag benannt . Der wichtigste Punkt lautet: Wir
        brauchen endlich einen regulierten Zugang zu Cannabis .
        Erst wenn Cannabis legal erhältlich ist, wird ein Groß-
        teil der NPS in Deutschland verschwinden . Warum bin
        ich davon überzeugt? Zwei Drittel aller in Deutschland
        konsumierten NPS sind synthetische Cannabinoide . Sie
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18985
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        werden konsumiert, weil für die Betroffenen Cannabis
        nicht verfügbar ist, weil sie große Sorge vor Strafver-
        folgungsbehörden haben oder weil sie den Verlust ihres
        Führerscheins befürchten, der ihnen bei Cannabiskon-
        sum droht . Synthetische Cannabinoide sind dann eine
        Ersatzlösung . Dabei würden sie lieber das vergleichs-
        weise gut erforschte Cannabis konsumieren, anstatt sich
        unerforschten Kräutermischungen auszusetzen . Regulie-
        ren Sie Cannabis, dann wird zumindest ein Großteil des
        NPS-Konsums der Vergangenheit angehören .
        Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Anzahl neuer psychoaktiver Substanzen NPS steigt
        seit Jahren . Die Substanzen werden derzeit, vor allem
        im Onlinehandel, als scheinbar harmlose und legale Al-
        ternativen zu klassischen Substanzen wie Cannabis oder
        Ecstasy angeboten . Obwohl sich abzeichnet, dass der
        Konsum von NPS nicht harmlos ist und zu gesundheit-
        lichen Schäden führen kann, fehlt es bislang an einer
        entschlossenen Initiative der Bundesregierung über das
        Risiko der Stoffe aufzuklären und die Konsumentinnen
        und Konsumenten präventiv mit diesbezüglichen Infor-
        mationen zu versorgen . Trotz fehlender Risikoanalyse
        und Vernachlässigung der Prävention legt die Regierung
        ein undifferenziertes Verbotsgesetz vor . Natürlich gilt es,
        die Gesundheit des Einzelnen sowie der Allgemeinheit
        zu schützen . Doch die vorgeschlagenen Regelungen, die
        dieses Ziel vermeintlich erreichen sollen, lehnen wir als
        wenig geeignet ab .
        Die Bundesregierung ist nicht bereit und in der Lage,
        aus den Fehlern der derzeitigen repressiven Drogenpolitik
        zu lernen . Auch der uns jetzt vorliegende Gesetzentwurf
        spiegelt eindrücklich die naive Vorstellung, eine drogen-
        freie Welt errichten zu können, wider . Diese Vorstellung
        ist nicht nur überholt, sie ist auch nicht durchsetzbar . Das
        Verbot – ob Betäubungsmittelgesetz oder Stoffgruppen-
        verbot – hält nicht vom Konsum ab . Das zeigt doch die
        langjährige Erfahrung mit dem Betäubungsmittelgesetz .
        Ich kann die Bundesregierung daher nur nachdrücklich
        dazu auffordern, endlich eine externe wissenschaftliche
        Evaluierung der Auswirkungen der Verbotspolitik für
        illegalisierte Betäubungsmittel zuzustimmen und dem
        Bundestag zeitnah einen Bericht über die Ergebnisse
        vorzulegen . Dies haben wir Grüne gemeinsam mit der
        Linken in einem überfraktionellen Antrag bereits zu Be-
        ginn der Legislaturperiode gefordert .
        Der Gesetzentwurf verfehlt gleich mehrfach sein Ziel .
        Auch in anderen Ländern, die Stoffgruppenregelungen
        eingeführt haben, konnte die Nachfrage nach neuen psy-
        choaktiven Substanzen nicht nachhaltig gesenkt werden .
        Das Stoffgruppenverbot kann deshalb wenig dazu beitra-
        gen, dass die gesundheitlichen Schäden infolge des Kon-
        sums von neuen psychoaktiven Substanzen nennenswert
        reduziert werden, im Gegenteil . Das Verbot ist vielmehr
        ein Katalysator für die organisierte Kriminalität . Es führt
        in der Konsequenz zu einem völlig unregulierten Markt,
        auf dem es keinen Jugend- und Verbraucherschutz gibt .
        Zudem werden die gesundheitlichen Risiken einer Sub-
        stanz auf dem Schwarzmarkt erfahrungsgemäß größer;
        denn Zusammensetzung und Wirkstoffgehalt der Pro-
        dukte bleiben weiter unklar . Dies reduziert nicht die ge-
        sundheitlichen Konsumrisiken für Konsumentinnen und
        Konsumenten, sondern erhöht sie .
        Außerdem sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass das
        bestehende Drogenverbot erst den Markt für neue psy-
        choaktive Substanzen bereitet hat . Konsumentinnen und
        Konsumenten suchen nicht immer nach dem Kick oder
        nach der nächsten neuen, stärkeren Rauscherfahrung .
        Selbst wenn, würde man diese Gruppe von Konsumen-
        tinnen und Konsumenten auch mit einem Stoffgruppen-
        verbot nicht vom Konsum abhalten können . Es handelt
        sich aber bei dem Großteil der Konsumentinnen und
        Konsumenten um ein schlichtes Ausweichverhalten .
        Der größte Teil der Konsumentinnen und Konsumenten
        weicht auf diese Substanzen aus, um das Verbot illegaler
        Drogen, insbesondere das derzeitige Cannabis-Verbot, zu
        umgehen . Untersuchungen haben gezeigt, dass die Kon-
        sumentinnen und Konsumenten von Räuchermischun-
        gen, in denen synthetische Cannabinoide enthalten sind,
        natürliches, wesentlich risikoärmeres Cannabis bevorzu-
        gen, jedoch vor der Beschaffung auf dem Schwarzmarkt,
        der Nachweisbarkeit der natürlichen Cannabisstoffe in
        Drogentests und dem Verlust des Führerscheins zurück-
        schreckt . Durch Ihre Politik erhöhen Sie das Risiko für
        die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Sie doch ei-
        gentlich schützen wollen .
        Das Stoffgruppenverbot wird zudem die Marktdyna-
        mik verschärfen . Der Onlinehandel, der vor allem aus
        Asien bedient wird, wird durch das Stoffgruppenverbot
        nicht eingedämmt werden können . Die deutschen Straf-
        verfolgungsbehörden haben allenfalls im Rahmen von
        Kooperationen mit ausländischen Behörden Handlungs-
        macht . Auch die Zollbehörden werden nicht in der Lage
        sein, sämtliche Lieferungen aus dem Ausland an Privat-
        personen zu kontrollieren . Hier sind allenfalls Stichpro-
        ben möglich .
        Das Stoffgruppenverbot wird auch das Katz- und
        Mausspiel von Anbietern und Gesetzgeber nicht verhin-
        dern . Die organisierte Kriminalität wird weitere Substan-
        zen auf den Markt bringen, die weder dem Stoffgruppen-
        verbot noch dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen .
        Diese neuen Substanzen können mitunter weitaus ge-
        fährlicher als „klassische“ Substanzen sein, da über ihre
        Wirkung und mögliche gesundheitliche Risiken aufgrund
        ihrer Neuartigkeit noch weniger bekannt ist .
        Wie auch schon das Betäubungsmittelrecht, so wird
        auch das Stoffgruppenverbot die Forschung und den
        Erkenntnisgewinn über neue psychoaktive Substanzen
        hemmen . Dieser wäre jedoch insbesondere für die me-
        dizinische Versorgung sowie Prävention dringend er-
        forderlich . Denn erst wenn aussagekräftige Ergebnisse
        zum Risikopotenzial sowie Substanzanalyseverfahren
        zur Verfügung stehen, kann eine optimale medizinische
        Behandlung erfolgen . Gerade für die Behandlung in der
        Notaufnahme bei Menschen mit Vergiftungserscheinun-
        gen ist es wichtig, durch Analyseverfahren festzustellen,
        um welche Droge es sich handelt, um die entsprechende
        Therapie durchzuführen .
        Obwohl die Bundesregierung immer betont, dass sie
        in ihrer Drogenpolitik die Säule der Prävention nicht ver-
        gisst, blendet sie eine Implementierung entsprechender
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618986
        (A) (C)
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        verhaltenspräventiver Maßnahmen in ihren Gesetzent-
        würfen regelmäßig aus . Vielmehr untergräbt das Verbot
        Information und Aufklärung, da die neuen psychoakti-
        ven Substanzen in die Illegalität gedrängt werden . Dabei
        ist für einen verantwortungsvollen Umgang mit neuen
        psychoaktiven Substanzen die Aufklärung über Kon-
        sumrisiken und Suchtgefahren unerlässlich . Glaubhafte
        Aufklärung trägt dazu bei, dass (potenzielle) Konsumen-
        tinnen und Konsumenten Maßnahmen der Schadens-
        minderung kennenlernen oder sogar ganz vom Konsum
        absehen . Denn erst wenn ich weiß, um welchen Stoff es
        sich handelt, können die Risiken benannt werden und
        über diese aufgeklärt werden . Die Aufklärung kann auch
        dazu beitragen, dass potenzielle Konsumierende von der
        Idee oder dem Vorhaben, neue psychoaktive Substanzen
        einzunehmen, Abstand nehmen . Auch die Wichtigkeit
        der Etablierung des Drug Checkings, der sich die Bun-
        desregierung seit Jahren in den Weg stellt, sei hier noch
        einmal erwähnt . Nicht nur, dass auf diese Weise neue
        Substanzen schneller identifiziert werden können. In der
        Schweiz und den Niederlanden sind die Erfahrungen
        mit Drug-Checking-Programmen positiv und tragen zur
        Schadensminderung bei . Der Gesetzentwurf enthält noch
        nicht einmal eine Regelung, durch die die Auswirkun-
        gen des einzuführenden Stoffgruppenverbotes überprüft
        werden .
        Ziel einer modernen und am Menschen orientier-
        ten Drogenpolitik muss immer sein, die Schäden durch
        riskanten Drogenkonsum zu reduzieren . Ein regulierter
        Markt, der sich an dem Gefährlichkeitspotenzial einer
        Substanz orientiert und der verhältnispräventive sowie
        verhaltenspräventive Maßnahmen berücksichtigt, kann
        den Jugend- und Verbraucherschutz verbessern sowie
        deutlich mehr Spielräume für glaubwürdige Suchtprä-
        vention schaffen . Das Verbot und das Strafrecht sind hier
        der falsche Ansatz und tragen nicht zur Schadensminde-
        rung bei .
        Darum fordern wir die Bundesregierung in unserem
        Entschließungsantrag auf einen Gesetzentwurf vorzule-
        gen, der folgende Aspekte berücksichtig: Erstens sollen
        neue psychoaktive Substanzen auf Grundlage einer wis-
        senschaftlichen Risikobewertung reguliert werden . Hier-
        bei ist Rechtssicherheit zu schaffen, welcher Umgang mit
        neuen psychoaktiven Substanzen erlaubt ist, insbesonde-
        re in der Medizin, Wissenschaft und Forschung sowie In-
        dustrie als auch für Konsumentinnen und Konsumenten .
        Zweitens müssen suchtpräventive Maßnahmen eta-
        bliert werden, um Konsumentinnen und Konsumenten
        über die Risiken des Konsums neuer psychoaktiver Sub-
        stanzen wirksam aufzuklären . Dazu gehören Maßnah-
        men zur Schadensminderung wie die Einführung von
        Drug-Checking-Projekten sowie die Sicherstellung des
        Zugangs zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten bei pro-
        blematischem Konsumverhalten .
        Drittens muss die Cannabis-Prohibition endlich been-
        det werden und ein Regulierungssystem für eine staatlich
        kontrollierte Abgabe von Cannabis geschaffen werden,
        das einen wirksamen Jugend- und Verbraucherschutz so-
        wie glaubhafte Suchtprävention sicherstellt und hilft, den
        derzeitigen Schwarzmarkt auszutrocknen . Hierzu haben
        wir bereits mit unserem grünen Entwurf eines Cannabis-
        kontrollgesetzes einen konstruktiven Vorschlag gemacht,
        den es nur noch zuzustimmen gilt .
        Schließlich müssen die Forschungsvorhaben zu neuen
        psychoaktiven Substanzen gefördert werden, um den Er-
        kenntnisgewinn über die jeweiligen Substanzen zu erhö-
        hen, eine Bewertung des Gefährlichkeitspotenzials zu er-
        möglichen, Substanzanalyseverfahren zu entwickeln und
        zu verbessern sowie medizinische und therapeutische
        Leitlinien zur Behandlung von Konsumierenden im Not-
        fall sowie bei Abhängigkeitserkrankungen zu erarbeiten .
        Anlage 23
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
        abfallverbringungsrechtlicher Vorschriften
        (Tagesordnungspunkt 29)
        Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Wir beraten heu-
        te abschließend einen Gesetzentwurf der Bundesregie-
        rung zum Abfallrecht . Es handelt sich um das Gesetz zur
        Änderung abfallverbringungsrechtlicher Vorschriften .
        Lassen Sie mich einen kurzen Überblick darüber geben,
        um was es bei diesem Gesetz geht .
        Das Außerlandesschaffen von gefährlichem Abfall
        hatte in Europa über Jahrzehnte eine traurige Tradition .
        Bis in die 70er-Jahre wurde sogenannter Giftmüll, den
        man selbst nicht vernünftig entsorgen konnte oder woll-
        te, illegal über die Landesgrenze gebracht . Ein erster
        Schritt zur Bekämpfung dieser Zustände war das Baseler
        Abkommen, dem Deutschland 1995 beitrat . Das Abkom-
        men stellte erstmals weltweit geltende Regelungen über
        den Export von gefährlichen Abfällen auf . Abfallexporte
        benötigen seitdem die Zustimmungen der Behörden des
        Ausfuhrlandes, sämtlicher Durchfuhrländer sowie des
        Einfuhrlandes .
        Aufbauend auf dem Baseler Abkommen traten in der
        Folge eine ganze Reihe von europäischen und nationa-
        len Gesetzen und Verordnungen in Kraft . Maßgeblich für
        Deutschland ist hier das Abfallverbringungsgesetz von
        1994 . Sie alle hatten und haben das Ziel, den illegalen
        In- und Export von gefährlichen Abfällen zu kontrollie-
        ren und gegebenenfalls zu unterbinden .
        Leider ist die Situation auch heute noch unbefriedi-
        gend . Noch immer gibt es zu viele Fälle illegaler Abfall-
        transporte, ob bei Einfuhr oder Ausfuhr . Deutschland ist
        die größte Volkswirtschaft Europas im Herzen des Konti-
        nents . Wir haben Tag für Tag unzählige Warentransporte
        über unsere Landesgrenzen . Angesichts der Umweltbe-
        lastung von gefährlichem Abfall sehe ich keine andere
        Möglichkeit, als die Kontrollmöglichkeiten weiter zu
        verschärfen .
        Gleichzeitig hat die Vergangenheit gezeigt, dass beste-
        hende Straftatbestände bei Verstößen gegen das Abfall-
        verbringungsgesetz nicht genau genug definiert waren.
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18987
        (A) (C)
        (B) (D)
        Beides wird der vorliegende Gesetzentwurf nun ver-
        bessern: eine effektivere Bekämpfung illegaler Abfall-
        transporte durch verbesserte Kontrollmöglichkeiten
        einerseits, eine größere Rechtssicherheit bei Verstößen
        durch klare und vermehrte Straftatbestände andererseits .
        Wir erreichen dies durch zweierlei: Erstens passen wir
        das deutsche Abfallverbringungsgesetz an, und zwar an
        die EG-Verordnung über die Verbringung von Abfällen .
        Diese wird dahin gehend geändert, dass die Mitgliedstaa-
        ten der EU bis Anfang 2017 Kontrollpläne erstellen müs-
        sen . Diese regeln genau, welche Kontrollen nach EG-Ver-
        ordnung durchzuführen sind und durchgeführt wurden .
        Die Kontrollpläne selbst müssen regelmäßig überprüft
        und aktualisiert werden . Werden künftig gefährliche Ab-
        fälle über Landesgrenzen hinweg transportiert und wird
        dies nicht ausreichend durch entsprechende Nachweise
        vollständig dokumentiert, gilt dieser Transport künftig
        von den Behörden als illegale Verbringung . Außerdem
        wird das Umweltbundesamt dazu verpflichtet, alle ille-
        galen Abfalltransporte in seinem jährlichen Bericht zu
        veröffentlichen .
        Der zweite Aspekt des Gesetzes betrifft Sanktionen
        bei Verstößen . Hierzu werden Strafvorschriften für Ver-
        stöße gegen die EU-Verordnung in das Abfallverbrin-
        gungsgesetz eingefügt. Künftig verpflichtet bereits das
        Abfallverbringungsgesetz, illegale Abfalltransporte zu
        sanktionieren, und zwar strafrechtlich . Es wurden Vor-
        schriften aufgenommen, die zum Teil bestimmten Para-
        grafen des Strafgesetzbuches entsprechen . Bei schwe-
        ren Verstößen gegen das Abfallverbringungsgesetz sind
        künftig bis zu zehn Jahre Haft möglich . Darüber hinaus
        werden neue Bußgeldtatbestände aufgenommen: Fehlen
        beispielsweise Dokumente eines Abfalltransportes oder
        sind diese unvollständig, ist ein Bußgeld zu entrichten .
        Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf setzen wir
        nicht nur eine EU-Vorgabe eins zu eins um . Der Entwurf
        ist ein Baustein hin zur nachhaltigen Entwicklung . Denn
        er trägt maßgeblich dazu dabei, die illegale Beseitigung
        von Abfällen zu bekämpfen . Ich bin mir sicher, dass wir
        Gesundheitsrisiken und -gefahren, die von illegalen Ab-
        fällen ausgehen, weiter senken können .
        Vor allem aber wird das Gesetz dazu führen, dass
        künftig mehr Abfälle umweltgerecht entsorgt werden .
        Die neuen Straf- und Bußgeldtatbestände werden dazu
        nicht zuletzt eine abschreckende Wirkung entfalten .
        Außerdem exportieren wir mit dem Gesetz sozusagen
        den Umweltschutz in unsere Nachbarländer: Künftig
        wird es deutlich schwieriger, illegale Abfälle außer Lan-
        des zu schaffen . Gleiches gilt natürlich auch in umge-
        kehrter Richtung: Illegale Einfuhren gefährlicher Abfälle
        nach Deutschland werden erschwert .
        Alles in allem ist dieser Gesetzentwurf ein wesent-
        licher Baustein, unser Abfallrecht umweltgerechter,
        rechtssicherer und nachhaltiger zu gestalten .
        Michael Thews (SPD): Noch Anfang der 70er-Jah-
        re war auch in den Industriestaaten eine kostengünstige
        Entsorgung fast aller Abfälle in der Nähe des jeweiligen
        Entstehungsortes möglich, sodass für einen Export von
        Abfällen fast kein Anreiz bestand . Der Ex- und Import
        von Abfällen, die sogenannte grenzüberschreitende Ab-
        fallverbringung, war also zunächst relativ bedeutungslos .
        Dies hat sich in den folgenden Jahrzehnten stark ver-
        ändert . Der Anstieg der Abfallmengen Preissteigerungen
        bei der Abfallbeseitigung, bzw . -verwertung, aber auch
        die wesentlich höheren technischen Anforderungen bei
        der Beseitigung und Verwertung von Abfällen führten
        zu einer Zunahme der illegalen Abfallbeseitigung in
        Deutschland und der Zunahme des Exportes von Abfäl-
        len, teils legal, teils illegal ins Ausland . International, in
        der EU und auch national wuchs die Erkenntnis, dass
        die Abfallverbringung geregelt werden muss . Bereits in
        den achtziger Jahren erließ die EU eine erste Verord-
        nung hierzu . 1989 schließlich wurde das Basler Über-
        einkommen verabschiedet . Zunächst regelte das Basler
        Übereinkommen nur die Beseitigung von gefährlichen
        Abfällen . Die Europäische Union hat die Richtlinien des
        Basler Übereinkommens in der EU-Abfallverbringungs-
        verordnung für alle Mitgliedstaaten rechtsverbindlich
        umgesetzt . Sie wurde durch die Verordnung (EG)
        Nr . 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Ra-
        tes (vom 14 . Juni 2006) über die Verbringung von Abfäl-
        len (kurz: Verbringungsverordnung Abfall) ersetzt .
        Sie ist seit dem 15 . Juli 2006 in Kraft, kam ab dem
        12 . Juli 2007 zur Anwendung und ersetzte die älteren
        Verordnungen . Seitdem werden diese Regeln, nämlich
        Basler Übereinkommen, OECD-Regeln und die Europä-
        ische Verbringungsverordnung Abfall ständig den geän-
        derten technischen Veränderungen und neuen Erkennt-
        nissen angepasst .
        Heute sprechen wir wieder über ein Gesetz zur Ände-
        rung abfallverbringungsrechtlicher Vorschriften . Dabei
        handelt es sich um die Anpassung der deutschen Vor-
        schriften an die im Jahre 2014 geänderte EU-Verordnung .
        Es geht hauptsächlich um die verbesserte Bekämp-
        fung illegaler Müllexporte . Unter anderem werden die
        Kontrollen durch die Einführung höherer Anforderungen
        an die zu erstellenden Nachweise vereinfacht .
        Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass
        bei der Kontrolle der Abfallverbringung noch Lücken be-
        stehen, die geschlossen werden müssen . Auch innerhalb
        der Europäischen Union ist der illegale Export von Ab-
        fällen, auch von gefährlichen Abfällen, immer noch ein
        großes Problem .
        Es gibt immer noch schwarze Schafe in der Entsor-
        gungswirtschaft oder, besser gesagt, Kriminelle, die um
        des Profites willen Umwelt und Gesundheit unserer Bür-
        gerinnen und Bürger gefährden . Immer noch wird Abfall
        zu billigen, aber technisch nicht zugelassenen Anlagen
        im Ausland transportiert, um Geld zu sparen . Oder Ab-
        fälle werden als Ware deklariert, um sie dann irgendwo
        billig auf illegalen Deponien zu beseitigen .
        Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Bestimmun-
        gen zur Abfallverbringung verschärft werden . Besonders
        wichtig ist, dass die Anforderungen an die Nachweise
        erhöht wurden . Es ist für die kontrollierenden Behörden
        wichtig zu wissen, als was der zu exportierende Abfall
        deklariert wird . Es ist wichtig zu wissen, aus was der
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618988
        (A) (C)
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        Abfall besteht und zu welchen Behandlungsanlagen der
        Abfall verbracht wird .
        Die Neuregelung erlaubt den Behörden jetzt auch, ge-
        nau nachzufragen, zum Beispiel nach der genauen Zu-
        sammensetzung des Abfalles oder nach dem technischen
        Stand der Abfallbehandlungsanlagen . Die bisherige Un-
        klarheit im Gesetz wird damit beseitigt .
        Nur mit diesem Basiswissen ist es überhaupt möglich,
        festzustellen, ob die Abfälle korrekt eingestuft wurden
        und eine korrekte Behandlung erfolgt . Die Behörden
        brauchen diese Information, um zu klären, was eine lega-
        le oder illegale Abfallverbringung ist .
        Dass das Fehlen der vorgeschriebenen Nachweise
        bzw . deren fehlerhafte Ausfüllung als illegale Verbrin-
        gung eingestuft wird, ist ein sehr wichtiger, ergänzender
        Schritt in die richtige Richtung . Den zuständigen Behör-
        den wird damit der Vollzug erleichtert, illegale Müllex-
        porte können so schneller gestoppt und bestraft werden .
        Letztlich bleibt es aber dabei: Um illegale Abfallver-
        bringung zu verhindern, sind qualifizierte Kontrollen
        nötig . Dafür muss Personal vorhanden sein und dieses
        Personal muss geschult sein . Die heute vorliegenden
        Gesetzesänderungen bieten Möglichkeiten, die Kontrol-
        len zu verbessern, aber sie müssen auch stattfinden. Zur
        Vereinfachung sollte man, insbesondere bei gefährlichen
        Abfällen, auch die Einführung elektronischer Nachweise
        prüfen .
        Wichtig für den verbesserten Vollzug ist auch unser
        Änderungsantrag . Anordnungen der Behörden zur siche-
        ren Lagerung von Abfällen dienen der Vermeidung von
        Umweltgefahren durch Abfälle, deren grenzüberschrei-
        tender Transport womöglich nicht ordnungsgemäß ist .
        Diese Anordnungen sind dringliche Angelegenheiten .
        Damit nun die Behörden nicht in jedem Einzelfall die
        sofortige Vollziehbarkeit dieser Verfügungen anordnen
        müssen, wollen wir, dass Widerspruch und Anfechtungs-
        klage gegen diese Anordnungen keine aufschiebende
        Wirkung haben .
        Die Aufstellung von Kontrollplänen soll ebenfalls
        für verbesserten Vollzug sorgen . Die Pläne sollen unter
        anderem dafür sorgen, dass rechtzeitig die für die Kont-
        rollen notwendigen Kapazitäten geschaffen werden . Die
        Aufstellung der Pläne mit der Verpflichtung zur Zusam-
        menarbeit ist für die Bundesländer sicherlich mit einigem
        Verwaltungsaufwand verbunden . Um aber überhaupt
        feststellen zu können, wie effektiv die Kontrollen sind,
        sind sie meines Erachtens eine notwendige Maßnahme .
        Ich plädiere aber dafür, dass diese Kontrollpläne nach
        einiger Zeit auch im Hinblick auf ihre Durchführung,
        auf ihren Nutzen und Effektivität überprüft werden . Die
        Kontrollpläne dürfen keine Papiertiger sein, sie müssen
        zu einer verbesserten Bekämpfung des illegalen Müllex-
        portes führen .
        Ich hoffe, dass wir mit dieser Gesetzesänderung Er-
        folg haben, gleichzeitig bin ich mir aber sicher, dass die-
        se Novelle nicht die letzte sein wird . Die Bekämpfung
        illegaler Müllbeseitigung ist eine dauerhafte Aufgabe .
        Wir müssen diesen Bereich immer beobachten, um neue
        Schlupflöcher zu schließen und Gefahren abzuwehren.
        Ralph Lenkert (DIE LINKE): Müll – egal ob es sich
        um Sondermüll, Elektronikschrott oder normalen Haus-
        müll handelt: Wann immer damit gehandelt wird, bürdet
        jemand gegen eine Geldleistung das Entsorgungsproblem
        jemand anderem auf . Das ist für den einen eine bequeme
        Lösung und für den anderen ein großes, profitträchtiges
        Geschäftsfeld . Leider werden bei diesen Geschäften mit
        Müll allzu oft ökologische Standards umgangen und ver-
        nünftiges Recycling vermieden, weil das Extraprofite
        bringt . Die Müllexportrate der EU erreicht regelmäßig
        neue Rekordstände; was außerhalb der EU passiert, prüft
        niemand, und zusätzlich wird ein viel zu großer Teil des
        Mülls illegal entsorgt . Unklare Regelungen in der Ge-
        setzgebung erschwerten die Verfolgung von zwielichti-
        gen Müllgeschäften .
        Dagegen will die EU härter und gezielter vorgehen,
        und der vorliegende Gesetzentwurf gießt das EU-Recht
        nun in nationales Recht .
        Die Linke begrüßt dies und hält auch die Maßnahmen,
        mit denen illegale Tatbestände konkretisiert werden und
        mit denen die Zusammenarbeit der Behörden besser ge-
        regelt werden soll, für richtige Schritte .
        Wir bezweifeln allerdings, dass allein mit der No-
        vellierung des Rechts in der Praxis Abhilfe geschaffen
        wird, solange es beim Vollzug des europäischen Umwelt-
        rechts – auch in Deutschland – weiter eklatante Defizi-
        te gibt . Die besten Verordnungen und Regelungen hel-
        fen dem Umweltschutz nicht weiter, wenn niemand sie
        durchsetzt . Ohne Kontrollen und Überprüfungen ist es
        unmöglich, illegale Machenschaften konsequent zu ver-
        folgen . Besonders die Bundesländer haben Probleme, im
        Bereich der Abfallverbringung ausreichend Kontrollen
        durchzuführen . Im Umweltrecht scheitert die Durchset-
        zung nämlich leider allzu oft an mangelnder Finanzaus-
        stattung und zu wenig Personal .
        Man gewinnt ohnehin den Eindruck, dass die Um-
        setzung des bestehenden Umweltrechts stiefmütterlich
        vernachlässigt wird, so, als handele es sich bei Umwelt-
        vergehen um Kavaliersdelikte und nicht um Verbrechen,
        die unsere Gesundheit und unsere Lebensgrundlagen
        gefährden . Die Bundesländer betreiben zu oft die durch
        Schuldenbremsen erzwungenen Haushaltseinsparungen
        zulasten der Kontrollbehörden, was schamlos von zwie-
        lichtigen Unternehmen ausgenutzt wird . Die deutlich
        höheren Folgekosten müssen wir dann alle tragen – ein
        kurzsichtiges schlechtes Geschäft .
        Die Linke regt deshalb an, jede Verbesserung des Um-
        weltrechts gleichzeitig mit einem Durchführungsplan zu
        flankieren, der sicherstellt, dass er die Verwaltungen in
        die Lage bringt, die Vorgaben durchzusetzen . Da reicht
        die personelle und finanzielle Ausstattung der Behörden
        allein mitunter nicht aus . Der Gesetzgeber ist selbst ge-
        fragt, seine eigenen Regelwerke auf Konsistenz und Um-
        setzbarkeit zu prüfen .
        In Deutschland stand im Elektrogerätegesetz, dass es
        verboten ist, Akkus in Geräten wie Smartphones und Ta-
        blets fest, also nicht austauschbar, zu verbauen . Das hatte
        einen tieferen Sinn: Neben Verbraucherschutz und länge-
        rer Nutzbarkeit sollte so ein ordentliches Recycling der
        Geräte und Akkus garantiert werden, um damit insgesamt
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18989
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        Ressourcen zu schonen . Trotz dieses Verbotes wurden in
        Deutschland munter überall Geräte verkauft, in denen
        Akkus fest eingebaut waren . Das Problem war, dass die
        Behörden keine Durchführungsermächtigung für dieses
        Verbot bekommen hatten . Es gab schlicht keine Behör-
        de, die die Einhaltung des Verbots prüfen und Verstöße
        ahnden konnte . Doch statt das Verbot durchzusetzen, ent-
        schied sich die unionsgeführte Koalition gegen Verbrau-
        cher- und Umweltschutz und strich einfach dieses Verbot
        aus dem Gesetz; das ist ein klarer Rückschritt .
        In Anbetracht dieses Beispiels fordert Die Linke die
        Bundesregierung und die Regierungskoalition auf, die
        vorgelegte Gesetzesnovelle auf ihre Konsistenz und Um-
        setzbarkeit zu prüfen und mit entsprechendem Personal
        und Befugnissen sicherzustellen, dass die neuen, wirk-
        lich guten Regelungen auch umgesetzt werden können .
        Beim Einsatz für Verbraucher-, Gesundheits- und Um-
        weltschutz haben Sie unsere Unterstützung .
        Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Wenn es schon in dieser Legislaturperiode aufgrund
        der Blockaden in der großen Uneinigkeitskoalition kein
        ewig angekündigtes und dringend nötiges Wertstoffge-
        setz geben wird, müssen wir ja schon froh sein, wenn
        es überhaupt ein Gesetzentwurf zum Abfallrecht bis in
        das Plenum des Deutschen Bundestages schafft . So hatte
        Hendricks im Februar 2014 angekündigt, den EU-Emis-
        sionshandel so rasch wie möglich wieder vom Kopf auf
        die Füße zu stellen, und sie wollte insgesamt zwei Mil-
        liarden Emissionszertifikate dauerhaft aus dem Markt
        nehmen, was bis heute nicht geschehen ist . Aus welchen
        Gründen diese Ankündigung bisher scheiterte, darüber
        kann nur spekuliert werden . Auch ist nicht ersichtlich
        aus, welchen Gründen sich Bundesministerin Hendricks
        bei den Abgasmessungen RDE-Gesetzgebung mit den
        Konformitätsfaktoren 1,6 und dann 1,2 nicht durchset-
        zen konnte, obwohl sie diese 2015 als „Riesenfortschritt“
        bezeichnet hatte .
        Gleiches gilt für die Forderungen der Umweltminis-
        terin eine verpflichtenden Quote für Elektrofahrzeuge
        einzuführen, den Biospritanteil bei 5 Prozent zu deckeln,
        die Agrarsubventionen in ihrer bisherigen Form abzu-
        schaffen und öffentliche Gelder nur noch für öffentliche
        Leistungen im Agrarsektor auszugeben oder die Natur-
        schutzoffensive 2020 voranzubringen . Um nur einige
        wenige Beispiele zu nennen . So reden wir heute also über
        das Gesetz zur Änderung abfallverbringungsrechtlicher
        Vorschriften .
        Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
        begrüßt ausdrücklich das Gesetz zur Änderung abfallver-
        bringungsrechtlicher Vorschriften . Denn eine verbesserte
        Bekämpfung der illegalen Entsorgung von Abfällen ist
        dringend geboten . Gerade angesichts der immer wie-
        derkehrenden Müllskandale wie etwa in Sachsen oder
        Sachsen Anhalt ist die Umsetzung der EU-rechtlichen
        Vorgaben durch die Anpassung des Abfallverbringungs-
        gesetzes an EU-Recht notwendig . Die in dem Gesetz-
        entwurf vorgeschlagene Regelung, dass die Länder mit
        den zuständigen Zollbehörden und dem Bundesamt für
        Güterverkehr bezüglich der Inhalte der Kontrollpläne
        Einvernehmen herbeiführen, ist fachlich sinnvoll . Auch
        die strafrechtlichen Sanktionen, die in dem Gesetzent-
        wurf bezüglich illegaler Entsorgung gefährlicher Abfälle
        und nicht gefährlicher Abfälle vorgesehen sind, sind zu
        begrüßen . Denn auch Abfälle, von denen keine Gefahr
        aufgrund von Strahlung oder chemischer Zusammenset-
        zung ausgeht, können schädlich für die Gesundheit von
        Bürgerinnen und Bürgern oder gefährlich für Wasser und
        Boden sein .
        Leider wurden nicht alle Änderungsvorschläge der
        Länder übernommen, die den Vollzug vereinfacht und
        geringere Bürokratiekosten bedeutet hätten . Daher ent-
        halten wir uns .
        Anlage 24
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchfüh-
        rung der Verordnung (EU) Nr. 655/2014 sowie zur
        Änderung sonstiger zivilprozessualer Vorschriften
        (EuKoPfVODG)
        (Tagesordnungspunkt 30)
        Sebastian Steineke (CDU/CSU): Mit der Verord-
        nung Nummer 655/2014 der Europäischen Union hat
        Brüssel einheitliche Regelungen zur Einführung eines
        Verfahrens für einen Europäischen Beschluss zur vorläu-
        figen Kontenpfändung im Hinblick auf die Erleichterung
        der grenzüberschreitenden Eintreibung von Forderungen
        in Zivil- und Handelssachen geschaffen . Ab dem 18 . Ja-
        nuar 2017 gilt sie in allen EU-Mitgliedstaaten außer in
        Großbritannien und Dänemark . Sie soll die Eintreibung
        grenzüberschreitender Forderungen für Bürgerinnen und
        Bürger und Unternehmen erleichtern und die Vollstre-
        ckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Han-
        delssachen in Streitfällen mit grenzüberschreitendem
        Bezug vereinfachen . Hintergrund ist, dass Gläubiger in
        allen EU-Mitgliedstaaten unter denselben Bedingungen
        Beschlüsse zur vorläufigen Kontenpfändung erwirken
        können .
        Zwar gilt die EU-Kontenpfändungsverordnung bei
        uns unmittelbar, dennoch waren im Hinblick auf die
        Besonderheiten im deutschen Recht ergänzende Durch-
        führungsvorschriften notwendig, die der vorliegende Ge-
        setzentwurf beinhaltet . Das umfangreiche Gesetz wirkt
        auf den ersten Blick sehr kleinteilig und außerordentlich
        technisch . Beim näheren Hinsehen haben wir jedoch
        noch Beratungsbedarf gesehen . Das Ergebnis der Bera-
        tungen haben wir als Koalitionsfraktionen in unserem
        Änderungsantrag formuliert .
        Ich möchte hier nur auf einige wenige Dinge eingehen,
        die aus unserer Sicht wichtig sind . Zunächst zum Kern
        der Verordnung: Künftig soll ein einheitlicher Beschluss
        zur vorläufigen Kontenpfändung ergehen, der von der
        Bank umzusetzen ist . Im deutschen Recht haben wir da-
        gegen zwei gerichtliche Entscheidungen: das Verfahren
        auf Anordnung des Arrests nach §§ 916 ff . der Zivilpro-
        zessordnung sowie die Vollziehung des Beschlusses nach
        §§ 928 bis 930 der Zivilprozessordnung . Nach der Erwir-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618990
        (A) (C)
        (B) (D)
        kung eines Arrestbeschlusses folgt also in einem zweiten
        Schritt der Pfändungsbeschluss . Für grenzüberschreiten-
        de Fälle ist nur noch ein Beschluss vorgesehen . Die nati-
        onalen Wege bleiben aber weiter möglich .
        Neben einigen richtigen Anmerkungen des Bundesra-
        tes, die wir in den Änderungsantrag eingearbeitet haben,
        waren uns, insbesondere nach intensiven Gesprächen mit
        Praktikern und Gerichtsvollziehern, noch weitere Ände-
        rungen wichtig . Unser Antrag sieht unter anderem den
        Wegfall der Untergrenze von 500 Euro in den §§ 755 Ab-
        satz 2 und 802l Absatz 1 der Zivilprozessordnung vor .
        Das bedeutet, dass Gerichtsvollzieher zukünftig auch
        bei zu vollstreckenden Ansprüchen, die unter 500 Euro
        liegen, den Aufenthaltsort des Schuldners bei anderen
        Behörden ermitteln können . Das Gleiche gilt für die Er-
        mittlung des Arbeitgebers des Schuldners sowie die Er-
        mittlung der vom Schuldner geführten Konten oder der
        vom Schuldner gehaltenen Kraftfahrzeuge . Nach unserer
        Auffassung besteht kein sachlicher Grund für das Beste-
        hen dieser Grenze bei Drittabfragen . Gerichtsvollzieher
        waren bei derartigen Verfahren immer auf die Selbstaus-
        kunft des Schuldners angewiesen . Knapp die Hälfte aller
        Fälle betrifft Verfahren, bei denen die Wertgrenze von
        500 Euro unterschritten wird . Das heißt, dass eine nicht
        unerhebliche Zahl aller Ansprüche davon betroffen ist .
        Schuldner, die eine Vermögensauskunft bislang pflicht-
        widrig nicht abgegeben haben, mussten zudem mit der
        Beantragung eines Haftbefehls nach § 802g der Zivil-
        prozessordnung rechnen . Vor diesem Hintergrund kann
        durch die Streichung der Wertgrenze auch die Anzahl der
        Anträge auf Erlass eines Haftbefehls wegen geringfügi-
        ger Forderungen deutlich reduziert werden . Der Grund-
        rechtseingriff im Rahmen einer Drittauskunft ist unzwei-
        felhaft geringer als der Entzug der Freiheit .
        Nicht zuletzt ist es kaum noch begründbar, weshalb
        Forderungen unter 500 Euro weniger schutzwürdig sein
        sollen als solche, die darüber liegen . Insbesondere Rech-
        nungen von kleinen und mittelständischen Unterneh-
        men oder von Handwerkern bewegen sich oftmals im
        Bereich unterhalb der Wertgrenze . Insofern erleichtern
        wir besonders in diesen Fällen das Verfahren . Uns war
        es wichtig, hier einen Gleichklang der unterschiedlichen
        Vorschriften in den Mitgliedstaaten herzustellen . Es kann
        nicht sein, dass deutsche Gläubiger gegenüber anderen
        benachteiligt werden . Hier hatten wir rechtliche Beden-
        ken, die wir mit dem Änderungsantrag ausräumen .
        Weiterhin enthält unser Änderungsantrag mit der Er-
        gänzung von § 882c Absatz 1 der Zivilprozessordnung
        die Feststellung, dass die Anordnung der Eintragung des
        Schuldners in das Schuldnerverzeichnis Teil des Voll-
        streckungsverfahrens ist . Der Gerichtsvollzieher soll in
        jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Erledigung
        bedacht sein . Dies gilt auch bei und nach Zustellung der
        Eintragungsanordnung . Oftmals zeigt sich in der Praxis,
        dass ein Schuldner erst mit der Zustellung der Eintra-
        gungsanordnung seine Bereitschaft zeigt, eine gütliche
        Einigung in Betracht zu ziehen . Zugleich regeln wir da-
        mit, dass die Auslagen für die Zustellung der Eintragung
        in das Schuldnerverzeichnis auch gegenüber dem Gläu-
        biger als Auftraggeber im Sinne des Gerichtsvollzieher-
        kostengesetzes in Ansatz gebracht werden können . Der
        Bundesgerichtshof hat am 21 . Dezember 2015 entschie-
        den, dass es sich hier um eine Amtszustellung handelt
        und der Gläubiger im Eintragungsanordnungsverfahren
        damit als Kostenschuldner ausschied . Mit der Neurege-
        lung schaffen wir nicht nur eine gerechte Lösung, son-
        dern entlasten auch in erster Linie unsere Bundesländer .
        Der letzte wichtige Punkt, den ich hier erwähnen
        möchte, ist die Einfügung einer zusätzlichen Num-
        mer 208 im Kostenverzeichnis zum Gerichtsvollzie-
        herkostengesetz . Die Gebühr Nummer 207 gilt nur für
        solche Fälle, in denen eine gütliche Einigung explizit
        und anstatt einer Vollstreckung beauftragt wird . Der Ge-
        richtsvollzieher berechnet in Vollstreckungsverfahren,
        in denen im Sinne von § 806b der Zivilprozessordnung
        auch die gütliche Einigung versucht werden muss, nur
        die Gebühr für das Vollstreckungsverfahren . Dies ist aus
        unserer Sicht nicht sachgerecht . Der Arbeitsaufwand der
        Gerichtsvollzieher für eine gütliche Einigung wird nach
        geltendem Recht nicht ausreichend honoriert . Wird dem
        Gerichtsvollzieher zukünftig der Auftrag erteilt, den Ver-
        such einer gütlichen Erledigung zu unternehmen sowie
        eine Pfändung vorzunehmen, so erhält er neben der Ge-
        bühr für die Pfändung in Höhe von 16 Euro eine zusätz-
        liche Gebühr in Höhe von 8 Euro für den Versuch der
        gütlichen Erledigung .
        Ich möchte mich bei unserem Koalitionspartner und
        speziell beim Kollegen Dirk Wiese für die konstruktive
        Zusammenarbeit bei der Gesetzesberatung bedanken .
        Bei diesen doch sehr technischen Regelungen war es
        wichtig, praktikable Lösungen zu finden. Dies ist uns
        durchaus gut gelungen .
        Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Bereits aus dem
        Jahr 2014 datiert die Kontenpfändungsverordnung der
        Europäischen Union . Mit der heutigen Beratung soll
        durch die Anpassung der zivilprozessualen Vorschriften
        die Durchführbarkeit der Verordnung garantiert werden .
        Das Arrestverfahren mit einem Kontenpfändungsbe-
        schluss ist ein notwendiges und praktiziertes Mittel zur
        Sicherung der Zwangsvollstreckung . Im Vordergrund
        steht weniger die Befriedigung des Gläubigers, als viel-
        mehr die Sicherheit, in das Konto des Schuldners über-
        haupt vollstrecken zu können . Das Verfahren in der
        europäischen Kontenpfändungsverordnung ist mit den
        Vorschriften der Zivilprozessordnung strukturell ver-
        gleichbar .
        Die Verordnung verfolgt ein wichtiges Ziel . Den Gläu-
        bigern soll die Eintreibung grenzüberschreitender Forde-
        rungen erleichtert und die Vollstreckung durch Pfändung
        ausländischer Konten vereinfacht werden . Das Verfahren
        findet in allen teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten unter
        denselben Voraussetzungen Anwendung . Alle Gläubiger
        sehen sich mit derselben Rechtslage und dem gleichen
        Schutzniveau konfrontiert . Dies fördert die Rechtsklar-
        heit und Rechtssicherheit im europäischen Rechtsraum .
        Die Verordnung dient zur vereinfachten Eintreibung von
        grenzüberschreitenden Forderungen nicht nur für Unter-
        nehmen, sondern gleichermaßen für die Bürgerinnen und
        Bürger . Es wird damit ein aktiver Beitrag zu mehr Ver-
        braucherschutz geleistet .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18991
        (A) (C)
        (B) (D)
        Mit den Änderungen der Zivilprozessordnung und
        weiterer zivilprozessualer Regelungen möchten wir als
        nationaler Gesetzgeber einen Beitrag zu mehr Rechtsklar-
        heit und Rechtssicherheit bei der Eintreibung grenzüber-
        schreitender Forderungen schaffen . Auf die Vielzahl der
        gesetzlichen Änderungen soll nicht genauer eingegangen
        werden . Ich möchte mich auf ein paar wesentliche As-
        pekte beschränken, welche dem Rechtsanwender jedoch
        erhebliche Erleichterungen bei der Durchsetzung des
        Rechts verschaffen .
        Vor Erlass der Verordnung musste im Vollstreckungs-
        staat ein eigenständiges Vollstreckungsverfahren ein-
        geleitet werden, um die Kontenpfändung zu erwirken .
        Künftig erlässt das Gericht der Hauptsache den Be-
        schluss zur vorläufigen Kontopfändung. Die Vorteile der
        vereinfachten Rechtsdurchsetzung liegen auf der Hand:
        Zeit- und Kostenaufwand werden erheblich reduziert .
        Der Bürokratieabbau kommt allen Unternehmen und al-
        len Bürgerinnen und Bürgern zugute .
        Weniger Bürokratie ist ein positiver Beitrag zur Stei-
        gerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen . Die
        hohen Kosten durch das vorherige Verfahren werden
        künftig wegfallen . Auch die Bürgerinnen und Bürger
        werden wesentlich entlastet . Der Antrag beim Gericht,
        wo der Titel bereits erwirkt wurde, schafft einen einfa-
        cheren Zugang zum Recht . Das Vertrauen in das bekann-
        te Justizsystem wird gestärkt .
        Nicht zuletzt wird unvorhersehbaren Einflüssen im
        Vollstreckungsstaat vorgebeugt . Der Beschluss zur
        vorläufigen Kontopfändung ist von der kontoführen-
        den Bank zu befolgen . Durch die Verbindlichkeit des
        Beschlusses schaffen wir Struktur und Klarheit bei der
        Rechtsdurchsetzung .
        Weiterhin soll nicht unerwähnt bleiben, dass einige
        Ergänzungen das Thema E-Justice betreffen . Der Einsatz
        IT-gestützter Abläufe im Justizwesen ist aus dem Ge-
        richtsalltag nicht mehr wegzudenken . Mit diesem Gesetz
        wird ein weiterer Schritt hin zu einem vollständigen elek-
        tronischen Vollstreckungsverfahren gemacht .
        Ich kann mit gutem Gewissen um Zustimmung zu die-
        sem Gesetzentwurf bitten .
        Dirk Wiese (SPD): Heute beschließen wir das Gesetz
        zur Durchführung der EU-Kontenpfändungsverordnung .
        Ich glaube wir können mit Recht sagen, dass hier das
        Struck’sche Gesetz wieder voll zur Geltung gekommen
        ist: Kein Gesetz – und auch dieses – kommt aus dem
        Parlament wieder so heraus, wie es eingebracht worden
        ist . Das ist mit Sicherheit nicht immer von Vorteil, ge-
        rade dann nicht, wenn man Kompromisse mit dem Ko-
        alitionspartner machen muss, die einem vielleicht nicht
        zu 100 Prozent gefallen . Bei dem vorliegenden Geset-
        zesvorhaben verhält sich das jedoch völlig anders . In-
        nerhalb der parlamentarischen Beratungen haben wir in
        guten und konstruktiven Gesprächen mit den Kollegen
        von der Union das Gesetz verbessert und optimiert . Mein
        Kollege Herr Lange hat soeben den Gesetzentwurf noch
        einmal mit seinen weiteren Änderungen vorgestellt . Ich
        möchte mich deshalb auf die drei wichtigsten Punkte be-
        schränken, die wir geändert haben .
        Erstens . Wir haben die bestehende 500-Euro-Grenze
        der §§ 755 II und 802l I ZPO für Drittabfragen abge-
        schafft . Da Gläubiger solcher Forderungen ausschließ-
        lich auf Selbstauskünfte der Schuldner angewiesen sind,
        werden gerade kleinere Unternehmen mit kleineren For-
        derungen hierdurch erheblich benachteiligt . Denn an-
        ders als für Gläubiger von Forderungen über 500 Euro
        bestand nach bisheriger Rechtslage für diese Gläubi-
        ger auch nicht die Möglichkeit, bei einer unergiebigen
        Meldeauskunft, etwa beispielsweise weil der Schuldner
        seinen melderechtlichen Verpflichtungen nicht nach-
        kam, den Aufenthaltsort über weitere behördliche Aus-
        künfte zu ermitteln . Dadurch wurde die Durchführung
        der Zwangsvollstreckung für diese Gläubiger von For-
        derungen in geringerer Höhe erheblich erschwert . Mit
        dem Wegfall der 500 Euro Grenze tragen wir somit dafür
        Sorge, dass diese Ungleichbehandlung von Gläubigern
        nicht mehr weiterbesteht .
        Zweitens haben wir klargestellt, dass die Anordnung
        der Eintragung des Schuldners in das Schuldnerverzeich-
        nis Teil des Vollstreckungsverfahrens ist . Damit wird vor
        allem klargestellt, dass Auslagen für die Zustellung der
        Eintragungsanordnung auch gegenüber dem Gläubiger
        als Auftraggeber nach § 13 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1
        des Gerichtsvollzieherkostengesetzes geltend gemacht
        werden können . Diese Verteilung ist nur recht und billig
        und minimiert das Kostenrisiko für die Länder ungemein .
        Drittens haben wir einer reduzierten Gebühr von
        8 Euro für den Versuch einer gütlichen Erledigung der Sa-
        che durch die Gerichtsvollzieher in den Fällen, in denen
        gleichzeitig ein Auftrag zur Pfändung oder zur Abnahme
        der Vermögensauskunft erteilt wurde, eingeführt . Denn
        nach geltendem Recht fällt eine Gebühr für den Versuch
        einer gütlichen Erledigung der Sache nur an, wenn der
        Gerichtsvollzieher nicht gleichzeitig mit einer Maßnah-
        me nach § 802a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 oder Num-
        mer 4 ZPO beauftragt ist . Hier wird jedoch nicht berück-
        sichtigt, dass der Versuch einer gütlichen Erledigung der
        Sache zum Teil mit einem erheblichen Arbeitsaufwand
        des Gerichtsvollziehers verbunden ist . Und es macht hier
        auch vom Arbeitsaufwand keinen Unterschied für den
        Gerichtsvollzieher, ob er ausschließlich mit dem Versuch
        einer gütlichen Erledigung beauftragt wurde oder ob der
        Auftrag etwa gleichzeitig noch auf die Vornahme einer
        Pfändung gerichtet ist . Daher ist es nur recht und billig,
        dass der Versuch einer gütlichen Erledigung stets eine
        Gebühr auslöst .
        Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Der Ge-
        schäftsführer einer in Deutschland ansässigen mittelstän-
        dischen GmbH wird von seiner Hausbank darüber be-
        nachrichtigt, dass dort der Beschluss eines rumänischen
        (oder griechischen etc .) Gerichts über die Anordnung ei-
        ner vorläufigen Kontenpfändung vorliege; die Bank habe
        aus diesem Grund alle geführten Geschäftskonten und
        sämtliche Guthaben „eingefroren“ . Überweisungen, wie
        Miete, Löhne etc ., würden fortan nicht mehr ausgeführt .
        Der Unternehmer, der seinen gesamten Zahlungsverkehr
        über die Bank abwickelt, ist sofort zahlungsunfähig im
        Sinne des § 17 Absatz 2 InsO . Tags darauf wird dem Ge-
        schäftsführer der Beschluss nebst Antrag über die vorläu-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618992
        (A) (C)
        (B) (D)
        fige Kontenpfändung zugestellt. Beschluss und Antrag
        sind in deutscher Sprache beigefügt und nehmen zum
        Zweck der Anspruchsbegründung auf einen in rumäni-
        scher Sprache gehaltenen Vertrag Bezug, der als Anlage
        zwar beigefügt ist, für den aber – zulässig (vergleiche Ar-
        tikel 49 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 28 Absatz 5 c)
        der Verordnung (EU) Nummer 655/2014) – eine deutsche
        Übersetzung fehlt . Aus der unter Hochdruck bis zum
        nächsten Tag durchgeführten Vertragsübersetzung er-
        fährt der Unternehmer den vermeintlichen Schuldgrund .
        Dem Beschluss kann er entnehmen, dass ihm gegenüber
        bislang kein Urteil oder sonstiger Titel in Rumänien er-
        gangen sei, sondern ein Antragsteller einem rumänischen
        Gericht „hinreichende Beweismittel“ vorgelegt habe, aus
        denen sich „voraussichtlich“ ein Obsiegen des Antrag-
        stellers in einem zukünftigen Hauptsacheverfahren sowie
        eine tatsächliche Gefahr der Vollstreckungserschwerung
        für den Fall der unterbleibenden Anordnung der vorläu-
        figen Kontenpfändung ergebe. Zudem erfährt er den zu
        vollstreckenden Betrag in Höhe von 500 000 Euro . Si-
        cherheitsleistungen in dieser Größenordnung (vergleiche
        Artikel 38 der Verordnung [EU] Nummer 655/2014) sind
        der GmbH kurzfristig nicht möglich .
        Der noch am selben Tag vom Unternehmer konsultierte
        deutsche Anwalt erklärt, er könne nicht helfen, vielmehr
        müsse ein rumänischer Anwalt gesucht und mandatiert
        werden . Der Unternehmer kontaktiert daraufhin – nach
        intensiver Suche nach einer rumänischen Anwaltskanz-
        lei – am darauf folgenden Tag einen rumänischen Anwalt,
        der angesichts der Eilbedürftigkeit ausnahmsweise ohne
        Gebührenvorschuss tätig wird . Der rumänische Anwalt
        fordert die Gerichtsakte an und bereitet in den kommen-
        den Tagen – nach vielfacher, aufgrund der Sprachbarrie-
        ren schwieriger Korrespondenz – den Antrag auf Wider-
        ruf der vorläufigen Kontenpfändung gemäß Artikel 33
        Absatz 1 a) der Verordnung (EU) Nummer 655/2014 vor .
        Dem Widerruf wird vonseiten des rumänischen Gerichts
        fünf Tage nach Antragstellung stattgegeben . In der Zeit
        bis zur Antragsstattgabe ist die GmbH schutzlos vom
        Zahlungsverkehr abgeschnitten, insolvenzantragspflich-
        tig und akut existenzbedroht . Die GmbH ist nach § 15a
        InsO insolvenzantragspflichtig; der Geschäftsführer ist
        nicht erst nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist, sondern
        „unverzüglich“ zum Antrag verpflichtet. Sofern er für
        die GmbH weitere Zahlungen vornimmt, beispielswei-
        se aus Barmitteln, setzt er sich dem Haftungsrisiko nach
        § 64 GmbHG aus . Die eingetretene Zahlungsunfähigkeit
        birgt zudem das hohe Risiko der Kündigung der Bank-
        verbindung, insbesondere aber der Kündigung sonstiger
        Vertragsbeziehungen wegen Zahlungsverzugs . Gegebe-
        nenfalls können Sozialversicherungsabgaben auf bereits
        ausgekehrte Löhne nicht an die Sozialversicherungsträ-
        ger gezahlt werden .
        Ein Horrorszenario – nicht in meiner Fantasie erdacht,
        sondern in der Stellungnahme des Deutschen Anwalts-
        vereins als Beispiel für das Wirken des heute hier zur
        zweiten und dritten Lesung vorliegenden Gesetzent-
        wurfes zur Durchführung der EU-Verordnung Num-
        mer 655/2014 sowie zur Änderung sonstiger zivilprozes-
        sualer Vorschriften dargestellt und zitiert .
        Der Gesetzentwurf geht auf die am 15 . Mai 2014 er-
        lassene EU-Verordnung zur Einführung eines Verfahrens
        für einen Europäischen Beschluss zur vorläufigen Kon-
        tenpfändung im Hinblick auf die Erleichterung der gren-
        züberschreitenden Eintreibung von Forderungen in Zi-
        vil- und Handelssachen (Amtsblatt L 189 vom 27 .6 .2014,
        S . 59; im Folgenden: Europäische Kontenpfändungsver-
        ordnung, EuKoPfVO) zurück. Diese Verordnung findet
        ab dem 18 . Januar 2017 in allen EU-Mitgliedstaaten
        außer dem Vereinigten Königreich und Dänemark An-
        wendung . Ziel der Verordnung ist es, die Eintreibung
        grenzüberschreitender Forderungen für Bürgerinnen und
        Bürger und Unternehmen zu erleichtern und die Vollstre-
        ckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Han-
        delssachen in Streitfällen mit grenzüberschreitendem
        Bezug zu vereinfachen . Gläubiger sollen in die Lage
        versetzt werden, in allen EU-Mitgliedstaaten unter den-
        selben Bedingungen Beschlüsse zur vorläufigen Konten-
        pfändung zu erwirken . Zwar gilt die EuKoPfVO in der
        Bundesrepublik Deutschland unmittelbar, jedoch bedarf
        sie einiger ergänzender Durchführungsvorschriften .
        Der Gesetzentwurf ist aus gleich mehreren Gründen
        abzulehnen . So fehlt es bereits an einer klaren Rege-
        lungskompetenz . Es ist nicht erkennbar, aus welchem
        Grund das Instrumentarium der grenzüberschreitenden
        Kontenpfändung für das reibungslose Funktionieren des
        Binnenmarkts erforderlich sein soll .
        Weiterhin weichen die tatbestandlichen Voraussetzun-
        gen der grenzüberschreitenden vorläufigen Kontenpfän-
        dung in ihren Grundzügen erheblich von vergleichbaren
        Regelungen des deutschen Prozessrechts, insbesondere
        von den zweistufigen Regelungen des Arrests, ab, zum
        Beispiel:
        Nach Artikel 5 a) der Verordnung (EU) Num-
        mer 655/2014 kann der Antrag auf vorläufige Konten-
        pfändung ohne vorhergehenden Titel gestellt werden;
        für den Erlass eines Beschlusses zur vorläufigen Kon-
        topfändung sind nach Artikel 6 a der Verordnung (EU)
        Nummer 655/2014, sofern noch kein Titel vorliegt, „die
        Gerichte des Mitgliedstaats, die gemäß den einschlä-
        gigen anzuwendenden Zuständigkeitsvorschriften für
        die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind“,
        zuständig . Damit ist das zuständige Gericht oftmals in
        einem anderen EU-Mitgliedstaat und nicht am Wohnort
        des Schuldners . Ferner: Bei Pfändung muss der Schuld-
        ner nach Artikel 14 Absatz 5 c der Verordnung (EU)
        Nummer 655/2014 seine sämtlichen Bankdaten gegen-
        über dem Gläubiger offenlegen; den Rechtsbehelf auf
        Widerruf oder Abänderung des Beschlusses muss der
        Schuldner grundsätzlich beim Gericht des Ursprungs-
        lands geltend machen, Artikel 33 der Verordnung (EU)
        Nummer 655/2014
        Aus Schuldnersicht gewährleistet die Verordnung
        (EU) Nummer 655/2014 weder nach verfassungsrecht-
        lichen noch nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen
        einen effektiven Rechtsschutz . Verfassungsrechtlicher
        Justizgewährungsanspruch und Rechtsstaatsprinzip
        fordern daher gerade im Arrestverfahren einen Rechts-
        schutz, der im Zweifelsfall binnen weniger Stunden
        umsetzbar sein muss . Entsprechend kurze Verfahrens-
        dauern im einstweiligen Rechtsschutzverfahren werden
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18993
        (A) (C)
        (B) (D)
        beispielsweise bei familienrechtlichen, sorgerechtlichen
        oder kollektivarbeitsrechtlichen Verfahren im nationalen
        Verfahren gewährleistet . Einen vergleichbaren Standard
        effektiven Rechtsschutzes fordert auch das Gemein-
        schaftsrecht über Artikel 47 der Charta der europäischen
        Grundrechte in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 EUV
        und über Artikel 6 EMRK .
        Ausgehend von der zitierten Rechtsprechung des
        Bundesverfassungsgerichts gebieten Artikel 19 Ab-
        satz 4 Grundgesetz und Artikel 103 Grundgesetz, dass
        gegen den Beschluss über eine vorläufige Kontenpfän-
        dung nicht bloß theoretisch, sondern ganz praktisch ein
        Rechtsschutz des Schuldners binnen weniger Stunden
        gewährleistet sein muss . Gerade einen solchen effektiven
        Rechtsschutz gewährleistet die Verordnung (EU) Num-
        mer 655/2014 nicht, wie der eingangs dargestellte Bei-
        spielsfall leicht veranschaulicht .
        Schließlich führt die Verordnung zu einer Zersplitte-
        rung und insbesondere Intransparenz des Zivilprozess-
        rechts .
        Der Deutsche Anwaltsverein, aus dessen Stellungnah-
        me ich hier wiedergegeben habe, äußert sich zu der vor-
        liegenden VO abschließend wie folgt:
        „Auf Grundlage eines deutschen Verfassungsver-
        ständnisses ist es dem DAV unverständlich, dass von
        deutscher Seite der Erlass der Verordnung (EU) Num-
        mer 655/2014 widerspruchslos akzeptiert wurde, insbe-
        sondere, dass sämtliche Rechtsbehelfe gegen die vorläu-
        fige Kontenpfändung – vorbehaltlich Artikel 6 Absatz 2
        der Verordnung (EU) Nummer 655/2014 (Gerichtsstand
        für Verbraucher) und Artikel 34 der Verordnung (EU)
        Nummer 655/2014 – im Ursprungsstaat verfolgt werden
        müssen . Nach Dafürhalten des DAV ist es auf europäi-
        scher Ebene dringend geboten, von deutscher Seite ju-
        ristisch wie politisch auf eine grundlegende Neukonzep-
        tionierung der vorläufigen Kontenpfändung zu drängen
        und bis dahin von Umsetzungsakten in deutsches Recht
        Abstand zu nehmen .“
        Daher sind nach Auffassung meiner Fraktion sowohl
        der vorliegende Gesetzentwurf als auch die ihn begrün-
        dende Verordnung abzulehnen .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vor-
        liegende Gesetzentwurf dient der Umsetzung der Europä-
        ischen Kontenpfändungsverordnung vom 15 . Mai 2014 .
        Diese Verordnung dient wiederum dazu, die Eintreibung
        grenzüberschreitender Forderungen für Bürgerinnen und
        Bürger und Unternehmen zu erleichtern und die Vollstre-
        ckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Han-
        delssachen in Streitfällen mit grenzüberschreitendem
        Bezug zu vereinfachen . Gläubiger können dann in allen
        EU-Mitgliedstaaten unter denselben Bedingungen Be-
        schlüsse zur vorläufigen Kontenpfändung erwirken. Ein
        Konto vorläufig zu pfänden heißt, es „einzufrieren“.
        Es ist gut, dass Gläubiger ihre Forderungen inner-
        halb der EU nun besser grenzüberschreitend durchsetzen
        können . Aber es bleibt doch die Frage, warum die Bun-
        desregierung sich in der EU nicht für einen effektiver-
        en Schuldnerschutz eingesetzt hat, insbesondere bei den
        Rechtsbehelfen gegen die vorläufige Kontopfändung.
        Für ein kleines Unternehmen kann die Pfändung eines
        Bankkontos die Existenzvernichtung bedeuten . Schnel-
        ler und effektiver Rechtsschutz ist also bitter nötig, und
        das noch viel mehr bei grenzüberschreitender Pfändung
        in einem anderen europäischen Land . Die Anregung des
        Deutschen Richterbundes, eine klarstellende Regelung in
        § 574 ZPO im Umsetzungsgesetz aufzunehmen, hat die
        Bundesregierung in ihrem GE leider nicht aufgegriffen .
        Die Europäische Kontopfändungsverordnung gilt in
        Deutschland ab dem 18 . Januar 2017 unmittelbar und
        bietet, abgesehen vom Erlass von Durchführungsvor-
        schriften, wenig Umsetzungsspielraum .
        Der Gesetzentwurf enthält aber auch Regelungen, die
        über die Umsetzung der europäischen Verordnung hi-
        nausgehen . Das BMJV hat die Gelegenheit genutzt, die
        Umsetzung der EU-Verordnung mit einem „Reparaturge-
        setz“ zu verbinden, um Klarstellungen und Ergänzungen
        vorzunehmen, die nach Inkrafttreten des Gesetzes zur
        Reform der Sachaufklärung am 1 . Januar 2013 erforder-
        lich geworden sind . Die Halbwertzeit Ihrer Gesetze ist
        wirklich nicht sehr lang .
        Zu den Punkten, die in der Rechtspraxis sehr unter-
        schiedlich angewendet und von den Gerichten uneinheit-
        lich interpretiert wurden, zählt beispielsweise der Um-
        fang der Aufenthaltsermittlung durch Drittabfragen nach
        § 755 und § 802l ZPO und der Umfang der zu vollstre-
        ckenden Forderung .
        Hier soll der Gesetzentwurf nun klarstellen, dass nicht
        nur der Aufenthaltsort von natürlichen Personen ermit-
        telt werden darf, sondern auch der Sitz eines Unterneh-
        mens oder Gewerbetreibenden . Auch der Umfang der
        Forderungen wird präzisiert . Allerdings schütten Sie das
        Kind mit dem Bade aus, wenn Sie zugleich und in letzter
        Minute die Bagatellgrenze von 500 Euro streichen und
        außerdem regeln, dass der Gerichtsvollzieher in Zukunft
        die Daten eines Schuldners, die er in einem Verfahren
        erhoben hat, in einem weiteren Verfahren weiterverwen-
        den darf .
        Auch wenn Sie hier eine Grenze von drei Monaten
        vorsehen, wird das weder dem Datenschutz noch dem
        Schuldnerschutz gerecht . Auch der Deutsche Gerichts-
        vollzieherbund, DGVB, kritisiert diese Vermischung
        verschiedener Verfahren, vor allem deswegen, weil die
        Gefahr einer Verzögerung und höherer Kosten bestehe .
        Allerdings ist diese Regelung nicht nur aus prozessöko-
        nomischer Sicht zu kritisieren, sondern auch aus da-
        tenschutzrechtlichen Gründen . Denn auch im Zwangs-
        vollstreckungsverfahren gilt der datenschutzrechtliche
        Grundsatz der Erforderlichkeit, das heißt, dass nur die-
        jenigen personenbezogenen Daten verarbeitet werden
        dürfen, die für die Erfüllung der jeweiligen Aufgabe
        benötigt werden . Es ist zwar richtig, dass Zwangsvoll-
        streckung effektiv und aus Sicht des Gläubigers kosten-
        günstig sein muss . Zwangsvollstreckung geschieht aber
        nicht um jeden Preis, und die datenschutzrechtlichen Be-
        lange des Schuldners müssen ausreichend berücksichtigt
        werden . Im Vollstreckungsverfahren ist Schuldnerschutz
        auch Datenschutz .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618994
        (A) (C)
        (B) (D)
        Eine weitere Klarstellung des Gesetzentwurfs betrifft
        die Eintragung des Schuldners in das Schuldnerverzeich-
        nis durch das Amtsgericht . Diese Eintragung, die immer
        dann erfolgt, wenn der Schuldner eine Versicherung an
        Eides statt über seine Vermögensverhältnisse abgegeben
        hat oder wenn gegen ihn ein Haftbefehl zur Erzwingung
        der Abgabe dieser Versicherung erlassen worden ist, soll
        nun Teil des Vollstreckungsverfahrens werden: § 882c
        Abs . 1 ZPO-E . Diese Änderung wird an der Praxis der
        Eintragung nichts ändern . Sie hat ihren Grund im Kos-
        tenrecht, genauer: dem Gerichtsvollzieherkostengesetz .
        Es wird nun klargestellt, welche Gebühren der Ge-
        richtsvollzieher in Rechnung stellen darf, und das dient
        dazu, für eine einheitliche Rechtsanwendung zu sorgen .
        Das ist zu begrüßen, denn es fördert die Rechtssicher-
        heit, wenn der Gläubiger weiß, mit welchen Kosten er im
        Vollstreckungsverfahren zu rechnen hat, und diese Frage
        nicht von Gerichten in jedem Einzelfall geklärt werden
        muss .
        Warum allerdings das zentrale Vollstreckungsgericht
        nicht mehr von der Aufhebung der Eintragung unterrich-
        tet werden muss und damit auch hier der Schuldnerschutz
        eingeschränkt wird, erschließt sich nicht .
        Auch mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf soll
        die elektronische Kommunikation zwischen den Verfah-
        rensbeteiligten vorangetrieben werden . Vollstreckungs-
        auftrag und vollstreckbare Ausfertigung können zukünf-
        tig unter den in § 754a ZPO-E genannten Bedingungen
        elektronisch übermittelt werden . Hier, wie auch bei der
        Einführung des besonderen elektronischen Anwalts-
        postfachs, sind neben technischen und praktischen Be-
        denken auch noch eine Reihe rechtlicher Fragen offen,
        beispielsweise zu berufsrechtlichen Pflichten und zum
        Datenschutz .
        Wir finden es richtig, dass das Zwangsvollstreckungs-
        verfahren effektiv und kostengünstig ausgestaltet sein
        soll . Positiv ist auch zu bewerten, dass einige der gesetzli-
        chen Klarstellungen und Ergänzungen zu mehr Rechtssi-
        cherheit für die Gläubiger führen . Allerdings werden wir
        dem Gesetz nicht zustimmen . Die viel zu weitgehenden
        Regelungen zur Drittabfrage und Datenverwendung hal-
        ten wir für datenschutzrechtlich nicht haltbar . Außerdem
        haben wir Zweifel, dass dem Schuldnerschutz durch die
        vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten ausreichend
        Rechnung getragen wird .
        Anlage 25
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
        Bau und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
        Bundesregierung: Verordnung zur Änderung der
        Chemikalien-Klimaschutzverordnung (Tagesord-
        nungspunkt 31)
        Karsten Möring (CDU/CSU): Für die CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion und für mich persönlich ist der
        Klimaschutz ein zentrales Anliegen zur Bewahrung der
        Schöpfung auch für künftige Generationen . Ein nachhal-
        tiger, ressourcenschonender Umgang mit Natur, Umwelt
        und Klima bildet dabei eine der wichtigsten Eckpfeiler .
        Die heute vorgelegte Verordnung der Bundesregierung
        trägt diesem Ziel Rechnung .
        Um was geht es? Für einen aktiven Klimaschutz bei
        der Verwendung von klimarelevanten fluorierten Gasen in
        technischen Anwendungen hat die EU bereits 2006 eine
        Verordnung über bestimmte fluorierte Treibhausgase so-
        wie weiterführende Verordnungen mit Anforderungen an
        Personal und Betriebe erlassen . Warum? Weil Treibhaus-
        gase wie Kohlendioxid, Methan und die voll- und teil-
        halogenierten Fluorkohlenwasserstoffe (FKW, H-FKW)
        die kurzwelligen Sonnenstrahlen ungehindert durch die
        Atmosphäre auf die Erdoberfläche treffen lassen, die
        sich dadurch erwärmt . Die von der Erde zurückgestrahlte
        Wärmeenergie (sogenannte terrestrische Strahlung) wird
        aber von den Treibhausgasen absorbiert . Es kommt zu
        einer zusätzlichen Erwärmung der Erdatmosphäre, dem
        sogenannten Treibhauseffekt, wenn die Konzentration
        dieser Treibhausgase in der Atmosphäre zu hoch ist bzw .
        steigt . Gerade die Fluorkohlenwasserstoffe verursachen
        je nach Substanz einen 100- bis 22 000-mal höheren
        Treibhauseffekt als Kohlendioxid . Sie spielen deshalb im
        Kyoto-Protokoll eine besondere Rolle .
        2008 war es daher Ziel der nationalen Chemikali-
        en-Klimaschutzverordnung, durch Konkretisierungen
        der EU-Vorgaben und auf Basis des Kyoto-Protokolls
        die Emissionen dieser klimarelevanten fluorierten Treib-
        hausgase zu verringern. Sie regelt den Umgang mit fluo-
        rierten Treibhausgasen zum Beispiel bei bestimmten Tä-
        tigkeiten an Kälte- und Klimaanlagen, Wärmepumpen,
        Brandschutzsystemen, Hochspannungsschaltanlagen,
        Klimaanlagen in Kfz . Sie schreibt für diese Tätigkeiten
        einen Sachkundenachweis für das Personal und eine Zer-
        tifizierung für die Betriebe vor.
        Die Bundesregierung hat nun die Anforderungen
        für den Umgang mit und die Vermarktung von klima-
        schädlichen fluorierten Treibhausgasen mittels der heute
        vorliegenden Verordnung ergänzt, um die Chemikali-
        en-Klimaschutzverordnung an das geänderte EU-Recht
        anzupassen und darin enthaltene Regelungsaufträge zu
        erfüllen .
        Mir ist dabei wichtig festzuhalten: Bei den Änderun-
        gen handelt es sich um 1 : 1-Umsetzungen des EU-Rechts,
        die keinen über die Vorgaben der EU-Verordnung hinaus-
        gehenden Erfüllungsaufwand erzeugen! Für mich ist die
        ausgewogene Interessenabwägung zwischen Umweltbe-
        langen und Bürokratiekosten und damit der Praxisbezug
        unabdingbar: Dies erleichtert den notwendigen Vollzug
        der Vorschriften in Verwaltung und Wirtschaft und trägt
        zur Entbürokratisierung bei . Denn vergessen wir nicht:
        diese Chemikalien-Klimaschutzverordnung betrifft eine
        Vielzahl an Berufen der Kälte- und Klimahandwerke so-
        wie der Elektro- und Kfz-Handwerke .
        Bereits seit 2015 gilt als Bestandteil des europäischen
        Fahrplans für eine kohlenstoffarme Wirtschaft die neue
        EU-F-Gase-Verordnung. F steht für fluorierte Treibhaus-
        gase . Diese ersetzte die bisherige Verordnung von 2006
        und enthält als wesentlich neues Element eine Reduk-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18995
        (A) (C)
        (B) (D)
        tionsregelung für treibhausrelevante teilfluorierte Koh-
        lenwasserstoffe, kurz HFKW . Ziel ist unter anderem der
        Anreiz zur Verwendung von Alternativen anstelle von
        F-Gasen . Seither erteilt die Kommission jährlich Quo-
        ten für das Inverkehrbringen von HFKW, die bis 2030
        stufenweise auf rund 20 Prozent der Ausgangsmenge
        gesenkt werden . Die Reduktionsregelung wird beglei-
        tet durch zeitlich gestaffelte Vermarktungsverbote für
        HFKW-basierte Einrichtungen, also zum Beispiel Kühl-
        und Gefriergeräte oder technische Aerosole . Gleichzei-
        tig erweitert die neue EU-Verordnung insbesondere das
        bestehende System der Dichtheitsanforderungen für HF-
        KW-haltige Einrichtungen sowie die Zertifizierungsan-
        forderungen für Personen und Betriebe, die mit solchen
        Stoffen umgehen . Die F-Gase-Verordnung erfasst nun
        weitere Sektoren, nämlich Transportkälte und Schaltan-
        lagen . Außerdem unterliegt ein erweitertes Tätigkeits-
        spektrum der Zertifizierungspflicht.
        Das zeigt: Die bisherigen Regelungen der Chemika-
        lien-Klimaschutzverordnung müssen im Wege der vor-
        liegenden Änderungsverordnung angepasst und konkre-
        tisiert werden, dafür aus Zeitgründen nur wenige kurze
        Beispiele:
        Mit der Verordnung werden unter anderem die nationa-
        len Verfahrensvorschriften zur Zertifizierung von Perso-
        nen um neu zertifizierungspflichtige Tätigkeiten ergänzt.
        Auch werden vor allem im EU-Recht geregelte Betrei-
        berpflichten sowie Kauf, Verkaufs- und Inverkehrbrin-
        gensverbote, die auf Zertifizierungsanforderungen Bezug
        nehmen, durch die Bundesregierung präzisiert . Die wei-
        tergehenden Regelungsinhalte des geltenden deutschen
        Rechts, insbesondere die Dichtheitsgrenzwerte für orts-
        feste Kälteanlagen und die Rücknahmeverpflichtung für
        Hersteller und Vertreiber, bleiben bestehen .
        Die Sachkundeanforderungen für Personen und Un-
        ternehmen werden gemäß den Änderungen des Uni-
        onsrechts erweitert . Da nunmehr der Kreis der von der
        EU-F-Gase-Verordnung erfassten Tätigkeiten gewachsen
        ist, fallen dementsprechend künftig Dichtheitskontrollen
        und die Installation, Wartung, Reparatur und Stilllegung
        von Kühllastkraftfahrzeugen und -anhängern sowie die
        entsprechenden Tätigkeiten an allen stationären elektri-
        schen Schaltanlagen unter die Chemikalien-Klimaschutz-
        verordnung . Die Strukturen zum Erwerb und Nachweis
        der Sachkunde bleiben dabei unverändert; zuständig für
        die Prüfung und die Bescheinigung der Sachkunde wer-
        den weiterhin die bewährten Kammern, Innungen sowie
        behördlich anerkannte Stellen sein, denen ich an dieser
        Stelle doch einmal herzlich für ihre wichtige Arbeit dan-
        ken möchte .
        Hervorzuheben ist die Einführung von Quoten, ohne
        die keine teilfluorierten Kohlenwasserstoffe auf dem
        Unionsmarkt in Verkehr gebracht werden können . Indem
        die EU-Kommission den einzelnen Herstellern und Ein-
        führern Quoten für das Inverkehrbringen von teilfluorier-
        ten Kohlenwasserstoffen zuweist, soll die Menge dieser
        Gase allmählich verringert werden . Die Verordnungs-
        begründung stellt fest, dass einige der entsprechenden
        Regelungen der EU-F-Gase-Verordnung „nicht aus sich
        heraus vollziehbar“ und damit auch nicht sanktionierbar
        sind . Um dem abzuhelfen, enthält der Verordnungsent-
        wurf folgerichtig das Verbot, teilfluorierte Kohlenwasser-
        stoffe – wenn es keine nach der EU-F-Gase-Verordnung
        zugewiesene oder erworbene Quote gibt – in Verkehr zu
        bringen . Ein Verstoß soll als Straftat geahndet werden .
        Die heute vorliegende Änderung der Chemikali-
        en-Klimaschutzverordnung ist der letzte Schritt zur er-
        folgreichen Realisierung der Ziele der EU-Verordnung
        über fluorierte Treibhausgase in Deutschland. Ohne
        Bezugnahmen auf die nationalen Verfahren und Voraus-
        setzungen zum Erwerb solcher Zertifikate wären diese
        Verbote nicht implementierbar und damit nicht über die
        Blankettnormen des Chemikaliengesetzes sanktionier-
        bar . In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung für diese
        Verordnung .
        Frank Schwabe (SPD): Schon vor ein paar Stunden
        haben wir hier im Hohen Haus über den Schutz des Kli-
        mas debattiert – über die Ratifikation des Paris-Abkom-
        mens . Beim Klimaschutz denkt man zuallererst an die
        Reduktion von Kohlendioxid . Man darf aber die anderen
        klimawirksamen Gase nicht vergessen . Deshalb sind im
        Kioto-Protokoll neben Kohlendioxid auch andere Gase
        erwähnt, unter anderem auch die F-Gase, die fluorierten
        Treibhausgase . F-Gase haben eine viel höhere Klima-
        wirksamkeit als CO2 . Sie können 100- bis 24 000-mal
        klimaschädlicher sein als CO2 . Deshalb gibt es seit dem
        Jahr 2007 die Verordnung zum Schutz des Klimas vor
        Veränderungen durch den Eintrag bestimmter fluorierter
        Treibhausgase, kurz die Chemikalien-Klimaschutzver-
        ordnung . Sie regelt beispielsweise Maßnahmen zur Kon-
        trolle der Dichtheit an Kälteanlagen, bei der Wartung und
        Stilllegung einer Kälteanlage, sie regelt die Rückgewin-
        nung des Kältemittels und dessen Rücknahme durch den
        Hersteller . Zudem trifft die Verordnung Regelungen für
        die Qualifizierung des Wartungspersonals.
        Da sich EU-Recht geändert hat, müssen wir diese Ver-
        ordnung nun anpassen . Die neue F-Gas-Verordnung der
        EU gilt schon seit Januar 2015, sie ersetzte die bisherige
        Verordnung . Es war somit erforderlich, dass das deut-
        sche Recht an das geänderte EU-Recht angepasst wird .
        Bei den Änderungen handelt es sich um eine Eins-zu-
        eins-Umsetzung des EU-Rechts, die keinen Erfüllungs-
        aufwand erzeugen, der über die Vorgaben der EU-Ver-
        ordnung hinausgeht .
        Das Bundeskabinett hat diese Änderungen am
        28 . Juni beschlossen, gestern haben wir schon im Um-
        weltausschuss darüber diskutiert . Diese Änderungen
        sind notwendig und sinnvoll und finden deswegen unsere
        Unterstützung . Änderungen erfolgen insbesondere bei
        den Anforderungen für den Erwerb von Sachkundebe-
        scheinigungen für Kälteanlagen, aber auch bei Regelun-
        gen für elektrische Schaltanlagen sowie im Bereich der
        Kühltransporte . Transportkälte und Schaltanlagen waren
        nicht in der alten EU-Verordnung aufgeführt und wurden
        nun neu aufgenommen. Auch die Zertifizierungspflicht
        wurde auf weitere Tätigkeiten ausgeweitet . Die Sach-
        kundebescheinigungen für Personen und Unternehmen
        wurden erweitert . Anforderungen an den sachkundigen
        Umgang mit diesen Stoffen sind wichtig, denn nur sehr
        gut geschulte Mitarbeiter können verhindern, dass diese
        hochklimawirksamen Treibhausgase entweichen . Und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618996
        (A) (C)
        (B) (D)
        natürlich steht die Dichtheit technischer Anlagen im Vor-
        dergrund, um ein Entweichen der Gase zu verhindern .
        Als wesentliche Neuerung enthält die EU-Verordnung
        eine Reduktionsregelung für treibhausrelevante teilfluo-
        rierte Kohlenwasserstoffe . Seither erteilt die Kommissi-
        on jährlich Quoten für das Inverkehrbringen von HFKW,
        die bis 2030 stufenweise auf rund 20 Prozent der Aus-
        gangsmenge gesenkt werden . Die Reduktionsregelung
        wird begleitet durch zeitlich gestaffelte Vermarktungs-
        verbote für HFKW-basierte Einrichtungen . Um diese
        Ziele der EU zu erreichen, wird es notwendig sein, dass
        neue Technologien entwickelt werden, die ohne diese
        Stoffe auskommen .
        Da diese Verordnung im Umweltausschuss nicht strit-
        tig war, halte ich mich kurz . In der Klimapolitik gibt es
        gerade andere Schwerpunkte . Das ist vor allem die Er-
        reichung der in Paris beschlossenen Klimaziele . Hierfür
        brauchen wir einen klaren Fahrplan, der alle Sektoren
        umfasst . Nur so erreichen wir bis zum Jahr 2050 eine
        Wirtschaftsweise, die praktisch ohne den Ausstoß von
        Treibhausgasen auskommt . Hierfür müssen wir nicht
        nur – wie in der Chemikalienpolitik – ein paar Stoffe
        verbieten, sondern die ganze Wirtschaft klimafreundlich
        umbauen . Das dient nicht nur dem Klimaschutz, sondern
        bringt auch ganz neue Chancen für neue Arbeitsplätze .
        Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Durchsetzung des
        europäischen Umweltrechts ist teilweise mit gewissen
        Defiziten behaftet. Manche Verantwortlichkeit ist nicht
        klar geregelt, die ausführende Ebene unklar, oder die Be-
        hörden sind schlicht personell und materiell nicht in der
        Lage, geltendes Recht zu überprüfen und durchzusetzen .
        Derartiges erleben wir derzeit Tag für Tag mit neuen Fa-
        cetten und Beteiligten beim Pkw-Abgasskandal . Zuerst
        wurden beim Kraftfahrtbundesamt die Gelder für eigene
        Überprüfungen eingespart, dann wurde auf Empfehlung
        der Autokonzerne die reale Abgasprüfung am Auspuff
        durch eine Überprüfung über Elektronik und in den Mo-
        toren verbaute Sensoren eingeführt, und damit war der
        Weg für Betrugssoftware frei . Jetzt streitet man, wer
        Schuld hat, und ändert Grenzwerte, statt durchzugreifen .
        Auch die Neuregelungen dieser Chemikalien-Klima-
        schutzverordnung zum Ersatz von stark klimaschädli-
        chen Fluorkohlenwasserstoffen in Kälteanlagen schaf-
        fen neue Kompetenzprobleme zwischen deutscher und
        EU-Ebene . So fallen im nationalen Recht beispielsweise
        die Durchführung der jährlichen Dichtheitskontrollen für
        Kälteanlagen in Kühllastkraftfahrzeugen und die entspre-
        chenden Aufzeichnungspflichten weg. Die Regelung im
        nationalen Recht sei mit Verweis auf die EU-Ebene näm-
        lich nicht mehr nötig, behauptet die Bundesregierung .
        Die EU-Verordnung verändert zwar nichts Wesentliches
        an Prüfungen, zu prüfenden Fahrzeugen und Anlagen;
        aber jetzt wird unklar, welche Behörde die Einhaltung
        der Verordnung überprüft und Verstöße ahndet . Die EU
        hat keine durchführenden Behörden in Deutschland, aber
        gemäß der Begründung der Verordnung wird der Erfül-
        lungsaufwand von Bundes- auf EU-Ebene verschoben .
        Die bisher tätigen Behörden erhalten somit keine Mittel
        mehr für diese Aufgabe; damit wird diese Aufgabe dort
        auch nicht mehr erledigt .
        Ob die Länderbehörden die Durchführung garantie-
        ren müssen, ist in der EU-Verordnung nicht eindeutig
        beschrieben. Wir befürchten, die Kontrollen finden dann
        nach Kassenlage, also eher nicht, statt . Es ist nur eine
        Frage der Zeit, bis windige Firmen diese Vollzugslücke
        erkennen und sich die Kosten für Wartung und Überprü-
        fung sparen .
        Das ist für die normalen Bürgerinnen und Bürger, die
        beim kleinsten Verstoß zur Kasse gebeten werden, nicht
        nachvollziehbar .
        Neben diesem Behördenkompetenzproblem gibt es
        weitere Defizite, nämlich bei der Bewertung derjenigen
        Stoffe, die als vermeintlich klimafreundliche Kältemittel
        die alten Fluorkohlenwasserstoffe ablösen sollen .
        Die Verordnung sieht zwar vor, dass zukünftig ad-
        äquate Berufsausbildungen Voraussetzungen sind, um
        mit den Anlagen, die Fluorkohlenwasserstoffe enthalten,
        zu arbeiten, und das finden wir richtig und wichtig. Aber
        die Linke fordert darüber hinausgehend, dass die Qualifi-
        kationsvorschriften für alle Kältemittel in allen Anlagen,
        auch in Pkw, gelten .
        Weiterhin ist zweifelhaft, ob die Risiken und Gefah-
        ren, die von einigen der neuen Kältemittel ausgehen,
        überhaupt beachtet werden und teilweise überhaupt aus-
        reichend bekannt sind . Klimaverträglichkeit ist nicht das
        einzige Umweltkriterium .
        Ich erinnere an das Kältemittel R1234yf, das ab kom-
        mendem Jahr verpflichtend in alle Pkw-Klimaanlagen
        von Neuwagen eingefüllt werden muss . Für dieses Käl-
        temittel existiert bis heute keine abschließende Risiko-
        bewertung nach REACH-Chemikalienverordnung – ei-
        gentlich dürfte es nicht verwendet werden, aber die EU
        drückt alle Hühneraugen zu . Es nützt nichts, Menschen
        zu schulen und für mehr Expertise beim Umgang mit
        Kühlaggregaten zu sorgen, wenn den Anwendern und
        den europäischen und deutschen Behörden das notwen-
        dige Wissen über die Gefahren der eingesetzten Stoffe,
        wie R1234yf fehlt .
        Dass beim Verbrennen von R1234yf außer ätzender
        Flusssäure auch Carbonyldifluorid, ein wie das Giftgas
        Phosgen wirkendes Gas, entsteht, wurde in offiziel-
        len Bewertungen nie ernsthaft diskutiert . Das Problem
        brachte erst eine unabhängige Forschung aus der Wissen-
        schaft ans Licht . Gleichwohl wissen wir aber, dass den
        Herstellern des Kältemittels dieser Sachverhalt durchaus
        bekannt war, denn sie erwähnten es im rechtlich ver-
        bindlichen Sicherheitsdatenblatt – aber verharmlosten in
        rechtlich nicht bindenden Erklärungen . Der Einsatz von
        R1234yf in Pkw und anderen Klimaanlagen hat das Po-
        tenzial zum nächsten großen Pkw-Skandal .
        Wenn das Recht im Umgang mit fluorierten Chlor-
        kohlenwasserstoffen also schon überarbeitet wird, dann
        gründlich . Und die Linke fordert eine bessere Umsetzung
        des EU-Chemikalienrechts . Aus unserer Sicht ist es not-
        wendig, unabhängige Risikobewertungen zu finanzie-
        ren und im Übrigen dafür zu sorgen, dass entsprechend
        dem europäischen Vorsorgeprinzip kein Stoff zugelassen
        wird, von dem neue Gefahren für Mensch und Natur aus-
        gehen können .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18997
        (A) (C)
        (B) (D)
        R1234yf muss wieder aus den Pkws raus . Die Linke
        fordert, dass so schnell wie möglich die Alternative CO2
        genutzt wird .
        Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): An-
        gesichts des eingedampften Klimaschutzplans des Um-
        weltministeriums können wir ja froh sein, wenn der
        Begriff „Klima“ überhaupt noch im Regierungshandeln
        auftaucht. Wie wir alle wissen, finden fluorierte Treib-
        hausgase aufgrund ihrer schweren Entflammbarkeit als
        Kältemittel und in Brandschutzsystemen vielfach An-
        wendung. Zur Hybris gehört aber auch, dass fluorierte
        Treibhausgase wegen ihres hohen Treibhauspotenzials
        vom Kioto-Protokoll erfasst sind und somit dem globalen
        Regime zur Emissionsreduktion unterliegen . Offensicht-
        lich besteht Überarbeitungsbedarf hinsichtlich der beste-
        henden Chemikalien-Klimaschutzverordnung, der sich
        in erster Linie aus Änderungen der unionsrechtlichen
        Rahmenbedingungen ergibt, nämlich der Ablösung der
        bisherigen EG-F-Gas-Verordnung (EG) Nr . 842/2006
        durch die Verordnung (EU) Nr . 517/2014 sowie der
        Novellierung entsprechender unionsrechtlicher Durch-
        führungsregelungen . Diese Änderungen erfordern zahl-
        reiche Anpassungen des nationalen Rechts, da einerseits
        nationale Regelungen nun EU-rechtlich getroffen wur-
        den, andererseits erweiterte EU-rechtliche Anforderun-
        gen zu berücksichtigen sind .
        Die so jetzt hier festgeschriebene Anpassung der
        Sachkundeanforderungen für Dichtheitskontrollen so-
        wie Installation, Wartung, Instandhaltung, Reparatur und
        Stilllegung von Kühllastkraftfahrzeugen und -anhängern
        sowie von allen elektrischen Schaltanlagen bzw . die
        Rückgewinnung der Treibhausgase aus allen stationären
        elektrischen Schaltanlagen ist somit sachgerecht und not-
        wendig . Hinzu kommen noch redaktionelle Anpassungen
        und Streichungen von nicht mehr nötigen Regelungen
        sowie einige sinnvolle Klarstellungen des Gesetzgebers .
        Klare gesetzliche Regelungen sind nur zu begrüßen . Da-
        her stimmen wir dem Verordnungsentwurf zu .
        Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin
        bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau
        und Reaktorsicherheit: Hinter der eher unscheinbaren
        Überschrift „Verordnung zur Änderung der Chemikali-
        en-Klimaschutzverordnung“ verbirgt sich mehr als auf
        den ersten Blick erkennbar . Es geht dabei nicht etwa um
        den Schutz von Chemikalien vor dem Klimawandel, son-
        dern um einen Beitrag dazu, den Einsatz besonders kli-
        maschädlicher Chemikalien – der fluorierten Treibhaus-
        gase, auch F-Gase genannt – drastisch zu beschränken .
        Das Fundament für die Regelung der F-Gase wurde
        mit der Klimarahmenkonvention und dem Kioto-Proto-
        koll gelegt . Die EU hat hierzu 2006 eine Verordnung er-
        lassen, die insbesondere zum Ziel hatte, die Dichtigkeit
        von Anlagen, zum Beispiel Kälte- und Klimaanlagen, in
        denen diese Stoffe eingesetzt werden, sicherzustellen .
        Zur Flankierung wurde in Deutschland die Chemikali-
        en-Klimaschutzverordnung erlassen, die auch einige da-
        rüber hinausgehende Regelungen, insbesondere konkrete
        Leckagegrenzwerte, enthält . Die EU-Verordnung ist nun
        2014 grundlegend verschärft worden . Unter anderem
        sieht sie jetzt ein Quotensytem für das Inverkehrbringen
        der besonders relevanten teilfluorierten Kohlenwasser-
        stoffe – HFKW – vor, das den Einsatz dieser Stoffe bis
        2030 europaweit auf rund 1/5 reduzieren wird . Die Ände-
        rungen dieser Verordnung machen zugleich Änderungen
        unserer nationalen Verordnung erforderlich, die mit der
        heute zur Beschlussfassung anstehenden Änderungsver-
        ordnung rechtzeitig vor Ablauf der Übergangsfristen der
        EU-Verordnung ins Werk gesetzt werden sollen . Dabei
        war es uns auch wichtig, weitergehende Aspekte unserer
        Regelung beizubehalten, insbesondere die Leckagegren-
        zwerte, den Betreibern und Vollzugsbehörden konkrete
        Vorgaben für die zulässigen Emissionen beim Betrieb der
        Anlagen an die Hand geben, Regelungen, die sich dieser
        Funktion bewährt haben .
        Mit der EU- und der nationalen Verordnung ist der
        letzte Schritt hin zu einem weitestgehenden Verzicht auf
        den Einsatz fluorierter Treibhausgase noch nicht getan.
        Während zum Beispiel bei den Kältemitteln nichthalo-
        genierte, insbesondere auch die seit langem bekannten
        sogenannten natürlichen Kältemittel als nachhaltige
        Alternativen zur Verfügung stehen, gibt es Bereiche, in
        denen der Ersatz wesentlich schwieriger ist . Ich nenne
        hier nur den Einsatz von SF6 (Schwefelhexafluorid) in
        elektrischen Schaltanlagen . Hier lässt das USA in einem
        Forschungsprojekt Alternativen untersuchen . Auch das
        Aktionsprogramm „Klimaschutz 2020“ enthält Maßnah-
        men zur Verringerung der Emissionen der F-Gase . Nur
        zwei Stichworte: Verstetigung des Förderprogramms
        Kälte- und Klimaanlagen, Förderung der Aus- und Fort-
        bildung im Umgang mit nichthalogenierten Kältemitteln .
        Beide Maßnahmen sind auf den Weg gebracht .
        Lassen Sie mich noch kurz auf den internationalen
        Aspekt der F-Gas-Problematik eingehen . Im Novem-
        ber 2015 haben die Vertragsparteien des Montrealer
        Protokolls den „Dubai Pathway on HFCs“ mit dem
        Ziel beschlossen, in diesem Jahr einen Beschluss über
        die Aufnahme der bedeutendsten F-Gase, der schon er-
        wähnten HFKW – englisch: HFC – , in das Montrealer
        Protokoll zu erreichen . Verschiedene Veröffentlichungen
        sprechen davon, dass mit einer konsequenten Beschrän-
        kung der HFKW-Verwendung bis Ende des Jahrhunderts
        ein 0,4 bis 0,5°C entsprechender Beitrag zum Global
        Warming vermieden werden könnte . Gerade vor weni-
        gen Stunden hat in New York am Rande der UN-Voll-
        versammlung eine Koalition ambitionierter Staaten die
        „New York Declaration of the Coalition for an Ambiti-
        ous HFC Amendment“ abgegeben und damit den Willen
        bekräftigt, beim Treffen des Montrealer Protokolls im
        nächsten Monat in Kigali einen bedeutenden Beitrag zum
        Paris-Abkommen zu leisten .
        Wir sind uns sicher alle darin einig, dass wir den Ver-
        handelnden in Kigali viel Erfolg wünschen .
        Anlage 26
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts zu dem Antrag der Fraktionen CDU/
        CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618998
        (A) (C)
        (B) (D)
        Deutsch-indische Bildungs- und Wissenschafts-
        kooperation ausbauen (Tagesordnungspunkt 32)
        Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Die Bundesrepublik
        Deutschland und die Republik Indien sind – wer Berich-
        te verfolgt oder schon einmal dort war, kann das sicher
        unterstreichen – zwei Länder, wie sie unterschiedlicher
        nicht sein könnten .
        Auf der einen Seite Deutschland, ein Staat im soge-
        nannten „alten Europa“ mit langer industrieller Tradition,
        einer in der christlichen Soziallehre verwurzelten Arbeits-
        ethik, sozialer Marktwirtschaft, einer steten Entwicklung
        hin zur technologischen Weltspitze, sowohl in Forschung
        und Entwicklung als auch im Export, und wirtschaftlich
        führendes Mitglied der Europäischen Union .
        Auf der anderen Seite Indien, noch bis Ende der
        1940er-Jahre unter britischer Kolonialherrschaft, ein
        Land so groß wie ein Kontinent mit über 1,2 Milliarden
        Einwohnern, einem in vielen Teilen der Gesellschaft
        noch fortbestehenden Kastensystem, einem alten und
        unschätzbar reichen kulturellen Erbe, einer vom Hindu-
        ismus und vom Islam geprägten Bevölkerung mit teils
        tiefen ethnisch-religiösen Konflikten und einem Anteil
        von 44 Prozent der Inder, die von weniger als 1 Dollar
        am Tag leben müssen .
        Unterhalb dieser augenfälligen Differenzen verbirgt
        sich jedoch, dass beide Staaten auch sehr vieles mit-
        einander verbindet: ein rasanter wirtschaftlicher und
        technologischer Aufstieg – in Deutschland nach den
        Schrecken des Zweiten Weltkrieges, in Indien nach einer
        langen Phase politischer Unselbstständigkeit und kolo-
        nialer Ausbeutung –, die Entwicklung vom politischen
        Leichtgewicht zu verantwortungsvollen und verantwor-
        tungsbewussten führenden Akteuren im internationalen
        politischen Geschehen, der Struktur- und Bewusstseins-
        wandel weg von einer durch Schwerindustrie und den
        Abbau von Bodenschätzen geprägten Wirtschaft hin zu
        einer hochtechnisierten Wissensgesellschaft und den da-
        mit einhergehenden Veränderungsprozessen in puncto
        nachgefragter Qualifikationen und vorherrschender Bil-
        dungswege .
        Mit den beiden Initiativen „Make it in Germany“ und
        „Make in India“ kommt diese Vergleichbarkeit der deut-
        schen und der indischen Position sehr offensichtlich zum
        Tragen . Beide Staaten haben erkannt, dass Wissen, eine
        Höherqualifizierung der Bevölkerung, technologieinten-
        sive Arbeitsplätze in Produktion und Dienstleistung und
        eine Entwicklung hin zur Digitalisierung fast sämtlicher
        Lebensbereiche nicht nur ein Trend sind, dem man fol-
        gen kann oder sollte, sondern eine Notwendigkeit, deren
        Bedingungen man aktiv politisch mitgestalten muss, um
        nicht von ihnen überrollt zu werden und später einer Ent-
        wicklung hinterherzulaufen .
        Während die deutsche Kampagne allerdings darauf
        abzielt, qualifizierten jungen Menschen aus aller Welt
        die Möglichkeiten und Vorzüge des deutschen Ausbil-
        dungs- und Studiensystems näherzubringen und sie als
        Fachkräfte für deutsche Unternehmen an den Standort
        Deutschland zu holen, zielt die indische Kampagne viel
        stärker darauf ab, die eigenen reichen Potenziale zu för-
        dern . Es sollen Investitionen und Innovationen gefördert,
        Qualifikationen verbessert, der Schutz geistigen Eigen-
        tums durchgesetzt und eine erstklassige Produktionsinf-
        rastruktur bereitgestellt werden – kurz: all das, was es in
        Deutschland schon gibt .
        Daher ist es nur richtig und sinnvoll, wenn unsere bei-
        den Staaten zusammenarbeiten, gemeinsam forschen, un-
        sere Unternehmen miteinander in Kontakt bringen, wenn
        wir unsere Erfahrung im Bereich dualer Ausbildung ex-
        portieren und anders herum von den großen Fähigkeiten
        der indischen Fachkräfte im Bereich der IKT lernen .
        Damit stoßen wir Kooperation in der Spitze und in der
        Breite an . Grundlagenforschung hilft, Krankheiten zu be-
        kämpfen, die Ernährungsgrundlagen zu verbessern, die
        Umwelt zu schützen und die Entwicklung neuer Produk-
        tionstechniken in Indien wie hierzulande voranzutreiben .
        Eine Verbreiterung der Fachkräftebasis durch den Auf-
        bau einer beruflichen Bildungsstruktur hilft, die Einkom-
        menschancen der großen Mehrheit der Bevölkerung in
        Indien zu verbessern und die technischen Neuerungen
        in die Praxis umzusetzen . Denn hier wie dort kann der
        Kopf ohne die Hand nicht viel bewegen . Indien hat viele
        Hände – mit dem vorliegenden Antrag ergreifen wir sie,
        um sie gemeinsam zum Besseren zu benutzen . Ich bitte
        Sie daher auch um Ihre Hände und ein Signal der Zustim-
        mung zu unserem Antrag .
        Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Indien macht bei
        uns in jüngster Zeit im Zusammenhang mit Wissenschaft
        und Technik verstärkt von sich reden . Erst vor wenigen
        Tagen, am 8 . September 2016, hat die indische Raum-
        fahrtbehörde ISRO eine neue Trägerrakete samt Wetter-
        satellit erfolgreich ins All geschickt . Die dabei eingesetz-
        te Technologie, für die zwei Jahrzehnte Entwicklungszeit
        benötigt wurden, soll im kommenden Jahr auch bei der
        geplanten Mondmission zum Einsatz kommen . Und hät-
        ten Sie es gewusst? Der beste ausländische Student in
        Deutschland kommt in diesem Jahr – richtig – aus In-
        dien . Die Auszeichnung des Deutschen Akademischen
        Austauschdienstes ging am 27 . August 2016 an den aus
        Kalkutta stammenden Sayantan Chattopadhyay . Kein
        Chinese, kein US-Amerikaner, nein, ein Inder wurde
        also in diesem Jahr für seine hervorragenden Studienleis-
        tungen und sein gesellschaftliches bzw . interkulturelles
        Engagement geehrt . Ganz nebenbei: Sein MBA-Studium
        in Leipzig wurde erfreulicherweise durch das Deutsch-
        landstipendium unterstützt .
        Zugegeben, auf den ersten Blick wird das Ansinnen
        des vorliegenden Antrags zum Ausbau der deutsch-in-
        dischen Bildungs- und Wissenschaftskooperation den
        einen oder anderen überraschen, spielte doch Indien auf
        der internationalen Wissenschaftsbühne bisher eher eine
        unbedeutende Rolle . Aber das wird sich in den kommen-
        den zehn Jahren wohl grundlegend ändern . Indien wird
        dann, so die einhellige Expertenmeinung, zu den fünf
        erfolgreichsten Wissenschaftsnationen gehören . Erstes
        Anzeichen für diese Entwicklung dürfte die – nach Jah-
        ren eher schwachen Wirtschaftswachstums – seit 2014
        an Fahrt aufnehmende wirtschaftliche Entwicklung in
        Indien sein . Parallel dazu startete die indische Regierung
        eine große Wissenschafts- und Bildungsoffensive, um
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18999
        (A) (C)
        (B) (D)
        den Herausforderungen der Zukunft – sei es im Bereich
        der Armutsbekämpfung oder zur Lösung des Energie-
        und Ernährungsproblems – zu begegnen . Indien hat sich
        als künftige Supermacht des Wissens für uns utopisch
        klingende Ziele gesetzt . Die Zahl der Universitäten bei-
        spielsweise soll von knapp 400 auf 1 500 steigen . Schon
        heute gibt es mehr als 14 Millionen Studierende in die-
        sem Land . Und bis zum Jahr 2025 wird sich die Zahl
        der jährlichen Schulabgänger von heute 13 Millionen auf
        etwa 30 Millionen steigern . Da ist es dann doch nahe-
        liegend, dass die deutsche Bundesregierung seit Jahren
        als zuverlässiger Partner an der Seite Indiens steht und
        insbesondere im Bereich von Bildung und Wissenschaft
        eine Intensivierung der Kooperation verfolgt . So wurden
        einige wichtige Vereinbarungen getroffen, zum Beispiel
        zur Intensivierung der Kooperation zwischen Hochschu-
        len aus beiden Ländern oder zu Verlängerung und Aus-
        bau des Indo-German Science and Technology Centre,
        IGSTC, in Gurgaon . Und es ist nur folgerichtig, dass sich
        auch der Deutsche Bundestag mit dem heute zur Abstim-
        mung stehenden Antrag „Deutsch-indische Bildungs-
        und Wissenschaftskooperation ausbauen“ befasst und die
        Bundesregierung ermutigt, auf dem bereits eingeschlage-
        nen Weg weiter voranzuschreiten .
        Als ich im vergangenen Jahr im Rahmen unserer De-
        legationsreise nach fast zwei Jahrzehnten wieder in Indi-
        en war, habe ich ein Land der Extreme vorgefunden . Auf
        der einen Seite Hightech auf Weltniveau in einer Stadt
        wie Bangalore, auf der anderen Seite Armut und Dritte
        Welt . Wir mussten erfahren, dass Indien – mit Abstand –
        die absolut größte Zahl armer Menschen weltweit hat .
        800 Millionen Menschen leben von unter zwei US-Dol-
        lar und 450 Millionen von weniger als 1,25 US-Dollar
        pro Tag – mehr Menschen als in Gesamt-Subsahara-Afri-
        ka . Andererseits beheimatet Indien weltweit die meisten
        Millionäre und Milliardäre .
        Gleichzeitig wurde uns Delegationsteilnehmern ein-
        drucksvoll vergegenwärtigt, welch großes Potenzial,
        aber auch welch gigantische Herausforderungen in die-
        sem Land stecken . Weniger als 5 Prozent aller dem Ar-
        beitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen verfügen
        nach Regierungsangaben über eine berufliche Qualifika-
        tion . Für die jährlich fast 13 Millionen jungen Menschen,
        die neu auf den Arbeitsmarkt kommen, gibt es bisher
        lediglich rund 4,5 Millionen Ausbildungsangebote, zu-
        meist von äußerst geringer Qualität . Es gibt bis heute kei-
        ne Schulpflicht in Indien, was die extrem hohe Zahl von
        Analphabeten erklärt . Etwa ein Drittel der erwachsenen
        Inder kann nicht lesen und schreiben .
        Auch vor diesem Hintergrund bieten sich für den
        Ausbau der Zusammenarbeit zahlreiche Ansatzpunkte,
        die in unserem Antrag sehr umfassend beschrieben wer-
        den . Insbesondere im Bereich der Forschung sind die
        Beziehungen zu Indien bereits heute besonders eng .
        Für Indien ist Deutschland weltweit der zweitwichtigste
        Forschungspartner hinter den USA . Die indische Wissen-
        schaft genießt auch in Deutschland einen sehr guten Ruf,
        vor allem in der bereits erwähnten Raumfahrt, aber auch
        in der Informations- und in der Biotechnologie . Und ge-
        rade in diesem Bereich spürt auch Indien den weltweiten
        Wettbewerb um die klügsten Köpfe . Hier nur eine beein-
        druckende, aber in gewisser Weise auch erschreckende
        Zahl: Jeder vierte Cheftechnologe im kalifornischen Si-
        licon Valley ist ein Inder . Das Thema Brain Drain ist für
        Indien also besonders real . Hier kann das Land ja viel-
        leicht auch unsere Erfahrungen – beispielsweise mit der
        GAIN-Jahrestagung, die erst vor kurzem in Washington
        stattfand – nutzen .
        Ich bin mir sicher: Das Themengebiet ist beinahe un-
        erschöpflich und vor allem im beiderseitigen Nutzen –
        für Indien ebenso wie für Deutschland . Das soll unser
        gemeinsamer Antrag verdeutlichen .
        Dr. Simone Raatz (SPD): Ich freue mich sehr,
        dass wir uns heute noch einmal mit dem Ausbau der
        Deutsch-indischen Bildungs- und Wissenschaftskoope-
        ration beschäftigen . Aus zwei Gründen ist dies sehr zu
        begrüßen: zum einen, weil es sich dabei um einen ge-
        meinsamen Antrag aus drei Fraktionen handelt . Dies
        zeigt doch, wie konstruktiv im Bundestag an Sachthemen
        gearbeitet wird! Allen Beteiligten möchte ich daher noch
        einmal herzlich für die wertvollen von Ihnen geleisteten
        Beiträge danken .
        Begrüßenswert ist aber zum anderen auch die Auf-
        merksamkeit, die wir mit unserem Antrag der internatio-
        nalen Zusammenarbeit in Zukunftsfragen widmen . Denn
        ein Antrag zu Kooperationen im Bildungs- und Wissen-
        schaftsbereich ist immer eine stark auf die Zukunft aus-
        gerichtete Angelegenheit .
        Lassen Sie uns aber zunächst noch einmal über die
        Gegenwart sprechen . Indien ist, wie Sie alle wissen, das
        zweitbevölkerungsreichste Land und die größte Demo-
        kratie, und es ist einer unserer wichtigsten Partner in
        Asien . Auf der Delegationsreise, aus der dieser Antrag
        erwachsen ist, konnten wir uns selbst davon überzeugen,
        wie viel das Land unternimmt, um die Herausforderung
        seiner Bevölkerungsentwicklung zu meistern . Wie Sie
        sich sicherlich vorstellen können, sind diese gerade im
        Bildungsbereich sehr groß . Gleichzeitig bieten Bildung
        und Forschung dem Land enorme Chancen .
        Deutschland unterstützt Indien daher bereits heute
        sehr bei seinen Bemühungen um Bildungsexpansion .
        Auch davon konnten wir uns selbst überzeugen, und in
        unserem Antrag nennen wir ja auch Beispiele dafür: Das
        Indo-German Science and Technology Centre etwa oder
        die vom Auswärtigen Amt unterstützten Sprachinitiativen
        PASCH und „Deutsch an 1 000 Schulen“ . Auch das Bun-
        desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
        Entwicklung sowie das Bundesministerium für Bildung
        und Forschung unterstützen das Land mit umfangreichen
        Projekten und gemeinsamen Partnerschaftsprogrammen .
        Eine zentrale Rolle spielt dabei unter anderem die Wei-
        terentwicklung des Bildungswesens gerade im Bereich
        der beruflichen Bildung. Hier ist Deutschland enorm er-
        folgreich – dazu hat die OECD erst jüngst Zahlen veröf-
        fentlicht – und hat dementsprechend eine wichtige Vor-
        bildwirkung . All diese Projekte müssen, wie in unserem
        Antrag in den Punkten 7 bis 11 gefordert, fortgeführt und
        wo nötig auf sichere finanzielle Beine gestellt werden.
        Aber auch im Wissenschaftsbereich ist Deutschland
        ein sehr wichtiger Partner für Indien; um genau zu sein
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619000
        (A) (C)
        (B) (D)
        inzwischen sogar der zweitwichtigste direkt nach den
        USA . Es lernen heute fast 12 000 indische Studierende
        an deutschen Hochschulen . Seit letztem Jahr ist Indien
        damit auf Platz zwei der Herkunftsländer ausländischer
        Studierender in Deutschland, nach China, aber vor lang-
        jährigen Austauschpartnern und Nachbarländern wie
        Russland, Österreich oder Frankreich . Und das ist wirk-
        lich eine jüngere Entwicklung: Vor zehn Jahren war Indi-
        en noch auf Platz 14 der Statistik!
        Viel zu oft sprechen wir im Kontext von Schwellen-
        ländern wie Indien lediglich von Entwicklungshilfe . Bei
        allen Herausforderungen, die unser Partner zu meistern
        hat, ruft unser Antrag nun zu einer Zusammenarbeit auf
        Augenhöhe und zum gegenseitigen Vorteil auf .
        An dieser Stelle gilt es, festzuhalten, dass wir es sind,
        die beim Austausch von Studierenden und Wissenschaft-
        lerinnen und Wissenschaftlern hinterherhinken, und das
        ordentlich .
        Wenn Sie sich die regelmäßig vom Statistischen Bun-
        desamt herausgegebene Statistik der Zielländer deut-
        scher Studierender einmal ansehen, werden Sie feststel-
        len, dass Indien darin überhaupt nicht vorkommt . Laut
        Zahlen des DAAD waren im letzten Jahr nicht mehr als
        800 deutsche Studierende und Forscher in Indien, und
        davon nur eine Handvoll länger als sechs Monate . Sie
        sehen also, wie wichtig es ist, wie in den Punkten 1 bis
        3 formuliert, den deutsch-indischen Studierenden- und
        Wissenschaftleraustausch zu intensivieren .
        Aber auch inhaltlich gibt es große Unterschiede:
        Während wir in erster Linie Geistes- und Sozialwissen-
        schaftler nach Indien schicken, konzentrieren sich unsere
        Gäste auf den MINT-Bereich . Indien ist im Masterbe-
        reich durchgängig unter den Top 2 der Auslandsstudie-
        renden in den Fächern Elektrotechnik, Maschinenbau,
        Ingenieurwesen und Informatik . Und auch die indischen
        Doktorandinnen und Doktoranden promovieren bei uns
        vorzugsweise in Biologie, Chemie oder eben Informatik .
        Wir wollen diese Tatsachen positiv nutzen . Denn in
        diesen Fächern haben wir ja nicht nur ein hohes Renom-
        mee, sondern auch einen sehr hohen Bedarf an Fachkräf-
        ten .
        Bereits bei der ersten Aussprache zum vorliegenden
        Antrag habe ich Ihnen von den über 200 deutschen Un-
        ternehmen berichtet, die in Indien Niederlassungen mit
        Tausenden Mitarbeitern im IT-Bereich haben . Der Bran-
        chenverband der Informationswirtschaft hat vor etwa
        einem Jahr vermeldet, dass aktuell allein in Deutsch-
        land etwa 43 000 IT-Spezialisten gesucht werden . Wahr-
        scheinlich wird bald ein neuer Negativrekord aufgestellt,
        denn in den vergangenen Jahren ist diese Zahl immer
        weiter gestiegen . Es ist doch klar, dass im Rahmen der
        zunehmenden Digitalisierung auch der Bedarf an Fach-
        kräften in diesem Bereich zunimmt .
        Den in Deutschland gesuchten Spezialisten stehen ei-
        nerseits 85 000 Informatikstudierende gegenüber . Jähr-
        lich beenden jedoch nur etwas mehr als 8 500 davon ihr
        Studium. Selbst wenn man spezifische Fächergruppen
        wie die Ingenieurinformatik, die Wirtschaftsinformatik
        und ähnliche dazu nimmt, kommen wir auf weit unter
        20 000 Absolventinnen und Absolventen, und dabei sind
        dann auch schon die Bachelorabsolventen mitgezählt, die
        sich teilweise im Anschluss an ihr Studium noch mit dem
        Master weiterbilden werden . Auch ein wichtiges Ziel ist
        daher die Senkung der zu hohen Studienabbrecherquoten
        genau in dieser Gruppe .
        Lassen Sie uns also auch vor diesem Hintergrund mit
        unserem Antrag die Bildungs- und Forschungszusam-
        menarbeit mit Indien ausbauen . Es geht dabei um ge-
        genseitigen interkulturellen Austausch . Es geht um eine
        Erweiterung der Horizonte . Es geht aber genauso um ge-
        meinsame Anstrengungen für eine gute Zukunft . Beide
        Seiten werden davon gesellschaftlich, sozial und auch
        wirtschaftlich profitieren!
        Azize Tank (DIE LINKE): Die Linke unterstützt eine
        Vertiefung des internationalen Austauschs in Wissen-
        schaft, Forschung und dem schulischen Bereich . Dies
        stärkt die Demokratisierung der Wissenschaft, fördert
        innovatives Denken und Fortschritt, ermöglicht die zwi-
        schenmenschliche Begegnung und den Abbau von Vor-
        urteilen . Bildung schafft Räume für kritisches Denken .
        Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass Maßnahmen
        zur Berufsbildung in Indien gefördert werden sollen .
        Die im Antrag enthaltene unverhohlene Zweckdienlich-
        keit lehnen wir jedoch ab . Dem vorliegenden Antrag der
        Regierungskoalition zum Ausbau der deutsch-indischen
        Bildungs- und Wissenschaftskooperation können wir aus
        diesen Gründen nicht zustimmen, und deswegen enthält
        sich die Linke bei diesem Antrag . Wir fordern die Bun-
        desregierung zu Korrekturen und einem Umdenken im
        Bereich der Förderung von internationalen Bildungs-
        maßnahmen insbesondere in Indien auf, damit eine so-
        ziale Teilhabe für alle ermöglicht wird . Jede Diskussion
        über die Förderung des Austausches von Hochqualifi-
        zierten muss vor dem Hintergrund der sozioökonomi-
        schen Verhältnisse des Herkunftslandes und der Rolle,
        welche diesen Menschen in der globalen Arbeitsteilung
        zugeschrieben wird, geführt werden .
        Natürlich können Auswanderer und Auswanderinnen
        auch einen positiven Beitrag zur Entwicklung ihrer Her-
        kunftsländer leisten . Die Linke unterstützt grundsätzlich
        das Recht aller Menschen auf Bewegungsfreiheit . In die-
        sem Zusammenhang ist es aber notwendig, dass auch In-
        dien tatsächlich von einem solchen Austausch profitiert.
        Die Bundesregierung folgt jedoch bislang einer sehr ein-
        seitigen Logik . Alles, was gut für deutsche Investitionen
        in Indien ist, sei gut, alles, was zur Ausbildung von Fach-
        kräften in Indien führt, die der deutschen Industrie dienen
        könnten, ebenfalls . Doch wo ist die Perspektive Indiens
        bei diesen Investitionen und diesen Bildungsmaßnah-
        men? Entspricht dies den Erwartungen der von Bildung
        ausgeschlossenen Menschen in Indien? Wer in die Bil-
        dung in Indien investieren will, der muss die dortigen so-
        zialen Kämpfe und Debatten der Studierenden und vieler
        Lehrkräfte zur Kenntnis nehmen, wie sie auch zuletzt am
        St . Stephen’s College in Delhi insbesondere von den Da-
        lit geführt und entschieden vorangebracht wurden .
        Es geht dabei nicht um neue Bildungsmethoden oder
        ein duales Bildungssystem, sondern immer um eines:
        Inklusion in das Bildungssystem . Wer die deutsch-indi-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19001
        (A) (C)
        (B) (D)
        sche Bildungs- und Wissenschaftskooperation wirklich
        voranbringen will, der kann dies nicht ignorieren . Inklu-
        sion, die Möglichkeit einer beruflichen Ausbildung, be-
        deutet für Millionen von Menschen in Indien vor allem
        gesellschaftliche Teilhabe, sozialer Aufstieg und wirt-
        schaftliche Mobilität . Wer in diesen Prozess mit eigenen
        Maßnahmen eingreifen will, der muss mögliche soziale
        Auswirkungen mitbedenken . Wir können solange nicht
        über Qualität in der Bildung sprechen, solange diese Bil-
        dung nicht auch mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht .
        Soziale Gerechtigkeit darf dabei nicht für eine bestimmte
        Elite, soziale Klasse, Kaste oder ein Geschlecht reser-
        viert sein . Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf,
        ihre bisherigen Fördermaßnahmen in diesem Bereich zu
        evaluieren und auf die sozialen Auswirkungen hin zu
        hinterfragen, wo gegebenenfalls gegenzusteuern ist . Das
        Gleiche gilt für die im vorliegenden Antrag vorgeschla-
        genen Maßnahmen . Wissenschaftlicher Austausch ist
        gut – soziale Gerechtigkeit ist besser .
        Das Abwandern hochqualifizierter Menschen ist
        oft die Folge einer ungerechten Entwicklung, die wei-
        te Teile der Gesellschaft verurteilt, in Armut zu leben,
        ohne Zugang zur Arbeit und sozialen Menschenrechten,
        ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe . In die-
        ser Perspektive erscheint die Freiheit der einen oft nur
        als auf einen bestimmten gesellschaftlichen Schichten
        auferlegter Zwang zur Migration, da im Herkunftsland
        keine alternativen Möglichkeiten bereitgestellt werden,
        um ihre persönlichen Lebensentwürfe zu verwirklichen .
        Vergessen wir auch nicht, dass menschliche Ressourcen
        eines Herkunftslandes begrenzt sind . Das gilt nicht nur
        für Indien, sondern auch für viele Gesellschaften der
        EU-Mitgliedstaaten in Ost- und Südeuropa . Wer die so-
        zioökonomischen Bedingungen in einem Land wie Indi-
        en ignoriert und Bildungscurricula aus anderen Ländern
        importiert und zu universalisieren versucht, der muss
        sich der inhärenten gesellschaftlichen Gewalt, die dieser
        Uniformierung inne ist, bewusst sein .
        Die weitgehende Verschulung der universitären Bil-
        dung, Patriarchalismus und autoritäres Erziehen, das im-
        mer noch weit verbreitete Auswendiglernen, welche als
        Altlast zwischen kolonialer Bildung und postkolonialen
        Formen der Wissensvermittlung weit verankert ist, muss
        sich auch in den Ansätzen widerspiegeln, welche Maß-
        nahmen der Berufsbildung zugrunde liegen . Unlängst
        wird von Forschern kritisiert, dass sich eine nationalis-
        tisch gesinnte hinduistische Mittelschicht auf der einen
        und Unterklassen und Minderheiten auf der anderen
        Seite gespalten haben . Dieser Prozess darf durch Brain
        Drain und Body Shopping nicht weiter verstärkt wer-
        den . Deshalb kann die deutsch-indische Bildungs- und
        Wissenschaftskooperation nicht auf die Nutzbarkeit von
        Arbeitskräften in der globalen Arbeitsteilung reduziert
        werden, sondern muss Maßnahmen zur Stärkung der ge-
        sellschaftlichen Diversität enthalten, die den Zugang zu
        einer Förderung durch Inklusion von Ausgeschlossenen
        demokratisiert . Es muss eine Förderung inklusiver Bil-
        dungsprojekte in Indien geben .
        Natürlich ist die Entwicklung Indiens als Schwellen-
        land mit der am zweitschnellsten wachsenden Wirtschaft
        beachtlich . Doch es muss die Frage erlaubt sein, wel-
        chen Einfluss dieser Wirtschaftsaufschwung tatsächlich
        auf die Hebung der Lebensqualität für alle Menschen in
        Indien hat? Es muss danach gefragt werden, inwiefern
        das globale Body Shopping, wie es ausgewiesene Wis-
        senschaftlerinnen längst in Indien festgestellt haben,
        weit mehr als zur Entwicklung des Landes auch zu der
        Verfestigung der sozialen Spaltung in Indien beiträgt,
        in dem bestimmte gesellschaftliche Schichten als Eliten
        gefördert und andere wiederum ausgegrenzt und an der
        Fortentwicklung ihrer menschlichen Fähigkeiten ge-
        hindert werden . Der globale wirtschaftliche Austausch
        und die Produktion werden durch konkrete menschliche
        Beziehung der Arbeitswelt hergestellt . Dieser globalen
        Arbeitsteilung liegen Strukturen zugrunde, welche den
        Menschen in bestimmten Regionen bestimmte Funkti-
        onen und Rollen in diesem Prozess zuschreiben . Aber
        warum sind es gerade die indischen Facharbeiter, die für
        diese Arbeitsteilung so entscheidend sind? Hinter dem
        indischen IT-Wunder steht auch die Tatsache, dass es um
        hohe Qualifikationen geht, niedrige Löhne und ein großes
        Reservoir an Arbeitskräften . Dies ist das Rezept des ho-
        hen Mehrwerts für die kapitalistische Wirtschaft, die die
        indische Gesellschaft bezahlt . Die große Disparität lässt
        sich in dem Nutzen der indischen Arbeitskräfte für die
        IT-Branche und dem üblichen Lohn der globalen Märk-
        te messen . Ethnisierung, soziale Spaltung, Geschlecht
        und Hautfarbe sind Faktoren dieser Arbeitsteilung und
        zugleich das Fundament der Spezialisierung Indiens auf
        die Ausbildung hochqualifizierter und zugleich billiger
        Arbeitskräfte für den Weltmarkt .
        Betrachtet man die Liste mit den zu fördernden Projek-
        ten, findet sich dort keines wieder, welches sich mit dem
        großen Entwicklungsbedarf in Indien selbst beschäftigt .
        Stattdessen findet eine Eliteförderung statt. Ein Beispiel
        dafür ist die unter Ziffer 15 des Antrags angedachte För-
        derung der Partnerschulinitiative PASCH, die eben nur
        ausgewählte Schulen teilhaben lässt . Eine Auswahl ist
        eine Selektion und spricht gegen die Möglichkeit, dass
        alle von diesem Bildungsprojekt profitieren können. Ins-
        besondere finden wir hier keine Gedanken zu der Teilha-
        be an Bildung als Sozialem Menschenrecht, welches in
        Indien gestärkt werden sollte .
        Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
        internationale Austausch in der Wissenschaft ist eine
        wichtige Triebfeder für gesellschaftlichen Fortschritt .
        Deutschland unterhält mit vielen Ländern gute wissen-
        schaftliche Beziehungen – diejenigen mit Indien liegen
        uns besonders am Herzen; denn die Voraussetzungen, mit
        der größten Demokratie weltweit in der Wissenschafts-
        und Bildungspolitik auf Augenhöhe zu kooperieren, sind
        deutlich besser als mit Staaten, in denen Wissenschafts-
        freiheit sowie Meinungs- und Pressefreiheit unter Druck
        stehen oder unterdrückt werden .
        Das Interesse an mehr Kooperation in Bildung und
        Forschung ist riesengroß . Das machen uns unsere indi-
        schen Gesprächspartner der letzten Monate und Jahre
        immer wieder deutlich – und das beruht auf Gegenseitig-
        keit . Wir wollen diesen vertrauensvollen Austausch auf
        Augenhöhe fortsetzen und weiter intensivieren . Es war
        gut, dass wir als grüne Bundestagsfraktion gemeinsam
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619002
        (A) (C)
        (B) (D)
        mit Union und SPD diesen Antrag und konkrete Schritte
        für mehr Kooperation in Bildung, Wissenschaft und For-
        schung auf den Weg gebracht haben .
        Deutschland möchte ein verlässlicher Partner Indiens
        sein . Unsere gemeinsamen Forderungen müssen nun im
        Haushalt 2017 ihren Niederschlag finden. Das ist bisher
        nicht der Fall, und das macht mir Sorgen . Ich erwarte von
        Union und SPD, dass wir den gemeinsamen interfraktio-
        nellen Antrag auch umsetzen: angefangen von der besse-
        ren räumlichen Ausstattung der Deutschen Schule New
        Delhi, der nachhaltigen Finanzierung des Deutschen
        Innovationshauses in Neu Delhi bis hin zu einem inten-
        siveren Austausch von deutschen und indischen Studie-
        renden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern .
        Unseren Worten müssen jetzt Taten im Haushaltsverfah-
        ren folgen .
        Nicht vergessen sollten wir die Unterstützung
        der Geisteswissenschaften . Der weitere Ausbau des
        deutsch-indischen „Maria Sibylla Merian – R . Tagore In-
        ternational Centre for Advanced Studies in the Humani-
        ties and Social Sciences“ ist sinnvoll und muss erfolgen .
        Dieses Zentrum ermöglicht interdisziplinären Austausch
        und bringt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
        aus unterschiedlichen Ländern zusammen . Wir brauchen
        nicht nur Austausch und Zusammenarbeit für Hightech-
        und Spitzenforschung, sondern müssen auch soziale
        Innovationen und geisteswissenschaftliche Diskurse vo-
        ranbringen .
        Innovation ist keine reine Frage der Technik oder na-
        turwissenschaftlicher Gesetze . Die großen Herausfor-
        derungen kennen keine Grenzen zwischen den Wissen-
        schaftsdisziplinen, sondern erfordern interdisziplinäre
        Brückenschläge . Die Menschen wollen mitgenommen
        werden in die „neue Welt“ . Darum sind geisteswissen-
        schaftliche Perspektiven so wichtig, um Innovations- und
        Wandlungsprozesse zu gestalten . Das sollte in Zukunft
        ein Punkt sein, der noch stärker in der deutschen Außen-
        wissenschaftspolitik beachtet werden muss .
        Wir wollen Indien bei seinen großen Herausforderun-
        gen unterstützen, wie zum Beispiel im Bereich der er-
        neuerbaren Energien und der Energiewende heraus aus
        fossilen und nuklearen Techniken . Über 300 Millionen
        Menschen in Indien haben keinen zuverlässigen Zugang
        zu Strom . Das wäre so, als wenn in den gesamten USA
        das Licht ausginge . Gegen die Energiearmut setzt Indi-
        en leider vor allem auf Kohle- und Atomkraft – obwohl
        das mehr Smog und Treibhausgase sowie Sicherheitsri-
        siken und ungelöste Endlagerung nach sich zieht . Umso
        erfreulicher ist, dass die indische Regierung zunehmend
        auf erneuerbare Energien setzt . Deutschland hat bereits
        einen bedeutenden Anteil an erneuerbaren . Unsere Erfah-
        rungen mit der Energiewende und mit verantwortlicher
        Energieforschung teilen wir gerne .
        Eine weitere Herausforderung sind neue Jobs . Pro
        Jahr kommen 12 bis 13 Millionen Jugendliche zusätzlich
        auf den indischen Arbeitsmarkt . Um sie unterzubringen,
        kann das duale System unserer Berufsausbildung mit sei-
        ner Verknüpfung aus Theorie und Praxis einen Beitrag
        leisten – zumal es in Indien viele kleinste, kleine und
        mittlere Unternehmen gibt . Hierbei bringen wir, dem
        Wunsch der indischen Seite folgend, unsere Erfahrungen
        gerne weiter ein .
        Erfreulich ist, dass sich der deutsch-indische Aus-
        tausch von Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen
        und Wissenschaftlern deutlich erweitert hat . Unter den
        internationalen Studierenden in Deutschland stellen In-
        derinnen und Inder die drittgrößte Gruppe . Wir sollten
        uns aber auch dafür einsetzen, dass mehr deutsche Stu-
        dierende den Weg nach Indien gehen .
        Schon jetzt sind zahlreiche Hochschulen sowie außer-
        universitäre Forschungseinrichtungen in Indien aktiv .
        Das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus in
        Neu-Delhi, in dem alle großen deutschen Wissenschafts-
        organisationen vertreten sind, ist eine sehr wichtige Ad-
        resse für den Austausch, dessen Finanzierung wir auch
        künftig sicherstellen wollen . Danke für diese Arbeit und
        auch an das Wirken der politischen Stiftungen! Sie zu-
        sammen machen eine hervorragende Arbeit als Flagg-
        schiffe deutscher Außenwissenschaftspolitik und Wis-
        senschaftsdiplomatie . Sie prägen zwischen Bengaluru
        und Delhi das Bild von Deutschland als Wissensnation .
        Indien ist ein dynamisches und quirliges Land . Soziale
        Spaltung und Good Governance sind Probleme, die es
        zu bewältigen gilt . Es gibt aber Grund zum Optimismus:
        Das Land ist aufstrebend, bildungsaffin, wissbegierig,
        innovativ und mit immensen Potenzialen bei Technolo-
        gie, Talenten und Kreativität . Sie bilden den fruchtbaren
        Boden für eine lebendige Zivilgesellschaft . Vielfalt und
        Mehrsprachigkeit in Indien fördern kreatives Denken und
        selbstbewusste Bürgerschaft . Dieser Weg wird sich lang-
        fristig als erfolgreich erweisen und macht den Austausch
        auch in der Außenwissenschaftspolitik umso wertvoller .
        Wir wollen die deutsch-indischen Kooperationen in
        Bildung und Forschung ausbauen . Gemeinsam sind unse-
        re beiden Demokratien stärker, Lösungen für die soziale
        und ökologische Modernisierung unserer Welt zu finden
        und zu etablieren . Auf die weitere vertiefte Zusammenar-
        beit freut sich die übergroße Mehrheit des Bundestages .
        Anlage 27
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
        des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Sta-
        tistikgesetze
        (Tagesordnungspunkt 33)
        Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Der Mikrozensus
        wurde 1957 auf Empfehlung der OEEC, einer Vorgänge-
        rorganisation der OECD, geschaffen . Fast 60 Jahre be-
        steht die Institution des Mikrozensus nun, und ich finde,
        sie ist eine Erfolgsgeschichte . Zwar wurden in den ver-
        gangenen Jahrzehnten immer wieder Veränderungen an
        den Erhebungsmethoden vorgenommen . Aber im Gro-
        ßen und Ganzen entsprechen viele Erhebungsmerkmale
        noch heute den Vorgaben des ursprünglichen Gesetzes
        aus 1957 . Ich denke, das spricht für sich .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19003
        (A) (C)
        (B) (D)
        Im Zuge der europäischen Integration musste der Mik-
        rozensus in den vergangenen Jahren immer weiter an die
        Vorgaben der europäischen Statistik angepasst werden .
        Bereits seit 1968 werden gemeinsam mit dem Mikro-
        zensus Daten zur Erwerbstätigkeit und Beschäftigung
        nicht nur von den befragten Personen in Deutschland,
        sondern auch gleichzeitig in anderen EU-Staaten erho-
        ben . Die Daten dieser Befragungen stellen die Grundlage
        für EU-weite Programme für mehr Beschäftigung, eine
        bessere Ausbildung und die Bekämpfung der Arbeitslo-
        sigkeit dar .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf reagiert die
        Bundesregierung nun auf eine Entwicklung, die sich
        schon in den letzten Jahren abgezeichnet hat: Die Ar-
        beitskräfteerhebung der Europäischen Union wird immer
        stärker harmonisiert und ausdifferenziert . Darüber hinaus
        wird sie langfristig erhoben . Die in diesem Zusammen-
        hang erhobenen Daten werden für die Bundesregierung
        immer wichtiger . Die Reaktion der Bundesregierung ist
        daher zunächst, die Institution Mikrozensus mit diesem
        Gesetzentwurf zu entfristen . Bisher wurde der Mikro-
        zensus in der Regel für einen Zeitraum von vier bis sie-
        ben Jahren geregelt, woraufhin ein erneutes Gesetz nö-
        tig wurde . Das derzeit geltende Mikrozensusgesetz aus
        dem Jahr 2012 läuft in diesem Jahr aus . Anstatt ein neues
        Mikrozensusgesetz für nur wenige Jahre auf den Weg zu
        bringen, soll der Mikrozensus nun unbefristet fortgeführt
        werden. Es ist aus gesetzgeberischer Sicht nicht effizi-
        ent, alle paar Jahre ein neues Gesetz zu erlassen, wenn
        die Datenlieferungsverpflichtungen Deutschlands an die
        Europäische Union unbefristet gelten . Hier lässt sich na-
        türlich einwenden, dass der Gesetzgeber dadurch schein-
        bar die Gestaltungsmacht über den Mikrozensus aufgibt .
        Dies ist natürlich nicht der Fall; denn auch auf eine un-
        befristet angelegte Regelung hat der Deutsche Bundestag
        gesetzgeberischen Gestaltungszugriff . Denjenigen, die
        im Mikrozensus einen übermäßigen Eingriff in die Frei-
        heitsrechte der Bürger sehen, sei an dieser Stelle gesagt,
        dass die Befristung der bisherigen Gesetze bei jeder er-
        neuten gesetzlichen Verlängerung eher zu einer Erweite-
        rung der Erhebungsmerkmale geführt hat . Insofern dürfte
        eine Entfristung auch dazu beitragen, Anpassungen nur
        bei offensichtlichen Problemen vorzunehmen .
        Die zweite Reaktion auf die Entwicklungen auf eu-
        ropäischer Ebene ist die Integration der Erhebungsteile
        über Gemeinschaftsstatistiken über Einkommen und Le-
        bensbedingungen, EU-SILC, sowie zur Informationsge-
        sellschaft, IKT, in den Mikrozensus . Diese wurden bisher
        separat bei den Bürgern erhoben . Mit der Zusammenle-
        gung wird der Aufwand für die Bürger nun reduziert .
        Natürlich bringt diese Integration auch organisatorischen
        Aufwand und Kosten bei der Umstellung der IT-Systeme
        mit sich . Daher wird die vollständige Integration auch
        erst ab 2020 gänzlich umgesetzt werden . Die Synergie-
        effekte sowie die deutlich reduzierte Eingriffsintensität
        durch die Befragungen lassen diese Kosten aus meiner
        Sicht jedoch mehr als angemessen erscheinen .
        Dies sind aus meiner Sicht die wesentlichen Punkte
        dieses Gesetzentwurfs, den ich sehr begrüße . Hier wird
        eine gute Neuregelung vorgeschlagen, der die Zeit unse-
        rer Bürger bei der Inanspruchnahme für die Erhebungen
        schont und gleichzeitig die Informationsmöglichkeiten
        für die Bundesregierung und den Gesetzgeber verbes-
        sert . Ich freue mich auf das anstehende parlamentarische
        Verfahren .
        Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Schon mehrfach
        habe ich in diesem hohen Hause zu Statistikgesetzen ge-
        sprochen und auch heute tue ich das gerne . Das ist ein
        Thema, das nicht nur an meinen beruflichen Werdegang
        anknüpft, sondern etwas in den Blick nimmt, was ge-
        meinhin wenig Schlagzeilen verursacht: die Erhebung
        von statistischen Daten .
        Verglichen mit zurückliegenden Jahrzehnten ist die
        Entwicklung der Datenerhebung in den letzten Jahren
        deutlich vorangeschritten . Die Verfahren sind ausgereif-
        ter, die Daten komplexer und das Datenvolumen hat deut-
        lich zugenommen . In unserer Informationsgesellschaft
        haben alle Lebensbereiche an Komplexität zugenommen,
        Lebensstile haben sich verändert, sind variabler gewor-
        den, Informationen fließen schneller und die Reichweite
        hat sich deutlich erhöht . Längst erhebt das Statistische
        Bundesamt Daten nicht mehr nur für eigene nationale
        Zwecke, sondern ist an EU-Recht gebunden und muss
        auch hierfür Daten liefern . Die hohe Dynamik, mit der
        Gesellschaften sich national und international verändern,
        bringt die Erhebungsverfahren unter Zugzwang . Und das
        ist auch der Anlass für unsere heutige Beratung .
        Das Mikrozensusgesetz ist Grundlage der repräsenta-
        tiven Haushaltserhebung, die seit 1957 in Deutschland
        durchgeführt wird . Letztmalig haben wir dieses Gesetz
        im Jahr 2014 geändert . Auch hier war unter anderem die
        Anpassung an EU-Vorgaben ein Anlass . Wir haben Op-
        timierungen bei der Bevölkerungsstatistik vorgenommen
        und mithilfe einer Experimentierklausel ermöglicht, dass
        neue Erhebungsverfahren erprobt werden können .
        Die heute mit dem Gesetzentwurf vorliegenden Än-
        derungen gehen deutlich weiter . Sie sind grundlegender
        und stellen gewissermaßen einen weiteren Schub in der
        Entwicklung der Datenerhebung in Deutschland dar . Wo-
        rum geht es?
        Zunächst einmal ist es die sich ankündigende Ablauf-
        frist, die uns zum Handeln veranlasst . Denn: Das Mikro-
        zensusgesetz ist bis zum Ende des Jahres 2016 befristet .
        Die Befristungen wurden in der Vergangenheit immer
        wieder per Gesetz verlängert, so letztmalig 2012 um vier
        Jahre . Im vorliegenden Gesetzentwurf sollen diese Ket-
        tenverlängerungen nun beendet werden . Das ist die ers-
        te grundlegende Änderung des Gesetzentwurfs . Künftig
        soll das Mikrozensusgesetz unbefristet gelten und damit
        den Vorgaben der EU folgen, denn auch die Pflicht zur
        Datenlieferung gilt unbefristet . Diese Änderung ist sinn-
        voll und zeitgemäß .
        Kommen wir zu einem weiteren zentralen Punkt des
        Gesetzes . Bislang fanden einige Erhebungen nebenein-
        ander statt, so auch der Mikrozensus und die Erhebung
        über Arbeitskräfte, Einkommen und Lebensbedingungen
        für die EU . Während der Mikrozensus für die Befrag-
        ten verpflichtend ist, erfolgte die sogenannte SILC-Er-
        hebung auf freiwilliger Basis . Damit verbunden waren
        immer wieder Datenverzerrungen, da bei der Stichpro-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619004
        (A) (C)
        (B) (D)
        benerhebung nicht immer alle Haushalte gleichmäßig zu
        erreichen waren . Das wollen wir jetzt ändern . Die Erhe-
        bung soll künftig in den Mikrozensus integriert und da-
        mit verpflichtend werden. Damit reduziert sich der Stich-
        probenumfang, und die Validität der Daten wird zugleich
        erhöht . Dieser Aspekt ist sehr wichtig, denn damit lassen
        sich genauere Erkenntnisse zur Entwicklung von Er-
        werbstätigkeit und Ungleichheit in unserer Gesellschaft
        ziehen . Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass durch die
        Nutzung der gemeinsamen organisatorischen und tech-
        nischen Infrastruktur der Aufwand der Erhebung sinkt .
        Auch für die Befragten ist das natürlich von Vorteil, da
        sie nur einmal befragt werden müssen .
        Diese positiven Effekte sind auch maßgebend für
        die Integration einer weiteren Erhebung in den Mik-
        rozensus – die Statistik zur Informationsgesellschaft .
        Damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt des Ge-
        setzentwurfs . Die Nutzung von Informations- und Kom-
        munikationstechnologien hat in den letzten zwei Jahr-
        zehnten enorm an Fahrt aufgenommen . Die Anzahl der
        Haushalte, die diese Technologien nutzen, hat sich ver-
        vielfacht, und die Tendenz geht weiter nach oben . Mit der
        Einbeziehung dieser Datenerhebung in den Mikrozensus
        wird die Aussagekraft der Statistik weiter erhöht . Und
        auch hier wird die Auskunft für die Befragten verpflich-
        tend mit allen Vorteilen für die Qualität der Erhebung .
        Der Mikrozensus liefert damit künftig auch zentrale In-
        formationen zum Stand und den weiteren Anforderungen
        des Breitbandausbaus .
        Zu den Kernänderungen kommen noch einige weitere
        kleinere Maßnahmen hinzu, die das Verfahren der statis-
        tischen Erhebungen zum Mikrozensus weiter verbessern
        sollen .
        Die Umsetzung der erheblichen Änderungen wird in
        zwei Stufen vorgenommen, die insgesamt bis 2021 dau-
        ern . Im Zeitraum von 2017 bis 2020 werden zunächst
        einige Anpassungen bei den Erhebungsmethoden und
        den Erhebungsmerkmalen vorgenommen, bevor dann ab
        2020 die Integration der EU-Statistiken erfolgen wird .
        Der Zeitaufwand rührt dabei vor allen Dingen daher,
        dass das gesamte IT-System umgestellt werden muss .
        Das Vorhaben nimmt somit einige Zeit in Anspruch und
        stellt dabei grundlegende Weichen der Datenerhebung
        zum Mikrozensus neu . Und diese Weichenstellung wer-
        den wir in den Ausschussberatungen sicher noch einmal
        eingehend beleuchten . Auch eine Anhörung ist geplant .
        Lassen Sie mich zum Schluss noch eine letzte Facette
        betrachten, die bei dem Gesetzentwurf selber keine Er-
        wähnung findet. Mit Verbesserungen der statistischen
        Erhebungsverfahren tragen wir auch zur Erleichterung
        der Arbeit der Menschen bei, die tagtäglich damit befasst
        sind – der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Statisti-
        schen Bundesamtes und der statistischen Ämter der Län-
        der . Auch das ist ein wichtiger Impuls für die anstehen-
        den Beratungen . Ich freue mich darauf .
        Jan Korte (DIE LINKE): In regelmäßigen Abständen
        debattieren wir hier über die kleine Volkszählung, wie
        der Mikrozensus ja von vielen zu Recht genannt wird .
        Nun hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur
        generellen Neuregelung des Mikrozensus und zur Än-
        derung weiterer Statistikgesetze vorgelegt, der das zum
        Ende dieses Jahres auslaufende Gesetz ersetzen soll . Er
        sieht im Unterschied zu den bisherigen Mikrozensusge-
        setzen, in deren Rahmen seit 1957 bisher jeweils rund 1
        Prozent der Bevölkerung, aktuell also 830 000 Personen
        in 390 000 privaten Haushalten und Gemeinschaftsun-
        terkünften, in vier aufeinanderfolgenden Jahren stellver-
        tretend für die ganze Bevölkerung mit endlosen Frage-
        bögen und sehr differenzierten Fragen zu nahezu allen
        Lebensbereichen interviewt wurden, eine unbefristete
        Fortführung des Mikrozensus vor . Bisher wurde der Mi-
        krozensus stets zeitlich befristet, um in regelmäßigen
        Abständen den Erhebungsbedarf überprüfen und das Ge-
        setz gegebenenfalls anpassen oder gar auslaufen lassen
        zu können .
        Von einer generellen Infragestellung oder der Mög-
        lichkeit einer Evaluation will die Bundesregierung nun
        nichts mehr wissen . Sie begründet dies einerseits mit
        unbefristeten Datenlieferverpflichtungen der EU. Denn
        „durch die Integration der Stichprobenerhebung über Ar-
        beitskräfte, der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen
        und Lebensbedingungen und der Gemeinschaftsstatistik
        zur Informationsgesellschaft in den Mikrozensus werden
        europäische Verpflichtungen zur Lieferung statistischer
        Angaben erfüllt“ . Andererseits hätte sich die Befristung
        „in der Vergangenheit nicht bewährt“ . Das kann man so
        sehen, muss man aber ganz sicher nicht . Aus unserer
        Sicht steht eine Zwangserhebung wie der Mikrozensus
        im Widerspruch zum Recht auf informationelle Selbstbe-
        stimmung . Natürlich ist auch meine Fraktion nicht prin-
        zipiell gegen die Grundidee, durch Befragung einer klei-
        nen, repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung nach
        mathematisch-statistischen Verfahren ein annähernd
        wirklichkeitsgetreues Abbild der sozioökonomischen
        Verhältnisse in diesem Land zu bekommen . Allerdings
        setzen wir uns dafür ein, dass das Erfassungsverfahren so
        grundrechtsschonend und realitätsgerecht wie nur irgend
        möglich erfolgt . Und da müsste dann zumindest erst ein-
        mal nachgewiesen werden, dass das Ziel repräsentativer
        Daten über die Bevölkerung nur mit zwangsweiser Ver-
        pflichtung zu erreichen ist. 17 von 28 EU-Staaten füh-
        ren ihre Erhebungen auf freiwilliger Basis durch . Von
        mangelhafter Datenqualität hört man außer hierzulande
        nichts .
        Viel gravierender als die Entfristung erscheint mir da-
        her, dass Sie mit dem neuen Konzept des Mikrozensus
        gleichzeitig auch die Teilnahmepflicht auf die EU-Er-
        hebungen ausweiten, an denen die Teilnahme bislang
        freiwillig war . Dies ist überhaupt nicht hinnehmbar . In
        diesem Zusammenhang fand ich die Stellungnahme des
        Bundesrates sehr bemerkenswert, der diesen Punkt völlig
        zu Recht ebenfalls kritisiert . Dort heißt es:
        Nach den Vorgaben der Verordnung (EG)
        Nr . 1177/2003 sind die Angaben zu Einkommen
        und Lebensbedingungen für die zu Befragenden
        freiwillig. Die Einführung einer Auskunftspflicht
        in der Bundesrepublik Deutschland geht insoweit
        weit über die EU-Vorgaben hinaus . Aufgrund der
        hohen Sensibilität der EU-rechtlich vorgegebenen
        Erhebungsmerkmale in Bezug auf Einkommen und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19005
        (A) (C)
        (B) (D)
        Lebensbedingungen ist mit einer Zunahme von
        Auskunftsverweigerungen und erheblicher Verärge-
        rung seitens auskunftspflichtiger Privatpersonen zu
        rechnen .
        An anderer Stelle stellt der Bundesrat richtigerweise
        fest, dass „eine auskunftspflichtige Erhebung sehr priva-
        ter, sehr sensibler und vielfach subjektiv geprägter Fra-
        gen einen Paradigmenwechsel in der amtlichen Statistik
        darstellt“ . Der Bundesrat befürchtet einen Imageschaden,
        „der negative Auswirkungen für die Durchführung und
        den Zielverwirklichungsgrad auch anderer Statistiken
        haben und entsprechende Erhebungen erschweren könn-
        te“ . Dass Sie diese Befürchtungen nicht ernst nehmen,
        ist höchst bedauerlich . Sie halten stattdessen weiter an
        Ihrem Mantra fest, wonach Befragungen auf Zwang
        basieren müssten, weil sie ansonsten nicht zu verwert-
        baren Daten führen würden . So schreiben Sie in Ihrer
        Begründung einmal mehr, dass „bei freiwilligen Erhe-
        bungen, wie derzeit zum Beispiel EU-SILC, … in der
        Regel systematische Verzerrungen vor[liegen] . Personen
        im unteren und oberen Einkommensbereich weisen nach
        bisherigen Untersuchungen geringere Teilnahmequoten
        auf, sodass die Indikatoren mit keiner hinreichenden Prä-
        zision für die anvisierte Evaluation bereitgestellt werden
        können“ . Dies ist einigermaßen gewagt, da in der Bun-
        desrepublik Deutschland bislang keine einzige Machbar-
        keitsstudie durchgeführt worden ist und auch in nahezu
        allen anderen EU-Mitgliedstaaten EU-SILC als freiwilli-
        ge Erhebung durchgeführt wird . Und man kann auch mal
        fragen, was denn die präzise Erfassung von Armut und
        Reichtum bringen soll, solange ohnehin systematisch
        eine Politik betrieben wird, die die Reichen reicher und
        die Armen noch ärmer macht .
        Auch die im Gesetz vorgesehenen Möglichkeiten, die
        Anonymisierung der Daten zumindest zeitweise wieder
        aufzuheben, trifft auf datenschutzrechtliche Bedenken .
        Der Gefahr der Erstellung weitgehender Profile der be-
        troffenen Bürgerinnen und Bürger muss aus unserer Sicht
        durch eine strenge Zweckbindung und absolute Anony-
        misierung der Daten Rechnung getragen werden .
        Schon am 16 . Juli 1969 hat sich das Bundesverfas-
        sungsgericht in seinem Beschluss zu einer Klage gegen
        den Mikrozensus intensiv mit der Frage beschäftigt,
        inwieweit es dem Staat gestattet sein darf, seine Bürge-
        rinnen und Bürger zu erfassen, zu kategorisieren oder
        in ihre innersten Rückzugsräume einzudringen . Dabei
        spricht das Gericht vom „Recht auf Einsamkeit“ . Ge-
        meint ist damit ein „Recht, alleine gelassen zu werden“ .
        Das Gericht führt dazu Folgendes, wie ich meine, auch
        heute noch hoch Aktuelles, aus:
        Es widerspricht der menschlichen Würde, den Men-
        schen zum bloßen Objekt im Staat zu machen . Mit
        der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren,
        wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch neh-
        men könnte, den Menschen zwangsweise in seiner
        ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu kata-
        logisieren, sei es auch in der Anonymität einer sta-
        tistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache
        zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder
        Beziehung zugänglich ist . Ein solches Eindringen in
        den Persönlichkeitsbereich durch eine umfassende
        Einsichtnahme in die persönlichen Verhältnisse sei-
        ner Bürger ist dem Staat auch deshalb versagt, weil
        dem Einzelnen um der freien und selbstverantwort-
        lichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein
        ‚Innenraum‘ verbleiben muß, in dem er ‚sich selbst
        besitzt‘ und ‚in den er sich zurückziehen kann, zu
        dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in
        Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit
        genießt‘ .
        Es wäre schön, wenn auch Sie sich künftig im Gesetz-
        gebungsverfahren an diesen Worten orientieren würden .
        Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die vorgelegte Reform des Mikrozensus und wei-
        terer Statistikgesetze bedeutet, wie auch in den Jahren
        zuvor, eine weitere Vertiefung der Belastung der vom
        Mikrozensus betroffenen Bürgerinnen und Bürger . Un-
        ter den Schlagworten von Effizienz und Synergieeffekten
        findet eine nochmalige Erweiterung der Fragenkataloge
        statt, ohne dass diese zumindest in Teilen noch freiwillig
        gestellt werden . Das ist buchstäblich „liberty dying by
        inches“, und wir sollten uns schon fragen, wie lange das
        mit der Statistik noch auch und gerade mit Blick auf die
        Entwicklung der letzten Jahre so weitergehen kann . Nie-
        mand, lassen Sie mich das noch einmal in aller Deutlich-
        keit sagen, bestreitet ernsthaft den Zweck des Statistik-
        wesens und seine Bedeutung für eine effektiv arbeitende
        Verwaltung . Unsere Verantwortung als Gesetzgeber liegt
        aber im Allgemeinen und bezüglich des Statistikwesens
        im Speziellen vor allem darin, den Grundsatz der Ver-
        hältnismäßigkeit zum Maßstab zu nehmen und die Bür-
        gerinnen und Bürger vor einer übermäßigen und sachlich
        nicht mehr vertretbaren Inanspruchnahme zu bewahren .
        Durch die rein statistisch-wissenschaftliche Brille be-
        trachtet, wird es immer gute Gründe geben, warum diese
        oder jene bestehenden Statistiken inhaltlich noch einmal
        erweitert gehören, eine nochmals größere Gruppe be-
        treffen sollten und/oder zwangsweise zu erfolgen haben .
        Wie weit wir dabei gehen sollten, ist unsere gemeinsame
        politische Entscheidung, die wir verantwortungsvoll fäl-
        len müssen . Der Mikrozensus ist keine Volkszählung in
        dem Sinne, dass die Bevölkerung, ähnlich etwa wie es
        bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung der Fall ist,
        in ihrer Gesamtheit erfasst würde . Doch sie ist auch kei-
        nesfalls eine Petitesse . Denn sie betrifft alljährlich rund
        1 Million Mitbürgerinnen und Mitbürger .
        Neben dem Mikrozensus laufen zudem weitere Haus-
        haltsbefragungen durch Statistikbehörden, die de fac-
        to den Kreis der in der Bevölkerung Betroffenen noch
        einmal erweitern . Der Mikrozensus stellt für diese Be-
        troffenen, die nach einem statistischen Zufallsverfahren
        ausgewählt werden, einen erheblichen Eingriff in ihre
        Grundrechte dar . Denn zunächst einmal gilt es festzu-
        halten, dass sie per Gesetz und ordnungsgeldbewehrt
        auskunftspflichtig sind. Sie sind verpflichtet, sich durch
        einen 70-seitigen Fragenkatalog zu quälen, der sie zu na-
        hezu jeder Lebenslage befragt und – im wahrsten Sinne
        des Wortes – ausforscht . Und sie müssen wiederholte,
        erneut der Auskunftspflicht unterfallende unterjährige
        Nachfragen –bis zu viermal – hinnehmen, das heißt, das
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619006
        (A) (C)
        (B) (D)
        ohnehin extrem aufwändige Verfahren ist demnach kei-
        nesfalls mit der einmaligen Beantwortung beendet .
        Dieser Mikrozensus, Sie erinnern sich sicher an die
        Debatten, die wir darum in der Vergangenheit bereits ge-
        führt haben, war von Beginn an umstritten . Er führte zu
        einem der ersten und bis heute bedeutsamen Urteile des
        Bundesverfassungsgerichts zu Umfang und Reichweite
        des Grundrechts auf Privatsphäre, Mikrozensus-Urteil .
        Und der Mikrozensus ist bis heute umstritten, darüber
        könnte uns eine Umfrage bei den Datenschutzbehörden
        des Bundes und der Länder sicherlich Auskunft geben,
        die alljährlich viele Eingaben und Nachfragen der von
        den Statistikämtern ausgewählten Betroffenen zu be-
        arbeiten haben . Doch die in diesen Fragen oft wankel-
        mütige Akzeptanz in der Bevölkerung bleibt nicht der
        alleinige Prüfungspunkt, wenn wir uns als legislatives
        Kontrollorgan Gesetze des Bundesinnenministers mit
        Berührung zum Datenschutz anschauen . Es liegt viel-
        mehr in unserer Verantwortung, die Gewährleistung ganz
        wesentlicher Gesichtspunkte der Verfassungsmäßigkeit
        wie auch der Wahrung der Grund- und Bürgerrechte ins-
        gesamt kritisch und vor allem hinsichtlich ihrer Verhält-
        nismäßigkeit zu prüfen .
        Bislang war der seit Jahrzehnten etablierte Mikro-
        zensus befristet geregelt . Diese Befristung hat sich in
        meinen Augen durchaus bewährt, eröffnet sie doch die
        Chance, immer auch andere, zusätzliche Belastungen
        für die informationelle Selbstbestimmung der Bürge-
        rinnen und Bürger bei der durch uns vorzunehmenden
        Verhältnismäßigkeitsprüfung in den Blick zu nehmen .
        Nun soll der Mikrozensus also nach ihrem Willen in eine
        unbefristete gesetzliche Regelung überführt werden . In-
        tegriert in den aus Sicht der Betroffenen ohnehin endlos
        langen Fragenkatalog, werden zusätzlich noch die nach
        EU-Recht erforderlichen Statistiken zu Einkommen und
        Lebensbedingungen, EU-SILC, sowie zur Informations-
        gesellschaft, IKT, erhoben .
        Das informatorische Sonderopfer, das die vom Mikro-
        zensus Betroffenen zu erbringen haben, ist somit aus
        unserer Sicht alles andere als unerheblich . Wir begrüßen
        deshalb ausdrücklich, dass die Bundesregierung sich of-
        fenbar darum bemüht hat, Belastungen der Betroffenen
        zumindest zum Teil zu vermeiden . Danach soll der Merk-
        malskatalog des Kernprogramms nur noch die Hälfte des
        heutigen Katalogs umfassen . Und thematisch abgrenzba-
        re Erhebungsteile sollen auf die Betroffenen derart ver-
        teilt werden, dass nicht alle Ausgewählten alle – nunmehr
        aus anderen Haushaltsstatistiken integrierte – Fragenteile
        zu beantworten haben .
        Gleichwohl bedeutet die Integration von vormals ge-
        trennt ablaufenden und damit andere Bürgerinnen und
        Bürger betreffenden Fragenkataloge natürlich eine Er-
        höhung des Gesamtumfangs der Befragung, auch wenn
        offenbar nicht alle Ausgewählten im gleichen Maße be-
        troffen sein werden .
        Noch gravierender erscheint uns, dass die nunmehr
        integrierten Teile EU-SILC und EI-IKT zukünftig eben-
        falls unter die Auskunftspflicht fallen. Der Wechsel von
        Freiwilligkeit auf Zwang erfolgt wenige Jahre nach der
        letzten Debatte zum Mikrozensus doch ziemlich überra-
        schend und aus unserer Sicht nicht ausreichend begrün-
        det . Das bloße Argument der Vermeidung inhaltlicher
        Unschärfen wirkt angesichts des damit verbundenen
        Grundrechtseingriffes bislang, lassen Sie mich das deut-
        lich sagen, wenig überzeugend .
        Auffällig ist, dass die Bundesregierung bei der Ab-
        wägung der möglichen Alternativen das bestehende In-
        strument des Zensus, der nächste ist ja bereits in Vorbe-
        reitung, gänzlich unterschlägt . Der Mikrozensus ist auch
        keineswegs ein Naturgesetz oder in der Gestalt, wie wir
        ihn praktizieren, aus Brüssel vorgegeben . Beim Bundes-
        tag also eine in der Werbesprache sogenannte Verlusta-
        version dadurch zu produzieren, dass hier der Eindruck
        des Going dark bei Verlust des Mikrozensus entsteht, er-
        scheint ungerechtfertigt .
        Interessanterweise hatte unter anderem die BILD-Zei-
        tung den vorliegenden Gesetzentwurf, vermutlich erst-
        malig in seiner langen Geschichte, thematisch aufge-
        griffen . Thematisiert wurde, dass der Entwurf auch
        Erweiterungen bei den Fragen zum möglichen Migrati-
        onshintergrund der Betroffenen enthält . Über die Weite
        dieses Begriffes ist aber inzwischen eine Debatte entstan-
        den, die im Rahmen der Diskussion über diesen Entwurf
        nicht ignoriert werden sollte . Grundsätzlich befürworten
        wir aussagekräftige Antworten, mit denen etwa gezielte
        Förderungen im Bereich der Schul- oder Arbeitsmarkt-
        politik gesteuert werden können . Doch wir wollen mit
        Fragen in diesem Bereich Menschen auch nicht auf eine
        bestimmte Identität festschreiben, Umfang und Tiefe
        sind daher stets diskussionswürdig .
        Wir regen deshalb in der Gesamtschau der aufgewor-
        fenen Fragen zum Für und Wider des Mikrozensus an,
        zumindest in einem erweiterten Berichterstattergespräch
        die für die Bewertung möglicher Alternativen zum Mik-
        rozensus notwendigen Fragen gemeinsam ergebnisoffen
        zu diskutieren .
        Dr. Ole Schröder, Parl . Staatssekretär beim Bun-
        desminister des Innern: Der vorliegende Gesetzentwurf
        regelt den Mikrozensus ab dem Jahr 2017 . Der Mikro-
        zensus wird seit 1957 als Haushaltsstichprobe über die
        Bevölkerung und den Arbeitsmarkt sowie die Wohnsi-
        tuation der Haushalte durchgeführt . Dabei wird 1 Pro-
        zent der Bevölkerung befragt . Der Mikrozensus ist die
        zentrale Informationsquelle nicht nur für die Verwaltung
        und die Regierung, sondern insbesondere auch für die
        Parlamente in Bund und Ländern . Er stellt umfassende,
        aktuelle und zuverlässige Daten vor allem über die Be-
        völkerungsstruktur, die wirtschaftliche und soziale Lage
        der Familien und der Haushalte, die Erwerbstätigkeit,
        den Arbeitsmarkt, die berufliche Gliederung und die Aus-
        bildung der Erwerbsbevölkerung sowie die Wohnverhält-
        nisse bereit . Die Ergebnisse des Mikrozensus sind aber
        ebenso für politische und gesellschaftliche Institutionen
        sowie für Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung eine
        wichtige Informationsquelle . Nicht zuletzt wird der Mi-
        krozensus auch als Hochrechnungs-, Adjustierungs- und
        Kontrollinstrument für eine Vielzahl anderer Erhebungen
        gebraucht und ist für diese von erheblicher Bedeutung .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19007
        (A) (C)
        (B) (D)
        Das geltende Mikrozensusgesetz sieht nur bis
        Ende 2016 Erhebungen vor . Ab dem 1 . Januar 2017 ist
        ein neues Gesetz als Grundlage für weitere Mikrozensus-
        erhebungen erforderlich . Der vorliegende Gesetzentwurf
        ist im Unterschied zu den bisherigen Mikrozensusge-
        setzen nicht mehr befristet . Aufgrund verschiedener
        EU-Verordnungen müssen wir den überwiegenden Teil
        der Daten aus dem Mikrozensus an die EU liefern . Diese
        Datenlieferverpflichtungen sind unbefristet. Es ist daher
        nicht sinnvoll, die nationale Rechtsgrundlage zu befris-
        ten . Außerdem hat sich gezeigt, dass die Mikrozensus-
        gesetze bei Bedarf geändert worden sind; auf den Frista-
        blauf kann bei einem dringenden Bedarf nicht gewartet
        werden . Die Überprüfung des Gesetzes allein aufgrund
        der zeitlichen Befristung hat eher zu Zuwächsen von
        Merkmalen im Gesetz als zum Abbau geführt .
        Das neue Mikrozensusgesetz regelt aber nicht einfach
        nur die Weiterführung des bisherigen Mikrozensus mit
        kleinen Änderungen, sondern regelt auch die Umstellung
        auf ein neues Konzept . Diese erfolgt in zwei Stufen: In
        der ersten Stufe von 2017 bis 2019 wird der bisherige
        Mikrozensus mit geringfügigen Anpassungen der Me-
        thoden und Erhebungsmerkmale weitergeführt . Das ist
        mit der bestehenden IT umsetzbar und verursacht keine
        Mehrkosten .
        In der zweiten Stufe ab 2020 wird der Mikrozensus
        aufgrund zusätzlicher europäischer Anforderungen um-
        gestellt . Die Arbeitskräftestichprobe, die schon bislang
        gemeinsam mit dem Mikrozensus erhoben wird, wird in
        den Mikrozensus als Modul integriert . Zusätzlich werden
        zwei weitere – bislang vom Mikrozensus separat erfolg-
        te – Erhebungen als Module integriert . Es handelt sich
        dabei zum einen um die Erhebung zu Einkommen und
        Lebensbedingungen – EU-SILC –, und zum anderen um
        den Teil der Erhebung zur Informationsgesellschaft, IKT,
        der bei Privathaushalten erhoben wird . Diese Umstellung
        setzt neben tiefgreifenden methodischen und organisato-
        rischen Änderungen auch eine vollständige Neugestal-
        tung der IT voraus .
        Durch die Integration der genannten Erhebungen in
        den Mikrozensus sollen Synergieeffekte durch die Nut-
        zung einer gemeinsamen organisatorischen und techni-
        schen Infrastruktur in den statistischen Ämtern genutzt
        werden . Damit wird der Mehraufwand, der aufgrund der
        Änderungen der entsprechenden EU-Verordnungen zu
        erwarten ist, reduziert werden . Auch die Belastung für
        die Befragten wird im Gesetzentwurf berücksichtigt . Der
        Stichprobenumfang des Mikrozensus bleibt bei 1 Prozent
        der Bevölkerung . Er erhöht sich trotz der Integration der
        Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen –
        EU-SILC – und der Erhebung zur Informationsgesell-
        schaft – IKT – in den Mikrozensus nicht. Demografische
        und sozioökonomische Angaben, die bislang in jeder der
        bisher separat durchgeführten Erhebung erfragt wurden,
        werden nur noch einmal erhoben .
        Das schon beim bisherigen Mikrozensus bewährte
        Prinzip der Auskunftspflicht wird ebenfalls grundsätzlich
        beibehalten. Eine Auskunftspflicht – insbesondere auch
        zu den Merkmalen der Erhebung zu Einkommen und
        Lebensbedingungen – ist erforderlich . Die Bereitschaft
        in Deutschland, an freiwilligen Erhebungen teilzuneh-
        men, ist im Gegensatz zu vielen anderen Ländern leider
        sehr gering . Daher ist zu erwarten, dass ein Großteil der
        Befragten freiwillig keine Angaben machen würde . Das
        würde nicht nur zusätzliche Erhebungskosten verursa-
        chen . Es würde auch die Synergieeffekte, die mit der
        Integration in den Mikrozensus beabsichtigt sind, rela-
        tivieren .
        Die Inanspruchnahme von EU-Förderprogrammen
        hängt von Indikatoren ab, die sich unter anderem aus
        den Merkmalen der Erhebung zu Einkommen und Le-
        bensbedingungen ergeben . Um valide Zahlen an die
        EU liefern zu können, ist die Auskunftspflicht auch aus
        methodischen Gründen erforderlich . Bei freiwilligen
        Befragungen weisen Personen im unteren und oberen
        Einkommensbereich erfahrungsgemäß eine geringe Teil-
        nahmebereitschaft auf, was zu einer Verzerrung der Er-
        gebnisse zur Mitte hin führt .
        Frühere Mikrozensus-Testerhebungen, Untersuchun-
        gen des Statistischen Bundesamtes sowie Untersuchun-
        gen der empirischen Sozialforschung haben ergeben,
        dass die erforderliche Qualität der Daten für die genann-
        ten aber auch weitere Politikfelder und Datenlieferungs-
        verpflichtungen nur mit einer Auskunftspflicht erreicht
        werden kann . Der Gesetzentwurf sieht daher grundsätz-
        lich eine Auskunftspflicht vor.
        Anlage 28
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
        des Bundesarchivrechts
        (Tagesordnungspunkt 34)
        Ansgar Heveling (CDU/CSU): Vor knapp hundert
        Jahren, im Jahr 1919, wurde in Deutschland das erste
        Zentralarchiv der obersten Reichsbehörden und -organe
        in Potsdam gegründet. Die Auflösung zahlreicher mili-
        tärischer Behörden nach dem Versailler Vertrag war der
        damalige Anlass zur Gründung . Seither übernimmt das
        Archiv die systematische Erfassung, Erhaltung und Be-
        treuung von Dokumenten des Bundes . Heute heißt es
        Bundesarchiv und hat seinen Hauptsitz in Koblenz . Hier
        arbeitet es nach dem Leitbild, Wissen bereitzustellen,
        Quellen zu erschließen und das Geschichtsverständnis
        zu fördern . So archiviert es Akten, Schriftstücke, Karten,
        Bilder, Plakate, Filme und Tonaufzeichnungen deutscher
        Bundesbehörden, aber auch Unterlagen nichtöffentlicher
        Einrichtungen und natürlicher Personen . Ob diese Unter-
        lagen einen bleibenden Wert für die Erforschung oder das
        Verständnis der deutschen Geschichte haben, ob sie der
        Sicherung berechtigter Belange der Bürger dienen oder
        eine Informationsquelle für Gesetzgebung, Verwaltung
        und Rechtsprechung seien können, das obliegt der fach-
        kundigen Einschätzung des Bundesarchivs .
        Bis in 80er-Jahre hinein wurde über die grundsätzliche
        Notwendigkeit von Archivgesetzen lebhaft diskutiert .
        Und so wurde tatsächlich erst 1987 ein Bundesarchivge-
        setz im Deutschen Bundestag verabschiedet, um die Auf-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619008
        (A) (C)
        (B) (D)
        gaben des Bundesarchivs gesetzlich zu verankern . Bis
        dahin arbeitete es lediglich auf der Grundlage von Ver-
        waltungsvorschriften . So sicherte das Gesetz erstmals in
        der deutschen Geschichte ein Recht jedes Bürgers auf die
        Nutzung von Archiven . Damals wie heute ist das Ziel,
        die Informations- und Wissenschaftsfreiheit zu fördern
        und rechtlich abzusichern .
        Gegenwärtig stehen wir vor der Aufgabe, das Bundes-
        archiv zukunftsfähig zu machen . Und so haben wir im
        Koalitionsvertrag das wichtige kulturpolitische Vorhaben
        vereinbart, das Bundesarchivgesetz neu zu regeln und es
        den Anforderungen des digitalen Zeitalters entsprechend
        anzupassen . So ist ein wesentlicher Bestandteil der Neu-
        fassung die Einführung von elektronischen Akten anstel-
        le von Papierakten bis zum Jahr 2020, also die Einfüh-
        rung der sogenannten E-Verwaltung . Weiter werden wir
        Regelungen zu einem – auch digitalen – Zwischenarchiv
        und zur Übernahme solcher elektronischer Unterlagen
        aufnehmen, die einer laufenden Aktualisierung, jedoch
        keinem Löschungsgebot unterliegen .
        Auch an der Ausgestaltung der Anbietungspflichten
        soll sich einiges ändern . Mit der Einführung einer als
        Sollvorschrift ausgestalteten Anbietungspflicht beispiels-
        weise sollen Unterlagen zukünftig spätestens 30 Jahre
        nach ihrer Entstehung dem Bundesarchiv zur Verfügung
        angeboten werden .
        Ein ganz besonderes Anliegen der Neufassung ist die
        Verbesserung der Nutzer- und Wissenschaftsfreundlich-
        keit des Bundesarchivs . So wird vorgesehen, die perso-
        nenbezogene Schutzfrist von dreißig auf zehn Jahre nach
        dem Tod der betroffenen Person zu verkürzen . So hat es
        sich bereits in vielen Landesarchivgesetzen schon be-
        währt . Die personenbezogene Schutzfrist für Amtsträger
        in Ausübung ihrer Ämter und Personen der Zeitgeschich-
        te soll zukünftig ganz entfallen, wenn ihr schutzwürdiger
        privater Lebensbereich nicht betroffen ist . Weiter werden
        wir über die Verkürzung der Schutzfrist von sechzig auf
        dreißig Jahre für dasjenige Archivgut, welches Geheim-
        haltungsvorschriften des Bundes unterliegt, sprechen .
        Ich meine, dass wir mit dem nun vorliegenden Regie-
        rungsentwurf eine solide Arbeitsgrundlage haben, die
        wir nun im Spannungsverhältnis von Informationsfrei-
        heit und Datenschutz ausloten müssen . Darum wird es
        in den nächsten Wochen gehen . Ich freue mich auf eine
        konstruktive Zusammenarbeit .
        Hiltrud Lotze (SPD): In den Jahren 1942 und 1943
        verteilt die Widerstandsbewegung Weiße Rose Flugblät-
        ter in Nazideutschland und ermutigt die Leser zum Wi-
        derstand gegen das Naziregime . Die Widerstandsgruppe
        junger Menschen macht ihren Mitbürgerinnen und Mit-
        bürgern deutlich, dass jeder etwas beitragen könne zum
        Sturz dieses Systems .
        Der Mut und die Aufrichtigkeit der jungen Studieren-
        den rund um Hans und Sophie Scholl sind bis heute vie-
        len Menschen ein Vorbild . Auch einige ihrer Flugblätter
        haben die Zeit überdauert – im Bundesarchiv .
        Dort, in der Hauptstelle in Koblenz und in den Au-
        ßenstellen, wird das Archivgut des Bundes und seiner
        Vorgängerinstitutionen aufbewahrt . Das Bundesarchiv
        hat den Auftrag, dieses Archivgut auf Dauer zu sichern,
        nutzbar zu machen und wissenschaftlich zu verwerten .
        Das Bundesarchiv hat dabei eine nicht zu unterschät-
        zende Bedeutung für die Geschichte unseres Landes und
        seine Bürgerinnen und Bürger . Als „Gedächtnis unseres
        Staates“ und als Ort, in dem Zeugnisse der historischen
        Meinungsbildung für die Zukunft verwahrt werden,
        nimmt es die Aufgaben eines Nationalarchives wahr .
        Hier findet man Zeugnisse über die positiven und die ne-
        gativen Momente unserer Geschichte . Im Bundesarchiv
        werden Fotos und Zeichnungen verwahrt, Urkunden, Ak-
        ten, Karten und Tonstücke, die bei zentralen Stellen des
        Heiligen Römischen Reiches, des Deutschen Bundes,
        des Deutschen Reiches, der Besatzungszonen, der Deut-
        schen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik
        Deutschland entstanden sind . Unter ihnen sind auch be-
        sagte Flugblätter der Weißen Rose . Dass ich heute davon
        berichten kann, habe ich der Tatsache zu verdanken, dass
        sie bis heute im Bundesarchiv aufbewahrt werden .
        Wie genau das Bundesarchiv beim Sammeln und Ar-
        chivieren vorgeht, wird im Bundesarchivgesetz geregelt .
        Die zentralen Regelungsinhalte des geltenden Bundesar-
        chivgesetzes stammen aus dem Jahre 1988 und wurden –
        im Gegensatz zur Archivgesetzgebung der Länder –
        seitdem nicht aktualisiert . Das BArchG war seinerzeit
        wegweisend, ist heute jedoch lückenhaft zum Beispiel
        im Hinblick auf die Digitalisierung . Deswegen haben wir
        im Koalitionsvertrag festgelegt, das Bundesarchivgesetz
        zu novellieren .
        Ziel der Novellierung ist daher nicht nur eine um-
        fassende Neustrukturierung, Straffung und sprachliche
        Überarbeitung des Gesetzes von 1988 . Es soll auch Neu-
        erungen geben, die die Nutzer- und Wissenschaftsfreund-
        lichkeit verbessern, die Arbeitsfähigkeit im digitalen
        Zeitalter erhalten und das Gesetz an die Bedürfnisse der
        Informationsgesellschaft anpassen .
        Geplant sind zum Beispiel die Verkürzung der perso-
        nenbezogenen Schutzfristen von 30 Jahren auf zehn Jah-
        re nach dem Tod der betroffenen Person und der Wegfall
        der personenbezogenen Schutzfristen für Amtsträger in
        Ausübung ihrer Ämter und Personen der Zeitgeschichte .
        Es soll auch möglich sein, Schutzfristen für Archivgut,
        das Geheimhaltungsvorschriften des Bundes unterliegt,
        von 60 Jahren auf höchstens 30 Jahre zu verkürzen .
        Hier liegt ein guter Entwurf vor . Der Gesetzentwurf
        dient dazu, die Bedürfnisse der Informationsgesellschaft
        zu befriedigen und das Archiv auch im digitalen Zeitalter
        gut nutzen zu können .
        Ich möchte an dieser Stelle aber auch auf ein paar kri-
        tische Punkte hinweisen:
        Unter anderem vor dem Hintergrund einer möglichen
        Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv
        müssen wir darauf achten, dass der Anspruch aller Bür-
        gerinnen und Bürger gegenüber Behörden auf Zugang zu
        amtlichen Informationen nicht mit den Schutzfristen des
        BArchG in Konflikt kommt.
        Auch die Zugriffsrechte des Bundesarchivs müssen
        sorgfältig abgewogen werden . Das Bundesarchiv muss
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19009
        (A) (C)
        (B) (D)
        weitreichende Rechte innehaben, keine Frage . Gleichzei-
        tig ist auch sicherzustellen, dass durch die Neuregelung
        dem Bundesarchiv keine zu weitreichenden Kompeten-
        zen zugesprochen werden, die zulasten von Regional-
        und beispielsweise Parteiarchiven gehen könnten .
        Unklar ist auch noch der Umgang mit Akten von Per-
        sonen mit mehreren Ämtern, zum Beispiel Ministern,
        die gleichzeitig wichtige Parteipositionen innehaben .
        Welches Amt zählt hier mehr, und wo werden die Akten
        aufbewahrt? Es muss auf jeden Fall verhindert werden,
        dass Bestände auseinandergerissen und infolgedessen
        historische Zusammenhänge nicht mehr erkannt werden
        können .
        Wie Sie sehen, gibt es noch ein paar offene Punkte, die
        wir klären müssen . Wir werden deswegen im Ausschuss
        für Kultur und Medien eine Fachanhörung mit Expertin-
        nen und Experten durchführen und den Gesetzentwurf an
        der einen oder anderen Stelle noch überarbeiten .
        Sigrid Hupach (DIE LINKE): Dass die Neuregelung
        des Archivgesetzes zu so später Stunde aufgesetzt ist, be-
        fördert leider das gängige Klischee der verstaubten Ak-
        ten, die sich in stickigen Kellern stapeln und für die sich
        bis auf ein paar wenige Archivare niemand interessiert .
        Diese Sicht verkennt jedoch, welche Bedeutung Archive
        haben und wie weitreichend das Bundesarchivrecht ist .
        Archive tragen für die Überlieferung all dessen Verant-
        wortung, worauf kommende Generationen ihre Interpre-
        tationen unserer Zeit, unseres Tuns gründen . Und nicht
        zuletzt ermöglichen Archive auch die Kontrolle von Re-
        gierungs- und Verwaltungshandeln .
        Welche Fragestellungen in 30, in 50, in 100 Jahren re-
        levant sein werden, das kann heute niemand wissen . Da-
        her ist es umso wichtiger, dass es qualifiziertes Personal
        an einer unabhängigen Stelle gibt, das die Bewertung der
        verschiedensten Unterlagen neutral vornehmen und ent-
        scheiden kann, was im Archiv verbleibt und was kassiert
        wird . Für diese verantwortungsvolle Arbeit braucht es
        eine gute Ausbildung und es braucht vor allem Unabhän-
        gigkeit, insbesondere von den Stellen, die die Unterlagen
        produziert haben .
        Dass die Novellierung des Archivgesetzes aus dem
        Jahr 1988 nun endlich angegangen wird, ist überfällig,
        erst recht im digitalen Zeitalter . Die Digitalisierung bietet
        ja nicht nur eine größere Benutzerfreundlichkeit, da die
        Bestände der Archive leichter zugänglich sind . Sie hat
        vor allem auch die gesamte Kommunikation beeinflusst
        und somit das Entstehen von Unterlagen, die in vielen
        Fällen nur noch digital vorliegen . Der Anpassungsbedarf
        ist hier also besonders groß und besonders vielfältig . Nur
        zwei Aspekte sollen diese Breite umreißen:
        Ins Bundesarchivgesetz gehört für uns ein expliziter
        Auftrag zur Digitalisierung von Inhalten – und das gehört
        eingebettet in eine gesamtstaatliche Digitalisierungsstra-
        tegie, wie wir Linken sie seit langem fordern .
        Aber auch für den Datenschutz stellen sich durch die
        Digitalisierung neue Herausforderungen: Wir sind heute
        selbst sehr darauf bedacht, mit unseren persönlichen Da-
        ten zurückhaltend umzugehen . Das sollten wir auch im
        Umgang mit personenbezogenen Daten aus vergangener
        Zeit tun – erst recht, da sich durch die Digitalisierung
        ganz andere Möglichkeiten bieten, Informationen mitei-
        nander zu verknüpfen . Gerade in der pädagogischen Ar-
        beit hat es sich bewährt, anhand einzelner Schicksale die
        Dimension der NS-Verfolgung ganz konkret zu machen
        und den Opfern ihren Namen zurückzugeben . Jedoch
        heißt das nicht, dass man von der Person alles Private öf-
        fentlich machen darf, was in den zugänglichen Akten zu
        finden ist. Hier brauchen wir gerade auch für die vielen
        ehrenamtlichen Engagierten eine fundierte Begleitung
        durch ausreichend Personal in den Archiven .
        Maßgeblich ist, dass das neue Gesetz den Zugang zu
        den Akten erleichtert – im Sinne von mehr Transparenz
        und erst recht für wissenschaftliche Zwecke . Jedoch
        erweist sich der vorliegende Gesetzentwurf an so man-
        cher Stelle eher als forschungshemmend . Problematisch
        sind zum Beispiel die fehlende Definition der „Dritten“,
        so schwammige Formulierungen wie „Entstehung der
        Unterlagen“ oder „Menschenrechtsverletzung“ bei den
        Schutzfristenregelungen oder aber auch die Tatsache,
        dass die abgebende Stelle weiterhin mitreden darf, ob
        eine Sperrfrist verkürzt wird oder nicht .
        In den vergangenen 30 Jahren sind die Ansprüche an
        Transparenz und Informationsfreiheit enorm gewachsen,
        denen ein neues Bundesarchivgesetz genügen muss . Ge-
        nau das aber tut es in der vorliegenden Fassung nicht .
        Mit der Einführung des Informationsfreiheitsgesetzes
        (IFG) wurde auch das Bundesarchivgesetz entsprechend
        geändert, indem eine Ausnahme von der Schutzfrist for-
        muliert wurde für Unterlagen, die bereits einem Infor-
        mationszugang nach IFG offengestanden haben . Im Un-
        terschied dazu bezieht sich der vorliegende Entwurf nun
        nur auf diejenigen Unterlagen, für die die Einsicht auch
        gewährt worden ist . Das heißt also, dass Unterlagen, für
        die das Recht auf Informationsfreiheit noch nicht genutzt
        wurde, nach Überführung ins Archiv 30 Jahre lang unzu-
        gänglich bleiben . Das darf im Sinne von mehr Transpa-
        renz auf keinen Fall so bleiben!
        Auch sollten wir uns über die Aufgabenbestimmung
        des Bundesarchivs noch genauer verständigen . Sicher,
        das Bundesarchiv ist ein Archiv für die Unterlagen des
        Bundes und seiner Behörden, und es ist gut, dass mit
        dem Gesetzentwurf klarere Pflichten an die abgebenden
        Stellen formuliert werden . Auch begrüßen wir, dass die
        Akten des Auswärtigen Amtes dem Bundesarchivgesetz
        unterstellt werden .
        Abgesehen vom Verwaltungshandeln ist das Bundes-
        archiv jedoch auch eine Gedächtnisinstitution der ge-
        samten Gesellschaft . So ist es positiv, dass sich in der
        Gesetzesbegründung auch der Bezug zur Sozial-, Kultur-
        und Geistesgeschichte findet, also auch Privatpersonen
        oder nichtstaatliche Organisationen ins Blickfeld rücken .
        Hierbei brauchen wir aber klare Regeln, welche Stellen
        ihre Unterlagen abgegeben müssen und welche es ledig-
        lich können, wenn sie denn wollen .
        Legt man dieses weite Verständnis zugrunde, sind
        die Aufgaben im Gesetzentwurf jedoch an vielen Stel-
        len zu eng gefasst, zum Beispiel beim filmischen Erbe.
        Der Film ist ein dem Buch gleichwertiges Kulturgut und
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619010
        (A) (C)
        (B) (D)
        das Filmerbe ein zentraler Teil unseres kulturellen Ge-
        dächtnisses . Daher fordern wir Linke seit Jahren eine
        Pflichtexemplarregelung ähnlich wie für Bücher bei der
        Deutschen Nationalbibliothek . Schon in der letzten Le-
        gislatur haben wir das thematisiert und auch in diesem
        Jahr in unseren beiden Anträgen zur Filmförderung und
        zur Sicherung des Filmerbes . Mit der Novellierung des
        Bundesarchivgesetzes sollten wir die Chance nun end-
        lich nutzen, den Film so wie das Buch zu schützen und
        den Zugriff auf alle öffentlich aufgeführten Filme, seien
        es nun Kurz- oder Spielfilme, Kultur- oder Dokumen-
        tarfilme, Animations- oder Werbefilme, mit Hilfe einer
        Hinterlegungspflicht zentral im Bundesarchiv zu ermög-
        lichen .
        Im vergangenen Jahr hatte sich auch die Experten-
        kommission zur Zukunft der Stasiunterlagenbehörde
        ausführlich mit den Anforderungen an ein neues Bundes-
        archivgesetz beschäftigt . Es ist sehr bedauerlich, dass die
        Koalition deren Empfehlungen sang- und klanglos in der
        Schublade hat verschwinden lassen . Mit der Überfüh-
        rung ins Bundesarchiv hätten sich die Akten gerade nicht
        geschlossen, sondern wären vielmehr einer umfassenden
        Analyse im Gesamtkontext der Überlieferung zur SBZ/
        DDR erst geöffnet worden .
        Zuletzt noch zu einer Neuregelung, die wir Linke
        für unnötig und hoch problematisch halten und die das
        eingangs beschriebene Gebot zur Unabhängigkeit kon-
        terkariert, nämlich die Fachaufsicht der Beauftragten für
        Kultur und Medien . Im Entwurf ist nämlich nicht eindeu-
        tig geklärt, dass diese Fachaufsicht keinen Einfluss auf
        die Bewertungsentscheidungen im Bundesarchiv haben
        wird . Diese Neuregelung bekommt außerdem ein beson-
        deres Geschmäckle, wenn man sie in Beziehung zu den
        Ausnahmeregelungen für die Abgabe von Unterlagen
        der Nachrichtendienste setzt . Nachdem die Unabhängi-
        ge Historikerkommission zur Geschichte des BND ihre
        Arbeit abgeschlossen hatte, sollten die Akten aus der
        Frühzeit des BND eigentlich ins Bundesarchiv überführt
        werden . Nun wird im Gesetz aber formuliert, dass die
        Unterlagen der Nachrichtendienste dem Bundesarchiv
        nur anzubieten sind, wenn dem keine schutzwürdigen In-
        teressen der bei den Nachrichtendiensten beschäftigten
        Personen entgegenstehen . Diese sehr dehnbare Formu-
        lierung stellt einen verhängnisvollen Rückschritt dar und
        leistet der schon viel zu lange währenden Geheimhal-
        tungstaktik auch noch Vorschub . Gerade angesichts des
        vielfältigen Versagens der Nachrichtendienste bei der
        Aktenführung und Archivierung, wie es zuletzt auch im
        Zusammenhang mit dem NSU-Komplex zutage getre-
        ten ist, ist diese Ausnahmeregelung völlig inakzeptabel .
        Wir brauchen endlich eine gesetzliche Regelung, die die
        Akteneinsicht nach 30 Jahren auch bei Unterlagen der
        Nachrichtendienste sicherstellt .
        Im parlamentarischen Prozess sind also noch einige
        hochspannende Fragen zu klären .
        Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Leg
        Dein Ohr auf die Schiene der Geschichte“ sang die deut-
        sche Hip-Hop-Band Freundeskreis . Der Gesetzentwurf
        für eine Neuregelung des Bundesarchivrechts soll theo-
        retisch genau dies ermöglichen: dass wir unser Ohr auf
        die Schiene der Geschichte legen . Dieser Gesetzentwurf
        ist überfällig . Die zahlreichen Informationsfreiheitsge-
        setze und die fortschreitende Digitalisierung in unserer
        Gesellschaft bedingen ein Update des Bundesarchivge-
        setzes .
        Als Filmpolitikerin schaue ich natürlich auch auf die
        Sicherung und Digitalisierung des nationalen Filmerbes .
        Viele Experten befürchten, dass die aktuell brennenden
        Fragen des Filmerbes im vorliegenden Gesetzesentwurf
        nicht ausreichend berücksichtigt oder thematisiert wer-
        den . Ich teile diese Befürchtung . So ist beispielsweise
        die Definition „Kinofilm“ eine sehr enge. Was aber ist
        mit dokumentarischem Filmmaterial, das oft gar nicht für
        eine öffentliche Aufführung in einem Kino gedacht, aber
        als Zeitdokument von besonderer Bedeutung ist? Gera-
        de dieses sollte in einem Bundesarchiv für die Nachwelt
        verwahrt werden. Wenn nicht Dokumentarfilme, was
        denn dann? Und was ist mit DVD- oder Heimvideoma-
        terial, das auch nicht unter die Kategorie Kinofilm fällt?
        Bei meinem Besuch im Bundesarchiv in Koblenz Mit-
        te August kam die Kassationspraxis, also die kontinuier-
        liche Vernichtung von originalem Nitrofilmmaterial zur
        Sprache . Danach wurden bereits digitalisierte Filme ver-
        nichtet, ohne dass diese viele Jahre gängige Praxis infra-
        ge gestellt wurde . Im Bundesarchiv glaubte man, sie sei-
        en aufgrund der Explosionsgefahr von Nitrofilmen nach
        dem Sprengstoffgesetz zur Vernichtung verpflichtet. Erst
        aufgrund meiner Anfrage bei der Beauftragten für Kultur
        und Medien wurde diese Praxis gestoppt . Die rechtlichen
        Grundlagen für die Kassation werden jetzt geprüft .
        Es wurden aber auch Filme, die vom Bundesarchiv
        als nicht erhaltenswertes Filmerbe eingestuft, vernichtet .
        Das macht deutlich, dass wir uns dringend darüber ver-
        ständigen müssen: Welche Originale und wie viel Film-
        material soll erhalten werden? Wer entscheidet eigentlich
        darüber, welche Filme vernichtet werden und welche „ar-
        chivwürdig“ und „kultur- und filmhistorisch besonders
        bedeutsam“ sind? Ich teile die Haltung des deutschen Ki-
        nemathekverbunds, dass auch eine analoge Archivierung
        der Originale wünschenswert ist . Die Originale transpor-
        tieren Informationen, die digital verloren gehen .
        All diese drängenden Fragen werden in dem vorlie-
        genden Gesetzentwurf überhaupt nicht angesprochen .
        Hier besteht dringender Nachbesserungsbedarf .
        Und mit Digitalisierung alleine ist es ja auch nicht
        getan . In diesem Bereich lauern viele Probleme, auf die
        der Entwurf nicht eingeht, zum Beispiel, in welchem
        Format die Filme gespeichert werden sollen . Es gibt der-
        zeit in Deutschland kein Standardarchivformat für Filme .
        Nebenbei: Die Bundesregierung hat uns seit 2015 eine
        umfassende Digitalisierungsstrategie im Filmbereich
        versprochen . Auf die Umsetzung warten wir noch heute .
        Und die Frage der Finanzierung für die Digitalisierung
        ist auch immer noch ungeklärt . Das ist zu wenig .
        Nun geht es im vorliegenden Entwurf ja nicht nur um
        Filmerbe . In seinem Wesen ist das Bundesarchivrecht
        ein Informationszugangsgesetz . Und durch genau diese
        Brille müssen wir den Gesetzentwurf auch kritisch be-
        trachten . Ein besonders wichtiger Punkt hierbei ist die
        Schutzfrist für Archivgut . Unterlagen, die bereits mithil-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19011
        (A) (C)
        (B) (D)
        fe des Informationsfreiheitsgesetzes für die Öffentlich-
        keit zugänglich waren, dürfen bei der Übergabe an das
        Bundesarchiv nicht wieder unzugänglich gemacht wer-
        den . Die Erstreckung der Zugangsregelungen auch auf
        das politische Archiv des Auswärtigen Amtes sollten wir
        zum Anlass nehmen, den Zugang zu anderen politischen
        Archiven und nachgeordneten Behörden von Bundesmi-
        nisterien zu ermöglichen . Das schließt das Archiv des
        BND ein . Wenn wir bedenken, wie viele Akten bereits
        in den Behörden unserer Geheimdienste auf ungeklärte
        Weise verschwunden oder vernichtet wurden, halte ich
        das für dringend erforderlich .
        Auch mit vielen weiteren Themen müssen wir uns
        noch beschäftigen, wie unter anderem mit der Privati-
        sierung von Akten und deren Auslagerung, Datenschutz-
        und E-Government-Fragen, Anbietungspflicht von Mel-
        deregistern und der Zugänglichmachung von Meldedaten
        für Big Data und vielen anderen . Sie sehen, es liegt noch
        einiges an Arbeit und Diskussion vor uns .
        Wir müssen bei der Behandlung der Novelle zum Bun-
        desarchivrecht große Sorgfalt walten lassen, damit am
        Ende nicht nur wir, sondern auch unsere Nachkommen
        ihr Ohr auf die Schiene der Geschichte legen können .
        Monika Grütters, Staatsministerin bei der Bundes-
        kanzlerin: Das Bundesarchiv, das in Deutschland die
        Aufgaben eines Nationalarchivs wahrnimmt, ist so etwas
        wie das Gedächtnis unseres Staates: Hier wird Schriftgut
        der Bundesbehörden aufbewahrt – Dokumente, Vorla-
        gen, Briefe und Akten –, und zwar nicht nur und nicht in
        erster Linie zur Dokumentation administrativer Prozesse,
        sondern auch und vor allem zum Zweck der Nachvoll-
        ziehbarkeit politischer Entscheidungen .
        Das Bundesarchiv stellt die Transparenz staatlichen
        Verwaltungshandelns sicher und hilft uns, den Kontext,
        die Motive und Gründe früherer politischer Entscheidun-
        gen und historischer Ereignisse zu verstehen . Das ist eine
        gewaltige Aufgabe – und eine große Verantwortung . Um
        dieser Aufgabe und Verantwortung gerecht zu werden,
        bedarf es einer soliden rechtlichen Grundlage, die auf der
        Höhe der Zeit ist, und das heißt insbesondere: die der
        fortschreitenden Digitalisierung Rechnung trägt . Das be-
        stehende Gesetz aus dem Jahr 1988 ist dafür nicht länger
        geeignet . Im Arbeitsalltag des Bundesarchivs erweisen
        sich viele derzeit bestehende Regelungen als nicht mehr
        zeitgemäß, gerade mit Blick auf die technischen und da-
        tenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen . Union und
        SPD haben deshalb – einem fraktionsübergreifenden Be-
        schluss des Deutschen Bundestages in der vergangenen
        Legislaturperiode entsprechend – im Koalitionsvertrag
        vereinbart, das Bundesarchivgesetz zu novellieren und
        das Bundesarchiv dabei auch in die Lage zu versetzen,
        den Anforderungen gerecht zu werden, die sich aus der
        elektronischen Verwaltung ergeben .
        Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, brin-
        gen wir dieses wichtige kulturpolitische Vorhaben nun
        auf den Weg . Ich freue mich und danke allen Beteiligten,
        dass uns damit ein – wie ich meine – sachgerechter und
        ausgewogener Interessenausgleich gelungen ist . Lassen
        Sie mich die wesentlichen Neuerungen anhand einiger
        Beispiele erläutern:
        Erstens: das Bundesarchiv soll durch Überarbeitung
        der Zugangsregelungen nutzer- und wissenschafts-
        freundlicher werden .
        Dazu sieht der Gesetzentwurf zum einen Änderungen
        hinsichtlich der Schutzfristen vor . Personenbezogene
        Schutzfristen werden von 30 auf 10 Jahre nach dem Tod
        der betroffenen Person verkürzt . Sie sollen außerdem für
        Amtsträger und Personen der Zeitgeschichte wegfallen,
        soweit nicht ihr schutzwürdiger privater Lebensbereich
        betroffen ist . Darüber hinaus soll es künftig die Möglich-
        keit geben, die Schutzfrist für Archivgut, das Geheimhal-
        tungsvorschriften des Bundes unterliegt, von 60 Jahren
        auf höchstens 30 Jahre zu verkürzen . Die Ministerien und
        Ressorts können künftig eine allgemeine Vereinbarung
        mit dem Bundesarchiv schließen, in der sie auf die bis-
        her erforderliche Beteiligung im Verfahren der Schutz-
        fristverkürzung verzichten . Das wird die Bearbeitung der
        Benutzeranträge im Bundesarchiv vor allem im Interesse
        der wissenschaftlichen Forschung deutlich vereinfachen .
        Zum anderen sollen im Sinne einer verbesserten Nut-
        zerfreundlichkeit künftig nicht nur die Betroffenen selbst
        Recht auf Auskunft über Unterlagen zu ihrer Person im
        Archivgut des Bundes haben, sondern nach dem Tod
        der Betroffenen auch die Angehörigen, wenn sie ein be-
        rechtigtes Interesse nachweisen können . Das erleichtert
        beispielsweise die Aufarbeitung individueller Familien-
        geschichte .
        Zweitens: Die Arbeitsweise des Bundesarchivs soll
        zur Stärkung seiner Arbeitsfähigkeit an die Möglichkei-
        ten und Erfordernisse des digitalen Zeitalters angepasst
        werden . Dafür gibt es neue Regelungen zum Umgang mit
        elektronischen Unterlagen . Die Einführung des E-Gov-
        ernment-Gesetzes und der damit verbundene Übergang
        von der Papierakte zur elektronischen Akte stellt ja nicht
        nur die laufende Verwaltung in den Bundesbehörden vor
        neue Herausforderungen . Auch das Bundesarchiv muss
        sich mit Blick auf die Langzeitarchivierung originär di-
        gitaler Daten auf die veränderten Rahmenbedingungen
        einstellen . Die neuen Regelungen zum digitalen Zwi-
        schenarchiv des Bundes sind dabei für alle Beteiligten
        ein Gewinn: Die Bundesbehörden werden künftig bereits
        im Stadium der Zwischenarchivierung von IT-techni-
        schen Aufgaben entlastet, während das Bundesarchiv in
        die Lage versetzt wird, frühzeitig, nachhaltig und fach-
        gerecht für die digitale Langzeitarchivierung Sorge zu
        tragen .
        Mit diesen Neuregelungen machen wir das Bundes-
        archiv fit für das digitale Zeitalter und erleichtern Wis-
        senschaftlern und Journalisten, aber auch Privatperso-
        nen den Zugang zu dem ungeheuren Schatz an Wissen,
        der dort in Akten und Dokumenten gespeichert ist . „Je
        weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man
        vorausschauen“, hat Winston Churchill einmal gesagt . In
        diesem Sinne hoffe ich, dass die Novellierung des Bun-
        desarchivgesetzes uns dabei hilft, den Blick zurück wie
        auch den Blick voraus zu schärfen, und bitte um Ihre Zu-
        stimmung zu unserem Gesetzentwurf .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619012
        (A) (C)
        (B) (D)
        Anlage 29
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung
        der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des
        öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes (Ta-
        gesordnungspunkt 35)
        Markus Koob (CDU/CSU): Wir haben in Deutsch-
        land 16 Millionen Kinder, die Kindergeld beziehen, das
        entspricht einem Auszahlungsvolumen von über 39 Mil-
        liarden Euro im Jahr . Zurzeit bearbeiten über 8 000 klei-
        ne und kleinste, dezentrale Familienkassen die Kinder-
        geldanträge von öffentlichen Bediensteten, also nur rund
        13 Prozent aller zu bearbeitenden Anträge in Deutsch-
        land . Da keine gesetzliche Anmeldungs- und Registrie-
        rungspflicht besteht, sind keiner Behörde alle Familien-
        kassen bekannt . Die Bundesagentur für Arbeit verfügt
        über 14 Familienkassen, die 87 Prozent der Kindergeld-
        fälle bearbeiten, die restlichen 13 Prozent werden von
        den übrigen über 8 000 einzelnen Familienkassen des öf-
        fentlichen Dienstes bearbeitet . Hier besteht ein dringen-
        der Reformbedarf, um einen modernen und wirtschaft-
        lichen Verwaltungsvollzug zu schaffen, dem wir mit
        diesem Gesetzentwurf nur zu gerne nachkommen . Er ist
        als Maßnahme Teil des vom Bundeskabinett am 4 . Juni
        2014 beschlossenen Arbeitsprogramms „Bessere Recht-
        setzung 2014“ für eine bürgerfreundlichere Verwaltung .
        Das uns heute vorliegende Gesetz zur Beendigung der
        Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen
        Dienstes ist hauptsächlich eine Strukturreform der Zu-
        ständigkeiten . So wird durch dieses Gesetz zum Beispiel
        die Zuständigkeit für das Bundesamt für Zentrale Diens-
        te und offene Vermögensfragen vom Bundesministerium
        des Innern auf das Bundesministerium für Arbeit und
        Soziales übertragen . Hauptziel des Gesetzes ist es aller-
        dings, die 100 Familienkassen des öffentlichen Dienstes
        bis 2022 an die Bundesagentur für Arbeit oder das Bun-
        desverwaltungsamt zu überführen . Im Zuge dessen wird
        den Ländern und Kommunen die Möglichkeit gegeben,
        die Zuständigkeiten ebenfalls abzugeben . Im Bereich der
        Länder kommt es zu keiner automatischen Übertragung,
        die Sonderzuständigkeit bleibt dort erhalten, und es liegt
        im Ermessen der Länder, wem sie die Aufgabe übertra-
        gen . Damit kann sichergestellt werden, dass Familienkas-
        sen ihre Zuständigkeiten und Aufgaben behalten können,
        jedoch die kleineren Familienkassen mit sehr geringen
        Fallzahlen die Zuständigkeit an die Bundesagentur für
        Arbeit oder das Bundesverwaltungsamt übertragen kön-
        nen . Durch die geringen Fallzahlen bei den Familienkas-
        sen des öffentlichen Dienstes sind keine standardisierten
        Arbeitsabläufe oder Erreichung von Mindeststandards
        möglich . Zudem muss ein bundesweites, einheitliches
        Datennetzwerk geschaffen werden, damit Kindergeldda-
        ten zentral gespeichert werden können und ein Abgleich
        zwischen den Familienkassen ermöglicht wird .
        Es wurden Bedenken an mich herangetragen, dass
        durch dieses Gesetz die Kindergeldbearbeitung von den
        Bürgerinnen und Bürgern weiter entfernt werde und es
        die Kontaktaufnahme mit den Ansprechpartnerinnen und
        Ansprechpartnern erschweren würde . Dazu kann ich nur
        sagen, dass die Agentur für Arbeit bereits jetzt schon da-
        für sorgt, dass von 8 bis 18 Uhr kompetente Sachbearbei-
        terinnen und Sachbearbeiter für Fragen und Auskünfte
        kostenlos zur Verfügung stehen . Durch den bundeswei-
        ten Zugriff auf die elektronischen Kindergeldakten müs-
        sen die Kindergeldberechtigten außerdem nicht mehr
        lange auf umfassende Auskunft über ihren Fall warten .
        Dadurch kann die Wartezeit pro Fall durchschnittlich auf
        elf Tage reduziert werden . Diese Bedenken muss ich da-
        her vehement als unbegründet zurückweisen .
        Der Bundesrechnungshof hat in seinem Jahresbericht
        von 2015 veröffentlicht, dass alleine in den Jahren von
        2007 bis 2009 1 306 Fälle ermittelt wurden, in denen
        Kindergeld für dasselbe Kind doppelt ausgezahlt wur-
        de . Dies entspricht einem Schaden von über 9 Millionen
        Euro . Diese Fälle werden künftig gerade durch die Zu-
        sammenlegung der Familienkassen verhindert werden .
        Es ist klar, dass durch die Überführung kurzfristig er-
        höhte Kosten entstehen können . Bei der Bundesagentur
        für Arbeit kommt es zu einem einmaligen Aufwand von
        rund 22,25 Millionen Euro, bei dem Bundesverwaltungs-
        amt werden die zusätzlichen Kosten 1,95 Millionen Euro
        betragen . Mittelfristig wird es jedoch zu Einsparungen
        von mindestens 8,5 Millionen Euro jährlich kommen –
        bei jedem Kindergeldfall, der übertragen wird, lassen
        sich somit 20 Euro einsparen . Der Gesetzentwurf bein-
        haltet somit nicht nur rein strukturelle Vorteile, sondern
        bietet auch ganz konkrete Einsparmöglichkeiten im
        Verwaltungsvollzug . Dies steht ganz im Zeichen einer
        transparenter organisierten, nachhaltigeren und effizi-
        enteren Verwaltungsstruktur in Deutschland und findet
        daher ebenso meine vollste Unterstützung wie das An-
        gebot webbasierter Antragsformulare, die sowohl dem
        Anspruch einer modernen, digitalisierten Verwaltung
        entsprechen als auch den Familien die Antragsstellung
        um ein Vielfaches erleichtern .
        Die Reform bietet nicht nur signifikante und zukunfts-
        orientierte Effizienzvorteile, sondern auch ein nachhalti-
        ges Einsparpotenzial und ist damit sowohl im Interesse
        der Familien als auch des steuerzahlenden Bürgers und
        der steuerzahlenden Bürgerin .
        Ich bitte daher um Ihre Zustimmung zu diesem Ge-
        setzentwurf .
        Frank Junge (SPD): Was lange währt, wird endlich
        gut . Dieses bekannte Sprichwort trifft sehr gut auf den
        vorliegenden Gesetzentwurf zur Beendigung der Son-
        derzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen
        Dienstes im Bereich des Bundes zu . An diesem Gesetz
        haben Bund und Länder fast fünf Jahre gearbeitet . Das
        Resultat beraten wir heute in erster Lesung im Deutschen
        Bundestag . Am 4 . Juni beschloss das Bundeskabinett das
        Arbeitsprogramm „Bessere Rechtssetzung 2014“ . Ziel
        dieser Maßgaben ist eine effiziente und wirtschaftliche
        sowie bürgerfreundliche Verwaltung . Das vorliegende
        Gesetz lässt sich unter diesen Gesichtspunkten nahtlos in
        dieses Programm einordnen .
        Wie stellt sich der gegenwärtige Stand dar? In Deutsch-
        land wird derzeit für mehr als 16 Millionen Kinder ein
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19013
        (A) (C)
        (B) (D)
        Kindergeld gezahlt . Hierfür gibt es zwei Strukturebenen
        in den Verwaltungen, die parallel dafür verantwortlich
        sind, Kindergeld an die berechtigten Eltern auszuzahlen .
        Auf der einen Seite sind da 14 Familienkassen der
        Bundesagentur für Arbeit, welche die Auszahlung für
        etwa 87 Prozent der Kinder veranlassen . Die übrigen
        13 Prozent der Kindergeldfälle betreffen Kinder von
        Bediensteten des öffentlichen Dienstes . Und die werden
        von derzeit circa 8 000 einzelnen Familienkassen verwal-
        tet . Etwa 7 000 dieser Familienkassen bearbeiten weni-
        ger als 200 Kindergeldfälle, zum Teil sogar lediglich 20
        oder 30 . Ein so aufgeblähter Apparat entspricht in keiner
        Weise einer zeitgemäßen und modernen Verwaltung . Un-
        tersuchungen zeigen, dass es 80 Prozent der Familien-
        kassen des öffentlichen Dienstes nicht möglich ist, die
        Kindergeldzahlungen in einer insgesamt zufriedenstel-
        lenden Qualität zu bearbeiten . Die Fallzahlen sind hierzu
        einfach zu gering . Diesen Missstand wollen wir mit dem
        vorliegenden Gesetz beheben, damit die Kindergeldzah-
        lungen zukünftig einfacher, effizienter und unbürokrati-
        scher vonstattengehen können .
        Erreichen wollen wir das dadurch, indem wir die
        Familienkassen, die für Angestellte des öffentlichen
        Dienstes im Bereich des Bundes verantwortlich sind, in
        die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit und des
        Bundesverwaltungsamtes überführen . Zusätzlich wollen
        wir den öffentlichen Arbeitgebern der Länder und Kom-
        munen ebenfalls die Möglichkeit geben, ihre Kindergeld-
        zahlungen an die Bundesagentur für Arbeit auszuglie-
        dern . Als Ziel haben wir uns das Jahr 2022 gesetzt – bis
        dahin soll die Überführung vollzogen sein .
        Drei wichtige Gründe sprechen für dieses Gesetz . Ers-
        tens entbürokratisieren wir unsere Verwaltung, machen
        sie effizienter und wirtschaftlicher.
        Zum Zweiten ist nach einer Zusammenlegung der
        Familienkassen mit deutlichen Kostenersparnissen zu
        rechnen . Sicher ist der bis dahin zu leistende Aufwand
        zum Teil immens . Insgesamt entstehen zum Beispiel für
        die Konzentration der Familienkassen zunächst Kosten
        von etwa 25 Millionen Euro, wovon circa 22 Millionen
        Euro auf die Bundesagentur für Arbeit entfallen . Auch
        steigen die Ausgaben der BA ab 2022 um insgesamt circa
        7,5 Millionen Euro jährlich durch den Anstieg und den
        erhöhten Arbeitsaufwand in der Bearbeitung der Kinder-
        geldzahlungen . Dem gegenüber stehen mittelfristige Ein-
        sparungen bei den öffentlichen Arbeitgebern des Bundes
        von mindestens 8,5 Millionen Euro jährlich . Perspekti-
        visch wird die Bearbeitung des einzelnen Kindergeldfalls
        für die Verwaltung durchschnittlich um 20 Euro pro Jahr
        günstiger .
        Zum Dritten wollen wir damit die Betrugsanfälligkeit
        des aktuellen Systems bekämpfen . In den letzten Mona-
        ten sind mehrfach Enthüllungen von doppelten Kinder-
        geldzahlungen ans Licht der Öffentlichkeit gekommen .
        Heute ist es so, dass eine Familie, bei der der eine Ehe-
        partner öffentlich Bediensteter und der andere Ehepart-
        ner in der Privatwirtschaft tätig ist, zweimal Kindergeld
        für das gleiche Kind beantragen kann . Ob hier Vorsatz
        zugrunde liegt oder nicht, das ist unzulässig . Allerdings
        fällt dieser Betrug nicht auf, weil die zuständigen Fami-
        lienkassen ihre Datenbestände untereinander entweder
        gar nicht oder nur unzureichend abgleichen . Vor diesem
        Hintergrund können unrechtmäßige Doppelzahlungen
        auch immer wegen Systemfehlern passieren . Das geht so
        nicht .
        Das alles sind in meinen Augen wichtige Gründe, um
        mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in vernünftiger Art
        und Weise Hand anzulegen und die Situation zu verbes-
        sern . Insofern lade ich Sie alle herzlich ein, dies im par-
        lamentarischen Verfahren gemeinsam tun . Ich bin mir
        sicher, dass wir das vorliegende Gesetz über diesen Weg
        zu einem erfolgreichen Abschluss bringen werden .
        Susanna Karawanskij (DIE LINKE): In Deutsch-
        land erhalten Eltern von mehr als 16 Millionen Kindern
        Kindergeld . Dazu, ob das Kindergeld hoch genug ist oder
        nicht, kommen wir später noch . Im Jahr 2015 wurden über
        39 Milliarden Euro von den Familienkassen ausgezahlt .
        Es gibt dabei 14 Familienkassen der Bundesagentur für
        Arbeit, die das Kindergeld für rund 87 Prozent aller Kin-
        der hier in Deutschland bearbeiten . Daneben gibt es über
        8 000 einzelne Familienkassen des öffentlichen Dienstes
        für die übrigen 13 Prozent . Sie bearbeiten das Kindergeld
        primär für Kinder von öffentlich Bediensteten .
        Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll eine Struk-
        turreform bei den Familienkassen des öffentlichen
        Dienstes eingeleitet werden . Die Kindergeldbearbeitung
        in diesen Familienkassen soll zukünftig auf die Bundes-
        agentur für Arbeit übergehen . Es ist folglich eine Zusam-
        menführung der Kindergeldbearbeitung bei der Bundes-
        agentur für Arbeit geplant . Das klingt erst einmal sehr
        vernünftig . Obwohl man froh sein muss, hier im Hohen
        Haus kein Dauerschreien der FDP nach Bürokratieabbau
        hören zu müssen, ist zu konstatieren, dass die angestrebte
        Verwaltungsvereinfachung sicherlich wünschenswert ist .
        Zum einen ist eine gleichmäßigere Rechtsanwendung ist
        durch die Leistung aus einer Hand . Wir hoffen, dass es so
        zukünftig weniger fehlerhafte Kindergeldfestsetzungen
        geben wird . Zum anderen kann auf mittlere Sicht auch
        einiges an Geld eingespart werden . Der Gesetzentwurf
        sieht aber eine recht lange Übergangsphase vor . Ob der
        finanzielle Aufwand und die Einsparungen letzten Endes
        so sein werden, wie im Gesetzentwurf angegeben, wird
        sich noch zeigen .
        Doch wann immer von Bürokratieabbau und Kosten-
        senkungen die Rede ist, muss man auch die andere Seite
        der Medaille betrachten . Im Gesetz ist zu lesen, dass die
        Zahl der zuständigen Stellen reduziert wird . Es ist also
        nicht geplant, jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter
        auf eine andere Planstelle zu setzen . Schon in der Über-
        gangsphase drohen erste Entlassungen, getarnt als Um-
        strukturierungsmaßnahme . Kurzum: Bei Umsetzung die-
        ses Gesetzentwurfs fallen Arbeitsplätze weg . Dies ist ein
        sehr harter Preis für die gerade beschriebenen Einsparun-
        gen . Dies bereitet uns böse Bauchschmerzen und kann
        die Linke nicht dem Gesetzentwurf zustimmen lassen .
        Nun ging vor kurzem durch die Medien, dass Finanz-
        minister Schäuble das Kindergeld um 2 Euro monatlich
        erhöhen möchte . Das ist doch der blanke Hohn . Für
        Geringverdiener oder Alleinerziehende verpufft doch
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619014
        (A) (C)
        (B) (D)
        diese winzige Erhöhung geradezu . Hier verstärkt sich
        mein Eindruck, dass der Bundesregierung die aktuellen
        Zahlen zur Kinderarmut in Ost- wie in Westdeutschland
        überhaupt nicht geläufig zu sein scheinen. Im Osten
        Deutschlands kommen beispielsweise 21,6 Prozent der
        Kinder aus Hartz-IV-Haushalten, also rund jedes fünfte
        Kind . 2 Millionen Kinder leben in einem reichen Land
        wie Deutschland in Armut – Tendenz steigend . Setzen
        Sie doch auch dafür ihre gestern im Finanzausschuss so
        hoch gelobten „sprudelnden Steuereinnahmen“ ein . Aber
        das tun Sie gerade nicht . Ihre Politik folgt der Prämisse:
        „Arm bleibt arm. Basta.“ Doch damit finden wir als Lin-
        ke uns nicht ab . Aus diesem Grund haben wir nun einen
        Aktionsplan gegen Kinderarmut, Bundestagsdrucksa-
        che 18/9666, ganz frisch in den Bundestag eingebracht .
        Denn uns ist jedes Kind gleich viel wert . Lesen Sie sich
        einfach diesen Aktionsplan durch; es lohnt sich . Wir
        sprechen uns nicht nur für eine eigenständige Kinder-
        grundsicherung aus, sondern fordern auch flankierende
        Maßnahmen, die Eltern aus der Armut führen – denn
        Kinderarmut ist meist Einkommensarmut der Eltern –:
        einen höheren Mindestlohn, eine bessere Vereinbarkeit
        von Familie und Beruf, eine sanktionsfreie Mindestsi-
        cherung und eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes,
        das dann die Familienkassen aus einer Hand auszahlen
        sollen . Dies ist ein kleiner Ansatzpunkt, den Reichtum
        unserer Gesellschaft gerechter zu verteilen . Und der tut
        dringend not .
        Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am
        1 . September 2016 titelte die Bild-Zeitung: Staatsdiener
        kassierte 15,5 Jahre doppelt . Worum ging es dabei? Um
        Kindergeldbetrug . Elternpaare, bei denen einer von bei-
        den verbeamtet ist, hatten sich jahrelang das Kindergeld
        doppelt auszahlen lassen: einmal von der Familienkasse
        des öffentlichen Dienstes, zum anderen von der Bun-
        desagentur für Arbeit . Möglich war das, weil eben zwei
        Familienkassen für die Familie zuständig waren und sie
        nicht miteinander kommunizierten .
        Der eigentliche Skandal ist aber: Diese Betrugsfälle
        sind seit dem Jahr 2009 bekannt . Da hat der Bundesrech-
        nungshof darauf hingewiesen . Auch ich habe mehrmals
        danach darauf aufmerksam gemacht, aber die Bundesre-
        gierung hat nicht reagiert . Scheinheilig hat sie zwar dann
        2014 das Gesetz zum Kindergeld geändert – aber das we-
        gen angeblichen Missbrauchs durch Ausländer, von Be-
        amten war keine Rede! Es wurde beschlossen, die Identi-
        fikationsnummer des Kindes abzugleichen, aber das erst
        ab 2016 – warum, ist völlig unverständlich! Es ist ein
        Skandal, dass der Kindergeld-Betrug noch so lange nach
        Bekanntwerden möglich war, nicht nur, weil das Gesetz
        so spät greift, sondern weil zwischen den verschiedenen
        Familienkassen nicht schon seit 2009 ein Datenabgleich
        erfolgte, um Missbrauch zu vermeiden . Die Bekämpfung
        des Betrugs durch die eigenen Beamten scheint bei der
        Regierung keine Priorität zu haben .
        Der nun vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Been-
        digung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des
        öffentlichen Dienstes steht offensichtlich im Zusammen-
        hang mit dem Kindergeldbetrug . Denn er wurde durch
        den Wildwuchs bei den Familienkassen erst möglich .
        Während 14 Familienkassen der Bundesagentur für
        Arbeit den Löwenanteil aller Kindergeldfälle bearbeiten,
        sind für die Kinder von öffentlich Bediensteten tatsäch-
        lich 8 000 einzelne Familienkassen zuständig . Ich wie-
        derhole: 8 000 Kassen nur für Kinder von Beamten . Sie
        bearbeiten gerade einmal 13 Prozent der Kindergeldbe-
        rechtigten im Land . Das steht in einem grotesken Miss-
        verhältnis . Auch das monierte der Bundesrechnungshof
        im Hinblick auf die Effizienz bereits schon vor vielen
        Jahren .
        Deshalb halte ich die Richtung des Gesetzentwurfes –
        so spät er kommt – für unumgänglich . Die Vielzahl an
        Kassen ist nicht zu rechtfertigen . Die Auszahlung von
        Kindergeld ist keine besondere Dienstleistung . Das Ne-
        beneinander der Familienkassen ist nicht nur bürokra-
        tisch und ineffizient, es ist auch missbrauchsanfällig.
        Deshalb sollten die 8 000 Familienkassen für Beamte
        schließen . Natürlich geht das nicht von heute auf mor-
        gen – es braucht Zeit, das Personal in sinnvoller und so-
        zialer Weise umzuschichten .
        Aber tun Sie uns den Gefallen und vergeuden Sie nicht
        weitere sieben Jahre! Wenn ein Staat den Betrug seiner
        Staatsdiener nicht entschieden bekämpft, dann schadet er
        damit am meisten seinem eigenen Ruf .
        Dr. Michael Meister, Parl . Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Finanzen: Das Bundeskabinett hat am
        18 . Mai 2016 den Gesetzentwurf zur Beendigung der
        Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentli-
        chen Dienstes im Bereich des Bundes beschlossen . Mit
        dem Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen die rund
        100 Familienkassen im Bereich des Bundes bei der Bun-
        desagentur für Arbeit oder dem Bundesverwaltungsamt
        konzentriert werden . Der Bund geht damit den ersten
        Schritt zur Reduzierung der vielen in Deutschland tätigen
        Familienkassen . Dieser soll im Jahre 2021 abgeschlossen
        sein .
        Auch die Länder und Kommunen erhalten die Mög-
        lichkeit, die Kindergeldbearbeitung an die Bundesagen-
        tur für Arbeit abzugeben . Dazu wird gesetzlich eine
        Option aufgenommen, mit der Familienkassen der Kom-
        munen und der Länder auf ihre Zuständigkeit zugunsten
        der Bundesagentur für Arbeit verzichten können . Die
        Option gilt über das Jahr 2021 hinaus . Mit dem Zustän-
        digkeitswechsel wird die Bundesagentur für Arbeit mit
        ihrem Personal die Kindergeldbearbeitung für den öf-
        fentlichen Dienst der jeweiligen öffentlichen Einrichtung
        der Kommune oder des Landes übernehmen . Der Bund
        erstattet der Bundesagentur für Arbeit hierfür die Verwal-
        tungskosten .
        In Deutschland wird für mehr als 16 Millionen Kinder
        Kindergeld ausgezahlt . 87 Prozent aller Kindergeldfälle
        werden von den 14 Familienkassen der Bundesagentur für
        Arbeit bearbeitet . Daneben gibt es mehr als 8 000 Fami-
        lienkassen für die Beschäftigten des öffentlichen Diens-
        tes . Diese Sonderzuständigkeit wurde 1975 zunächst nur
        als Übergangslösung bis Ende 1976 eingeführt, hat sich
        jedoch bis heute als ausgesprochen „langlebig“ erwiesen .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19015
        (A) (C)
        (B) (D)
        In vielen kleinen Familienkassen ist wegen der gerin-
        gen Fallzahlen eine Standardisierung der Arbeitsabläufe
        und damit die Erreichung von Mindeststandards bei der
        Bearbeitungsqualität schwer . Daher besteht Reformbe-
        darf .
        Im Bereich des Bundes wollen wir deshalb mit gutem
        Beispiel vorangehen und die Sonderzuständigkeit des öf-
        fentlichen Dienstes beim Kindergeld beenden . Ab 2022
        soll es dann nur noch die Bundesagentur für Arbeit und
        das Bundesverwaltungsamt geben .
        Die Länder und Kommunen werden eingeladen, sich
        an dieser Reform zu beteiligen . Das heißt, die Familien-
        kassen des öffentlichen Dienstes können auf ihre Zustän-
        digkeit verzichten und die Kindergeldbearbeitung auf die
        Bundesagentur für Arbeit übertragen . Um einen Anreiz
        hierfür zu setzen, übernimmt der Bund die durch die
        Übertragung entstehenden laufenden Verwaltungskosten
        für die Kindergeldbearbeitung bei der Bundesagentur für
        Arbeit . Länder und Kommunen werden also ganz erheb-
        lich von Verwaltungskosten entlastet .
        Neben der Einsparung von Verwaltungskosten ist es
        das Ziel des Gesetzentwurfs, die Kindergeldbearbeitung
        in Deutschland insgesamt zu vereinheitlichen sowie mo-
        derne und effiziente Strukturen der Familienkassen zu
        schaffen .
        Anlage 30
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
        der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Ände-
        rung weiterer Vorschriften im Bereich der rechts-
        beratenden Berufe
        (Tagesordnungspunkt 36)
        Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Im Bereich der
        Rechtsberatung setzen wir in Deutschland auf hohe Stan-
        dards:
        Angefangen bei der Ausbildung bis hin zu den Rege-
        lungen des Berufszugangs und der Berufsausübung kön-
        nen wir mit Fug und Recht behaupten, dass wir die Mess-
        latte hoch gesetzt haben . Nicht umsonst gilt insbesondere
        unsere juristische Ausbildung als eine der schwersten
        weltweit, und nicht umsonst können wir von einem ver-
        gleichsweise überdurchschnittlichen Qualitätsniveau in
        der rechtsberatenden Branche sprechen .
        Diese Standards gilt es aufrechtzuerhalten und für die
        Zukunft zu sichern . Gleichermaßen muss es aber auch
        unser Anspruch sein, unsere Regelungen weiterzuentwi-
        ckeln und anzupassen . Insbesondere müssen wir zum Ziel
        haben, die Potentiale des Europäischen Binnenmarkts
        und die Mobilität der EU-Bürger, die zweifelsohne im-
        mer mehr auf Bedeutung gewinnt, voll auszuschöpfen .
        Der vorliegende 248 Seiten umfassende Gesetzent-
        wurf wird diesen Ansprüchen gerecht . Ausweislich
        seiner Bezeichnung setzt er europäische Vorgaben der
        Berufsanerkennungsrichtlinie um und reformiert damit
        die berufsrechtlichen Vorschriften im Fall der grenzüber-
        schreitenden Rechtsberatung . Daneben modernisiert er
        „weitere Vorschriften“ betreffend das Anwaltsrecht und
        den Rechtsdienstleistungsmarkt, was tatsächlich die grö-
        ßeren Auswirkungen haben wird .
        Kurzum: Mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen
        sorgt er für die Zukunftsfähigkeit der rechtsberatenden
        Berufe in Deutschland .
        Neu geregelt auf Grundlage der Richtlinie wird un-
        ter anderem die Zulassung zur deutschen Rechtsanwalt-
        schaft:
        Wurde bisher zwingend die Ablegung einer Eignungs-
        prüfung verlangt, prüft das zuständige Landesjustizprü-
        fungsamt bei EU-Rechtsanwälten künftig, ob es dieser
        Prüfung tatsächlich bedarf oder ob gegebenenfalls die
        Qualifikation des Anwalts nicht bereits eine unmittelbare
        Feststellung der Gleichwertigkeit zulässt .
        Analog dazu wird auch die Zulassung zur deutschen
        Patentanwaltschaft künftig geregelt . Auch hier wird also
        nicht mehr zwangsläufig die Ablegung einer Eignungs-
        prüfung nötig sein, sondern kann eine gleichwertige
        Qualifikation vorab festgestellt werden.
        Ebenfalls auf die Richtlinie zurückzuführen ist die
        Einführung eines sogenannten „Vorwarnmechanismus“ .
        Dieser greift bei Berufsverboten und auch dann, wenn
        ein Gericht festgestellt hat, dass ein Berufsangehöriger
        zum Zwecke der Anerkennung seiner Berufsqualifikati-
        on einen gefälschten Berufsqualifikationsnachweis ver-
        wendet hat . In beiden Fällen sind die Mitgliedstaaten
        verpflichtet, innerhalb von drei Tagen die anderen Mit-
        gliedstaaten darüber zu informieren .
        Unter die „weiteren Vorschriften“, die neu geregelt
        werden, fällt insbesondere auch eine gesetzliche Klar-
        stellung in Sachen elektronisches Anwaltspostfach .
        War es bislang umstritten, inwieweit die Nutzung
        des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs für die
        Rechtsanwälte verpflichtend ist, steht nun fest, dass es ab
        dem 1 . Januar 2018 so ist .
        Der Gesetzentwurf bietet auch eine Lösung für solche
        Fälle, in denen ein Rechtsanwalt seine Tätigkeit in un-
        terschiedlichen rechtlichen Organisationsformen ausübt .
        Bislang waren die Angaben darüber bei der Rechtsan-
        waltskammer beschränkt auf die Begriffe „Kanzlei“ und
        „Zweigniederlassung“ . Fortan wird es daneben auch den
        Begriff der „weiteren Kanzlei“ geben, sodass sämtliche
        Formen anwaltlicher Berufsausübung sachgerecht er-
        fasst werden können .
        Erfreulich ist auch, dass man bei den Wahlen zum Vor-
        stand der Berufskammern das Briefwahlrecht einführt .
        Diese soll auch elektronisch durchgeführt werden kön-
        nen . Bisher war die Wahl nur über die Kammerversamm-
        lung möglich, was regelmäßig zu geringen Beteiligungen
        führte und damit zu einem Mangel an demokratischer
        Legitimation .
        Kritisch sehe ich hingegen die Einführung einer Fort-
        bildungspflicht für junge Anwältinnen und Anwälte. Sie
        sollen innerhalb des ersten Jahres nach ihrer Zulassung
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619016
        (A) (C)
        (B) (D)
        hinreichende Kenntnisse über das anwaltliche Berufs-
        recht nachweisen . Vorgesehen ist dafür der Besuch einer
        Lehrveranstaltung von zehn Stunden . Kann sie oder er
        dies nicht nachweisen, droht ihr bzw . ihm eine berufs-
        rechtliche Sanktion .
        Wie ich bereits eingangs erwähnt habe, ist die juristi-
        sche Ausbildung in Deutschland eine der anspruchsvolls-
        ten überhaupt . Wir investieren Jahre für das Studium und
        für den erfolgreichen Abschluss von zwei Staatsexami-
        na . Ehrlich gesagt, frage ich mich, warum man uns dann
        noch eine weitere Fortbildung abverlangen muss, damit
        wir endlich unseren Beruf ausüben dürfen . In anderen
        reglementierten Berufen ist dies nicht erforderlich .
        Außerdem erwirbt man mit Absolvierung der zweiten
        juristischen Staatsprüfung die Befähigung für alle regle-
        mentierten juristischen Berufe . Wenn man nun weitere
        Anforderungen an die Ausübung speziell der Anwaltstä-
        tigkeit stellt – auch wenn diese keine Bedingung für die
        Zulässigkeit darstellt – bricht man dieses bewährte Sys-
        tem unnötigerweise auf .
        Insgesamt handelt es sich bei diesem Gesetzentwurf
        um ein sehr umfassendes Paket, das eine gute Grundlage
        bildet, um das anwaltliche Berufsrecht zu modernisieren .
        Im weiteren Gesetzgebungsverfahren, das noch in die-
        sem Jahr abgeschlossen werden soll, kommt es jetzt da-
        rauf an, noch einmal genau hinzuschauen, wo wir den
        Entwurf noch nachzubessern haben .
        Detlef Seif (CDU/CSU): Wir befassen uns heute in
        erster Lesung mit einem Gesetzentwurf, mit dem Richt-
        linienvorgaben der Europäischen Union im Bereich
        der rechtsberatenden Berufe, also der Tätigkeiten der
        Rechtsanwälte, Patentanwälte und der unter das Rechts-
        dienstleistungsgesetz fallenden Berufe, in deutsches
        Recht umgesetzt werden sollen .
        Die sogenannte EU-Berufsanerkennungsrichtlinie, um
        die es hier geht, regelt seit dem Jahr 2005 die Anerken-
        nung von Berufsqualifikationen, die in anderen Mitglied-
        staaten der Europäischen Union erworben wurden . Diese
        Richtlinie wurde vor drei Jahren noch einmal wesentlich
        überarbeitet . Die darin enthaltenen Vorgaben sollten von
        den Mitgliedstaaten eigentlich bereits bis zum 18 . Ja-
        nuar 2016 in nationales Recht umgesetzt werden, was
        Deutschland bislang versäumt hat . Das Gesetzgebungs-
        verfahren soll vor diesem Hintergrund nun mit der gebo-
        tenen Zügigkeit durchgeführt werden .
        Der Gesetzentwurf selbst sieht eine ganze Reihe von
        Neuregelungen im Berufsrecht vor, die sich aus der Um-
        setzung der Berufsanerkennungsrichtlinie ergeben . Er
        enthält darüber hinaus aber auch berufsrechtliche Rege-
        lungsvorschläge, die nicht durch EU-Recht vorgegeben
        sind . Folgende zentrale Änderungen sind hervorzuheben:
        Neuerungen ergeben sich zunächst im Bereich der Zu-
        lassung zur Rechtsanwaltschaft und Patentanwaltschaft .
        Nach geltendem Recht müssen Rechtsanwälte und Pa-
        tentanwälte aus anderen Mitgliedschaften, die unmittel-
        bar zur deutschen Rechtsanwaltschaft bzw . deutschen
        Patentanwaltschaft zugelassen werden möchten, zur
        Wahrung eines hohen Niveaus der anwaltlichen Tätigkeit
        in Deutschland eine Eignungsprüfung ablegen . Zukünf-
        tig muss vor der Auferlegung einer Eignungsprüfung von
        den deutschen Zulassungsbehörden geprüft werden, ob
        eine solche erforderlich ist . Der Zulassungsantrag des eu-
        ropäischen Rechtsanwalts bzw . des europäischen Paten-
        tanwalts bezieht sich dann nicht mehr unmittelbar auf die
        Ablegung einer Eignungsprüfung, sondern zunächst auf
        die Feststellung der Gleichwertigkeit seiner Berufsquali-
        fikation mit derjenigen, die für die Ausübung der anwalt-
        lichen Tätigkeit in Deutschland erforderlich ist . Die zu-
        ständige Behörde – im Fall der Zulassung zur deutschen
        Rechtsanwaltschaft ist dies das jeweilige Landesjustiz-
        prüfungsamt, im Fall der Zulassung zur deutschen Paten-
        tanwaltschaft ist das Deutsche Patent- und Markenamt
        zuständig – hat dann zu prüfen, ob die Qualifikationen
        tatsächlich gleichwertig sind . Konkret bedeutet dies, dass
        das Landesjustizprüfungsamt bzw . das Deutsche Patent-
        und Markenamt prüfen muss, ob bestehende Defizite in
        der Berufsqualifikation durch Berufspraxis oder Weiter-
        bildungsmaßnahmen vollständig ausgeglichen wurden .
        Da dies allerdings in der Praxis selten der Fall sein wird,
        soll die Auferlegung einer Eignungsprüfung für die Zu-
        lassung zur deutschen Anwaltschaft auch in Zukunft fast
        immer erforderlich sein .
        Im Bereich der Dienstleistungsfreiheit ist eine voll-
        ständig neue Umsetzung der Richtlinienvorgaben für
        Patentanwälte notwendig . Erstmals sollen die Vorausset-
        zungen für eine vorübergehende Tätigkeit europäischer
        Patentanwälte in Deutschland ausdrücklich geregelt wer-
        den . Die Vorschriften zur Dienstleistungsfreiheit und zur
        Niederlassungsfreiheit für Patentanwälte sollen in einem
        neuen Gesetz, dem Gesetz über die Tätigkeit europäi-
        scher Patentanwälte in Deutschland, zusammengeführt
        werden . Als Vorbild dient insoweit das Gesetz über die
        Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland .
        Hierzu sollen die Inhalte des Gesetzes über die Eig-
        nungsprüfung für die Zulassung zur Patentanwaltschaft
        in Teil 1 des neuen Gesetzes überführt werden . Die neuen
        Vorschriften über die vorübergehende und gelegentliche
        Erbringung von Dienstleistungen durch europäische Pa-
        tentanwälte in Deutschland sind dann in Teil 2 des neuen
        EuPAG enthalten . Bevor europäische Patentanwälte ihre
        Tätigkeit in Deutschland aufnehmen, müssen sie eine
        Meldung an die Patentanwaltskammer abgeben .
        Darüber hinaus erhalten Patentanwälte sowie rechts-
        beratende Inkassodienstleister, Rentenberater und
        Rechtsdienstleister im Zusammenhang mit der Richtlini-
        enumsetzung einen beschränkten Berufszugang . Dies be-
        trifft die Fälle, in denen aus deutscher Sicht vorliegende
        Teilbereiche der genannten Berufe in anderen Mitglied-
        staaten als eigenständige Berufe ausgeübt werden . Unter
        bestimmten Voraussetzungen soll der Berufsangehörige
        seine im EU-Ausland zulässige Tätigkeit zukünftig auch
        in Deutschland ausüben dürfen, allerdings auch nur die-
        se .
        Im Anwendungsbereich der Berufsanerkennungsricht-
        linie wird schließlich erstmals ein sogenannter Vorwarn-
        mechanismus geschaffen . Danach sind innerhalb einer
        Frist von nur drei Tagen alle Mitgliedstaaten vor solchen
        Rechtsanwälten, Patentanwälten und Berufsträgern nach
        dem Rechtsdienstleistungsgesetz zu warnen, gegen die
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19017
        (A) (C)
        (B) (D)
        ein vorläufiges oder endgültiges Berufsverbot verhängt
        wurde oder bei denen eine gerichtliche Feststellung darü-
        ber vorliegt, dass sie im Zulassungsverfahren gefälschte
        Berufsqualifikationsnachweise vorgelegt haben – eine
        sinnvolle und wichtige Regelung, wie ich finde.
        Daneben sollen auch verschiedene Bereiche des Be-
        rufsrechts der Rechts- und Patentanwälte neu geregelt
        bzw . angepasst werden, ohne dass EU-Recht dies zwin-
        gend vorschreibt . Zu erwähnen sind in diesem Zusam-
        menhang vor allem folgende Regelungsvorschläge:
        Unterschiedlich beurteilt wird bislang die Frage, ob
        auch ohne eine gesetzliche Vorgabe in der Bundesrechts-
        anwaltsordnung eine Nutzungspflicht für das besondere
        elektronische Anwaltspostfach seitens der Anwaltschaft
        besteht, insbesondere, ob die Inhaber dieses Postfaches
        zumindest verpflichtet sind, die für die Nutzung notwen-
        digen technischen Einrichtungen bereitzustellen und den
        Empfang von Mitteilungen über das Postfach zu ermög-
        lichen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll für alle
        Beteiligten auch diesbezüglich Klarheit geschaffen wer-
        den: Ab dem 1 . Januar 2018 soll nun für jeden Postfachin-
        haber eine ausdrückliche berufsrechtliche Verpflichtung
        zur passiven Nutzung des besonderen elektronischen An-
        waltspostfaches bestehen . Die Bundesrechtsanwaltskam-
        mer hatte vergangene Woche mitgeteilt, dass jedenfalls
        die technischen Voraussetzungen für die Inbetriebnahme
        des Systems vorliegen und der Erprobungsbetrieb eigent-
        lich in wenigen Tagen beginnen könnte, wenn nicht zwei
        einstweilige Anordnungen des Anwaltsgerichtshofes
        Berlin die Inbetriebnahme zum jetzigen Zeitpunkt unter-
        sagen würden .
        Die nun vorgesehene Einführung einer gesetzlichen
        Nutzungsverpflichtung ab dem Jahr 2018 dürfte gerade
        für diejenigen Anwälte von Bedeutung sein, die sich bis-
        her insbesondere wegen der haftungsrechtlichen Risiken
        mit Nachdruck gegen die Einführung eines solchen elek-
        tronischen Postfaches ausgesprochen bzw . sich sogar ju-
        ristisch gegen die Freischaltung des Postfaches zur Wehr
        gesetzt haben .
        Neu zugelassene Rechtsanwälte sollen zukünftig be-
        rufsrechtlich verpflichtet werden, an einer Lehrveranstal-
        tung von zehn Wochenstunden zum anwaltlichen Berufs-
        recht teilzunehmen . In diesem Zusammenhang erhalten
        die Satzungsversammlungen der Bundesrechtsanwalts-
        kammer und der Patentanwaltskammer die Befugnis, die
        Fortbildungspflichten in ihrer jeweiligen Berufsordnung
        näher auszugestalten .
        Der Gesetzentwurf schafft zudem die rechtlichen Vo-
        raussetzungen dafür, dass die Kammermitglieder die
        Vorstände der Rechtsanwaltskammern und Patentan-
        waltskammern in Zukunft mittels Briefwahl wählen kön-
        nen . Zudem soll die Option der elektronischen Briefwahl
        eingeführt werden . Bislang ist die Wahl des Kammervor-
        standes nur durch die Kammerversammlung selbst mög-
        lich . Mit der Briefwahl soll die demokratische Legitima-
        tion des gewählten Vorstandes gesteigert werden .
        Schließlich sollen auch einzelne Vorschriften der Bun-
        desnotarordnung überarbeitet werden . Die Änderungen
        sind teilweise klarstellend, teilweise aber auch substan-
        ziell neu . So sollen unter anderem die Vorgaben für An-
        waltsnotare, die sich mit nicht am Amtssitz tätigen Per-
        sonen verbunden haben, zur Angabe und zum Führen der
        notariellen Amtsbezeichnung in Geschäftspapieren und
        auf Amts- oder Namensschildern neu gefasst werden .
        Einige Berufsverbände und auch der federführende
        Rechtsausschuss und der Ausschuss für Agrarpolitik und
        Verbraucherschutz des Bundesrates haben sich zu den
        vorgeschlagenen Regelungen bereits zu Wort gemeldet .
        Ihre Anliegen, vor allem im Hinblick auf die Aspekte, die
        über den Umsetzungsauftrag der Europäischen Union hi-
        nausgehen, gilt es im nun anstehenden parlamentarischen
        Gesetzgebungsverfahren eingehend zu prüfen . Hierfür
        werden wir uns trotz der Eilbedürftigkeit der Umsetzung
        die notwendige Zeit und Sorgfalt nehmen .
        Christian Flisek (SPD): Mit dem Umsetzungsge-
        setz zur Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung
        weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden
        Berufe behandeln wir heute ein Gesetz, das zahlreiche
        unterschiedliche Themenfelder umfasst . Das Fehlen des
        einen bestimmenden Themas in diesem umfassenden
        Gesetz darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das
        Umsetzungsgesetz – und dies sage ich auch als praktizie-
        render Rechtsanwalt – zahlreiche in der Praxis wichtige
        Fragen der Berufsanerkennung und des Berufsrechts um-
        fasst . Zunächst einmal setzen wir mit dem Umsetzungs-
        gesetz eine EU-Richtlinie zur Berufsanerkennung um,
        deren Umsetzungsfrist leider schon im Januar dieses Jahr
        abgelaufen ist . Es besteht also ein gewisser Zeitdruck,
        dem wir uns stellen müssen . Das Ziel der Berufsanerken-
        nungsrichtlinie ist es, die Regeln für eine Anerkennung
        insbesondere als Rechtsanwalt in einem anderen Mit-
        gliedstaat der EU klarer und rechtssicherer zu gestalten,
        letztlich aber auch die Hürden für eine Anerkennung zu
        senken . Im Umsetzungsgesetz übernehmen wir dieses
        Ziel und tragen damit zur Verwirklichung der Grund-
        freiheiten der Niederlassungs- und Dienstleistungsfrei-
        heit bei . Der taxifahrende Rechtsanwalt sollte damit der
        Vergangenheit angehören. Davon profitiert einerseits der
        anerkannte Rechtsanwalt aus dem EU-Ausland, der sei-
        ne Fähigkeiten voll nutzen kann, andererseits aber auch
        Deutschland als Dienstleistungsstandort und attrakti-
        ves Ziel für hochqualifizierte EU-Ausländer. Nebenbei
        wird damit natürlich auch das Zusammenwachsen des
        EU-Wirtschaftsraums gefördert .
        Die Bundesregierung hat sich dazu entschlossen, die
        Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie mit zahl-
        reichen Änderungen weiterer Vorschriften im Bereich
        der rechtsberatenden Berufe zu verknüpfen, um diese zu
        modernisieren . Dies ist teilweise auf Kritik gestoßen; von
        einem überhasteten Vorgehen war und ist teilweise die
        Rede . Ein zeitlicher Druck lässt sich sicher nicht leugnen,
        ich halte die Verknüpfung aber dennoch für sinnvoll und
        angemessen . Denn auch im berufsrechtlichen Bereich
        stehen wir unter Zeitdruck . Insbesondere zwei Entschei-
        dungen des Anwaltsgerichtshofs Berlin – die Anwälte
        in Deutschland haben das aufmerksam verfolgt – ha-
        ben dafür gesorgt, dass das System des elektronischen
        Anwaltspostfaches derzeit in ganz Deutschland nicht
        aktiviert werden kann . Das wäre aber dringend erforder-
        lich, um die Kommunikationsmethoden von Anwälten
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619018
        (A) (C)
        (B) (D)
        mit Gerichten, Behörden und untereinander endlich ins
        21 . Jahrhundert zu befördern . Insofern ist es dann auch
        richtig, diese Materie zusammen mit anderen Aspekten
        im Rahmen des Umsetzungsgesetzes anzugehen . Gleich-
        wohl möchte ich natürlich darauf aufmerksam machen –
        und auch dies sage ich als Rechtsanwalt, der die Sorgen
        seiner Kolleginnen und Kollegen ernst nimmt und teilt –,
        dass wir die Neuerungen im weiteren parlamentarischen
        Verfahren genau prüfen und evaluieren werden . Eile soll
        nicht zulasten von Qualität und Sorgfalt gehen .
        Dies vorweggeschickt, möchte ich heute nur auf ei-
        nige wenige Einzelaspekte der geplanten Regelungen
        zum Berufsrecht eingehen, die bisher für besonders viel
        Gesprächsstoff und Diskussionen gesorgt haben . Dies
        schließt die Prüfung anderer Punkte im kommenden par-
        lamentarischen Verfahren natürlich nicht aus . Zunächst
        sollen Kurse zum Berufsrecht verpflichtend werden. Ich
        halte dies für sinnvoll . Das Berufsrecht ist bei rechtsbera-
        tenden stärker als bei anderen Berufen mit der beratenden
        Tätigkeit selbst verknüpft . Man kann ein guter Arzt sein,
        ohne sich im Arztrecht auszukennen; gute Anwälte ohne
        Kenntnisse vom anwaltlichen Berufsrecht sind hingegen
        kaum vorstellbar. Insofern glaube ich, dass verpflichten-
        de Kurse zum Berufsrecht essenziell sind für die Qualität
        der Rechtsberatung in Deutschland insgesamt . Nur am
        Rande sei bemerkt, dass ich – anders als der Bundesrat –
        nicht der Auffassung bin, diese Kenntnisse müssten be-
        reits vor dem zweiten Staatsexamen vermittelt werden,
        das schon jetzt extrem breit gefächert ist . Mit anwaltli-
        chem Berufsrecht sollten sich nur Anwälte beschäftigen
        müssen .
        Ferner soll der Umfang der verpflichtenden Fortbil-
        dung erweitert werden auf 40 Stunden pro Jahr, wobei
        eine Nachweispflicht nur für zehn Stunden pro Jahr be-
        stehen soll; bei fehlender Fortbildung sollen unter ande-
        rem Bußgelder drohen . Auch dies halte ich im Grunde für
        angemessen. Wenn man sich die Fortbildungsverpflich-
        tungen für Ärzte anschaut, wird man feststellen, dass die
        geplanten Regelungen moderat sind . Und eine Fortbil-
        dungspflicht ohne entsprechenden Druck zur tatsächli-
        chen Durchsetzung der Verpflichtung ist inkonsequent.
        Das Umsetzungsgesetz enthält darüber hinaus Klärun-
        gen zur Rentenbefreiung für Syndikusanwälte . Ihnen sol-
        len mit Blick auf ihre Rentenversicherungspflicht keine
        Nachteile darauf erwachsen, dass sich ihre Zulassungs-
        verfahren verzögern . Der Gesetzgeber hat Syndikus-
        rechtsanwälten vor nicht allzu langer Zeit die Versiche-
        rung in den anwaltlichen Versorgungswerken ermöglicht .
        Syndizi müssen bei Tätigkeitswechseln anders als nor-
        male Rechtsanwälte öfter ein kammerrechtliches Zulas-
        sungsverfahren durchlaufen; es ergibt keinen Sinn, sie
        während der Zulassungsverfahren zur Leistung von Ren-
        tenversicherungsbeiträgen zu zwingen, aus denen für sie
        aufgrund der Kürze der Leistungszeit keine Ansprüche
        erwachsen . Niemand wird von Syndikusrechtsanwälten
        verlangen können, Rentenversicherungsbeiträge gewis-
        sermaßen aus dem Fenster zu schmeißen . Gleichwohl ist
        es natürlich richtig, dass wir genau prüfen, welche Fol-
        gen sich aus der geplanten Rückwirkung der Mitglied-
        schaft in den Rechtsanwaltskammern für die sonstigen
        Rechten und Pflichten des Kammermitglieds ergeben.
        Lassen Sie mich schließlich auf die Nutzungspflicht
        für das elektronische Anwaltspostfach ab 2018 eingehen .
        Ich weiß, dass dieses Thema viele Anwälte umtreibt . Es
        handelt sich ja auch um einen äußerst sensiblen Bereich .
        Trotz der deswegen gebotenen Vorsicht unterstütze ich
        die Nutzungspflicht ab 2018. Andere Länder sind bei Di-
        gitalisierung der Kommunikation im Rechtswesen schon
        viel weiter als Deutschland . Wir haben hier erheblichen
        Nachholbedarf und sollten uns weitere Verzögerungen
        nicht erlauben . Und ich glaube, dass die Vorgaben mit
        gutem Willen auch umsetzbar sind .
        Insgesamt meine ich, dass wir zwar noch einige As-
        pekte in diesem Gesetz genauer prüfen müssen . Es han-
        delt es sich wie um einen hochsensiblen Bereich, und
        nicht umsonst sieht das Bundesverfassungsgericht ein
        funktionierendes Rechtswesen, zu dem auch ein sorg-
        fältig gestaltetes Berufsrecht gehört, als ein überragend
        wichtiges Gemeinschaftsgut an . Mit dem Regierungsent-
        wurf sind wir aber auf einem sehr guten Weg, und ich
        glaube, dass wir hieran in den kommenden Wochen bei
        den noch anzupackenden, eher rechtstechnischen Proble-
        men gut anknüpfen können .
        Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Und wieder mal
        eine Protokollrede . Zugegeben, diese Rede sollte ich ei-
        gentlich in der Nacht zum Freitag bzw . Freitag früh um
        4 .55 Uhr halten . Da sich erfahrungsgemäß dann kaum
        ein Zuschauer oder Hörer live informiert und die Anwe-
        senheit im Plenarsaal stark zu wünschen übrig lässt, habe
        ich mich dazu durchgerungen, noch einmal eine Proto-
        kollrede abzugeben . Ich hoffe, dass meine nachstehend
        angeführten Kritikpunkte in die Beratungen einfließen.
        Und die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt .
        In erster Linie handelt es sich hier um ein begrüßens-
        wertes Vorhaben, das an vielen Stellen lange geforderte
        und auch sinnvolle Änderungen mit sich bringt . Auch
        können die vorgenommene sprachliche Straffung und
        verbesserte Gliederung positiv hervorgehoben werden .
        Bei den geplanten Änderungen in der Bundesrechts-
        anwaltsordnung, BRAO, ist insbesondere die neu ein-
        geführte Pflicht, im Zusammenhang mit der Zulassung
        Kenntnisse im anwaltlichen Berufsrecht nachzuweisen,
        erfreulich . Die Regelung wird dem Verbraucher qualita-
        tiv hochwertige Rechtsberatung durch Anwälte sichern .
        Um den Start in die Anwaltstätigkeit nicht zu sehr zu er-
        schweren, kann die Teilnahme an den Lehrveranstaltun-
        gen auch noch nach der Zulassung im ersten Jahr mög-
        lich sein . Dies scheint eine sinnvolle Regelung zu sein .
        Auch die geplante Einführung des Begriffes der weiteren
        Kanzleien neben den Begriffen der Kanzleien und der
        Zweigstelle ist begrüßenswert . Dies schärft die Möglich-
        keiten der Differenzierung .
        Genauer betrachtet wird man jedoch feststellen, dass
        der Gesetzentwurf noch zu viele Schwachpunkte auf-
        weist . Die vorgeschlagenen Änderungen des anwaltli-
        chen Berufsrechts verlangen eine intensivere Befassung
        mit den aktuellen und zukünftigen Regelungen und de-
        ren Umsetzung in der anwaltlichen Berufspraxis sowie
        durch die regionalen Rechtsanwaltskammern . So sollte
        das Verhältnis von dem Zeugnisverweigerungsrecht der
        Berufsgeheimnisträger nach § 53a StPO-E zu der Verlet-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19019
        (A) (C)
        (B) (D)
        zung des Privatgeheimnisses nach § 203 StGB konkreti-
        siert werden . Am 26 . Oktober 2015 entschied der Bun-
        desgerichtshof, dass ein Anwalt nicht verpflichtet ist, ein
        Schreiben des gegnerischen Anwalts entgegenzunehmen,
        wenn dies dem Interesse seines Mandanten zuwiderläuft .
        Begründet wurde dies mit der mangelhaften Kompetenz
        in der Satzungsversammlung . Mit dem Gesetzentwurf
        wird dieser nun die Kompetenz zur Regelung zugewie-
        sen . Jedoch sollte es dabei der Satzungsversammlung
        auch gerade möglich sein, zu regeln, dass eine Annahme-
        pflicht nicht besteht. Dies sollte im Gesetzentwurf klar-
        gestellt werden .
        Bezüglich der Änderungen des Gesetzes über die Tä-
        tigkeit der europäischen Rechtsanwälte, EuRAG, will
        ich insbesondere auf zwei Regelungen, neue Regelungen
        eingehen . Der Gesetzentwurf sieht hier vor, dass euro-
        päische Rechtsanwälte zukünftig nicht zwangsläufig eine
        Prüfung ablegen müssen, um zugelassen zu werden . Dies
        sollte jedoch nicht dazu führen, dass die deutschen Ex-
        amina umgangen werden, indem über ein anderes Land
        der Zugang gesucht werden kann . Die hohen Standards
        hier könnten so zum Nachteil der Verbraucher umgan-
        gen werden . Daneben sieht der Entwurf vor, für europä-
        ische Rechtsanwälte Postfächer auf Antrag einzurichten .
        Dies ist jedoch systemfremd und sollte daher abgelehnt
        werden . Nach der Konzeption ist die Einrichtung eines
        Postfaches allein aufgrund der Datenübertragung aus
        dem von Rechtsanwaltskammern geführten Verzeichnis-
        ses sinnvoll . Bei europäischen Anwälten ist keine Rück-
        kopplung mit der Heimatkammer möglich, sodass nicht
        nachvollzogen werden kann, ob der Inhaber des Postfa-
        ches auch tatsächlich noch als Anwalt zugelassen ist . Die
        bisher bestehende Sicherheit würde damit also verloren
        gehen . Es sollte bei der Errichtung über die Kammern
        bleiben, um die guten Standards zu erhalten .
        Alles in allem wird sich meine Fraktion daher zu einer
        Zustimmung nicht durchringen können .
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem
        Gesetzentwurf zur Umsetzung der Berufsanerkennungs-
        richtlinie und zur Änderung weiterer berufsrechtlicher
        Vorschriften soll das Berufsrecht von Rechtsanwälten,
        Patentanwälten und der unter das Rechtsdienstleistungs-
        gesetz fallenden Berufe an die Berufswirklichkeit ange-
        passt und zukunftsfähig gemacht werden . Dabei wird
        nicht nur der deutsche Rechtsdienstleistungsmarkt ins
        Auge gefasst, sondern auch die grenzüberschreitende Er-
        bringung von Rechtsdienstleistungen . Alles soll vernetz-
        ter und moderner werden .
        Das ist im Großen und Ganzen zu begrüßen . Aller-
        dings möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen,
        dass es nicht sein kann, dass komplexe Gesetzentwürfe
        wie dieser im parlamentarischen Eilverfahren durchge-
        paukt werden, nur weil die Bundesregierung zuvor bei
        der Richtlinienumsetzung getrödelt hat . Schließlich um-
        fasst dieser Entwurf auch zahlreiche und gewichtige Än-
        derungen des anwaltlichen Berufsrechts .
        Bei dem Gesetzesvorhaben geht es darum, das Berufs-
        recht zukunftsfähig und praxisnah zu gestalten und die
        Selbstverwaltung der Anwaltschaft zu stärken . Es geht
        aber auch darum, den Verbraucherschutz zu gewährleis-
        ten und die hohe Qualität der Rechtsdienstleistungen zu
        sichern .
        Die diversen Neuregelungen sind komplex, daher will
        ich mich auf einige ausgewählte Aspekte beschränken .
        Künftig soll es eine allgemeine, kontinuierliche Fort-
        bildungspflicht für Anwälte geben, um die Qualität der
        anwaltlichen Beratung systemisch zu sichern .
        Die Kompetenz zur Regelung der fortlaufenden Wei-
        terbildungspflicht von Anwälten nach § 43a Absatz 6
        BRAO liegt bei der Satzungsversammlung .
        Als Selbstverwaltungsorgan der Anwaltschaft obliegt
        es ihr, für die Fortbildung der Anwältinnen und Anwälte
        Sorge zu tragen und somit sowohl den Verbraucherschutz
        als auch einen bestimmten Qualitätsstandard von Rechts-
        dienstleistungen zu sichern .
        Die Zulassung zur Anwaltschaft soll außerdem künftig
        mit der sanktionsbewehrten Pflicht verbunden werden,
        eine Art Grundausbildung im anwaltlichen Berufsrecht
        zu absolvieren . Das ist in der Tat auch sehr sinnvoll, denn
        das anwaltliche Berufsrecht spielt in der juristischen Aus-
        bildung an deutschen Universitäten und im Referendariat
        bislang eine sehr untergeordnete Rolle .
        Zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang auch, dass
        diese Verpflichtung nun auch für in Deutschland nieder-
        gelassene ausländische bzw . europäische Rechtsanwälte
        gelten soll . So bleibt der Gleichbehandlungsgrundsatz
        gewahrt, und es wird noch einmal klargestellt, dass jede
        in Deutschland praktizierende Anwältin bzw . jeder An-
        walt auch mit dem deutschen Berufsrecht vertraut sein
        muss .
        Andere vorgesehene Punkte sind erfreulich und un-
        kompliziert, wie etwa die Aufnahme des Begriffs der
        „weiteren Kanzlei“ in Abgrenzung zur „Zweigstelle“ in
        die Bundesrechtsanwaltsordnung und die Einführung der
        Möglichkeit, die Vorstände der Rechtsanwaltskammern
        elektronisch oder per Briefwahl zu wählen . Der letztge-
        nannten Änderung spricht der Gesetzgeber kurioserwei-
        se übrigens eine gleichstellungspolitische Bedeutung zu:
        Es sei zu erwarten, dass die Einführung der Briefwahl
        insbesondere Rechtsanwältinnen die Teilhabe an der
        Selbstverwaltung der Anwaltschaft erleichtert . Inwiefern
        Anwältinnen einen besonderen Hang zum Briefverkehr
        haben sollen, oder warum es ihnen im Gegensatz zu ihren
        männlichen Kollegen weniger möglich sein soll, persön-
        lich zur Kammerversammlung zu erscheinen, erschließt
        sich mir auf den ersten Blick nicht . Vielleicht sorgt die
        Bundesregierung ja in der geplanten Anhörung noch ein-
        mal für Erhellung .
        Es gibt aber auch Punkte, die – zumindest was ihre
        Umsetzung betrifft – nicht ganz unumstritten sind . Die
        Einrichtung der besonderen elektronischen Anwaltspost-
        fächer etwa wird die mit dieser Aufgabe betraute Bun-
        desrechtsanwaltskammer sicherlich noch vor einige He-
        rausforderungen stellen . Außerdem bleibt abzuwarten,
        wie sehr die neugeschaffenen gesetzlichen Grundlagen
        tatsächlich mit der beruflichen Wirklichkeit und Notwen-
        digkeit korrespondieren – und wie das Postfach von der
        Anwalt- und Mandantschaft angenommen wird .
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619020
        (A) (C)
        (B) (D)
        Nachdem die Einrichtung eines solchen Postfaches
        ursprünglich nur „für jedes eingetragene Mitglied einer
        Rechtsanwaltskammer“ geplant war, soll es nun auch
        zwingend für „jede weitere Kanzlei“, in der das Kam-
        mermitglied tätig ist, ein besonderes elektronisches An-
        waltspostfach geben .
        Vor einer solch inflationären Einrichtung von elekt-
        ronischen Postfächern sollte man sich aber noch einmal
        ernsthaft Gedanken um die damit verbundenen Kom-
        plikationen und vor allem Haftungsrisiken machen .
        Schließlich trifft alle Postfachinhaber die Pflicht, dieses
        empfangsbereit zu halten und regelmäßig zu kontrollie-
        ren . Das kann für Inhaber mehrerer Postfächer zu einem
        echten Problem werden – denn je mehr Postfächer, desto
        höher auch das Haftungsrisiko .
        Vor allem bei Syndikusanwälten stellt sich die Frage
        nach dem Haftungsrisiko: Schließlich sind sie für ihre
        Tätigkeit als Syndikus von der Pflicht zum Abschluss ei-
        ner eigenen Berufshaftpflichtversicherung befreit.
        Nach allgemeinen Grundsätzen haften sie jedoch ge-
        genüber Dritten – genau wie ihre niedergelassenen Kol-
        leginnen und Kollegen – für ihr elektronisches Postfach .
        Es kann wohl kaum verhindert werden, dass Rechtsu-
        chende eine Fristsache in das Postfach eines Syndikus-
        anwaltes einwerfen . Wer haftet dann, wenn das Mandat
        nicht rechtzeitig abgelehnt wird? Der Arbeitgeber etwa?
        Wohl kaum .
        Der Gesetzentwurf lässt also noch einige praktische
        und bedeutsame Fragen offen . Ich bin gespannt, ob diese
        dann durch die Anhörung beantwortet werden können .
        Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bun-
        desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir
        befassen uns heute in erster Lesung mit dem Entwurf
        eines Gesetzes zur Umsetzung der Berufsanerkennungs-
        richtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften im
        Bereich der rechtsberatenden Berufe . Mit dem Gesetz-
        entwurf soll das Berufsrecht der rechtsberatenden Berufe
        in zahlreichen Einzelfragen an die aktuellen Erforder-
        nisse angepasst werden . Ausgangspunkt des Gesetzge-
        bungsvorhabens war die Erforderlichkeit, die durch die
        Richtlinie 2013/55/EU erfolgten Änderungen der Be-
        rufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG im deutschen
        Recht umzusetzen . Diese Vorgaben werden insbesondere
        im Gesetz über die Tätigkeit der europäischen Rechts-
        anwälte in Deutschland, dem EuRAG, und im Rechts-
        dienstleistungsgesetz umgesetzt . Zudem wird bei den
        Patentanwälten anstelle des bisherigen Gesetzes über die
        Eignungsprüfung zur Patentanwaltschaft das Gesetz über
        die Tätigkeit europäischer Patentanwälte in Deutsch-
        land, das EuPAG, neu eingeführt . Das EuPAG lehnt sich
        an das für die Rechtsanwälte geltende EuRAG an und
        führt so auch in diesem Teilbereich zu einem möglichst
        weitgehenden Gleichklang des Berufsrechts der Rechts-
        und Patentanwälte, der sich auch schon bei der Bundes-
        rechtsanwalts- und der Patentanwaltsordnung bewährt
        hat . Die durch die Richtlinie 2013/55/EU erforderlichen
        inhaltlichen Änderungen betreffen neben der Prüfung
        der ausländischen Berufsqualifikation insbesondere den
        partiellen Zugang zu einem Beruf und den sogenannten
        Vorwarnmechanismus . Letzterer wird durch den Gesetz-
        entwurf auch im strafprozessualen Bereich umgesetzt .
        Neben der Umsetzung der Berufsanerkennungsricht-
        linie widmet sich der Gesetzentwurf zahlreichen Einzel-
        fragen aus dem Berufsrecht der rechtsberatenden Berufe .
        Anlass hierfür waren verschiedene Initiativen der Be-
        rufsverbände sowie höchstrichterliche Entscheidungen,
        aber auch aus fachlicher Sicht erforderlicher Modernisie-
        rungsbedarf . Abgesehen von wenigen Einzelpunkten, bei
        denen die Auffassungen der Beteiligten auseinanderge-
        hen, wird der Gesetzentwurf von den Berufsverbänden
        und den Ländern einhellig begrüßt und unterstützt .
        Auf einige Punkte des Gesetzentwurfs möchte ich
        beispielhaft hinweisen . Ab dem 1 . Januar 2018 soll je-
        der Rechtsanwalt das besondere elektronische Anwalts-
        postfach, das beA, nutzen müssen . Ist ein Rechtsanwalt
        nicht nur in einer Kanzlei tätig, soll dies künftig mit
        dem Begriff der weiteren Kanzlei umschrieben werden .
        Für diese soll der Rechtsanwalt dann auch ein weiteres
        beA erhalten . Zudem sollen dienstleistende europäische
        Rechtsanwälte ein beA erhalten können . Diese Maßnah-
        men sowie weitere Anpassungen in der Zivilprozessord-
        nung sollen die Einführung des elektronischen Rechts-
        verkehrs stärken .
        Darüber hinaus sollen die Fortbildungspflichten der
        Rechts- und Patentanwälte zukünftig durch die Anwalts-
        kammern näher geregelt werden können . Zudem soll
        sichergestellt werden, dass Rechtsanwälte über hinrei-
        chende Kenntnisse im Berufsrecht verfügen . Mit diesen
        Maßnahmen soll die hohe Qualität der Rechtsberatung
        nachhaltig und systemisch gesichert werden .
        Zudem soll bei Syndikusanwälten verhindert werden,
        dass sie für kurze Zeiten, in denen noch nicht über ihre
        Zulassung entschieden wurde, Beiträge zur gesetzlichen
        Rentenversicherung zahlen müssen . Hierzu soll eine
        Rückwirkung ihrer Mitgliedschaft in den Anwaltskam-
        mern vorgesehen werden .
        Darüber hinaus soll für die Wahlen zu den Vorständen
        der Anwaltskammern zukünftig grundsätzlich eine Brief-
        wahl vorgesehen werden . Damit soll die demokratische
        Legitimation der gewählten Vertreter gesteigert werden .
        Der Anwendungsbereich des Rechtsdienstleistungs-
        gesetzes soll gesetzlich definiert werden, um in dieser
        Frage für Klarheit zu sorgen .
        Und schließlich soll im Bereich der strafprozessualen
        Zeugnisverweigerungsrechte der Kreis der berechtigten
        Personen passgenauer definiert werden. Dies betrifft zum
        einen ausländische Rechtsanwälte und zum anderen die
        an der Tätigkeit des Rechtsanwalts mitwirkenden Perso-
        nen .
        Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen, aber dies
        würde den Rahmen dieser Rede sprengen .
        Die Bundesregierung hat mit diesem Gesetzentwurf
        den ersten Schritt gemacht, damit, wie bereits gesagt,
        insbesondere die EU-Richtlinie 2013/55/EU umgesetzt
        werden kann . Ich würde mich freuen, wenn dieser Ge-
        setzentwurf noch im Dezember 2016 verabschiedet wer-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19021
        (A) (C)
        (B) (D)
        den kann – die EU-Richtlinie hätte bereits am 18 . Januar
        2016 umgesetzt werden sollen .
        Anlage 31
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
        brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen vom 15. Oktober
        2008 zwischen den CARIFORUM-Staaten einer-
        seits und der Europäischen Gemeinschaft und ih-
        ren Mitgliedstaaten andererseits
        (Tagesordnungspunkt 37)
        Waldemar Westermayer (CDU/CSU): Heute geht
        es darum, über den Gesetzentwurf der Regierung für
        das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU mit den
        Mitgliedstaaten der karibischen Gemeinschaft CARIFO-
        RUM zu beraten und damit eine Wegmarke für fairen
        Handel als einem wichtigen Instrument der Entwick-
        lungszusammenarbeit zu setzen . Dieser Debatte heute
        liegt die grundsätzliche Frage zugrunde: Kann die Libe-
        ralisierung des Handels ein Motor für nachhaltige Ent-
        wicklung sein, ohne dabei ausschließlich ökonomische
        Interessen zu verfolgen?
        Die zunehmende Verzahnung der Weltwirtschaft führt
        zu einer Steigerung des Güter- und Dienstleistungshan-
        dels . Handelsschranken werden immer weiter abgebaut,
        und Handelsbeziehungen werden intensiviert . Daraus
        entstehen Chancen für ein verstärktes Wirtschaftswachs-
        tum, zunehmenden Wohlstand und eine verbesserte Le-
        benssituation der Menschen . So lautet die klassische
        Theorie der Handelsliberalisierung .
        Aber Theorie und Praxis sind bekanntlich nicht immer
        deckungsgleich . In vielen Fällen führt die zunehmende
        Liberalisierung des Handels genau zum Gegenteil: Sie
        kann auch Existenzen bedrohen und macht nicht alle zu
        Gewinnern . Sie ist kein Allheilmittel und erst recht kein
        Automatismus .
        Um nachhaltige Synergieeffekte für fairen Handel zu
        erzeugen, bedarf es bei Handelsliberalisierung und Wirt-
        schaftspartnerschaftsabkommen guter und nachhaltiger
        Rahmenbedingungen . Es geht um die faire Ausgestal-
        tung, damit alle Handel treiben können und dabei auch
        alle angemessen profitieren.
        Aus diesem Grund stellt das Wirtschaftspartner-
        schaftsabkommen der EU mit den 15 Staaten des CARI-
        FORUM seit 2008 ein Novum dar und gleichzeitig eine
        große Chance für die Entwicklungszusammenarbeit, da
        durch dieses ein neues Modell von Abkommen etabliert
        wird, das Faktoren der Nachhaltigkeit mit ökonomischen
        Interessen verbindet . Ziel ist es, nachhaltige Entwicklung
        und regionale Integration zu fördern und die Handelsbe-
        ziehungen auf eine WTO-konforme Grundlage zu stellen .
        Dieser Anspruch wird in dem Entwurf der Bundesregie-
        rung für die Umsetzung einer Wirtschaftspartnerschaft
        mit den karibischen Partnern anhand verschiedener Re-
        gelungen deutlich, und aus diesem Grund begrüßen wir
        den vorgelegten Entwurf zum Wirtschaftspartnerschafts-
        abkommen mit den CARIFORUM-Staaten .
        Gleich zu Beginn unterstreicht Artikel 1 die nachhal-
        tige Zielsetzung als Grundgedanken des Vertrags, indem
        die Eindämmung und Beseitigung von Armut zur obers-
        ten Priorität erklärt wird . Armutsbekämpfung steht vor
        dem Ziel der regionalen Integration und der wirtschaft-
        lichen Liberalisierung . Hierbei wird deutlich: Es bedarf
        vor allem politischer Reformen und Entscheidungen und
        nicht alleine handelspolitischer Maßnahmen .
        Ein wichtiges Instrument zur Armutsbekämpfung ist
        die in Artikel 7 festgehaltene Regelung der Entwick-
        lungszusammenarbeit . Dass Entwicklungszusammenar-
        beit in einem Freihandelsabkommen festgeschrieben ist,
        kann durchaus als ein wegweisender Ansatz bezeichnet
        werden. Diese kann finanzieller und nichtfinanzieller Art
        sein und so die CARIFORUM-Staaten bei der Durchfüh-
        rung des Abkommens unterstützen . Für eine tatkräftige
        Unterstützung hat die EU im 10 . Europäischen Entwick-
        lungsfonds bereits bedeutende Mittel zur Verfügung ge-
        stellt .
        Zusätzliche bilaterale Unterstützung für die Umset-
        zung des Abkommens und einen besseren Marktzugang
        zur EU erfolgte durch die Deutsche Gesellschaft für In-
        ternationale Zusammenarbeit von 2007 bis Dezember
        2015 . Dabei ging es darum, die Koordinierungsprozesse
        nationaler und regionaler Institutionen zu stärken und
        das Bewusstsein für die Umsetzung des Wirtschaftspart-
        nerschaftsabkommen zu schärfen . Das eindeutige ver-
        tragliche Bekenntnis und die konkrete Projektarbeit im
        Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sind ein deut-
        liches Zeichen für den nachhaltigen und fairen Anspruch,
        der mit diesem Abkommen verfolgt wird .
        Die CARIFORUM-Staaten sollen einen zoll- und quo-
        tenfreien Marktzugang erhalten, wodurch sie eine deut-
        lich bessere Chance haben, ihre Produkte zu exportieren .
        Ein verbesserter Zugang heimischer Güter und Dienst-
        leistungen zu bedeutenden Wirtschaftsräumen gehört mit
        zu den wichtigsten Zielen unserer karibischen Partner .
        Im Gegenzug müssen die karibischen Staaten nur ei-
        nen Marktzugang einräumen, wie er für eine WTO-Kon-
        formität erforderlich ist . Dieser Marktzugang wird nicht
        sofort erfolgen, sondern schrittweise über eine Frist von
        25 Jahren mit dem Ziel, über 80 Prozent der Importe von
        Beschränkungen zu befreien . Durch dieses etappenweise
        Öffnen des Marktes sollen die karibischen Staaten mit
        Augenmaß an das internationale Wirtschaftssystem her-
        angeführt werden, um so in die globale Wertschöpfungs-
        kette integriert zu werden .
        Hinzu kommt, dass es für die CARIFORUM-Staa-
        ten verschiedene „Schutzklauseln“ gibt, um sensible
        und weniger wettbewerbsfähige Wirtschaftszweige der
        heimischen Wirtschaft zu schützen . Beispielsweise wer-
        den landwirtschaftliche und Fischereiprodukte mit dem
        Ziel der Ernährungssicherung von einer Handelslibera-
        lisierung ausgeschlossen . Ein Indikator dafür, dass die
        Schutzklauseln funktionieren, ist die Tatsache, dass in
        den letzten neun Jahren, in denen das Abkommen bereits
        vorläufig angewendet wird, es nicht zur befürchteten
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619022
        (A) (C)
        (B) (D)
        Verdrängung der karibischen Produkte durch europäi-
        sche Produkte gekommen ist .
        Ebenfalls ein wichtiges Anliegen, das im Vertrag ver-
        ankert ist, betrifft die Umwelt- und Sozialstandards, wel-
        che in einem ausführlichen Kapitel im Vertrag definiert
        werden . Sie tauchen allerdings an verschiedenen Stellen
        im Vertragstext wieder auf . Beispielsweise werden in
        mehreren Artikeln Investitionsregelungen veranlasst, die
        zu einem explizit nachhaltigen Verhalten verpflichten.
        Dies macht deutlich, dass sie ein Querschnittsthema in
        allen Regelungsbereichen sind und so ebenfalls zu den
        nachhaltigen Rahmenbedingungen gehören .
        Das Kernanliegen des Wirtschaftspartnerschaftsab-
        kommens ist es, einen integrierten regionalen Markt in
        der Karibikregion zu schaffen . Dieser Prozess ist ein
        ambitioniertes, primär politisches Vorhaben, das Zeit
        verlangt und nicht von heute auf morgen Früchte trägt .
        Bereits durch die Verhandlungen dieses Wirtschaftspart-
        nerschaftsabkommens waren die karibischen Vertrags-
        partner intraregional gezwungen, sich über gemeinsame
        Handelsmaximen Gedanken zu machen . Allein dieser
        Dialog hat die Staaten einander nähergebracht .
        Das Abkommen will nicht nur Ziele postulieren, son-
        dern auch aktiv dessen Umsetzung überprüfen . In Arti-
        kel 5 ist ein regelmäßiges Überprüfen des Umsetzungs-
        prozesses in Form eines Monitorings festgeschrieben,
        um Entwicklungen, die in eine falsche Richtung laufen,
        rechtzeitig zu erkennen . In einem solchen Fall bietet die
        Revisionsklausel in Artikel 264 die Möglichkeit einer
        Anpassung der Zusammenarbeit . Durch diesen instituti-
        onellen und neuen Mechanismus in einem Freihandels-
        abkommen ist es möglich, auf Schwierigkeiten, die in der
        Praxis der schrittweisen Marktöffnung auftreten können,
        flexibel zu reagieren.
        Es sollte uns ein wichtiges Anliegen bleiben, im Dia-
        log mit unseren Partnern an ihren politischen Willen zu
        appellieren, Reformen durchzusetzen, ihre politisch-ad-
        ministrativen Strukturen zu stärken und private Akteure
        zu fördern, damit die im Wirtschaftspartnerschaftsab-
        kommen formulierten Ziele der Nachhaltigkeit konse-
        quent durchgesetzt werden und so soziale und Umwelt-
        standards bei der regionalen Integration der Karibik auch
        in der Praxis maßgeblich sind . Letztendlich sind die
        Entscheidungen für eine Ausgestaltung guter Rahmenbe-
        dingungen für fairen Handel politischer Natur . Dennoch
        setzt das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit seinen
        ausführlichen und ambitionierten Rahmenbedingungen
        zur Förderung von Nachhaltigkeit hier einen entschei-
        denden vertraglichen Ausgangspunkt und zeigt neue
        Wege auf, Nachhaltigkeit in einem Freihandelsabkom-
        men festzuschreiben .
        Das Wirtschaftsabkommen der EU mit den Mitglied-
        staaten der karibischen Gemeinschaft CARIFORUM
        macht in seiner jetzigen Form deutlich, dass Wirtschaft,
        Soziales und Umwelt Hand in Hand gehen können . Mit
        der Zustimmung zu dem Wirtschaftspartnerschaftsab-
        kommen wäre ein wichtiger und ambitionierter Schritt
        hin zu fairem Handel getan .
        Dr. Sascha Raabe (SPD): Wir beraten heute in ers-
        ter Lesung über das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
        zwischen der Europäischen Union und den CARIFO-
        RUM-Staaten . Das Abkommen ist bereits seit 2008 vor-
        läufig in Kraft und wird dem Deutschen Bundestag nun
        erst acht Jahre später zur Ratifizierung vorgelegt. Das ist
        ein bedenklicher Vorgang . Künftig müssen wir darauf
        achten, dass die Bundesregierung uns derartige Abkom-
        men früher zur Ratifizierung vorlegt. Oder wir müssen
        als Deutscher Bundestag selbst den Ratifizierungspro-
        zess in Gang setzen, was natürlich auch bedeuten kann,
        dass wir die Nicht-Ratifizierung ausdrücklich beschlie-
        ßen, um ein solches Abkommen wieder außer Kraft set-
        zen zu können . Mit Blick auf die aktuelle Debatte zu dem
        Handelsabkommen mit Kanada – CETA – beweist das
        Verfahren mit dem CARIFORUM-Abkommen, dass ge-
        mischte Handelsabkommen der EU sehr lange vorläufig
        in Kraft sein können, bevor sie endgültig demokratisch
        legitimiert vom Deutschen Bundestag ratifiziert werden.
        Die jetzige Situation ist aus demokratischer und parla-
        mentarischer Sicht sehr unbefriedigend . Denn natürlich
        wäre es nun deutlich schwieriger, ein derartiges Abkom-
        men wieder insgesamt außer Kraft zu setzen, nachdem
        es bereits acht Jahre lang vorläufig angewendet wurde.
        Trotzdem sollte es für uns keine Denkverbote in dieser
        Hinsicht geben, denn es ist nicht das Verschulden des
        Deutschen Bundestages, dass uns dieser Vertrag erst jetzt
        zur Ratifizierung vorgelegt wird. Und wir müssen als Ge-
        setzgeber nach bestem Wissen und Gewissen entschei-
        den, ob wir dieses Abkommen verantworten können .
        Ich finde, wir sollten uns mit dem Abkommen des-
        halb sehr ausführlich beschäftigen . Denn das CARI-
        FORUM-Abkommen ist ja nur das erste von mehreren
        Handelsabkommen mit den sogenannten AKP-Staaten
        im Rahmen der neuen Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
        men . Früher hatten diese Länder ja einseitigen zollfreien
        Zugang in die EU, und jetzt sollen es WTO-konforme
        reziproke Handelsabkommen werden . Ich mache keinen
        Hehl daraus, dass mir als Entwicklungspolitiker lieber
        gewesen wäre, die großteils sehr armen AKP-Staaten
        hätten auch weiterhin einseitig zollfreien Zugang zu den
        EU-Märkten haben können . An dieser Stelle verzichte
        ich aber auf weitere Ausführungen dazu, ob die EU wirk-
        lich seitens der WTO gezwungen war, solche neuen, ge-
        genseitigen Freihandelsabkommen abzuschließen . Fakt
        ist, dass uns jetzt ein Vertragstext vorliegt . Da das Ab-
        kommen schon acht Jahre in Kraft ist, eignet es sich sehr
        gut, nun genau zu prüfen, welche Auswirkungen sich
        auf die Partnerländer ergeben haben . Das erklärte ers-
        te Ziel dieses Wirtschaftspartnerschaftsabkommens ist
        es ja, „durch den Aufbau einer Handelspartnerschaft . . .
        zur Eindämmung und schließlich zur Beseitigung der
        Armut beizutragen .“ Ich habe deshalb dem federführen-
        den Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
        Entwicklung vorgeschlagen, dass wir ein Fachgespräch
        mit Experten durchführen sollten, um die bisherigen
        Auswirkungen des Abkommens mit speziellem Blick
        auf dieses Ziel der Armutsreduzierung zu evaluieren . Ich
        freue mich, dass alle Fraktionen dem zugestimmt haben .
        Wir sollten uns ausreichend Zeit für diese Beratungen
        nehmen, denn schließlich ist das Abkommen jetzt schon
        so lange vorläufig in Kraft, dass es auf ein paar Wochen
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19023
        (A) (C)
        (B) (D)
        mehr oder weniger bis zur Ratifizierung oder Nicht-Ra-
        tifizierung auch nicht mehr ankommt. Gründlichkeit
        sollte hier vor Schnelligkeit gehen, schließlich haben wir
        eine sehr wichtige Entscheidung zu treffen . Ich möch-
        te mich deshalb hier an dieser Stelle nicht länger über
        inhaltliche Aspekte auslassen . Das werde ich ausführ-
        lich in den Fachgesprächen, Ausschussberatungen und
        dann in der abschließenden Debatte zur zweiten/dritten
        Lesung machen . Ich möchte allerdings bereits jetzt da-
        rauf hinweisen, dass der Vertragstext für mich in einem
        sehr wichtigen Punkt Mängel aufweist . Ausgerechnet die
        Kapitel, in denen es um Umweltschutz und soziale As-
        pekte wie Arbeitnehmerrechte geht, sind nicht mit einem
        wirkungsvollen Sanktionsmechanismus versehen, so wie
        er für andere Kapitel des Abkommens gilt . Im Gegenteil
        wird selbst bei schwersten Verstößen gegen international
        vereinbarte ökologische und soziale Mindeststandards
        wie beispielsweise die acht ILO-Kernarbeitsnormen in
        Artikel 213 ausdrücklich ausgeschlossen, dass dies zur
        Aussetzung von Handelszugeständnissen führen darf .
        Meiner Meinung nach kann aber nur mit der Drohung ei-
        ner harten Sanktion bei Nichteinhaltung von grundlegen-
        den Arbeitnehmerrechten durchgesetzt werden, dass die
        Regierungen konsequent ihren Verpflichtungen aus den
        acht ILO-Kernarbeitsnormen nachkommen, um Kinder-
        arbeit und ausbeuterische, sklavenähnliche Arbeitsbedin-
        gungen zu beenden . Nur mit menschenwürdiger Arbeit
        zu fairen Löhnen lässt sich Armut beseitigen . Deshalb
        müssen wir den Vertragstext an dieser Stelle genau un-
        tersuchen und Nachbesserungen vor einer Ratifizierung
        einfordern .
        Ich danke für die Aufmerksamkeit und sehe den wei-
        teren Beratungen gespannt entgegen .
        Heike Hänsel (DIE LINKE): Heute, nach acht Jah-
        ren bereits vorläufig angewendetem Wirtschaftspartner-
        schaftsabkommen mit den karibischen Staaten, außer
        Haiti, will die Bundesregierung das Abkommen ratifizie-
        ren . Der Anlass erschließt sich nicht, warum jetzt? Wir
        waren damals, als es um den Abschluss des CARIFO-
        RUM-Abkommens ging, als ein regionales Abkommen
        der EPAs, der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit
        den AKP-Staaten, gegen alle Abkommen, die Freihan-
        delsabkommen sind . Bis heute wehren sich ja einige
        afrikanische Länder, wie zum Beispiel Tansania, gegen
        den Abschluss und die Erpressungsmethoden der EU im
        Rahmen dieses langjährigen Verhandlungsprozesses . Es
        sind noch nicht alle EPAs unter Dach und Fach, und das
        aus gutem Grund . Die Hauptkritikpunkte sind: unverant-
        wortliche Öffnung der afrikanischen Staaten für europä-
        ische Produkte, vor allem im Lebensmittelbereich, durch
        massive Zollsenkungen, Streichung von Exportsteuern,
        die den Export von Rohstoffen in die EU erleichtern
        werden, gleichzeitig aber eine eigene industrielle Ent-
        wicklung in Afrika behindern, Rendezvousklauseln in
        den jetzt ausgehandelten Abkommen, um nach bestimm-
        ten Fristen wieder verhandeln zu müssen über sensible
        Bereiche wie öffentliche Beschaffung, Dienstleistungen,
        nichttarifäre Handelshemmnisse, Schutz privaten Eigen-
        tums, Wettbewerb und Investitionsschutz . Wir kennen
        diese Begriffe ja von den Auseinandersetzungen um
        CETA und TTIP, nichts anderes bedeuten die EPAs für
        die Länder des Südens . Deshalb haben wir uns dagegen
        ausgesprochen . Wir setzen uns für einen gerechten, ent-
        wicklungsförderlichen Handel mit dem Süden ein . Das
        CARIFORUM-Abkommen, das nun seit acht Jahren
        existiert, bietet ja eigentlich die Chance, bevor es nun
        von der Bundesregierung ratifiziert wird, dass man sich
        erst mal genauer anschauen kann, was sich dadurch in
        den karibischen Staaten positiv oder negativ verändert
        hat . Es wäre doch wichtig, dass solch eine Initiative das
        Entwicklungsministerium ergreift; schließlich wurden
        den Staaten damals ja versprochen: Wir setzen das Gan-
        ze vorläufig in Kraft und prüfen dann regelmäßig, ob die
        Menschen im Süden davon profitieren. – Das wäre doch
        Ihre Aufgabe als Entwicklungsminister, sich dafür ein-
        zusetzen .
        Davon ist nun nichts mehr zu hören, und das ist ty-
        pisch im Bereich der Handelspolitik . Erst mal vorläu-
        fig in Kraft setzen und dann, wenn Gras über die Sache
        beziehungsweise Aufregung gewachsen ist, dann das
        Ganze zu ratifizieren. Dies können Sie vielleicht bei den
        karibischen Staaten machen, da diese leider wenig Auf-
        merksamkeit haben, aber ganz bestimmt nicht bei CETA
        und TTIP!
        Das CARIFORUM-Abkommen hat bisher die
        Dienstleistungen, Visabestimmungen und kulturel-
        le Zusammenarbeit von der vorläufigen Anwendung
        ausgenommen, da hier die nationalen Parlamente ge-
        fragt sind . Binnen zehn Jahren ab Anwendung (das
        wäre Ende 2018) sollen 61 Prozent der EU-Exporte bei
        CARIFORUM zollfrei sein, in 25 Jahren 87 Prozent .
        Das EU-CARIFORUM-EPA geht in vielen Bereichen
        weit über WTO-Standards hinaus . Viele dieser Aspekte
        haben dazu geführt, dass sich die afrikanischen EPAs
        so lange verzögert haben . Im CARIFORUM-EPA ist es
        der EU gelungen, umfassende Regeln zu Investitionen in
        grundsätzlich allen Wirtschaftsbereichen zu verankern,
        insbesondere bei Direktinvestitionen und im Dienstleis-
        tungssektor . Der wirtschaftspolitische Spielraum, heimi-
        sche Unternehmen in den karibischen Staaten gezielt im
        Wettbewerb mit überlegener ausländischer Konkurrenz
        zu fördern, wird weitgehend eingeschränkt . Das ist ja
        auch ein Ziel bei CETA und TTIP .
        Die bisherige Bilanz zeigt eher geringe zusätzliche
        Exportchancen für CARIFORUM-Staaten durch einen
        freien EU-Marktzugang . Das CARIFORUM-EPA geht
        besonders weit, und die Linke lehnt es deshalb ab .
        Die Praxis der vorläufigen Anwendung ist ein Unding
        und muss gestoppt werden!
        Es muss ein Moratorium und ein Fenster für Neuver-
        handlungen für die weitere Anwendung des EU-CARI-
        FORUM-EPA geben, zumindest für die Rendezvous-
        klausel und weitere Liberalisierungsschritte .
        Wir fordern, dass sich die Bundesregierung dafür ein-
        setzt, dass die Europäische Union ihre Handelspolitik so
        ausrichtet, dass sie eine nachhaltige und eigenständige
        wirtschaftliche Entwicklung in der Karibikregion unter-
        stützt . Dabei muss sie insbesondere darauf hinwirken,
        dass von späteren Verhandlungen über die Liberalisie-
        rung der Investitions- und Wettbewerbsregeln, des öf-
        Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619024
        (A) (C)
        (B) (D)
        Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com
        Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de
        Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
        fentlichen Beschaffungswesens sowie von öffentlichen
        Dienstleistungen abgesehen wird .
        Die Länder des Südens brauchen Spielraum für den
        Aufbau eigener Wertschöpfung in den Bereichen Land-
        wirtschaft, Industrie und Dienstleistungen . Dagegen ste-
        hen genau die EPAs und das CARIFORUM-EPA!
        Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
        acht Jahren ist nun das Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
        men zwischen der EU und den Karibik-Staaten in Kraft
        getreten, allerdings nur vorläufig. Die eigentliche Ratifi-
        zierung soll erst jetzt durch das vorgelegte Gesetz durch-
        geführt werden . Immerhin legt die Bundesregierung dem
        Parlament überhaupt ein Ratifizierungsgesetz vor. Das
        ist bei dieser Bundesregierung ja leider keine Selbst-
        verständigkeit . Sie erinnern sich: das Abkommen zwi-
        schen der EU und den westafrikanischen Staaten sollte
        ursprünglich am Parlament vorbei und nur vom Kabinett
        ratifiziert werden. Aber der Druck aus der Opposition
        zeigte Wirkung, und das EPA, sollte es irgendwann von
        allen Vertragsparteien unterzeichnet sein, kommt zur Ab-
        stimmung in dieses Hohe Haus . Alles andere wäre auch
        verfassungswidrig gewesen, dafür wären wir auch nach
        Karlsruhe gezogen .
        Nun aber zum eigentlichen Abkommen . Es hat bis-
        her nicht Wort gehalten . Die versprochene nachhalti-
        ge Entwicklung durch das Handelsabkommen für die
        Karibik-Staaten ist nicht mal in den Ansätzen zu er-
        kennen . Die Handelsströme haben sich zwischen den
        beiden Regionen so gut wie nicht verändert, weder ha-
        ben sich die Exporte der EU noch die Importe aus der
        Karibik verändert . Ein ernsthaftes Resümee ist deshalb
        auch schwer zu ziehen . Die Karibik-Staaten können auf-
        grund der Übergangsfristen ihren Markt derzeit noch
        schützen . Selbst die EU hatte sich noch bis 2015 etwa
        vor Zuckerimporten aus Übersee geschützt . Was bleibt,
        sind aber Vereinbarungen, die drohen eine nachhaltige
        Entwicklung zu verhindern . Und sie kommen erst in den
        nächsten Jahren zum Tragen . Am Ende werden die Kari-
        bik-Staaten fast 90 Prozent ihres Marktes liberalisieren .
        Das ist angesichts eines solch divergierenden Kräftever-
        hältnisses zwischen den europäischen und karibischen
        Staaten wenig nachhaltig noch angemessen . Klassische
        Schutzinstrumente wie die Exportsteuern sind verboten .
        Dabei könnten gerade diese dazu beitragen, die festge-
        fahrene Exportstruktur aufzubrechen . Zwar gibt es eini-
        ge Schutzmechanismen, die negative Effekte verhindern
        oder korrigieren sollen . Der Schutz junger Industrien soll
        allerdings auf zehn Jahre beschränkt bleiben, das ist mehr
        als realitätsfern und industriepolitischer Wahnsinn . Der
        Aufbau einer robusten Industrie bedarf weit mehr Zeit .
        Seit einem Jahr wird gebetsmühlenartig die Bekämp-
        fung von Fluchtursachen vorgetragen . Nur hat diese
        Bundesregierung ein falsches Verständnis von Flucht-
        ursachen . Die Bundesregierung bekämpft lieber Flücht-
        linge statt die Ursachen . Wer ernsthaft Fluchtursachen
        bekämpfen will, muss sich für eine gerechte Handelsord-
        nung einsetzen und nicht für EPAs, wie sie derzeit ausge-
        handelt sind . Wir müssen gewaltig umdenken, wenn wir
        der knapp einen Milliarde an Hungernden, den Millionen
        von Menschen auf der Flucht, den Hunderttausenden
        in den Textilfabriken ernsthaft begegnen wollen . Dafür
        müssen wir die globalen Strukturen verändern . Gerade
        ungerechter Handel ist die treibende Kraft für Ungleich-
        heit innerhalb und zwischen den Staaten und der Kol-
        benfresser für eine nachhaltige Entwicklung . Mit solchen
        Verträgen erhöht die EU und damit auch Deutschland
        den Fluchtdruck in vielen Ländern . Es fällt mir schwer
        zu glauben, dass diese Erkenntnis der Regierung und der
        Kommission nicht vorliegt . Nur fairer Handel ist freier
        Handel, nur dieser trägt dazu bei, die Fluchtursachen zu
        bekämpfen .
        190. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 4 Bundesverkehrswegeplan 2030
        TOP 5, ZP 2 Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes
        TOP 6, CETA-Abkommen
        ZP 3 CETA-Abkommen
        TOP 39 a und c CETA-Abkommen
        TOP 43, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 44, ZP 5 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        TOP 7 Bundesteilhabegesetz
        ZP 6 Aktuelle Stunde zur Situation in Syrien nach dem Angriff auf den VN-Hilfskonvoi
        TOP 8, ZP 7 Gesetz zu dem Übereinkommen von Paris
        TOP 13 Menschenrechtsverteidiger in Russland
        TOP 10 Gewinnkürzungen und -verlagerungen
        TOP 11 Kinderarmut
        TOP 12 Bundeswehreinsatz SEA GUARDIAN im Mittelmeer
        TOP 17 Förderung des Schienenverkehrs – Deutschland-Takt
        TOP 14 Bundesbesoldungs- und versorgungsanpassungsgesetz
        TOP 15 Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft
        TOP 16 Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen
        ZP 8 Auskunftsrecht der Presse gegenüber Bundesbehörden
        TOP 18 Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften
        TOP 19 Verwendung des Solidaritätszuschlages
        TOP 20 Elektronische Akte in Strafsachen
        TOP 21 Steuerliche Förderung von Elektromobilität
        TOP 22 Psychiatrische und psychosomatische Versorgung
        TOP 23 Verfahrensrechte von Beschuldigten imStrafverfahren
        TOP 25 Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes
        TOP 26 Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung
        TOP 27 Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch
        TOP 28 Bekämpfung neuer psychoaktiver Stoffe
        TOP 29 Abfallverbringungsrechtliche Vorschriften
        TOP 30 Gesetz zur Europäischen Kontopfändungsverordnung
        TOP 31 Änderung der Chemikalien-Klimaschutzverordnung
        TOP 32 Deutsch-indische Wissenschaftskooperation
        TOP 33 Neuregelung des Mikrozensus
        TOP 34 Neuregelung des Bundesarchivrechts
        TOP 35 Familienkassen des öffentlichen Dienstes
        TOP 36 Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie
        TOP 37 Partnerschaftsabkommenmit denCARIFORUM-Staaten
        Anlagen
        Anlage 1
        Anlage 2
        Anlage 3
        Anlage 4
        Anlage 5
        Anlage 6
        Anlage 7
        Anlage 8
        Anlage 9
        Anlage 10
        Anlage 11
        Anlage 12
        Anlage 13
        Anlage 14
        Anlage 15
        Anlage 16
        Anlage 17
        Anlage 18
        Anlage 19
        Anlage 20
        Anlage 21
        Anlage 22
        Anlage 23
        Anlage 24
        Anlage 25
        Anlage 26
        Anlage 27
        Anlage 28
        Anlage 29
        Anlage 30
        Anlage 31