Vizepräsidentin Claudia Roth
(A) (C)
(B) (D)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18903
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Böhmer, Dr . Maria CDU/CSU 22 .09 .2016
Bluhm, Heidrun DIE LINKE 22 .09 .2016
Gabriel, Sigmar SPD 22 .09 .2016
Heiderich, Helmut CDU/CSU 22 .09 .2016
Hellmich, Wolfgang SPD 22 .09 .2016
Hintze, Peter CDU/CSU 22 .09 .2016
Kofler, Dr. Bärbel SPD 22 .09 .2016
Lach, Günter CDU/CSU 22 .09 .2016
Launert, Dr . Silke CDU/CSU 22 .09 .2016
Lerchenfeld, Philipp
Graf
CDU/CSU 22 .09 .2016
Leyen, Dr . Ursula von
der
CDU/CSU 22 .09 .2016
Obermeier, Julia CDU/CSU 22 .09 .2016
Özoğuz, Aydan SPD 22 .09 .2016
Schlecht, Michael DIE LINKE 22 .09 .2016
Schmelzle, Heiko CDU/CSU 22 .09 .2016
Schmidt (Fürth),
Christian
CDU/CSU 22 .09 .2016
Steinbrück, Peer SPD 22 .09 .2016
Steinmeier, Dr . Frank-
Walter
SPD 22 .09 .2016
Widmann-Mauz,
Annette
CDU/CSU 22 .09 .2016
Willsch, Klaus-Peter CDU/CSU 22 .09 .2016
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Florian Pronold, Ulrike Bahr,
Klaus Barthel Dr. Karl-Heinz Brunner, Martin
Burkert, Sabine Dittmar, Christian Flisek, Gabriele
Fograscher, Uli Grötsch, Gabriela Heinrich,
Anette Kramme, Florian Post, Marianne Schieder,
Andreas Schwarz, Martina Stamm-Fibich, Claudia
Tausend und Carsten Träger (alle SPD) zu den na-
mentlichen Abstimmungen über
– den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
stoppen
(Tagesordnungspunkt 6 a)
und
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618904
(A) (C)
(B) (D)
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
sowie
– den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) ablehnen
(Tagesordnungspunkt 39 a)
(Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
Im vorliegenden Koalitionsantrag geht es nicht um
eine abschließende Abstimmung des Deutschen Bundes-
tages über CETA (Comprehensive Economic and Trade
Agreement (CETA) ‒ Für freien und fairen Handel). Wir
sehen in diesem Antrag aber einen Schritt in Richtung
einer Verbesserung des vorliegenden Vertragsentwurfs .
Es werden die schwerwiegenden Bedenken und Ableh-
nungsgründe beim Investitionsschutz, bei der wirksamen
Durchsetzung des Vorsorgeprinzips sowie von Standards
für Arbeit, Soziales, Umwelt und Daseinsvorsorge be-
nannt . Es wird der Wille formuliert, hierbei zu rechts-
wirksamen Ergänzungen in unserem Sinne zu kommen,
wie sie auch der SPD-Parteikonvent gefordert hatte .
Die Durchsetzung dieser Ziele soll sich durch das ge-
samte Verfahren der Beratungen ziehen, angefangen im
EU-Ministerrat, bis hin zur Ratifikation im Deutschen
Bundestag und Bundesrat . Auch spricht sich der An-
trag klar für transparente, schrittweise parlamentarische
Verfahren aus . Jeder Schritt ist dabei ergebnisoffen und
schließt die Möglichkeit eines Stopps oder einer Ableh-
nung ein .
Mit dem Koalitionsantrag Bundestagsdrucksa-
che . 18/9663 vom 20 . September 2016 zu CETA (Com-
prehensive Economic and Trade Agreement (CETA)
‒ Für freien und fairen Handel) ist eine Zustimmung zu
CETA nicht verbunden . Sie wäre für uns nach heutigem
Stand auch nicht möglich . Sie wäre nur dann denkbar,
wenn wesentliche Verbesserungen an dem Abkommen
am Ende des Prozesses rechtssicher festgehalten sind .
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Lothar Binding (Heidelberg),
Dr. Lars Castellucci, Dr. h. c. Gernot Erler, Michael
Gerdes, Christina Jantz-Herrmann, Steffen-
Claudio Lemme, Stefan Rebmann, Dr. Carola
Reimann, Dr. Dorothee Schlegel, Elfi Scho-
Antwerpes und Frank Schwabe (alle SPD) zu den
namentlichen Abstimmungen über
– den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
stoppen
(Tagesordnungspunkt 6 a)
und
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18905
(A) (C)
(B) (D)
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
sowie
– den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) ablehnen
(Tagesordnungspunkt 39 a)
(Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
Müssten wir heute über das Freihandelsabkommen
mit Kanada „CETA“ abstimmen, wir würden ablehnen .
Aber heute wird nicht über den Vertragstext des Abkom-
mens CETA abgestimmt .
Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu
geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie-
und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
MoveOn in den USA), vielen ver .di-Mitgliedern und an-
deren, die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren,
wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht
kommt, so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurden wir um
Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach
gut ist . In vielen anderen wurden wir um Ablehnung
gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung
der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsorge und des
Vorsorgeprinzips . Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht
der endgültige Vertragstext und alle rechtsverbindlichen
Ergänzungen zur Beschlussfassung im Bundestag vorlie-
gen, können die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und
Arbeitsplätze ebenso wenig begründen wie die anderen
ihre Befürchtungen .
Deshalb unsere stereotype Antwort: Wenn sich alle
Hoffnungen der Befürworter durch den Vertrag bestä-
tigen lassen, stimmen wir zu . Wenn sich alle Befürch-
tungen derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die uns
auffordern abzulehnen, bestätigen, lehnen wir ab . Das
entscheiden wir endgültig, wenn entscheidungsreife Vor-
lagen den Bundestag erreichen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
wahrgenommen werden und man fest im einmal gefällten
Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute Beispiele:
Nachdem Sigmar Gabriel mit der Kanadischen Handels-
ministerin Chrystia Freeland wichtige Verbesserungen
hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte,
hat Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
werkschaftsbundes (DGB), den auf dem SPD-Konvent
eingeschlagenen Weg unterstützt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
die schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihan-
delsabkommen sind, und anders als CDU und CSU, die
schon lange wissen, dass sie für diese Freihandelsab-
kommen sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion
einen intensiven Diskussions- und Abwägungsprozess
angestoßen und organisiert . In diesem von Bundeswirt-
schaftsminister Gabriel wesentlich getragenen Prozess
wurde der Ursprungstext so verändert, dass die Kritiker
der Ursprungstexte in Pro und Kontra zusammengeführt
werden . Dazu gab es einen großen SPD-Konvent, auf
dem wir die „roten Linien“ für eine Zustimmung zu den
aktuellen Freihandelsabkommen beschlossen haben . Wer
diese Veränderungen wahrnimmt, erkennt, wie wesent-
lich diese Änderungen für den Zusammenhalt unserer
Gesellschaft sind . Und damit ist nicht nur die deutsche
Gesellschaft gemeint . Unser Ziel ist, den Wohlstand aller
Menschen global zu fördern, nicht nur in Deutschland –
auch in Kanada und in allen europäischen Staaten sol-
len die Menschen profitieren. Mit Kanada verbindet uns
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618906
(A) (C)
(B) (D)
eine jahrelange politische wie auch wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit, die mit CETA nun weiter ausgebaut und
vertieft werden soll . Wenn Europa als Staatenverbund
mit 500 Millionen Einwohnern einen Vertrag verhandelt,
kann es viel mehr erreichen, als wenn ein Staat dies al-
leine tun würde . Bei solch kraftvollen Verbindungen gilt
es zu darauf zu achten, dass die Schwächsten nicht auf
der Strecke bleiben . Die schwächsten Menschen und die
schwächsten Staaten . Unter diesen Gesichtspunkten ist
das Interesse der schwächeren EU-Mitgliedsstaaten an
CETA gut zu verstehen .
Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
Verbesserungen enthält und das trotz der teils heftigen
und vorurteilsbeladenen Kritik der Pro- und Kontrasei-
ten, insbesondere die Einführung eines öffentlichen Han-
delsgerichtshofes – statt Schiedsgerichtsbarkeit –, auch
wenn Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie
etwa Wasser, Bildung oder Gesundheit, nun speziellen
Schutzregeln unterliegen, würden wir heute noch nicht
zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist,
Verträge erst dann zu beschließen, wenn alle für sie ein-
schlägigen rechtsverbindlichen Texte endgültig vorlie-
gen . Ein Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw . Ver-
handlungspartner mühelos akzeptieren kann .
Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
sein werden:
– Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
Arbeitnehmerrechte bekennen und sich (…) verpflich-
ten, Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung
der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsor-
ganisation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von
Interesse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden
oder nicht .
– Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
hier noch abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klärung
auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
stößt .
– Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüßen wir
sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
lige Interpretationen zu vermeiden .
– Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt-
und Verbraucherstandards müssen gewährleistet blei-
ben . Das im europäischen Primärrecht verankerte Vor-
sorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies muss
unmissverständlich klargestellt werden .“
– Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
Europäischen Kommission und der Bundesregierung
im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
beitet werden .
Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
mittelbar vor der heutigen Entscheidung, zitieren wir
nachfolgend aus einer Information meines Kollegen
Matthias Miersch:
„Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Art . 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Warum wir dem heutigen Koalitionsantrag zustimmen,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
in die Parlamente zu geben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18907
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Rüdiger Veit, Wolfgang Gunkel,
Ralf Kapschack, Dr. Birgit Malecha-Nissen, René
Röspel und Christoph Strässer (alle SPD) zu den
namentlichen Abstimmungen über
– den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
stoppen
(Tagesordnungspunkt 6 a)
und
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
sowie
– den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) ablehnen
(Tagesordnungspunkt 39 a)
(Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
Würde heute in der Sache über den derzeit vorliegen-
den Text von CETA abgestimmt, könnten wir nicht zu-
stimmen .
Auch haben wir erhebliche Zweifel, ob noch in rechts-
verbindlicher und belastbarer Form die notwendigen Er-
gänzungen des Vertragstextes oder etwaiger Zusatzver-
einbarungen erreicht werden können .
Trotzdem werden wir dem Antrag von CDU/CSU
und SPD zustimmen, um entsprechende Versuche hier-
zu nicht von vornherein auszuschließen . Den Anträgen
von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke,
die das Ergebnis solcher Verhandlungen vorwegnehmen,
werden wir daher nicht zustimmen .
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Birgit Kömpel und Dagmar
Schmidt (Wetzlar) (beide SPD) zu den namentli-
chen Abstimmungen über
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618908
(A) (C)
(B) (D)
– den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
stoppen
(Tagesordnungspunkt 6 a)
und
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
sowie
– den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) ablehnen
(Tagesordnungspunkt 39 a)
(Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
Müssten wir heute über das Freihandelsabkommen
mit Kanada „CETA“ abstimmen, wir würden ablehnen .
Aber heute wird nicht über den Vertragstext des Abkom-
mens CETA abgestimmt .
Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu
geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie-
und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
MoveOn in den USA), vielen ver .di-Mitgliedern und an-
deren, die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren,
wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht
kommt, so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurden wir um
Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach
gut ist . In vielen anderen wurden wir um Ablehnung
gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung
der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsorge und des
Vorsorgeprinzips . Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht
der endgültige Vertragstext und alle rechtsverbindlichen
Ergänzungen zur Beschlussfassung im Bundestag vorlie-
gen, können die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18909
(A) (C)
(B) (D)
Arbeitsplätze ebenso wenig begründen wie die anderen
ihre Befürchtungen .
Deshalb unsere stereotype Antwort: Wenn sich alle
Hoffnungen der Befürworter durch den Vertrag bestä-
tigen lassen, stimmen wir zu . Wenn sich alle Befürch-
tungen derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die uns
auffordern, abzulehnen, bestätigen, lehnen wir ab . Das
entscheiden wir endgültig, wenn entscheidungsreife Vor-
lagen den Bundestag erreichen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
wahrgenommen werden und man fest im einmal gefällten
Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute Beispiele:
Nachdem Sigmar Gabriel mit der kanadischen Handels-
ministerin Chrystia Freeland wichtige Verbesserungen
hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte,
hat Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
werkschaftsbundes (DGB), den auf dem SPD-Konvent
eingeschlagenen Weg unterstützt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion einen in-
tensiven Diskussions- und Abwägungsprozess angesto-
ßen und organisiert . In diesem von Bundeswirtschaftsmi-
nister Gabriel wesentlich getragenen Prozess wurde der
Text so verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in
Pro und Kontra zusammengeführt werden . Dazu gab es
einen großen SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Lini-
en“ für eine Zustimmung zu den aktuellen Freihandels-
abkommen beschlossen haben . Wer diese Veränderungen
wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese Änderungen
für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind . Und
damit ist nicht nur die deutsche Gesellschaft gemeint .
Unser Ziel ist, den Wohlstand aller Menschen global
zu fördern, nicht nur in Deutschland – auch in Kanada
und in allen europäischen Staaten sollen die Menschen
profitieren. Mit Kanada verbindet uns eine jahrelange
politische wie auch wirtschaftliche Zusammenarbeit,
die mit CETA nun weiter ausgebaut und vertieft werden
soll . Wenn Europa als Staatenverbund mit 500 Millionen
Einwohnern einen Vertrag verhandelt, kann es viel mehr
erreichen, als wenn ein Staat dies alleine tun würde . Bei
solch kraftvollen Verbindungen gilt es darauf zu ach-
ten, dass die Schwächsten nicht auf der Strecke bleiben .
Die schwächsten Menschen und die schwächsten Staa-
ten . Unter diesen Gesichtspunkten ist das Interesse der
schwächeren EU-Mitgliedstaaten an CETA gut zu ver-
stehen .
Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
Verbesserungen enthält und das trotz der teils heftigen
und vorurteilsbeladenen Kritik der Pro- und Kontra-Sei-
ten, insbesondere die Einführung eines öffentlichen Han-
delsgerichtshofes – statt Schiedsgerichtsbarkeit –, auch
wenn Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie
etwa Wasser, Bildung oder Gesundheit, nun speziellen
Schutzregeln unterliegen, würden wir heute noch nicht
zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist,
Verträge erst dann zu beschließen, wenn alle für sie ein-
schlägigen rechtsverbindlichen Texte endgültig vorlie-
gen . Ein Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw . Ver-
handlungspartner mühelos akzeptieren kann .
Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
sein werden:
– Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
Arbeitnehmerrechte bekennen und sich (…) verpflich-
ten, Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung
der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsor-
ganisation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von
Interesse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden
oder nicht .
– Oder wenn „Im weiteren Prozess (…) unbestimmte
Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
hier noch abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klärung
auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
stößt .
– Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich
sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
lige Interpretationen zu vermeiden .
– Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt-
und Verbraucherstandards müssen gewährleistet blei-
ben . Das im europäischen Primärrecht verankerte Vor-
sorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies muss
unmissverständlich klargestellt werden .“
– Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
beitet werden .
Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitieren wir
nachfolgend aus einer Information meines Kollegen
Matthias Miersch:
„Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unsere
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618910
(A) (C)
(B) (D)
Forderungen nicht erfüllt sind, werden wir CETA nicht
zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘, sicherge-
stellt werden, dass keine Bevorzugung von ausländi-
schen gegenüber inländischen Investoren oder Bürge-
rinnen und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte
somit auf die Diskriminierung gegenüber inländischen
Investoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Warum wir dem heutigen Koalitionsantrag zustimmen,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
in die Parlamente, zu geben .
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Klaus Mindrup und Detlev
Pilger (beide SPD) zu den namentlichen Abstim-
mungen über
– den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
stoppen
(Tagesordnungspunkt 6 a)
und
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
sowie
– den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18911
(A) (C)
(B) (D)
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) ablehnen
(Tagesordnungspunkt 39 a)
(Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
Der Beschluss des SPD-Konvents vom 19 . September
2016 enthält eine inhaltlich gute Bewertung des vorlie-
genden CETA-Vertragsentwurfs . Dieser Beschluss zeigt
deutlich, dass wir in der augenblicklichen Fassung von
CETA weit vom vermeintlichen „Goldstandard“ entfernt
sind, sogar tatsächlich wichtige „rote Linien“ reißen .
Verursacher ist dabei oftmals nicht die neue kanadische
Regierung, sondern die zuständige neoliberal agierende
Generaldirektion Handel der EU-Kommission . Die bis-
herige Haltung in den Gesprächen und Anhörungen der
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kommission hat
gezeigt, dass dort die notwendige Problemwahrnehmung
für die kritischen Punkte im Abkommen so gut wie nicht
vorhanden ist .
Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen ist
keine Zustimmung zu CETA in der vorliegenden Fas-
sung . Trotzdem können wir diesem Antrag nicht zustim-
men, da wir das Verfahren, erst im Ministerrat zuzustim-
men und danach Verbesserungen erreichen zu wollen, für
nicht zielführend halten .
Die Forderung, entweder unsere Verbesserungen in
das Abkommen zu verhandeln oder als einzige Alterna-
tive eine Außerkraftsetzung, wird dann auch gegenüber
unseren europäischen Partnern schwerer zu vermitteln
sein als jetzt, vor der Unterzeichnung des Vertrages .
Neben den Bedenken zum Verfahren haben wir auch
inhaltliche Bedenken .
Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet zu den ILO-
Kern arbeitsnormen die Formulierung des SPD-Konvents
nicht übernommen wurde .
Weiterhin fehlt eine wesentliche Formulierung zur
Einschränkung der neuen Gerichtsbarkeit im Verhältnis
inländische und ausländische Investoren und Bürger . Das
Klimaschutzabkommen von Paris wird ebenfalls nicht
thematisiert .
Die folgenden Formulierungen aus dem Konventsbe-
schluss in den Antrag wären für uns hier zwingend für
eine Zustimmung gewesen:
1 . „Im Bereich des Investorenschutzes muss mit
Blick auf die Rechtstatbestände, wie zum Bei-
spiel ‚faire und gerechte Behandlung‘ und ‚in-
direkte Enteignung‘ sichergestellt werden, dass
keine Bevorzugung von ausländischen gegen-
über inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte
somit auf die Diskriminierung gegenüber inlän-
dischen Investoren beschränkt werden .“
2 . „Anders als im Prozess der WTO ist es der Staa-
tengemeinschaft gelungen, im Jahr 2015 gemein-
sam globale Nachhaltigkeitsziele und das Pariser
Klimaschutzabkommen zu beschließen . Unter
Bezugnahme auf Artikel 24 .4 (Kapitel Handel
und Umwelt) ist durch die Vertragsparteien zu
betonen, dass diese Abkommen von großem Wert
sind und das CETA-Abkommen und die darin be-
schriebene Handels- und Wirtschaftspolitik sich
an diesen Zielen orientiert .“
3 . „Im Rahmen des Beratungsprozesses ist ein
Sanktionsmechanismus bei Verstößen der Part-
ner gegen Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards
zu entwickeln . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen
müssen ratifiziert werden. Der soziale Dialog ist
effektiv auszugestalten, sodass das Verfahren zur
Durchsetzung von Standards wirkungsvoll genug
ist und durch Sanktionsmöglichkeiten ergänzt
wird .“
Insgesamt wissen wir aber auch zu schätzen, was die
SPD-Fraktionsführung hier mit der Union erreicht hat .
Wir begrüßen ausdrücklich, dass in der Stellungnahme
deutlich zum Ausdruck kommt, dass der Deutsche Bun-
destag erst im Ratifizierungsverfahren abschließend
über seine Zustimmung zu CETA entscheiden wird, je
nachdem, ob unsere geforderten Änderungen nach unse-
rer Einschätzung umgesetzt wurden oder nicht . Deshalb
werden wir auch nicht gegen unseren Antrag stimmen
und nach außen betonen, dass die SPD-Fraktion mit
dieser Stellungnahme ausdrücklich nicht im Bundestag
CETA in der jetzt vorliegenden Form zugestimmt hat .
Den Anträgen von Linken und Grünen stimmen wir in
inhaltlich aus den eingangs skizzierten Erwägungen zum
weiteren Verfahren in ihrem Forderungsteil zu, nämlich
CETA jetzt nicht im Ministerrat zu unterzeichnen . Al-
lerdings können wir den inhaltlichen Begründungen bei
beiden Anträgen aus unterschiedlichen Gründen nicht
zustimmen . So werden in der Stellungnahme der Grünen
zu CETA die Arbeitnehmerrechte bzw . ILO-Kernarbeits-
normen gar nicht erwähnt, und bei den Linken finden
sich etliche falsche Behauptungen im Begründungsteil .
Im Ergebnis unserer Abwägung werden wir daher bei
allen drei Anträgen mit Enthaltung votieren .
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Markus Paschke und Kerstin
Tack (beide SPD) zu den namentlichen Abstim-
mungen über
– den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618912
(A) (C)
(B) (D)
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
stoppen
(Tagesordnungspunkt 6 a)
und
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
sowie
– den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) ablehnen
(Tagesordnungspunkt 39 a)
(Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
Müssten wir heute über das Freihandelsabkommen
mir Kanada „CETA“ abstimmen, wir würden ablehnen .
Aber heute wird nicht über den Vertragstext des Abkom-
mens CETA abgestimmt .
Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu
geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie
und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
MoveOn in den USA), ver .di-Mitgliedern und anderen,
die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren, wissen,
dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht kommt,
so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurden wir um
Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach
gut ist. In vielen anderen, häufig genug einfach kopier-
ten Briefen wurden wir um Ablehnung gebeten – gegen
Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur, Ge-
fährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprinzips .
Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht der endgültige
Vertragstext mit seinen rechtsförmlich wesentlichen Er-
gänzungen zur Beschlussfassung im Bundestag vorliegt,
können die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und Ar-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18913
(A) (C)
(B) (D)
beitsplätze ebenso wenig begründen wie die anderen ihre
Befürchtungen .
Deshalb unsere stereotype Antwort: Wenn sich alle
Hoffnungen der Befürworter durch den Vertragstext
bestätigen lassen, stimmen wir zu . Wenn sich alle Be-
fürchtungen derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die uns
auffordern, abzulehnen, bestätigen, lehnen wir ab . Das
entscheiden wir endgültig, wenn entscheidungsreife Vor-
lagen den Bundestag erreichen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
wahrgenommen werden und man fest im einmal gefäll-
ten Urteil stecken bleibt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
sind, haben SPD und SPD-Fraktion einen tiefen Diskus-
sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
siert . In diesem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
wesentlich getragenen Prozess wurde der Vertragstext
in seinen rechtlichen, sozialen und kulturellen Zielen so
verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro
und Kontra zusammengeführt werden . Wer diese Verän-
derungen wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese Än-
derungen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft die-
nen . Dazu gab es einen großen SPD-Konvent, auf dem
wir „rote Linien“ für eine Zustimmung zu den aktuellen
Freihandelsabkommen beschlossen haben .
Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
Verbesserungen enthält, insbesondere die Einführung
eines öffentlichen Handelsgerichtshofes –statt Schieds-
gerichtsbarkeit –, auch wenn Bereiche der öffentlichen
Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
sundheit, nun speziellen Schutzregeln unterliegen, wür-
den wir heute noch nicht zustimmen . Unsere Erfahrung
lehrt uns, dass es klug ist, Vertragstexte erst dann zu be-
schließen, wenn sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz,
den jeder faire Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mü-
helos akzeptieren kann .
Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
sein werden:
– Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
Arbeitnehmerrechte bekennen und (…) verpflichten,
Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung der
Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorgani-
sation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von Inte-
resse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden oder
nicht .
– Oder wenn „Im weiteren Prozess unbestimmte Rechts-
begriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch hier
noch zu verstehen, ob das gemeinsame Verständnis
dieser Klärung auf breite Zustimmung in der deut-
schen Bevölkerung stößt .
– Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüßen wir
sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
lige Interpretationen zu vermeiden .
– Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
nicht unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Um-
welt- und Verbraucherstandards müssen gewährleistet
bleiben . Das im europäischen Primärrecht veranker-
te Vorsorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies
muss unmissverständlich klargestellt werden .“
– Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
beitet werden .
Die Übersichtlichkeit und Bürgerfreundlichkeit des
ohnehin schon komplexen und langen Vertragstextes
wird durch weitere Regelungen und Vereinbarungen au-
ßerhalb des Vertrags weiter gemindert .
Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitieren wir
nachfolgend aus einer Information meines Kollegen
Matthias Miersch:
„Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z . B ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618914
(A) (C)
(B) (D)
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Warum wir dem heutigen Koalitionsantrag zustimmen,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
in die Parlamente, zu geben .
Anlage 8
Erklärungen nach § 31 GO
zu den namentlichen Abstimmungen über
– den Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst,
Matthias W. Birkwald, Susanna Karawanskij,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Gemeinwohl vor Konzerninteressen – CETA
stoppen
(Tagesordnungspunkt 6 a)
und
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
sowie
– den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) ablehnen
(Tagesordnungspunkt 39 a)
(Tagesordnungspunkte 6 a, ZP 3 und 39 a)
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18915
(A) (C)
(B) (D)
Heike Baehrens (SPD): Müsste ich heute über das
Freihandelsabkommen mir Kanada „CETA“ abstimmen,
ich würde ablehnen . Aber heute wird nicht über den Ver-
tragstext des Abkommens CETA abgestimmt .
Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente zu
geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungsfähig-
keit im Nichtwissen . Damit fällen sie ihr Urteil auf die
gleiche Weise wie der Bundesverband der Deutschen In-
dustrie (BDI), der Deutsche Industrie- und Handelskam-
mertag (DIHK), campact (nachgebildet MoveOn in den
USA), viele ver .di Mitglieder und andere, die schon seit
Monaten, einige schon seit Jahren, zu wissen meinen,
dass der Weltuntergang drohe, wenn CETA nicht kommt,
so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um
Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach
gut ist. In vielen anderen, häufig genug einfach kopierten
Briefen, wurde ich um Ablehnung gebeten – gegen
Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur, Ge-
fährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprinzips .
Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht der endgültige
Vertragstext und alle rechtsförmlich wesentlichen Ergän-
zungen zur Beschlussfassung im Bundestag vorliegen,
können die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und Ar-
beitsplätze ebenso wenig begründen wie die anderen ihre
Befürchtungen .
Meine Antwort darauf ist: Lasst uns gemeinsam die
Ziele formulieren, die wir erreichen wollen, und unse-
re Entscheidung treffen, wenn wir diese Ziele mit einem
endgültig vorliegenden Vertragstext abgleichen können .
Das Schwarz-Weiß-Denken bezüglich Handelsverträgen
ist nicht zweckmäßig . Vorrangig sind Handelsverträge
eine zivilisatorische Errungenschaft, die dazu dienen,
Staats- und Handelsbeziehungen gestaltbar und verläss-
lich machen . In dieser Eigenschaft können sie dazu ge-
nutzt werden, bestehende Verhältnisse zu verbessern und
gemeinsam Standards anzuheben . Das ist unser Ziel in
der SPD .
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen wissen schon
lange, dass sie gegen diese Freihandelsabkommen sind .
CDU und CSU wissen schon lange, dass sie für diese
Freihandelsabkommen sind . Als einzige Partei hat die
SPD einen tiefen Diskussions- und Abwägungsprozess
angestoßen und organisiert . Dazu gab es einen großen
SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Linien“ für eine
Zustimmung zu den aktuellen Freihandelsabkommen be-
schlossen haben . Dadurch hat die SPD den Boden dafür
bereitet, dass Kritiker zu Wort kommen und ein bereits
fertig verhandelter Vertrag noch einmal aufgeschnürt und
nachverhandelt werden konnte . In diesem von Bundes-
wirtschaftsminister Gabriel wesentlich getragenen Pro-
zess konnten Argumente von Kritikern und Befürwortern
zusammengebracht werden . Diese Veränderungen die-
nen dadurch ganz wesentlich dem Zusammenhalt unserer
Gesellschaft .
Und damit ist nicht nur die deutsche Gesellschaft ge-
meint . Unser Ziel ist es, den Wohlstand aller Menschen
global zu fördern, nicht nur in Deutschland – auch in
Kanada und in allen europäischen Staaten sollen die
Menschen profitieren. Mit Kanada verbindet uns eine
jahrelange politische wie auch wirtschaftliche Zusam-
menarbeit, die mit CETA nun weiter ausgebaut und ver-
tieft werden soll . Wenn Europa als Staatenverbund mit
500 Millionen Einwohnern einen Vertrag verhandelt,
kann es viel mehr erreichen, als wenn ein Staat dies al-
leine tun würde . Bei solch kraftvollen Verbindungen gilt
es, darauf zu achten, dass die Schwächsten nicht auf der
Strecke bleiben .
Das nun vorliegende Verhandlungsergebnis enthält
gegenüber den früheren Fassungen essenzielle Verbesse-
rungen, insbesondere die Einführung eines öffentlichen
Handelsgerichtshofes – statt Schiedsgerichtsbarkeit .
Doch für die Regelungen im Bereich der öffentlichen
Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
sundheit, die nun speziellen Schutzregeln unterliegen,
sehe ich beispielsweise noch weiteren Verhandlungsbe-
darf . Vertragstexte können aber erst dann abschließend
beurteilt und beschlossen werden, wenn sie ausverhan-
delt sind . Ein Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw .
Verhandlungspartner mühelos akzeptieren kann .
Wir als SPD haben klare Bedingungen für ein akzep-
tables CETA beschlossen . Diese Bedingungen werden
maßgeblich dafür sein, ob ich dem fertigen Vertragstext
zustimme oder nicht . Aus diesen Bedingungen ergeben
sich einige Bereiche, die nachzubessern sind . Dazu ge-
hört der Investorenschutz, der auf die Diskriminierung
gegenüber inländischen Investoren beschränkt werden
sollte . Genauso müssen der Vorrang des Vorsorgeprin-
zips fest verankert und die acht ILO Kernarbeitsnormen
ratifiziert werden. Auch muss klar gemacht werden, dass
die öffentliche Daseinsvorsorge von dem Vertrag ausge-
nommen ist .
Weder auf dem Konvent noch bei der heutigen Ab-
stimmung stimmen wir CETA endgültig zu . Mit dem
Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der SPD „Com-
prehensive Economic and Trade Agreement (CETA): Für
freien und fairen Handel“ – Drucksache 18/9663 – brin-
gen wir zum Ausdruck: „Der Deutsche Bundestag wird
im Lichte des weiteren Prozesses im Ratifizierungsver-
fahren abschließend über seine Zustimmung zu CETA
entscheiden .“
Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
in die Parlamente zu geben . Dem kann ich zustimmen .
Dr. Daniela De Ridder (SPD): Heute wird darü-
ber entschieden, ob wir den Bundeswirtschaftsminister
Sigmar Gabriel beauftragen, im Handelsministerrat der
EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf zu CETA
in die parlamentarischen Verfahren beziehungsweise in
die Parlamente zu geben . Es ist daher falsch, anzuneh-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618916
(A) (C)
(B) (D)
men, dass heute über den Vertragstext abgestimmt wird,
was gerne von Gegnern des geplanten Freihandelsab-
kommens kolportiert wird .
Persönlich betrachte ich CETA kritisch, möchte mich
aber den Vorteilen des Freihandelsabkommens und seiner
auch möglichen positiven Wirkungen nicht verschließen .
Wichtig ist mir, deutlich zu machen, dass ich meine end-
gültige Entscheidung fällen werde, wenn der Vertrags-
text tatsächlich zur Abstimmung vorliegt . Der Konvent
der SPD zu CETA war schließlich keine Beschlusslage
für das Freihandelsabkommen, sondern ein Auftrag zur
Verhandlung für den Bundeswirtschaftsminister Sigmar
Gabriel, bei gleichzeitiger Definition roter Linien. Dies
ist mir zur Klarstellung der heutigen Abstimmung beson-
ders wichtig .
Die „roten Linien“ werden durch den heutigen Ko-
alitionsantrag nicht überschritten, sondern sie zeugen
vielmehr davon, dass wir erfolgreich substanzielle Än-
derungen im öffentlichen Interesse in die Verhandlungen
einbringen konnten und werden, wenn da steht:
Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass sich die Ver-
tragsparteien zum Schutz der Arbeitnehmerrechte
bekennen und sich verpflichten, Anstrengungen zur
Ratifizierung und Umsetzung der Kernarbeitsnor-
men der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)
zu unternehmen .
Oder weiter:
Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass die von der
Bundesregierung eingebrachten Reformvorschläge
zur Schiedsgerichtsbarkeit von der EU-Kommis-
sion aufgenommen und in das Abkommen einge-
bracht worden sind . Im weiteren Prozess müssen
unbestimmte Rechtsbegriffe geklärt werden . Der
nunmehr eingeschlagene Weg zu einem öffentli-
chen Handelsgerichtshof ist aus europäischer Sicht
unumkehrbar und muss auch bei künftigen Handels-
abkommen verfolgt werden .
Besonders relevant ist für mich ebenfalls die Daseins-
vorsorge: Die Formulierung „…Spielräume von Kom-
munen zur Organisation der Daseinsvorsorge dürfen
nicht eingeschränkt und auch künftig nicht angetastet
werden. Es muss im weiteren Ratifikationsprozess si-
chergestellt werden, dass auch zukünftig kein Druck in
Richtung Liberalisierung von Dienstleistungen der öf-
fentlichen Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf…“ ist
zu begrüßen . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im
Vertragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
lige Interpretationen zu vermeiden .
Dass es noch Unklarheiten über „unbestimmte
Rechtsbegriffe“ und den Schutz sozialer Standards gibt,
sorgt dafür, dass ich mich jetzt nicht zu dem Freihandels-
abkommen bekennen kann . Deshalb möchte ich mich
dafür aussprechen, unseren Bundeswirtschaftsminister
Sigmar Gabriel damit zu beauftragen, die nächsten Ver-
handlungsschritte – unter Wahrung der von der SPD ge-
zogenen roten Linien – aufzunehmen . Nach diesen Er-
gebnissen, die dann im Rahmen des folgenden Prozesses
herauskommen, werde ich meine Entscheidung zur Zu-
stimmung oder Ablehnung treffen . Das untermauert der
heutige Antrag, wenn hier steht: „Der Deutsche Bundes-
tag wird im Lichte des weiteren Prozesses im Ratifizie-
rungsverfahren abschließend über seine Zustimmung zu
CETA entscheiden“ .
Aus diesem Grund votiere ich für den Koalitions-
antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD (Drucksa-
che 18/9663) und gegen die Anträge der Fraktionen DIE
LINKE (Drucksache 18/9665) und Bündnis 90/Die Grü-
nen (Drucksache 18/9621) .
Dr. Karamba Diaby (SPD): Der Deutsche Bundestag
entscheidet heute nicht über das europäisch-kanadische
Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt Stellung
zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein positi-
ves Votum im Europäischen Rat den Weg das weitere
Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament und
in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU eröffnen
soll .
Der aktuelle Entwurf von CETA stimmt nach meiner
Überzeugung mit der Beschlusslage der SPD noch nicht
überein . Des betrifft vor allem die Bereiche Investitions-
schutz, CETA-Ausschuss, Vorsorgegrundsatz, öffent-
liche Daseinsvorsorge und Arbeitnehmerrechte . Dem
aktuell vorliegenden CETA-Entwurf könnte ich deshalb
nicht zustimmen .
Mir ist wichtig, dass das weitere Verfahren unter
Beteiligung der nationalen Parlamente vollzogen wird .
Ebenso muss die Zivilgesellschaft einbezogen und in ei-
nem transparenten Verfahren mit Kanada ein faires End-
ergebnis verhandelt werden .
Die vorliegende Stellungnahme der Fraktionen von
SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er erkennt
die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungsprozes-
ses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch den
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht
worden sind . Er gibt der Bundesregierung im Minister-
rat die Möglichkeit der Zustimmung, greift in zentralen
Punkten jedoch die breit diskutierten Problemfelder des
vorliegenden Entwurfs auf und mahnt entsprechende
rechtsverbindliche Änderungen an . Er spricht sich dafür
aus, erst nach Zustimmung des Europäischen Parlaments
Teile des Abkommens vorläufig anzuwenden und fordert
in diesem Zusammenhang unter anderem das besonders
kontrovers diskutierte Kapitel über den Investitions-
schutz ganz von einer vorläufigen Anwendung auszu-
nehmen . Eine Gültigkeit dieses Kapitels wäre somit nur
möglich, wenn alle Parlamente innerhalb der EU zustim-
men .
Wichtig ist für mich zudem, dass die Stellungnah-
me der Bundestagsfraktionen von SPD und CDU/CSU
auch den oben beschriebenen Weg eines ausführlichen
Anhörungsverfahrens durch das Europäische Parlament
mit den nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesell-
schaft ermöglicht – wie ihn auch der SPD-Parteikonvent
am vergangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit
die Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensi-
ven Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch
gegenüberstehen, Lösungsansätze in den kontrovers dis-
kutierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18917
(A) (C)
(B) (D)
die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weite-
re Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen
betreffen . Soweit im Ministerrat diesbezüglich keine
sachgerechte Lösung gefunden wird, muss die Stellung-
nahme der kommunalen Spitzenverbände berücksichtigt
werden, nach der aufgrund der bislang unzureichenden
Klärung der Fragen über die Anwendbarkeit des Ver-
trages auf die öffentliche Daseinsvorsorge auch weitere
Bereiche von der vorläufigen Anwendung ausgeschlos-
sen werden müssen . Das gilt auch für die in CETA neu
geschaffenen Gremien, die auch in der Verfassungsbe-
schwerde problematisiert werden, die bezüglich des Ab-
kommens anhängig ist .
Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
Mitgliedsstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir sollten
zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
pauschales „Nein“ im Ministerrat nicht zielführend . Am
Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
Vor diesem Hintergrund lehne ich die Anträge der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ab
und stimme dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU und
SPD zu .
Saskia Esken (SPD): Heute entscheiden wir im
Bundestag nicht etwa darüber, ob wir dem Vertragstext
des Freihandelsabkommens mit Kanada (CETA) zustim-
men oder ihn ablehnen . Der Deutsche Bundestag ent-
scheidet heute, ob wir Bundeswirtschaftsminister Sigmar
Gabriel den Auftrag erteilen, im Handelsministerrat der
EU den aktuell vorliegenden CETA-Vertragsentwurf in
die parlamentarischen Verfahren zu geben . Erst im wei-
teren Prozess, im Ratifizierungsverfahren, werden wir
Bundestagsabgeordnete über eine mögliche Zustimmung
oder Ablehnung zu CETA entscheiden .
Ich stimme dem Antrag von CDU/CSU und SPD heute
zu . Ich bin davon überzeugt, dass die kritische Öffentlich-
keit uns den Weg dazu geöffnet hat, Freihandelsabkom-
men als Chance zu nutzen, die Globalisierung im Sinne
eines nicht völlig freien, weil fairen und sozialen Handels
zu gestalten, und das nicht nur zwischen Handelspartnern
auf Augenhöhe, sondern vor allem auch zwischen den
Wirtschaftsmächten und der sich entwickelnden Welt .
Ich stimme einer weiteren Beratung von CETA zu, weil
es der SPD und allen voran Sigmar Gabriel in den bis-
herigen Verhandlungen gelungen ist, das Abkommen in
wesentlichen Punkten zu verbessern: Ein wichtiges Bei-
spiel dafür ist sicher der eingeschlagene Weg zu einem
öffentlichen Handelsgerichtshof, der sich zum internati-
onalen Standard entwickeln könnte . Ebenso hat die neue
Regierung in Kanada in Aussicht gestellt, die Kernar-
beitsnormen der internationalen Arbeitsorganisation ILO
anzuerkennen und setzt damit eine wichtige Bedingung
für faire Produktions- und Handelsbedingungen um .
Die SPD und meine SPD-Bundestagsfraktion haben
zu CETA einen intensiven und guten Diskussions- und
Abwägungsprozess organisiert, und den führen wir auch
weiterhin –offen und transparent . Wir malen nicht ein-
fach schwarz oder weiß, wir diskutieren in der Sache,
überzeugen mit Argumenten und entwickeln unsere Po-
sition im Dialog mit den Menschen weiter .
Und dieser wichtige Meinungsbildungsprozess ist
nicht abgeschlossen, denn auch der Parteikonvent der
SPD hat am Sonntag in Wolfsburg nicht über CETA ab-
gestimmt, wie viele schreiben . Wie schon der Konvent im
Herbst 2014 und der Bundesparteitag im Dezember 2015
haben die Delegierten für die SPD klare Kriterien fest-
gelegt, die wir als Sozialdemokraten an die mögliche
Zustimmung zum Freihandelsabkommen und an den nun
vor uns liegenden Prozess knüpfen .
Klar sollte bei allen Diskussionen sein: Bevor nicht
sowohl der endgültige Vertragstext als auch die weiteren
Vereinbarungen dazu zur Beschlussfassung im Bundes-
tag vorliegen, können weder die einen ihre Hoffnung auf
Wachstum und Arbeitsplätze begründen noch die ande-
ren ihre Befürchtungen . Die klaren Bedingungen, die von
der SPD definiert und beschlossen wurden, sind am Ende
mein Maßstab und werden Maßstab für jeden SPD-Bun-
destagsabgeordneten sein; ich zitiere die folgenden vier
Punkte aus einer Information meines Abgeordnetenkolle-
gen Dr . Matthias Miersch:
– „Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick
auf die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Für mich und meine SPD-Bundestagsfraktion gilt die
Regel, dass die Wirtschaft den Menschen dient und nicht
umgekehrt . Und auch der globalisierte Markt bestimmt
seine Regeln nicht selbst, das ist und bleibt Aufgabe der
Politik . Die vielen kritischen Stimmen innerhalb und
außerhalb der SPD haben unsere Verhandlungsposition
gestärkt . Jedes Schreiben an einen Politiker lohnt sich, es
lohnt, auf die Straße zu gehen, es lohnt mitzureden .
Michael Groß (SPD): Müsste ich heute über das Frei-
handelsabkommen „CETA“ abstimmen, würde ich ableh-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618918
(A) (C)
(B) (D)
nen . Bei der heutigen Abstimmung wird aber nicht über
den Vertragstext des Abkommens CETA abgestimmt .
Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu
geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie
und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
MoveOn in den USA), ver .di Mitgliedern und anderen,
die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren, wissen,
dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht kommt,
so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um
Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach gut
ist . In vielen anderen Briefen wurde ich um Ablehnung
gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung
der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsorge und des
Vorsorgeprinzips . Es wurde und wird viel spekuliert . Be-
vor nicht der endgültige Vertragstext und alle rechtsver-
bindlichen Ergänzungen zur Beschlussfassung im Bun-
destag vorliegen, können die einen ihre Hoffnung auf
Wachstum und Arbeitsplätze ebenso wenig begründen
wie die anderen ihre Befürchtungen .
Deshalb meine Antwort: Wenn sich alle Hoffnungen
der Befürworter durch den Vertrag bestätigen lassen,
stimme ich zu . Wenn sich alle Befürchtungen derjenigen
Bürgerinnen und Bürger, die mich auffordern abzuleh-
nen, bestätigen, lehne ich ab . Eine alle Seiten beleucht-
ende Entscheidung kann ich nur verantwortlich treffen,
wenn die endgültigen Vorlagen den Deutschen Bundes-
tag erreichen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürch-
tung, dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten,
ja selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind,
kaum wahrgenommen werden und man fest im einmal
gefällten Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute
Beispiele: Nachdem Sigmar Gabriel mit der kanadischen
Handelsministerin wichtige Verbesserungen hinsichtlich
der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte, hat Reiner
Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschafts-
bundes den auf dem SPD-Konvent eingeschlagenen Weg
unterstützt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen,
die schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihan-
delsabkommen sind, und anders als CDU und CSU, die
schon lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkom-
men sind, hat die SPD als Partei und die SPD-Bundes-
tagfraktion einen tiefen sowie breiten Diskussions- und
Abwägungsprozess angestoßen und organisiert . In die-
sem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel wesentlich
getragenen Prozess, wurde der Vertragstext so verändert,
dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro und Kon tra
zusammengeführt werden . Dazu gab es einen großen
SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Linien“ für eine
Zustimmung zu den aktuellen Freihandelsabkommen be-
schlossen haben . Wer diese Veränderungen wahrnimmt,
erkennt, wie wesentlich diese Änderungen für den Zu-
sammenhalt unserer Gesellschaft sind . Und damit ist
nicht nur die deutsche Gesellschaft gemeint . Unser Ziel
ist, den Wohlstand aller Menschen global zu fördern,
nicht nur in Deutschland – auch in Kanada und in allen
europäischen Staaten sollen die Menschen profitieren.
Mit Kanada verbindet uns eine jahrelange politische wie
auch wirtschaftliche Zusammenarbeit, die mit CETA nun
weiter ausgebaut und vertieft werden soll . Wenn Europa
als Staatenverbund mit 500 Millionen Einwohnern ei-
nen Vertrag verhandelt, kann es viel mehr erreichen, als
wenn ein Staat dies alleine tun würde . Bei solch kraft-
vollen Verbindungen gilt es darauf zu achten, dass die
Schwächsten nicht auf der Strecke bleiben .
Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
Verbesserungen enthält, insbesondere die Einführung
eines öffentlichen Handelsgerichtshofes – statt Schieds-
gerichtsbarkeit –, auch wenn Bereiche der Öffentlichen
Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
sundheit, nun speziellen Schutzregeln unterliegen, würde
ich heute noch nicht zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt
uns, dass es klug ist, Verträge erst dann zu beschließen,
wenn sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz, den jeder
faire Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mühelos ak-
zeptieren kann .
Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
sein werden:
– Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
Arbeitnehmerrechte bekennen und sich … verpflich-
ten, Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung
der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsor-
ganisation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von
Interesse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden
oder nicht .
– Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
Rechtsbegriffe geklärt werden .“ müssen, so wäre auch
hier noch zu abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klä-
rung auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölke-
rung stößt .
– Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich
sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
lige Interpretationen zu vermeiden .
– Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt-
und Verbraucherstandards müssen gewährleistet blei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18919
(A) (C)
(B) (D)
ben . Das im europäischen Primärrecht verankerte Vor-
sorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies muss
unmissverständlich klargestellt werden .
– Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
beitet werden .
Klar ist, dass wir als Partei auf unserem Konvent nicht,
wie viele schreiben, für CETA gestimmt haben . Der Kon-
vent hat einen Antrag verabschiedet, der unsere Anfor-
derungen an das Abkommen und den vor uns liegenden
Prozess beschreibt . Es wurden auf dem Konvent klare
Bedingungen beschlossen, die am Ende Maßstab für je-
den SPD-Abgeordneten sind . Wenn unsere Forderungen
nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Ich stimme dem Antrag von CDU/CSU und SPD
„Comprehensive Economic and Trade Agreement
(CETA): Für freien und fairen Handel“ heute zu, weil er
garantiert, dass der Deutsche Bundestag im Lichte des
weiteren Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschlie-
ßend über seine Zustimmung zu CETA entscheiden wird .
Damit ist sichergestellt, dass ich im weiteren Verfahren
als Parlamentarier notwendige Änderungen begleiten
und bewirken kann . Die heutige Zustimmung ist eben
nicht eine Zustimmung zu CETA, sondern eine Zustim-
mung zum weiteren Verfahren, welches das Europäische
Parlament und die nationalstaatlichen Parlamente mit al-
len Rechten einbezieht .
Ulrich Hampel (SPD): Müsste ich heute über das
Freihandelsabkommen mit Kanada „CETA“ abstimmen,
ich würde ablehnen . Aber heute wird nicht über den Ver-
tragstext des Abkommens CETA abgestimmt .
Heute wird darüber entschieden, ob wir Bundeswirt-
schaftsminister Gabriel beauftragen, im Handelsminis-
terrat der EU-, den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf
CETA in die parlamentarischen Verfahren, in die Parla-
mente zu geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie-
und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
MoveOn in den USA), vielen ver .di Mitgliedern und an-
deren, die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren,
wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht
kommt, so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um
Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach gut
ist . In vielen anderen wurde ich um Ablehnung gebeten –
gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur,
Gefährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprin-
zips . Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht der endgültige
Vertragstext und alle rechtsverbindlichen Ergänzungen
zur Beschlussfassung im Bundestag vorliegen, können
die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze
ebenso wenig begründen wie die anderen ihre Befürch-
tungen .
Deshalb meine stereotype Antwort: Wenn sich alle
Hoffnungen der Befürworter durch den Vertrag bestäti-
gen lassen, stimme ich zu . Wenn sich alle Befürchtungen
derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die mich auffordern
abzulehnen, bestätigen, lehne ich ab . Das entscheide ich
endgültig, wenn entscheidungsreife Vorlagen den Bun-
destag erreichen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
wahrgenommen werden und man fest im einmal gefällten
Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute Beispiele:
Nachdem Sigmar Gabriel mit der Kanadischen Handels-
ministerin Chrystia Freeland wichtige Verbesserungen
hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte,
hat Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
werkschaftsbundes (DGB), den auf dem SPD Konvent
eingeschlagenen Weg unterstützt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion einen in-
tensiven Diskussions- und Abwägungsprozess angesto-
ßen und organisiert . In diesem von Bundeswirtschaftsmi-
nister Gabriel wesentlich getragenen Prozess, wurde der
Text so verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in
Pro und Kontra zusammengeführt werden . Dazu gab es
einen großen SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Lini-
en“ für eine Zustimmung zu den aktuellen Freihandels-
abkommen beschlossen haben . Wer diese Veränderungen
wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese Änderungen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618920
(A) (C)
(B) (D)
für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind . Und
damit ist nicht nur die deutsche Gesellschaft gemeint .
Unser Ziel ist, den Wohlstand aller Menschen global
zu fördern, nicht nur in Deutschland – auch in Kanada
und in allen europäischen Staaten sollen die Menschen
profitieren. Mit Kanada verbindet uns eine jahrelange
politische wie auch wirtschaftliche Zusammenarbeit,
die mit CETA nun weiter ausgebaut und vertieft werden
soll . Wenn Europa als Staatenverbund mit 500 Millionen
Einwohnern einen Vertrag verhandelt, kann es viel mehr
erreichen, als wenn ein Staat dies alleine tun würde . Bei
solch kraftvollen Verbindungen gilt es zu darauf zu ach-
ten, dass die Schwächsten nicht auf der Strecke bleiben .
Die schwächsten Menschen und die schwächsten Staa-
ten . Unter diesen Gesichtspunkten ist das Interesse der
schwächeren EU-Mitgliedstaaten an CETA gut zu ver-
stehen .
Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essentielle
Verbesserungen enthält und das trotz der teils heftigen
und vorurteilsbeladenen Kritik der Pro- und Kontrasei-
ten, insbesondere die Einführung eines öffentlichen Han-
delsgerichtshofes – statt Schiedsgerichtsbarkeit –, auch
wenn Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie
etwa Wasser, Bildung oder Gesundheit, nun speziellen
Schutzregeln unterliegen, würde ich heute noch nicht
zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug
ist, Verträge erst dann zu beschließen, wenn alle für sie
einschlägigen rechtsverbindlichen Texte endgültig vor-
liegen . Ein Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw . Ver-
handlungspartner mühelos akzeptieren kann .
Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
sein werden:
– Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
Arbeitnehmerrechte bekennen und sich … verpflich-
ten, Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung
der Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsor-
ganisation (ILO) zu unternehmen .“, so wäre doch von
Interesse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden
oder nicht .
– Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
hier noch abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klärung
auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
stößt .
– Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich
sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
lige Interpretationen zu vermeiden .
– Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt-
und Verbraucherstandards müssen gewährleistet blei-
ben . Das im europäischen Primärrecht verankerte Vor-
sorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies muss
unmissverständlich klargestellt werden .“
– Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
beitet werden .
Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
mittelbar vor der heutigen Entscheidung, zitiere ich nach-
folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
Miersch:
„Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden, ob
wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im Han-
delsministerrat der EU, den aktuell vorliegenden Ver-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18921
(A) (C)
(B) (D)
tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
in die Parlamente zu geben .
Sebastian Hartmann (SPD): Der Deutsche Bun-
destag entscheidet heute nicht über das europäisch-ka-
nadische Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt
Stellung zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein
positives Votum im Europäischen Rat den Weg für das
weitere Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parla-
ment und in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU
eröffnen soll .
Unter Bezug auf vor allem die Bereiche Investitions-
schutz, CETA-Ausschuss, Vorsorgegrundsatz, öffentli-
che Daseinsvorsorge und Arbeitnehmerrechte komme
ich zu dem Ergebnis, dass ich dem aktuell vorliegenden
CETA-Entwurf nicht zustimmen könnte . Aber heute wird
nicht über den Vertragstext des Abkommens CETA ab-
gestimmt .
Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und
CETA-Befürwortern innerhalb der SPD hat mein Kolle-
ge Dr . Matthias Miersch mit einem Papier vorgeschla-
gen, durch eine entsprechende Beschlussfassung im
Ministerrat das Europäische Parlament in die Lage zu
versetzen, das Verfahren unter Beteiligung der nationa-
len Parlamente an sich zu ziehen, die Zivilgesellschaft
einzubeziehen und in einem transparenten Verfahren mit
Kanada ein faires Ergebnis zu verhandeln . Er hat sich
ferner gegen die vorläufige Anwendung des Vertrages
ausgesprochen .
Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
kommens vorläufig anzuwenden, und fordert in diesem
Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme
der Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben
beschriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungs-
verfahrens durch das Europäische Parlament mit den
nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft
ermöglicht, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am ver-
gangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit die
Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensiven
Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch gegen-
überstehen, Lösungsansätze in den kontrovers disku-
tierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
treffen . Auch das sieht die vorliegende Stellungnahme
des Bundestages vor . Soweit im Ministerrat diesbezüg-
lich keine sachgerechte Lösung gefunden wird, muss
die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände
berücksichtigt werden, nach der aufgrund der bislang
unzureichenden Klärung der Fragen über die Anwend-
barkeit des Vertrages auf die öffentliche Daseinsvorsorge
auch weitere Bereiche von der vorläufigen Anwendung
ausgeschlossen werden müssen . Das gilt auch für die in
CETA neu geschaffenen Gremien, die auch in der Verfas-
sungsbeschwerde problematisiert werden, die bezüglich
des Abkommens anhängig ist .
Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
Mitgliedstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen
zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
pauschales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am
Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
Abschließend: Die Anträge der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen simulieren Ent-
scheidungsfähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie
sich in der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesver-
band der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen In-
dustrie- und Handelskammertag (DIHK), campact (nach-
gebildet MoveOn in den USA), vielen ver .di Mitgliedern
und anderen, die schon seit Monaten, einige schon seit
Jahren, wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn
CETA nicht kommt, so die einen, wenn CETA kommt,
so die anderen .
In Briefen wurde ich um Zustimmung zu TTIP, CETA
und TiSA gebeten – für Wachstum, Arbeitsplätze und
weil Freihandel einfach gut ist . In anderen wurde ich um
Ablehnung gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Pri-
vatisierung der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsorge
und des Vorsorgeprinzips . Es wurde viel spekuliert . Be-
vor nicht der endgültige Vertragstext und alle rechtsver-
bindlichen Ergänzungen zur Beschlussfassung im Bun-
destag vorliegen, können die einen ihre Hoffnung auf
Wachstum und Arbeitsplätze ebenso wenig begründen
wie die anderen ihre Befürchtungen .
Deshalb die stereotype Antwort: Wenn sich alle Hoff-
nungen der Befürworter durch den Vertrag bestätigen
lassen, stimme ich zu . Wenn sich alle Befürchtungen
derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die mich auffordern
abzulehnen, bestätigen, lehne ich ab . Das entscheide ich
endgültig, wenn entscheidungsreife Vorlagen den Bun-
destag erreichen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
wahrgenommen werden und man fest im einmal gefällten
Urteil stecken bleibt . Aber es gibt auch gute Beispiele:
Nachdem Sigmar Gabriel mit der kanadischen Handels-
ministerin Chrystia Freeland wichtige Verbesserungen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618922
(A) (C)
(B) (D)
hinsichtlich der Arbeitnehmerrechte erreichen konnte,
hat Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Ge-
werkschaftsbundes (DGB), den auf dem SPD-Konvent
eingeschlagenen Weg unterstützt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion einen in-
tensiven Diskussions- und Abwägungsprozess angesto-
ßen und organisiert . In diesem von Bundeswirtschaftsmi-
nister Gabriel wesentlich getragenen Prozess wurde der
Text so verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in
Pro und Kontra zusammengeführt werden . Dazu gab es
einen großen SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Lini-
en“ für eine Zustimmung zu den aktuellen Freihandels-
abkommen beschlossen haben . Wer diese Veränderungen
wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese Änderungen
für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind . Und
damit ist nicht nur die deutsche Gesellschaft gemeint .
Unser Ziel ist, den Wohlstand aller Menschen global
zu fördern, nicht nur in Deutschland – auch in Kanada
und in allen europäischen Staaten sollen die Menschen
profitieren. Mit Kanada verbindet uns eine jahrelange
politische wie auch wirtschaftliche Zusammenarbeit,
die mit CETA nun weiter ausgebaut und vertieft werden
soll . Wenn Europa als Staatenverbund mit 500 Millionen
Einwohnern einen Vertrag verhandelt, kann es viel mehr
erreichen, als wenn ein Staat dies alleine tun würde . Bei
solch kraftvollen Verbindungen gilt es zu darauf zu ach-
ten, dass die Schwächsten nicht auf der Strecke bleiben .
Die schwächsten Menschen und die schwächsten Staa-
ten . Unter diesen Gesichtspunkten ist das Interesse der
schwächeren EU-Mitgliedstaaten an CETA gut zu ver-
stehen .
Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist, Verträge
erst dann zu beschließen, wenn alle für sie einschlägi-
gen rechtsverbindlichen Texte endgültig vorliegen . Ein
Grundsatz, den jeder faire Vertrags- bzw . Verhandlungs-
partner mühelos akzeptieren kann .
Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Würde heute in
der Sache über den derzeit vorliegenden Text des
CETA-Freihandelsabkommens mit Kanada abgestimmt,
könnte ich nicht zustimmen . Aber heute wird nicht über
den Vertragstext des CETA-Abkommens bzw . das Ab-
kommen selbst abgestimmt . Über mein Votum zu CETA
entscheide ich, wenn entscheidungsreife Vorlagen den
Bundestag erreichen .
Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
der EU, den aktuell vorliegenden CETA-Vertragsentwurf
in das parlamentarische Verfahren zu geben, um darüber
weitere Verbesserungen zu erreichen .
In vielen Briefen wurde ich um Zustimmung zu CETA
gebeten – für Wachstum, Arbeitsplätze und Freihandel .
In vielen anderen wurde ich um Ablehnung gebeten –
gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur,
Gefährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprin-
zips . Es wurde viel spekuliert . Bevor nicht der endgültige
Vertragstext und alle rechtsverbindlichen Ergänzungen
zur Beschlussfassung im Bundestag vorliegen, können
die einen ihre Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze
ebenso wenig begründen wie die anderen ihre Befürch-
tungen .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
die schon lange wissen, dass sie gegen CETA sind, und
anders als CDU und CSU, die schon lange wissen, dass
sie für CETA sind, haben wir als SPD und SPD-Bun-
destagsfraktion einen intensiven Diskussions- und
Abwägungsprozess angestoßen und organisiert . Wir
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten können
durchaus selbstbewusst sagen, dass wir es waren, die
beim CETA-Abkommen bereits erhebliche Verbesserun-
gen erreicht haben: indem es beispielsweise auf Grundla-
ge unserer Beschlüsse und auf unsere politische Initiative
hin gelungen ist, private Schiedsgerichte in CETA ab-
zuschaffen und stattdessen einen öffentlich-rechtlichen
Investitionsgerichtshof einzurichten . Kanada hat zudem
inzwischen sieben von acht ILO-Kernarbeitsnormen ra-
tifiziert und ist auf dem Weg, auch die achte umzusetzen.
In der Debatte hat die SPD also einen sachbezogenen
Weg gewählt, anstatt sich pauschal auf ein Ja oder Nein
festzulegen . Ich bin davon überzeugt, dass die Globali-
sierung Regeln braucht, damit sie nicht zu einem Wett-
lauf der Standards nach unten führt . Ziel muss es sein,
gute Spielregeln festzulegen, die für alle Länder gelten .
Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und CETA-Be-
fürwortern innerhalb der SPD wurde vorgeschlagen,
durch eine entsprechende Beschlussfassung im Minister-
rat das Europäische Parlament in die Lage zu versetzen,
das Verfahren unter Beteiligung der nationalen Parla-
mente an sich zu ziehen, die Zivilgesellschaft einzube-
ziehen und in einem transparenten Verfahren mit Kanada
ein faires Ergebnis zu verhandeln .
Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
kommens vorläufig anzuwenden und fordert in diesem
Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18923
(A) (C)
(B) (D)
tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme
der Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben
beschriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungs-
verfahrens durch das Europäische Parlament mit den
nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft
ermöglicht, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am ver-
gangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit die
Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensiven
Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch gegen-
überstehen, Lösungsansätze in den kontrovers disku-
tierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
treffen . Auch das sieht die vorliegende Stellungnahme
des Bundestages vor . Soweit im Ministerrat diesbezüg-
lich keine sachgerechte Lösung gefunden wird, muss
die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände
berücksichtigt werden, nach der aufgrund der bislang
unzureichenden Klärung der Fragen über die Anwend-
barkeit des Vertrages auf die öffentliche Daseinsvorsorge
auch weitere Bereiche von der vorläufigen Anwendung
ausgeschlossen werden müssen . Das gilt auch für die in
CETA neu geschaffenen Gremien, die auch in der Verfas-
sungsbeschwerde problematisiert werden, die bezüglich
des Abkommens anhängig ist .
Ich hoffe, dass über diesen Weg noch in rechtsver-
bindlicher und belastbarer Form die notwendigen Ergän-
zungen des Vertragstextes oder etwaiger Zusatzverein-
barungen erreicht werden können . Daher werde ich dem
Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD zustim-
men, um entsprechende Versuche hierzu nicht von vorn-
herein auszuschließen . Den Anträgen von den Fraktionen
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die das Ergebnis
solcher Verhandlungen vorwegnehmen, werde ich daher
nicht zustimmen .
Das Abkommen wird durch die EU und ihre Mit-
gliedstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen zur
Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Ländern
der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen im
weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein pau-
schales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am Ende
des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und jeder
Abgeordnete entscheiden müssen, ob sie/er dem Abkom-
men zustimmt . Auch dafür hat der SPD-Parteikonvent
eindeutige Maßstäbe beschlossen .
Frank Junge (SPD): Heute wird darüber entschie-
den, ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen,
im Handelsministerrat der EU, den aktuell vorliegenden
Vertragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfah-
ren, in die Parlamente zu geben . Die Anträge der Frakti-
on Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
suggerieren, dass man sich bereits heute vollumfänglich
entscheiden könne, ohne sämtliche Details überhaupt
zu kennen. Damit machen sie sich in der Urteilsfindung
gemein mit dem Bundesverband der Deutschen Indus-
trie (BDI), dem Deutschen Industrie- und Handelskam-
mertag (DIHK), campact (nachgebildet MoveOn in den
USA), ver .di Mitgliedern und anderen, die schon seit
Monaten, einige schon seit Jahren, wissen, dass der Welt-
untergang droht, wenn CETA nicht kommt, so die einen,
wenn CETA kommt, so die anderen .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
sind, haben SPD und SPD Fraktion einen tiefen Diskus-
sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
siert . In diesem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
wesentlich getragenen Prozess wurde der Vertragstext
in seinen rechtlichen, sozialen und kulturellen Zielen so
verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro
und Kontra zusammengeführt werden . Wer diese Ver-
änderungen wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese
Änderungen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft
dienen . Dazu gab es einen großen SPD-Konvent, auf
dem wir die „roten Linien“ für eine Zustimmung zu den
aktuellen Freihandelsabkommen beschlossen haben .
Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitiere ich nach-
folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
Miersch:
„Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
Maßstab für jeden SPD Abgeordneten sind . Wenn unse-
re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618924
(A) (C)
(B) (D)
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
in die Parlamente, zu geben .
Cansel Kiziltepe (SPD): Der Beschluss des
SPD-Konvents vom 19 . September 2016 enthält eine
inhaltlich gute Bewertung des vorliegenden CETA Ver-
tragsentwurfs . Dieser Beschluss zeigt deutlich, dass wir
in der augenblicklichen Fassung von CETA weit vom
vermeintlichen „Goldstandard“ entfernt sind, sogar tat-
sächlich wichtige „rote Linien“ reißen . Verursacher ist
dabei oftmals nicht die neue kanadische Regierung, son-
dern die zuständige neoliberal agierende Generaldirekti-
on Handel der EU-Kommission . Die bisherige Haltung
in den Gesprächen und Anhörungen der Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen der Kommission hat gezeigt, dass dort
die notwendige Problemwahrnehmung für die kritischen
Punkte im Abkommen so gut wie nicht vorhanden ist .
Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen ist
keine Zustimmung zu CETA in der vorliegenden Fas-
sung . Trotzdem kann ich diesem Antrag nicht zustim-
men, da ich das Verfahren, erst im Ministerrat zuzustim-
men und danach Verbesserungen erreichen zu wollen, für
nicht zielführend halte .
Die Forderung, entweder unsere Verbesserungen in
das Abkommen zu verhandeln oder als einzige Alterna-
tive eine Außerkraftsetzung, wird dann auch gegenüber
unseren europäischen Partnern schwerer zu vermitteln
sein als jetzt, vor der Unterzeichnung des Vertrages .
Neben den Bedenken zum Verfahren habe ich auch
inhaltliche Bedenken .
Es ist bedauerlich, dass ausgerechnet zu den ILO-
Kern arbeitsnormen die Formulierung des SPD Konvents
nicht übernommen wurde .
Weiterhin fehlt eine wesentliche Formulierung zur
Einschränkung der neuen Gerichtsbarkeit im Verhältnis
inländische und ausländische Investoren und Bürger . Das
Klimaschutzabkommen von Paris wird ebenfalls nicht
thematisiert .
Die folgenden Formulierungen aus dem Konventsbe-
schluss in den Antrag wären für mich hier zwingend für
eine Zustimmung gewesen:
1 . „Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick
auf die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .“
2 . „Anders als im Prozess der WTO ist es der Staatenge-
meinschaft gelungen, im Jahr 2015 gemeinsam globa-
le Nachhaltigkeitsziele und das Pariser Klimaschutz-
abkommen zu beschließen . Unter Bezugnahme auf
Artikel 24 .4 (Kapitel Handel und Umwelt) ist durch
die Vertragsparteien zu betonen, dass diese Abkom-
men von großem Wert sind und das CETA-Abkommen
und die darin beschriebene Handels- und Wirtschafts-
politik sich an diesen Zielen orientiert .“
3 . „Im Rahmen des Beratungsprozesses ist ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards zu entwickeln .
Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ratifiziert
werden . Der soziale Dialog ist effektiv auszugestalten,
sodass das Verfahren zur Durchsetzung von Standards
wirkungsvoll genug ist und durch Sanktionsmöglich-
keiten ergänzt wird .“
Insgesamt weiß ich aber auch zu schätzen, was die
SPD-Fraktionsführung hier mit der Union erreicht hat .
Ich begrüße ausdrücklich, dass in der Stellungnahme
deutlich zum Ausdruck kommt, dass der Deutsche Bun-
destag erst im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden wird, je nach-
dem, ob unsere geforderten Änderungen nach unserer
Einschätzung umgesetzt wurden oder nicht .
Den Anträgen von Linken und Grünen stimme ich in-
haltlich aus den eingangs skizzierten Erwägungen zum
weiteren Verfahren in ihrem Forderungsteil zu, näm-
lich CETA jetzt nicht im Ministerrat zu unterzeichnen .
Allerdings kann ich den inhaltlichen Begründungen bei
beiden Anträgen aus unterschiedlichen Gründen nicht
zustimmen . So werden in der Stellungnahme der Grünen
zu CETA die Arbeitnehmerrechte bzw . ILO-Kernarbeits-
normen gar nicht erwähnt, und bei den Linken finden
sich etliche falsche Behauptungen im Begründungsteil .
Im Ergebnis meiner Abwägung werde ich daher bei
allen drei Anträgen mit Nein votieren .
Daniela Kolbe (SPD): Müsste ich heute über das
Freihandelsabkommen mit Kanada „CETA“ abstimmen,
ich würde ablehnen . Aber heute wird nicht über den Ver-
tragstext des Abkommens CETA abgestimmt .
Heute wird darüber entschieden, ob wir den Bundes-
wirtschaftsminister beauftragen, im Handelsministerrat
der EU den aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA
in die parlamentarischen Verfahren, in die Parlamente zu
geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
on Bündnis 90/ Die Grünen simulieren Entscheidungs-
fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie-
und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
MoveOn in den USA), manchen ver .di-Mitgliedern und
anderen, die schon seit Monaten, einige schon seit Jah-
ren, wissen, dass der Weltuntergang droht, wenn CETA
nicht kommt, so die einen, wenn CETA kommt, so die
anderen .
Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um
Zustimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für
Wachstum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach gut
ist . In vielen anderen wurde ich um Ablehnung gebeten –
gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Privatisierung der Kultur,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18925
(A) (C)
(B) (D)
Gefährdung der Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprin-
zips . Es wurde und wird viel spekuliert . Als frei gewählte
Abgeordnete sage ich: Ich entscheide endgültig, wenn
entscheidungsreife Vorlagen den Bundestag erreichen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt, wie die anderen an ihre Befürchtung,
dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
wahrgenommen werden und man fest im einmal gefäll-
ten Urteil stecken bleibt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen,
die schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihan-
delsabkommen sind, und anders als CDU und CSU, die
schon lange wissen, dass sie für diese Freihandelsab-
kommen sind, haben SPD und SPD-Bundestagsfraktion
einen intensiven Diskussions- und Abwägungsprozess
angestoßen und organisiert . In diesem von Bundeswirt-
schaftsminister Gabriel wesentlich getragenen Prozess
wurde der Vertragstext in seinen rechtlichen, sozialen
und kulturellen Zielen so verändert, dass die Kritiker
der Ursprungstexte in Pro und Kontra zusammengeführt
werden . Wer diese Veränderungen wahrnimmt, erkennt,
wie wesentlich diese Änderungen für den Zusammen-
halt unserer Gesellschaft sind . Dazu gab es einen großen
SPD-Konvent, auf dem wir die „roten Linien“ für eine
Zustimmung zu den aktuellen Freihandelsabkommen be-
schlossen haben .
Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
Verbesserungen enthält, insbesondere die Einführung
eines öffentlichen Handelsgerichtshofes – statt Schieds-
gerichtsbarkeit– , auch wenn Bereiche der öffentlichen
Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
sundheit, nun speziellen Schutzregeln unterliegen, würde
ich heute noch nicht zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt
uns, dass es klug ist, Vertragstexte erst dann zu beschlie-
ßen, wenn sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz, den
jeder faire Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mühelos
akzeptieren kann .
Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
sein werden:
Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
Arbeitnehmerrechte bekennen und sich verpflichten, An-
strengungen zur Ratifizierung und Umsetzung der Kern-
arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von Interesse, ob
die Anstrengungen Erfolg haben werden oder nicht .
Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
hier noch zu abzuwarten, ob das Ergebnis dieser Klärung
auf breite Zustimmung in der deutschen Bevölkerung
stößt .
Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung Li-
beralisierung von Dienstleistungen der öffentlichen Da-
seinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich sehr .
Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Vertragswerk
rechtlich fixiert sein, um später streitanfällige Interpreta-
tionen zu vermeiden .
Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Umwelt- und
Verbraucherstandards müssen gewährleistet bleiben . Das
im europäischen Primärrecht verankerte Vorsorgeprinzip
bleibt von CETA unberührt . Dies muss unmissverständ-
lich klargestellt werden .“
Mit der Formulierung „Der Deutsche Bundestag be-
grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindliche
Klärungen der noch offenen Fragen herbeizuführen, und
setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich die offene
Frage, warum „rechtsverbindliche Klärungen“ nicht ein-
fach in das Vertragswerk CETA eingearbeitet werden .
Die Übersichtlichkeit und Bürgerfreundlichkeit des
ohnehin schon komplexen und langen Vertragstextes
wird durch weitere Regelungen und Vereinbarungen au-
ßerhalb des Vertrags weiter gemindert .
Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitiere ich nach-
folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
Miersch:
„Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618926
(A) (C)
(B) (D)
Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ – Druck-
sache 18/9663 – in der letzten Feststellung des Bun-
destages: „Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des
weiteren Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschlie-
ßend über seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden,
ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im
Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden Ver-
tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
in die Parlamente, zu geben . Dem kann ich guten Gewis-
sens zustimmen .
Hiltrud Lotze (SPD): Würde heute in der Sache über
den derzeit vorliegenden Text von CETA abgestimmt,
könnte ich nicht zustimmen .
Ich spreche mich aber dafür aus, im parlamentarischen
Verfahren den vorliegenden Vertragstext durch Zusatz-
vereinbarungen zu ergänzen .
Nur so können wir den Vertragstext in unserem Sinne
beeinflussen. Dem heute vorliegenden Antrag von CDU/
CSU und SPD werde ich daher zustimmen, um entspre-
chende Versuche möglich zu machen . Den Anträgen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke, die
das Ergebnis solcher Verhandlungen vorwegnehmen,
werde ich daher nicht zustimmen .
Dr. Matthias Miersch (SPD): Der Deutsche Bun-
destag entscheidet heute nicht über das europäisch-ka-
nadische Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt
Stellung zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein
positives Votum im Europäischen Rat den Weg das wei-
tere Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament
und in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU er-
öffnen soll .
Im August habe ich eine Bewertung verfasst, in der ich
aufzeige, an welchen Stellen der aktuelle Entwurf von
CETA mit der Beschlusslage der SPD nach meiner Über-
zeugung nicht übereinstimmt . Ich habe mich vor allem
auf die Bereiche Investitionsschutz, CETA-Ausschuss,
Vorsorgegrundsatz, öffentliche Daseinsvorsorge und Ar-
beitnehmerrechte bezogen und komme zu dem Ergebnis,
dass ich dem aktuell vorliegenden CETA-Entwurf nicht
zustimmen könnte .
Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und CETA-Be-
fürwortern innerhalb der SPD habe ich in diesem Papier
vorgeschlagen, durch eine entsprechende Beschlussfas-
sung im Ministerrat das Europäische Parlament in die
Lage zu versetzen, das Verfahren unter Beteiligung der
nationalen Parlamente an sich zu ziehen, die Zivilgesell-
schaft einzubeziehen und in einem transparenten Verfah-
ren mit Kanada ein faires Ergebnis zu verhandeln . Ich
habe mich ferner gegen die vorläufige Anwendung des
Vertrages ausgesprochen .
Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
kommens vorläufig anzuwenden, und fordert in diesem
Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme
der Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben
beschriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungs-
verfahrens durch das Europäische Parlament mit den
nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft
ermöglicht, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am ver-
gangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit die
Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensiven
Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch gegen-
überstehen, Lösungsansätze in den kontrovers disku-
tierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
treffen . Auch das sieht die vorliegende Stellungnahme
des Bundestages vor . Soweit im Ministerrat diesbezüg-
lich keine sachgerechte Lösung gefunden wird, muss
die Stellungnahme der kommunalen Spitzenverbände
berücksichtigt werden, nach der aufgrund der bislang
unzureichenden Klärung der Fragen über die Anwend-
barkeit des Vertrages auf die öffentliche Daseinsvorsorge
auch weitere Bereiche von der vorläufigen Anwendung
ausgeschlossen werden müssen . Das gilt auch für die in
CETA neu geschaffenen Gremien, die auch in der Verfas-
sungsbeschwerde problematisiert werden, die bezüglich
des Abkommens anhängig ist .
Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
Mitgliedstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen
zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
pauschales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am
Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
Ulli Nissen (SPD): Die von Die Linke und von Bünd-
nis 90/Die Grünen vorgelegten Anträge vermitteln den
Eindruck, heute würde im Deutschen Bundestag über
CETA entschieden . Das ist nicht der Fall . Heute ent-
scheiden wir im Deutschen Bundestag darüber, ob wir
den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, den aktuell
vorliegenden Vertragsentwurf zu CETA in die parlamen-
tarischen Verfahren zu geben .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18927
(A) (C)
(B) (D)
Die EU-Kommission hatte vorgeschlagen, CETA als
gemischtes Abkommen abzuschließen . Das heißt, dass
nicht alle Teile des Abkommens in die gemeinsame Han-
delspolitik der EU fallen, sondern in der Zuständigkeit
der EU-Mitgliedstaaten verbleiben . Damit wird es nach
der Unterzeichnung von CETA im Rat einen umfassen-
den Ratifikationsprozess sowohl auf Ebene des Rates
und des Europäischen Parlaments als auch der nationalen
Parlamente der Mitgliedstaaten geben . Alle notwendigen
Dokumente und Informationen müssen transparent ge-
macht werden .
Die SPD hat auf ihren Parteitagen mehrmals die roten
Linien für die Freihandelsabkommen gezogen . Eine da-
von war die Garantie, dass das demokratische Recht, Re-
gelungen zum Schutz von Gemeinwohlzielen zu schaf-
fen, nicht gefährdet wird . Die Fähigkeit von Parlamenten
und Regierungen, Gesetze und Regeln zum Schutz und
im Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu erlassen, dürfe
auch nicht durch die Schaffung eines Regulierungsrates
erschwert werden, heißt es im Beschluss des SPD-Bun-
desparteitages .
Mit dem CETA Abkommen sollen nun eine Vielzahl
von Sondergremien geschaffen werden, deren Zusam-
mensetzung höchst fraglich ist . Zusätzlich sollen gesetz-
geberische Aktivitäten stets rechtzeitig vorher mit diesen
Gremien zurückgekoppelt werden . Damit wird die Ver-
abschiedung neuer Gesetze zum Beispiel zum Schutz der
Verbraucherinnen und Verbraucher deutlich erschwert .
Das schränkt die Souveränität der nationalen Parla-
mente ein . Deshalb lehne ich CETA in der jetzt vorlie-
genden Fassung ab . Das ist nur eine der roten Linien, die
ich für überschritten halte .
Um es klar zu sagen: Würde heute CETA im Parlament
abgestimmt, würde ich mit Nein stimmen . Wir stimmen
aber heute darüber ab, ob wir CETA in die parlamentari-
schen Verfahren geben . Nur hier kann es Nachverhand-
lungen und Veränderungen an CETA geben . Die Ergeb-
nisse werde ich prüfen, wenn CETA zur Abstimmung
im Deutschen Bundestag vorliegt . Sind die roten Linien
nach wie vor überschritten, werde ich mit Nein stimmen .
Ich werde mich bei der heutigen Abstimmung bei al-
len vorgelegten Anträgen enthalten . Bei den Oppositi-
onsanträgen, weil es heute nicht um die Verabschiedung
von CETA im Deutschen Bundestag geht . Beim Antrag
von CDU/CSU und SPD, weil ich keine positive Vorab-
festlegung mittragen will . Ich lasse mir den Weg für ein
späteres Nein im Deutschen Bundestag offen .
Dr. Sascha Raabe (SPD): Ich setze mich seit 2002
als Berichterstatter meiner Fraktion im Entwicklungsaus-
schuss für weltweit faire und gerechte Handelsbedingun-
gen ein . Ich bin davon überzeugt, dass nur ein fairer statt
freier Handel Hunger und Armut und damit auch Flucht-
ursachen überwinden kann . Fairer statt freier Handel be-
deutet, dass Handel nicht frei von menschenrechtlichen,
ökologischen und sozialen Kriterien sein darf, sondern
nur Waren gehandelt werden, bei deren Produktion fai-
re Bedingungen für Mensch und Umwelt gegeben sind .
Denn nur so kann verhindert werden, dass Unternehmen
und Konzerne sich ihre Standorte weltweit danach aussu-
chen, wo sie Mensch und Umwelt am meisten ausbeuten
können . Je fairer die Wettbewerbsbedingungen weltweit
sind, desto besser ist dies nicht zuletzt auch für deutsche
Arbeitsplätze und hiesige Löhne .
Entscheidend ist es deshalb, in allen Handelsverträ-
gen der Europäischen Union verbindliche menschen-
rechtliche, ökologische und soziale Kriterien wie die
acht ILO-Kernarbeitsnormen mit konkreten Beschwer-
de-, Überprüfungs- und Sanktionsmechanismen zu ver-
einbaren . Das ist im Grundsatz so im Koalitionsvertrag
festgelegt und explizite Beschlusslage der SPD-Bundes-
tagsfraktion . Von daher messe ich den Handelsvertrag
mit Kanada (CETA) besonders an diesen Kriterien . Auf
andere Aspekte vom Verbraucherschutz, Vorsorgeprinzip
bis zur öffentlichen Daseinsvorsorge, die mir ebenfalls
wichtig sind, gehe ich in der Begründung für mein Ab-
stimmungsverhalten hier nicht ein . Ich verweise hierzu
auf die inhaltlichen Forderungen des SPD-Parteikon-
ventsbeschlusses vom 19 . September . Ich teile ausdrück-
lich die dort formulierten Anforderungen, die noch in
CETA verbessert werden müssen . Andernfalls könnte
ich im Ratifikationsprozess später im Bundestag nicht
zustimmen, sondern ich würde CETA definitiv ablehnen.
In der heutigen Abstimmung geht es für den Deutschen
Bundestag aber nicht darum, für oder gegen CETA abzu-
stimmen, weil sich diese Entscheidung erst bei der Rati-
fizierung für uns stellt.
Heute geht es in den Anträgen von SPD/CDU/CSU,
Grünen und Linken um eine Stellungnahme des Deut-
schen Bundestages nach Artikel 23 GG . Hier können wir
der Bundesregierung unsere Empfehlungen mit auf den
Weg geben für ihr Handeln auf EU-Ebene . Konkret geht
es heute darum, welche Empfehlung der Bundestag der
Bundesregierung hinsichtlich der Frage gibt, ob und unter
welchen Bedingungen die Bundesregierung im Europäi-
schen Rat CETA in der jetzigen Form unterzeichnen soll .
Erst nach Unterzeichnung im Europäischen Rat und nach
positiver Beschlussfassung durch das Europäische Par-
lament (EP) käme CETA zur Ratifizierung in den Deut-
schen Bundestag . Dann hätte der Bundestag das letzte
Wort, ob er den dann endgültig vorliegenden Vertragstext
ratifiziert oder nicht. Falls der Deutsche Bundestag dann
nicht ratifiziert, würde der gesamte Vertrag dann wieder
außer Kraft gesetzt werden . Allerdings würde CETA so
lange großteils – zum Beispiel zollfreier Warenhandel –
vorläufig in Kraft bleiben, bis es eine Mehrheit im Bun-
destag, – oder einem anderen EU-Mitgliedstaat – für eine
Nichtratifizierung gibt.
Gemessen an den oben genannten Kriterien, inwie-
weit CETA ökologische und soziale Kriterien wie die
ILO-Kernarbeitsnormen verbindlich berücksichtigt,
ist der vorliegende Vertragstext für mich und auch laut
Parteikonventsbeschluss für meine Partei nicht zustim-
mungsfähig . Zwar ist es erfreulich, dass Kanada auf
unseren Druck hin nun auch die letzten beiden fehlen-
den ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert hat bzw. die letz-
te noch ausstehende Norm ratifizieren will. Allerdings
haben insbesondere die meisten Entwicklungs- und
Schwellenländer auch alle acht ILO-Kernarbeitsnormen
ratifiziert. Das Problem liegt dort nicht in der formalen
Ratifizierung, sondern in der fehlenden oder mangelhaf-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618928
(A) (C)
(B) (D)
ten Umsetzung . Deshalb ist es so entscheidend, konkrete
Beschwerde-, Überprüfung- und Sanktionsmechanismen
bei Nichteinhaltung von Umwelt- und Arbeitnehmer-
schutzbestimmungen zu verankern . Und wenn CETA
als „Goldstandard“ und Vorbild nachträglich bisherige
Abkommen und künftige Abkommen verbessern soll,
dann muss hierauf im Blick auf die laufenden Verhand-
lungen bzw. Ratifizierungsprozessse mit beispielsweise
Vietnam, Indien und den afrikanischen Staaten im Rah-
men der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen besonders
geachtet werden . Denn nur so können in diesen Ländern
Kinderarbeit unterbunden und umweltgerechte und men-
schenwürdige Arbeits- und Produktionsbedingungen
durchgesetzt werden .
Diesen Mangel am vorliegenden Vertragstext zu
CETA hat auch der SPD-Parteikonventsbeschluss er-
kannt und fordert deshalb ebenso wie die gemeinsame
Stellungnahme der Regierungsfraktionen nach Artikel
23 Nachbesserungen . Die Formulierungen im SPD-Par-
teikonventsbeschluss, in dem konkret die Ergänzung des
CETA-Vertrages um Sanktionsmöglichkeiten im Nach-
haltigkeitskapitel gefordert wird, sind hierzu ausdrück-
lich zu begrüßen . Die Formulierung im gemeinsamen
Antrag der Regierungsfraktionen ist hierzu leider auf-
grund des Widerstandes der Union etwas abgeschwächt
und interpretationsbedürftig .
Anstelle der im Parteikonventsbeschluss genann-
ten konkreten Forderung nach einem Sanktionsmecha-
nismus heißt es nun lediglich, dass „das Verfahren zur
Durchsetzung von Arbeits-Sozial- und Umweltstandards
wirkungsvoll sein muss“ . Das ist problematisch, da die
EU-Kommission in den bisherigen Handelsverträgen
einschl . CETA das dort jeweils vereinbarte „Dialogver-
fahren“ zur Konfliktlösung bereits als „wirkungsvoll“
ansieht . Ich möchte für mich und die SPD-Fraktion klar-
stellen, dass „wirkungsvoll“ für uns die Ergänzung durch
Sanktionsmöglichkeiten bedeutet .
In diesem Sinne kann ich die inhaltlichen Anforde-
rungen, die in dem gemeinsamen Antrag der Regie-
rungsfraktionen analog zum Parteikonventsbeschluss als
Voraussetzung für eine spätere Zustimmung im Ratifizie-
rungsverfahren durch den Deutschen Bundestag genannt
werden, nur voll unterstützen .
Unserem Antrag kann ich allerdings aus einem ande-
rem Grund nicht zustimmen: Ich halte das Verfahren –
das so leider auch im Parteikonventsbeschluss steht –
zunächst im Rat der Bundesregierung Zustimmung zur
Unterzeichnung des CETA-Vertragstextes zu empfehlen
und erst danach Verbesserungen bis zur Ratifikation durch
den Bundestag erreichen zu wollen, für nicht ausreichend
erfolgsversprechend . Zum einen ist es sehr fraglich, dass
sich im Europäischen Parlament Mehrheiten für alle von
uns als notwendig erachteten Verbesserungen finden wer-
den . Wobei das Europäische Parlament diese Verbesse-
rungen sowieso nicht direkt beschließen könnte, sondern
nur über die Drohung der Nichtratifizierung durch das EP
die Verhandlungspartner zu Nachbesserungen zwingen
könnte . Wenn das EP die von uns geforderten Verbesse-
rungen nicht durchsetzt und den Vertrag ratifiziert, könn-
ten wir zwar wie oben ausgeführt als Deutscher Bun-
destag sofort anschließend ebenfalls durch die Drohung
der Nichtratifizierung versuchen, Nachverhandlungen zu
erzwingen oder den Vertrag eben insgesamt wieder außer
Kraft setzen . Allerdings wäre auch hierfür eine Mehrheit
im Deutschen Bundestag erforderlich . Diese wird sowohl
für die Ratifizierung als auch für die Nicht-Ratifizierung
benötigt . Wenn für beide Fälle keine Mehrheit zustan-
de käme, bliebe CETA nach Ratifizierung durch das EP
auf unbestimmte Zeit in großen Teilen vorläufig in Kraft
bis entweder alle Mitgliedsstaaten ratifizieren oder ein
Mitgliedstaat ausdrücklich nicht ratifiziert. Es könnte
also passieren, dass die Wirtschaft viele Jahre lang be-
reits mit Beginn der vorläufigen Anwendung vom Ge-
winn des zollfreien Handels profitieren würde, aber die
im Gegenzug von uns geforderten Verbesserungen und
Garantien beim Schutz von Arbeitnehmerrechten und
Umweltschutz vertraglich nicht abgesichert wären . Und
ob es dann nach vielen Jahren realistisch durchsetzbar
und unseren europäischen und kanadischen Partnern zu
vermitteln wäre, den Vertrag insgesamt wieder komplett
außer Kraft zu setzen, halte ich für äußerst fraglich . Des-
halb wäre es sinnvoller, jetzt der Bundesregierung zu
empfehlen, so lange im Rat den Vertragstext nicht zu
unterzeichnen, bis die von uns richtigerweise genannten
inhaltlichen Verbesserungen erfolgt sind .
Da ich im Antrag der Regierungsfraktionen das vor-
geschlagene Verfahren nicht mittragen kann, werde ich
dem Antrag nicht zustimmen . Ich werde ihn aber auch
nicht ablehnen, weil ich die inhaltlichen Punkte, die als
Nachbesserungen gefordert werden und zu deren Durch-
setzung und Klarstellung die Bundesregierung auf euro-
päischer Ebene in dem Antrag aufgefordert wird, analog
des Parteikonventsbeschlusses ausdrücklich unterstütze .
Deshalb werde ich mich im Ergebnis bei diesem Antrag
enthalten .
Ich werde mich auch bei den Anträgen von Linken
und Grünen enthalten, aber mit fast genau umgekehrter
Begründung .
Den Anträgen von Linken und Grünen stimme ich
aus den genannten Erwägungen zum weiteren Verfahren
in ihrem Forderungsteil insoweit hinsichtlich der Emp-
fehlung zu, CETA jetzt noch nicht im Ministerrat zu
unterzeichnen . Allerdings kann ich den inhaltlichen Be-
gründungen bei beiden Anträgen aus unterschiedlichen
Gründen nicht zustimmen . So werden in der Stellung-
nahme der Grünen zu CETA die ILO-Kernarbeitsnormen
und entsprechende Durchsetzungs- und Sanktionsmög-
lichkeiten gar nicht erwähnt, und bei den Linken finden
sich einfach etliche falsche Behauptungen im Begrün-
dungsteil ihrer Stellungnahme .
Unter dem Strich ergibt sich deshalb für mich eine
Enthaltung bei allen Anträgen .
Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Heute wird
darüber entschieden, ob wir den Bundeswirtschaftsmi-
nister beauftragen, im Handelsministerrat der EU den
aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA in die par-
lamentarischen Verfahren, in die Parlamente zu geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18929
(A) (C)
(B) (D)
der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie
und Handelskammertag (DIHK), campact und anderen,
die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren, wissen,
dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht kommt,
so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
In vielen Briefen wurde ich um Zustimmung zu TTIP,
CETA und TiSA gebeten – für Wachstum, Arbeitsplätze
und weil Freihandel einfach gut ist . In vielen anderen,
häufig genug einfach kopierten Briefen, wurde ich um
Ablehnung gebeten – gegen Schiedsgerichtsbarkeit, Pri-
vatisierung der Kultur, Gefährdung der Daseinsvorsor-
ge und des Vorsorgeprinzips . Es wurde viel spekuliert .
Doch bevor nicht der endgültige Vertragstext mit sei-
nen rechtsförmlich wesentlichen Ergänzungen zur Be-
schlussfassung im Bundestag vorliegt, können die einen
ihre Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze ebenso
wenig begründen, wie die anderen ihre Befürchtungen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
wahrgenommen werden und man fest im einmal gefäll-
ten Urteil stecken bleibt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
sind, haben SPD und SPD Fraktion einen tiefen Diskus-
sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
siert . In diesem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
wesentlich getragenen Prozess wurde der Vertragstext
in seinen rechtlichen, sozialen und kulturellen Zielen so
verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro
und Kontra zusammengeführt werden . Wer diese Ver-
änderungen wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese
Änderungen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft
dienen . Dazu gab es einen großen SPD-Konvent, auf
dem wir die „roten Linien“ für eine Zustimmung zu den
aktuellen Freihandelsabkommen beschlossen haben .
Aber selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungs-
ergebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
Verbesserungen enthält, insbesondere die Einführung
eines öffentlichen Handelsgerichtshofes –statt Schieds-
gerichtsbarkeit –, auch wenn Bereiche der öffentlichen
Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Ge-
sundheit, nun speziellen Schutzregeln unterliegen, würde
ich heute noch nicht zustimmen können . Die Erfahrung
lehrt, dass es klug ist, Vertragstexte erst dann zu beschlie-
ßen, wenn sie endgültig vorliegen .
Heute wird zunächst darüber entschieden, ob wir den
Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im Handelsmi-
nisterrat der EU, den aktuell vorliegenden Vertragsent-
wurf CETA in die parlamentarischen Verfahren zu geben .
Deshalb stimme ich dem heutigen Koalitionsantrag
zu .
Damit bleibt es dabei: Der Deutsche Bundestag wird
erst im Lichte des weiteren Prozesses im Ratifizierungs-
verfahren abschließend über seine Zustimmung zu CETA
entscheiden können .
Dr. Nina Scheer (SPD): Der Deutsche Bundestag
entscheidet heute nicht über das europäisch-kanadische
Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt Stellung
zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein positives
Votum im Europäischen Rat den Weg das weitere Ra-
tifizierungsverfahren im Europäischen Parlament und in
den Parlamenten der Mitgliedsstaaten der EU eröffnen
soll .
Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
von CDU/CSU und SPD ermöglicht diesen Weg . Er er-
kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
kommens vorläufig anzuwenden und fordert in diesem
Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
Die Stellungnahme der Fraktionen von CDU/CSU und
SPD ermöglicht den oben beschriebenen Weg eines aus-
führlichen Anhörungsverfahrens durch das Europäische
Parlament mit den nationalen Parlamenten und mit der
Zivilgesellschaft, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent
am vergangenen Montag gefordert hat . Europa hat da-
mit die Chance, neue Wege zu gehen und in einem inten-
siven Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch
gegenüberstehen, Lösungsansätze in den kontrovers dis-
kutierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
treffen .
Insofern stimme ich mit Ja zum Antrag von CDU/CSU
und SPD und mit Nein zum den Oppositionsanträgen
Udo Schiefner (SPD): Heute wird nicht über den
Vertragstext des CETA-Abkommens abgestimmt . Heute
wird darüber entschieden, ob wir den Bundeswirtschafts-
minister beauftragen, im Handelsministerrat der EU, den
aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA in die parla-
mentarischen Verfahren zu geben .
Die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wollen mit ihren Anträgen heute etwas ableh-
nen, dessen Details sie gar nicht kennen . Damit machen
sie sich in der Urteilsfindung gemein mit dem Bundes-
verband der Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen
Industrie und Handelskammertag (DIHK), campact
(nachgebildet MoveOn in den USA), ver .di Mitglie-
dern und anderen, die schon seit Monaten, einige schon
seit Jahren, wissen dass der Weltuntergang droht, wenn
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618930
(A) (C)
(B) (D)
CETA nicht kommt, so die einen, wenn CETA kommt,
so die anderen .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen Freihandelsabkom-
men sind, und anders als CDU und CSU, die schon lange
wissen, dass sie für Freihandelsabkommen sind, haben
SPD und SPD-Bundestagsfraktion einen tiefgreifenden
Diskussions- und Abwägungsprozess angestoßen und
organisiert .
Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist, über Ver-
tragstexte erst dann zu befinden, wenn sie vorliegen. Die
SPD hat auf ihrem Konvent Anfang dieser Woche nicht
für CETA gestimmt, sondern unsere Anforderungen an
das Abkommen definiert und den nun vor uns liegenden
Prozess beschrieben . Wir haben ganz klare Bedingungen
beschlossen, die Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten
sein sollten. Wenn unsere Forderungen im finalen Ver-
tragstext nicht Rechnung getragen wird, werde ich CETA
nicht zustimmen .
Dem heutigen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD „Comprehensive Economic and Trade
Agreement (CETA): Für freien und fairen Handel“ werde
ich zustimmen, denn mit ihm wird klar festgelegt: „Der
Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren Prozes-
ses im Ratifizierungsverfahren abschließend über seine
Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Ursula Schulte (SPD): Heute wird darüber entschie-
den, ob wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen,
im Handelsministerrat der EU den aktuell vorliegenden
Vertragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfah-
ren, in die Parlamente, zu geben .
Die Anträge der Fraktion Die Linke und der Frakti-
on Bündnis 90/Die Grünen simulieren Entscheidungs-
fähigkeit im Nichtwissen . Damit machen sie sich in
der Urteilsfindung gemein mit dem Bundesverband der
Deutschen Industrie (BDI), dem Deutschen Industrie
und Handelskammertag (DIHK), campact (nachgebildet
MoveOn in den USA), ver .di Mitgliedern und anderen,
die schon seit Monaten, einige schon seit Jahren, wissen,
dass der Weltuntergang droht, wenn CETA nicht kommt,
so die einen, wenn CETA kommt, so die anderen .
Ein Blick zurück: In vielen Briefen wurde ich um Zu-
stimmung zu TTIP, CETA und TiSA gebeten – für Wachs-
tum, Arbeitsplätze und weil Freihandel einfach gut ist . In
vielen anderen, häufig genug einfach kopierten Briefen,
wurde ich um Ablehnung gebeten – gegen Schiedsge-
richtsbarkeit, Privatisierung der Kultur, Gefährdung der
Daseinsvorsorge und des Vorsorgeprinzips . Es wurde viel
spekuliert . Bevor nicht der endgültige Vertragstext mit
seinen rechtsförmlich wesentlichen Ergänzungen zur Be-
schlussfassung im Bundestag vorliegt, können die einen
ihre Hoffnung auf Wachstum und Arbeitsplätze ebenso
wenig begründen, wie die anderen ihre Befürchtungen .
Deshalb meine stereotype Antwort: Wenn sich mög-
lichst viele Hoffnungen der Befürworter durch den Ver-
tragstext bestätigen lassen, stimme ich zu . Wenn sich alle
Befürchtungen derjenigen Bürgerinnen und Bürger, die
mich auffordern, abzulehnen, bestätigen, lehne ich ab .
Das entscheide ich endgültig, wenn entscheidungsreife
Vorlagen den Bundestag erreichen .
Über die Jahre haben sich die einen so sehr an ihre
Hoffnung gewöhnt wie die anderen an ihre Befürchtung,
dass riesige Veränderungen in den Vertragstexten, ja
selbst jene, die Ergebnis des eigenen Erfolgs sind, kaum
wahrgenommen werden und man fest im einmal gefäll-
ten Urteil stecken bleibt .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
sind, haben SPD und SPD Fraktion einen tiefen Diskus-
sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
siert . In diesem von Bundeswirtschaftsminister Gabriel
wesentlich getragenen Prozess, wurde der Vertragstext
in seinen rechtlichen, sozialen und kulturellen Zielen so
verändert, dass die Kritiker der Ursprungstexte in Pro
und Kontra zusammengeführt werden . Wer diese Ver-
änderungen wahrnimmt, erkennt, wie wesentlich diese
Änderungen dem Zusammenhalt unserer Gesellschaft
dienen . Dazu gab es einen großen SPD Konvent, auf dem
wir die „roten Linien“ für eine Zustimmung zu den aktu-
ellen Freihandelsabkommen beschlossen haben .
Ich freue mich, dass das nun vorliegende Verhand-
lungsergebnis gegenüber den früheren Fassungen es-
senzielle Verbesserungen enthält, insbesondere die Ein-
führung eines öffentlichen Handelsgerichtshofes – statt
Schiedsgerichtsbarkeit . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass
es klug ist, Vertragstexte erst dann zu beschließen, wenn
sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz, den jeder faire
Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mühelos akzeptieren
kann .
Dies gilt umso mehr, als sich in dem Antrag der Ko-
alitionsfraktionen noch einige Formulierungen finden,
deren Wirkmächtigkeit sich erst erkennen lässt, wenn die
dazugehörenden Parlamentsentscheidungen getroffen
sein werden:
– Wenn sich etwa „… Vertragsparteien zum Schutz der
Arbeitnehmerrechte bekennen und … verpflichten,
Anstrengungen zur Ratifizierung und Umsetzung der
Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorgani-
sation (ILO) zu unternehmen“, so wäre doch von Inte-
resse, ob die Anstrengungen Erfolg haben werden oder
nicht .
– Oder wenn „Im weiteren Prozess … unbestimmte
Rechtsbegriffe geklärt werden“ müssen, so wäre auch
hier noch zu verstehen, ob das gemeinsame Verständ-
nis dieser Klärung auf breite Zustimmung in der deut-
schen Bevölkerung stößt .
– Die Formulierung „Spielräume von Kommunen zur
Organisation der Daseinsvorsorge dürfen nicht einge-
schränkt und auch künftig nicht angetastet werden . Es
muss im weiteren Ratifikationsprozess sichergestellt
werden, dass auch zukünftig kein Druck in Richtung
Liberalisierung von Dienstleistungen der öffentlichen
Daseinsvorsorge ausgeübt werden darf“ begrüße ich
sehr . Gleichwohl sollte diese Sicherstellung im Ver-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18931
(A) (C)
(B) (D)
tragswerk rechtlich fixiert sein, um später streitanfäl-
lige Interpretationen zu vermeiden .
– Auch folgende Formulierung hinterlässt einen Rest-
zweifel, ob die Unantastbarkeit des Vorsorgeprinzips
nicht unmissverständlich klargestellt sei: „Hohe Um-
welt- und Verbraucherstandards müssen gewährleistet
bleiben . Das im europäischen Primärrecht veranker-
te Vorsorgeprinzip bleibt von CETA unberührt . Dies
muss unmissverständlich klar gestellt werden .
– Mit der Formulierung: „Der Deutsche Bundestag be-
grüßt die Bereitschaft der kanadischen Regierung, der
Europäischen Kommission und der Bundesregierung,
im Rahmen des weiteren Verfahrens rechtsverbindli-
che Klärungen der noch offenen Fragen herbeizufüh-
ren, und setzt sich gleichfalls hierfür ein“ ergibt sich
die offene Frage, warum „rechtsverbindliche Klärun-
gen“ nicht einfach in das Vertragswerk CETA eingear-
beitet werden .
Die Übersichtlichkeit und Bürgerfreundlichkeit des
ohnehin schon komplexen und langen Vertragstextes
wird durch weitere Regelungen und Vereinbarungen au-
ßerhalb des Vertrags weiter gemindert .
Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
mittelbar vor der heutigen Entscheidung zitiere ich nach-
folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
Miersch:
„Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
Maßstab für jeden SPD Abgeordneten sind . Wenn unse-
re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Wie oben gesagt: Heute wird darüber entschieden, ob
wir den Bundeswirtschaftsminister beauftragen, im Han-
delsministerrat der EU, den aktuell vorliegenden Ver-
tragsentwurf CETA in die parlamentarischen Verfahren,
in die Parlamente zu geben .
Svenja Stadler (SPD): Der Deutsche Bundestag
entscheidet heute nicht über das europäisch-kanadische
Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt Stellung
zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein positi-
ves Votum im Europäischen Rat den Weg für das weitere
Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament und
in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU eröffnen
soll .
Im August habe ich eine Bewertung verfasst, in der ich
aufzeige, an welchen Stellen der aktuelle Entwurf von
CETA mit der Beschlusslage der SPD nach meiner Über-
zeugung nicht übereinstimmt . Ich habe mich vor allem
auf die Bereiche Investitionsschutz, CETA-Ausschuss,
Vorsorgegrundsatz, öffentliche Daseinsvorsorge und Ar-
beitnehmerrechte bezogen und komme zu dem Ergebnis,
dass ich dem aktuell vorliegenden CETA-Entwurf nicht
zustimmen könnte .
Als Brücke zwischen CETA-Kritikern und CETA-Be-
fürwortern innerhalb der SPD habe ich in diesem Papier
vorgeschlagen, durch eine entsprechende Beschlussfas-
sung im Ministerrat das Europäische Parlament in die
Lage zu versetzen, das Verfahren unter Beteiligung der
nationalen Parlamente an sich zu ziehen, die Zivilgesell-
schaft einzubeziehen und in einem transparenten Verfah-
ren mit Kanada ein faires Ergebnis zu verhandeln . Ich
habe mich ferner gegen die vorläufige Anwendung des
Vertrages ausgesprochen .
Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
kommens vorläufig anzuwenden, und fordert in diesem
Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
einer vorläufigen Anwendung auszunehmen.
Eine Gültigkeit dieses Kapitels wäre somit nur mög-
lich, wenn alle Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme der
Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben be-
schriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungsverfah-
rens durch das Europäische Parlament mit den nationalen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618932
(A) (C)
(B) (D)
Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft ermöglicht,
wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am vergangenen
Montag gefordert hat . Europa hat damit die Chance,
neue Wege zu gehen und in einem intensiven Dialog ge-
rade mit denjenigen, die CETA kritisch gegenüberstehen,
Lösungsansätze in den kontrovers diskutierten Themen-
feldern zu entwickeln . Dabei wird auch die Frage eine
Rolle spielen müssen, ob es noch weitere Bereiche gibt,
die auch die nationalen Kompetenzen betreffen . Auch
das sieht die vorliegende Stellungnahme des Bundes-
tages vor . Soweit im Ministerrat diesbezüglich keine
sachgerechte Lösung gefunden wird, muss die Stellung-
nahme der kommunalen Spitzenverbände berücksichtigt
werden, nach der aufgrund der bislang unzureichenden
Klärung der Fragen über die Anwendbarkeit des Ver-
trages auf die öffentliche Daseinsvorsorge auch weitere
Bereiche von der vorläufigen Anwendung ausgeschlos-
sen werden müssen . Das gilt auch für die in CETA neu
geschaffenen Gremien, die auch in der Verfassungsbe-
schwerde problematisiert werden, die bezüglich des Ab-
kommens anhängig ist .
Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
Mitgliedsstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen
zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
pauschales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am
Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
Sonja Steffen (SPD): Wenn heute über CETA in der
jetzigen Fassung abgestimmt werden würde, wäre es
für mich eine klare Entscheidung, dagegen zu stimmen .
Aber heute wird genau darüber nicht abgestimmt . Heute
wird darüber entschieden, ob wir den Bundeswirtschafts-
minister beauftragen, im Handelsministerrat der EU den
aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA in die parla-
mentarischen Verfahren in die Parlamente zu geben .
Wie beim SPD-Parteikovent am 19 . September 2016
beschlossen, wird die Bundesregierung aufgefordert, im
Handelsministerrat auf eine parlamentarische Beteili-
gung hinzuwirken und sicherzustellen, dass die im Kon-
vent beschlossenen Grundsätze eingehalten werden .
Wie auch viele Bürgerinnen und Bürger habe ich
große Bedenken bei den jetzigen Formulierungen und
werde keinem Handelsvertrag zustimmen, der deutsche
Arbeits-, Sozial- oder Umweltstandards aushebelt oder
aufweicht .
Selbst wenn das nun vorliegende Verhandlungser-
gebnis gegenüber den früheren Fassungen essenzielle
Verbesserungen, insbesondere die Einführung eines öf-
fentlichen Handelsgerichtshofes – statt Schiedsgerichts-
barkeit –, enthält und Bereiche der öffentlichen Daseins-
vorsorge, wie etwa Wasser, Bildung oder Gesundheit,
nun speziellen Schutzregeln unterliegen, würde ich heute
noch nicht zustimmen . Unsere Erfahrung lehrt uns, dass
es klug ist, Vertragstexte erst dann zu beschließen, wenn
sie endgültig vorliegen . Ein Grundsatz, den jeder faire
Vertrags- bzw . Verhandlungspartner mühelos akzeptieren
kann .
Mit Blick auf die irritierenden Pressemeldungen un-
mittelbar vor der heutigen Entscheidung, zitiere ich nach-
folgend aus einer Information meines Kollegen Matthias
Miersch:
„Die SPD hat auf ihrem Konvent nicht für CETA ge-
stimmt, wie viele schreiben . Sie hat einen Antrag verab-
schiedet, der unsere Anforderungen an das Abkommen
und den nun vor uns liegenden Prozess beschreibt . Wir
haben ganz klare Bedingungen beschlossen, die am Ende
Maßstab für jeden SPD-Abgeordneten sind . Wenn unse-
re Forderungen nicht erfüllt sind, werde ich CETA nicht
zustimmen:
– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z . B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Artikel 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Falls ich im Rahmen der Parlamentsbeteiligung die
Gefahr sehe, dass die Grundsätze der Sozialdemokratie
gefährdet sind, werde ich, und mit mir auch viele ande-
re Abgeordnete aus allen Fraktionen, gegen das Gesetz
stimmen .
Dr. Karin Thissen (SPD): Der Deutsche Bundestag
entscheidet heute nicht über das europäisch-kanadische
Freihandelsabkommen CETA, sondern nimmt Stellung
zu der Frage, ob die Bundesregierung durch ein positi-
ves Votum im Europäischen Rat den Weg das weitere
Ratifizierungsverfahren im Europäischen Parlament und
in den Parlamenten der Mitgliedstaaten der EU eröffnen
soll .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18933
(A) (C)
(B) (D)
Die nun vorliegende Stellungnahme der Fraktionen
von SPD und CDU/CSU ermöglicht diesen Weg . Er er-
kennt die Fortschritte im Rahmen des Verhandlungspro-
zesses einschließlich der Einstufung des Abkommens als
gemischtes Abkommen an, die maßgeblich durch Bun-
deswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erreicht worden
sind . Er gibt der Bundesregierung im Rat die Möglich-
keit der Zustimmung, greift in zentralen Punkten jedoch
die breit diskutierten Problemfelder des vorliegenden
Entwurfs auf und mahnt entsprechende rechtsverbindli-
che Änderungen an . Er spricht sich dafür aus, erst nach
Zustimmung des Europäischen Parlaments Teile des Ab-
kommens vorläufig anzuwenden, und fordert in diesem
Zusammenhang unter anderem das besonders kontrovers
diskutierte Kapitel über den Investitionsschutz ganz von
einer vorläufigen Anwendung auszunehmen. Eine Gül-
tigkeit dieses Kapitels wäre somit nur möglich, wenn alle
Parlamente innerhalb der EU zustimmen .
Noch wichtiger ist für mich, dass die Stellungnahme
der Fraktionen von SPD und CDU/CSU auch den oben
beschriebenen Weg eines ausführlichen Anhörungs-
verfahrens durch das Europäische Parlament mit den
nationalen Parlamenten und mit der Zivilgesellschaft
ermöglicht, wie ihn auch der SPD-Parteikonvent am ver-
gangenen Montag gefordert hat . Europa hat damit die
Chance, neue Wege zu gehen und in einem intensiven
Dialog gerade mit denjenigen, die CETA kritisch gegen-
überstehen, Lösungsansätze in den kontrovers disku-
tierten Themenfeldern zu entwickeln . Dabei wird auch
die Frage eine Rolle spielen müssen, ob es noch weitere
Bereiche gibt, die auch die nationalen Kompetenzen be-
treffen .
Ich bin überzeugt, dass dieser Weg erfolgverspre-
chend ist . Das Abkommen wird durch die EU und ihre
Mitgliedstaaten mit Kanada abgeschlossen . Wir müssen
zur Kenntnis nehmen, dass CETA nur in wenigen Län-
dern der EU kritisch diskutiert wird . Um Veränderungen
im weiteren Verfahren erreichen zu können, wäre ein
pauschales Nein im Ministerrat nicht zielführend . Am
Ende des jetzt vor uns liegenden Prozesses wird jede und
jeder Abgeordnete entscheiden müssen, ob er/sie dem
Abkommen zustimmt . Auch dafür hat der der SPD-Par-
teikonvent eindeutige Maßstäbe beschlossen .
Anlage 9
Erklärungen nach § 31 GO
zu der namentlichen Abstimmung über
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Unter den
heutigen Bedingungen würde ich zum Freihandelsab-
kommen mit Kanada (CETA) Nein sagen . Heute beauf-
tragen wir den Bundeswirtschaftsminister, im Handels-
ministerrat der EU den vorliegenden Vertragsentwurf
ins parlamentarische Verfahren der Mitgliedstaaten zu
geben .
Zur Beurteilung des weiteren parlamentarischen Bera-
tungs- und Ratifizierungsprozesses sind für mich die kla-
ren Bedingungen, die die SPD auf ihrem Parteikonvent
beschlossen hat, bindend .
Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick
auf die Rechtstatbestände, wie z . B . „faire und gerechte
Behandlung“ und „indirekte Enteignung“ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen ge-
genüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen und
Bürgern stattfindet. Investorenschutz sollte somit auf die
Diskriminierung gegenüber inländischen Investoren be-
schränkt werden .
Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich
erklärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veranker-
ten Vorsorgeprinzip (Art . 191 AEUV) abweicht .
Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen Ar-
beits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt werden .
Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ratifiziert wer-
den .
Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehende
Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht
vom Vertrag erfasst werden .
Es muss sicher- und klargestellt werden, dass alle Gre-
mien, die durch das CETA-Abkommen geschaffen wer-
den, zunächst eine beratende Funktion zur Umsetzung
des Abkommens haben und begrenzte Entscheidungen
nur im Einklang mit den demokratisch legitimierten Ver-
fahren der Partner treffen und nicht die Souveränität der
Parlamente und Regierungen verletzen dürfen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618934
(A) (C)
(B) (D)
Warum ich dem heutigen Koalitionsantrag zustimme,
findet sich im Antrag der Fraktion der CDU/CSU und
der SPD „Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA): Für freien und fairen Handel“ (Drucksa-
che 18/9663) in der letzten Feststellung des Bundestages:
„Der Deutsche Bundestag wird im Lichte des weiteren
Prozesses im Ratifizierungsverfahren abschließend über
seine Zustimmung zu CETA entscheiden .“
Sollten die hier aufgeführten Punkte nicht genügend
berücksichtigt worden sein, so ist eine Unterbrechung
des Ratifizierungsprozesses oder eine Ablehnung des
Vertrages möglich . Diese Entscheidung behalte ich mir
vor .
Gülistan Yüksel (SPD): Heute wird nicht über den
Vertragstext des Abkommens CETA abgestimmt . Heute
wird darüber entschieden, ob wir den Bundeswirtschafts-
minister beauftragen, im Handelsministerrat der EU den
aktuell vorliegenden Vertragsentwurf CETA in die par-
lamentarischen Verfahren, in die Parlamente, zu geben .
Ich kann diesem Antrag nicht zustimmen, da ich das
Verfahren, erst im Ministerrat zuzustimmen und danach
Verbesserungen erreichen zu wollen, für nicht zielfüh-
rend halte .
Anders als Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen, die
schon lange wissen, dass sie gegen diese Freihandelsab-
kommen sind, und anders als CDU und CSU, die schon
lange wissen, dass sie für diese Freihandelsabkommen
sind, haben SPD und SPD-Fraktion einen tiefen Diskus-
sions- und Abwägungsprozess angestoßen und organi-
siert, der von Bundeswirtschaftsminister Gabriel wesent-
lich getragen wurde .
Durch unsere harten Verhandlungen haben wir schon
im Vorfeld viele Verbesserungen im CETA-Abkommen
durchgesetzt . Aber selbst wenn das nun vorliegende Ver-
handlungsergebnis gegenüber den früheren Fassungen
essenzielle Verbesserungen enthält, insbesondere die
Einführung eines öffentlichen Handelsgerichtshofes –
statt Schiedsgerichtsbarkeit –, auch wenn Bereiche der
öffentlichen Daseinsvorsorge, wie etwa Wasser, Bildung
oder Gesundheit, nun speziellen Schutzregeln unterlie-
gen, würde ich heute noch nicht zustimmen .
Bei unserem Parteikonvent hat die SPD klare Bedin-
gungen beschlossen . Diese sind unter anderem folgende:
„– Im Bereich des Investorenschutzes muss mit Blick auf
die Rechtstatbestände, wie z .B . ‚faire und gerechte
Behandlung‘ und ‚indirekte Enteignung‘ sichergestellt
werden, dass keine Bevorzugung von ausländischen
gegenüber inländischen Investoren oder Bürgerinnen
und Bürgern stattfinden. Investorenschutz sollte somit
auf die Diskriminierung gegenüber inländischen In-
vestoren beschränkt werden .
– Es muss unmissverständlich und rechtsverbindlich er-
klärt werden, dass die EU im Rahmen des CETA-Ab-
kommens in keiner Weise vom primärrechtlich veran-
kerten Vorsorgeprinzip (Art . 191 AEUV) abweicht .
– Im Rahmen des Beratungsprozesses muss ein Sank-
tionsmechanismus bei Verstößen der Partner gegen
Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards entwickelt
werden . Die acht ILO-Kernarbeitsnormen müssen ra-
tifiziert werden.
– Es muss sich aus dem CETA-Vertrag unmissverständ-
lich ergeben, dass bestehende und künftig entstehen-
de Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht vom Vertrag erfasst werden .“
Diese Forderungen werden am Ende Maßstab für jede
und jeden SPD-Abgeordnete und SPD-Abgeordneten
sein .
Unsere Erfahrung lehrt uns, dass es klug ist, Vertrag-
stexte erst dann zu beschließen, wenn sie endgültig vor-
liegen . Deshalb werde ich heute dem Antrag nicht zu-
stimmen .
Um die Gespräche und die geforderten Anstrengungen
für die Durchsetzung der Forderungen nicht aufzuhalten,
stimme ich nicht mit „Nein“, sondern enthalte mich . Ge-
spräche sind Grundlage, um eine Verbesserung des Ver-
trages in unserem Sinne umzusetzen .
Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Josef Göppel (CDU/CSU) zu
den namentlichen Abstimmungen über
– den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
sowie
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18935
(A) (C)
(B) (D)
– den Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge,
Kerstin Andreae, Britta Haßelmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdok. 10968/16
und
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdok. 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) ablehnen
(Tagesordnungspunkt 39 a)
(Tagesordnungspunkte ZP 3 und 39 a)
Mein Fraktionsvorsitzender Volker Kauder sagt zu
Freihandelsabkommen: „Ein Land, das die Hälfte seiner
Produkte im Ausland verkauft, braucht Freihandel!“
Ja, aber wie viel Systemveränderung muss in die Ab-
kommen reingepackt werden? Ich habe nichts gegen
Freihandel und den Abbau von Zöllen . Aber ich habe et-
was dagegen, durch die Hintertür eine neue Wirtschafts-
ordnung mit weniger demokratischer Kontrolle einzu-
führen .
Meine Kritik an CETA im Einzelnen:
1 . Die Europäische Kommission selbst sagt, CETA
sei das mit Abstand weitreichendste Abkommen,
das die Europäische Union bisher abgeschlossen
habe .
Es gehe über alle bisherigen Freihandelsabkom-
men hinaus .
2 . Trotz der Nachverhandlungen des Bundeswirt-
schaftsministers findet sich in Artikel 8.10 Ziffer 1
der unbestimmte Rechtsbegriff der „gerechten und
billigen Behandlung“ von Investoren . Artikel 8 .12
enthält zudem eine Regelung zur indirekten Ent-
eignung, die Schadensersatzklagen Tür und Tor
öffnet . Gleichzeitig muss die Gesetzgebung laut
Vertrag „legitime politische Ziele“ verfolgen .
3 . Sowohl in Kanada wie in der Europäischen Union
haben wir eine voll entwickelte und transparen-
te Gerichtsbarkeit . Die Rechtssysteme der Ver-
tragspartner bieten für Investoren ausreichenden
Schutz . Deshalb bedarf es dafür keiner speziellen
Regelung . Das Kapitel zum Investitionsschutz ist
gänzlich zu streichen .
4 . CETA schafft über die Sondergerichtsbarkeit hi-
naus weitere Gremien, denen nationale Parlamente
ihre gesetzgeberischen Aktivitäten vorab mitteilen
müssen .
Der „Gemischte CETA-Ausschuss“ nach Arti-
kel 26 .1 ist für alle Fragen, die das Abkommen be-
treffen, zuständig . Beschlüsse dieses Ausschusses
sind nach Artikel 26 .3 „bindend“ und müssen von
den nationalen Regierungen „umgesetzt“ werden .
Das ist eine eindeutige Beschränkung des Gesetz-
gebungsrechts der Parlamente .
5 . Das Vorsorgeprinzip als grundsätzliche europäi-
sche Rechtsposition wird im gesamten CETA-Ver-
trag nicht erwähnt . Die Artikel 5 .2, 5 .4 und 21 .1
verweisen lediglich auf Standards der WTO zu
„Sanitary and Phytosanitary Measures (SPS)“ .
Artikel 25 .2 sieht sogar die „Reduzierung nachtei-
liger Handelsauswirkungen“ im Bereich Biotech-
nologie und genetisch veränderter Organismen vor .
Damit ist die Abkehr von europäischen Standards
vorgezeichnet .
6 . Bei der Daseinsvorsorge enthält der CETA-Ver-
tragstext nach wie vor eine Negativliste . Alle Be-
reiche, die darin nicht ausdrücklich genannt sind,
unterliegen der vollen Liberalisierung . Rechts-
sicherheit kann nur mit einer Positivliste erreicht
werden .
Ich trage Freihandelsabkommen mit, die Zölle und
technische Zulassungen zum Gegenstand haben . Ich bin
aber gegen die Aufblähung und Überhöhung dieser Ab-
kommen, weil das den Freiraum demokratisch gewählter
Parlamente und Regierungen einengt .
Deshalb enthalte ich mich bei dem Antrag der Koali-
tionsfraktionen und stimme dem Antrag der Grünen auf
Drucksache 18/9621 zu .
Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Dr. Thomas Gambke (BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Ab-
stimmung über
den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates
über die Unterzeichnung – im Namen der Euro-
päischen Union – des umfassenden Wirtschafts-
und Handelsabkommens (CETA) zwischen Ka-
nada einerseits und der Europäischen Union
und ihren Mitgliedstaaten andererseits
KOM(2016) 444 endg.; Ratsdokument 10968/16
und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618936
(A) (C)
(B) (D)
zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Ra-
tes über die vorläufige Anwendung des umfas-
senden Wirtschafts- und Handelsabkommens
(CETA) zwischen Kanada einerseits und der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten
andererseits
KOM(2016) 470 endg.; Ratsdokument 10969/16
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 8 Absatz 4 des
Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundes-
tag in Angelegenheiten der Europäischen
Union
Comprehensive Economic and Trade Agree-
ment (CETA) – Für freien und fairen Handel
(Tagesordnungspunkt ZP 3)
Ich erkläre, dass mein Votum zum Antrag der Frakti-
onen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9663
Ablehnung lautet .
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz vor
Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnun-
gen (Tagesordnungspunkt 16)
Uwe Feiler (CDU/CSU): Der vorgelegte Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zum Schutz vor Manipulatio-
nen an digitalen Grundaufzeichnungen reiht sich nahtlos
in die Anstrengungen der Bundesregierung und der Ko-
alition ein, Steuerhinterziehung wirksam zu bekämpfen,
ohne dabei alle Steuerpflichtigen unter Generalverdacht
zu stellen .
Die große Mehrheit der Unternehmerinnen und Un-
ternehmer kommt ihren Pflichten vollumfänglich nach.
Gerade daraus ergibt sich für den Staat aber auch die
Verpflichtung, sich derjenigen anzunehmen, die mei-
nen, sich zulasten der Steuerzahlergemeinschaft ihren
Beitrag zur Finanzierung sparen zu können . Und genau
hier setzen wir mit dem Gesetzentwurf an, indem wir das
Entdeckungsrisiko für Steuersünder enorm erhöhen und
der Finanzverwaltung der Länder die Instrumente an die
Hand geben, Umsätze besser nachvollziehen zu können .
Dass die Umsatzsteuer zu den betrugsanfälligeren
Steuerarten gehört und aufgrund ihrer Ausgestaltung die
Mitwirkung von Unternehmern erfordert, rückt sie in den
besonderen Fokus sowohl von Betrügern als auch des
Fiskus und somit von uns allen .
Bei diesem Gesetz ist mir die Durchsetzung der Steu-
ergerechtigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung ein
besonderes Anliegen, und ich warne davor, lediglich auf
erhoffte Steuermehreinnahmen zu schielen wie viele Ver-
treter der Länder .
Valide Berechnungen liegen bis heute nicht vor, und
die in Rede stehenden 10 Milliarden Euro Mehreinnah-
men beruhen auf mehrfachen Hochrechnungen der Prü-
fung des Gastronomiebereichs in der kanadischen Pro-
vinz Québec, sodass ich empfehle, mit der Verplanung
des Geldes noch etwas zu warten .
Das Gesetz fußt auf drei ineinandergreifende Maßnah-
men:
Erstens . Wer ein elektronisches Aufzeichnungssys-
tem, also vorwiegend Registrierkassen, verwendet, muss
zwingend Systeme verwenden, die über eine technische
Sicherheitseinrichtung verfügen . Die Zeiten in denen
mittels „Chef-Taste“ Umsätze gelöscht oder „Trainings-
kellner“ im Dauereinsatz tätig sind, um Umsätze im
wahrsten Sinne des Wortes unter den Tisch fallen zu
lassen, sind damit vorbei . Zukünftig wird ab dem ersten
Tastendruck jede Eingabe in das Kassensystem protokol-
liert . Etwaige Korrekturen sind selbstverständlich auch
zukünftig möglich, dann aber lückenlos nachvollziehbar .
Gleichzeitig lässt der Gesetzentwurf aber auch Raum
für Lösungen für große Handelsketten, die schon auf-
grund unternehmensinterner Kontrollprozesse ein ausge-
prägtes Interesse an der lückenlosen Aufzeichnung ihrer
Umsätze haben und über leistungsstarke Kassen- und
Warenwirtschaftssysteme verfügen . Auf der anderen Sei-
te wird es auch in Zukunft möglich sein, auf Wochen-
märkten, Dorffesten oder in Sportvereinen eine offene
Ladenkasse zu führen . Die Sorge, wie von einigen for-
muliert, dass Unternehmen aufgrund dieses Gesetzes ihre
Registrierkassen abschaffen und sich in die offene La-
denkasse flüchten, verkennt, dass auch dann die Umsätze
plausibel zu erläutern und zu belegen sind . Immerhin ist
die Registrierkasse einmal als Arbeitserleichterung für
den Unternehmer und als Kontrollinstrument für seine
Mitarbeiter eingeführt worden . Eine offene Ladenkasse
macht ab gewissen Umsätzen wesentlich mehr Arbeit,
als auf ein technisches System zu setzen . Außerdem ver-
fügt die Finanzverwaltung durch die Kassensysteme über
Referenzwerte, die bei der Beurteilung der Plausibilität
äußerst hilfreich sein werden .
Zweitens stellen wir mit der Einführung einer Kassen-
nachschau sicher, dass die Finanzverwaltung auch unan-
gemeldet vor Ort Einblick in das Kassensystem und die
Belegführung nehmen kann . Von Probeeinkäufen über
die Kontrolle der Erfassung der Umsätze bis zur Ein-
sichtnahme von Belegen beim Steuerberater stehen der
Finanzverwaltung der Länder umfangreiche Instrumente
zur Verfügung, um Verstöße aufzudecken . Fest steht aber
auch: Keine technische Maßnahme kann die Kontrolle
durch die Finanzbehörden ersetzen . Wenn also der eine
oder andere Landesfinanzminister die stille Hoffnung
hegen sollte, mit mehr Technik und weniger Personal
höhere Einnahmen generieren zu können, wird diese
Rechnung nicht aufgehen . Die neuen Systeme werden
unzählige Datensätze generieren, die aber auch kontrol-
liert werden müssen .
Drittens sanktionieren wir Verstöße . Den Steuerge-
fährdungstatbestand gemäß § 379 AO weiten wir um die
neuen Verpflichtungen aus und sehen Geldbußen von bis
zu 25 000 Euro vor . Ein laxes Vorgehen des Finanzmi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18937
(A) (C)
(B) (D)
nisteriums kann ich hier beim besten Willen also nicht
erkennen .
Dennoch mangelt es ja nicht an weitergehenden Vor-
schlägen. So wünscht sich der eine oder andere eine flä-
chendeckende Registrierkassenpflicht als vermeintliche
Lösung aller Probleme . Mal davon abgesehen, dass da-
mit alle Unternehmer über einen Kamm geschoren wer-
den, halte ich dieses Mittel auch für unverhältnismäßig .
Jeden Eis- oder Marktstand mit einer Kasse auszustatten,
ist genauso wenig sinnvoll wie die generelle Belegausga-
bepflicht. Ein Blick zu unserem Nachbarn Österreich, der
massiv mit Ausnahmeregelungen nachsteuern musste,
belegt, dass der Charme genereller Regelungen schnell
verfliegen kann. Denn in Deutschland hat schon heute je-
der Kunde ein Anrecht auf einen Beleg . In Österreich ist
dieser zwingend erforderlich, da im Unterschied zu unse-
rem Vorhaben erst mit der Belegausgabe die Speicherung
und Verschlüsselung des Umsatzes im System erfolgt .
Andreas Schwarz (SPD): Wir reden heute hier über
ein mir und der SPD-Bundestagsfraktion sehr wichtiges
Thema: den Kampf gegen Steuerbetrug . Wir als SPD be-
kämpfen Steuerbetrug ganzheitlich . Ob über das große
Thema BEPS, die Verschärfung der Selbstanzeige – von
Hoeneß bis Schwarzer – oder aber das Schließen von
Steuerlücken . Von Cum/Ex bis Cum/Cum . Aber bei ei-
nem großen Thema sind wir immer noch nicht da, wo wir
längst sein müssten: beim Umsatzsteuerbetrug durch ma-
nipulierte Kassensysteme . Dass wir diesen Kampf nun
endlich aufnehmen, ist ein Beitrag für mehr Steuerge-
rechtigkeit und Wettbewerbsgleichheit . Die Schätzungen
etwa des Bundesrechnungshofes gehen von 5 Milliarden
bis 10 Milliarden Euro jährlich an Steuerausfällen aus,
die durch diesen Betrug entstehen .
Eines möchte ich vielleicht gleich zu Beginn festhal-
ten: Es geht uns nicht darum, kleine Vereins- oder Som-
merfeste unmöglich zu machen . Uns geht es um die Un-
terbindung von milliardenfachem Steuerbetrug . Wie ich
bereits erwähnt habe: Es ist ein doppelter Betrug . Zum
einen ist es ein Betrug am Staat, dem das Steuergeld zu-
steht, um Schulen zu bauen, die innere Sicherheit auf-
rechtzuerhalten und die Infrastruktur zu erneuern . Ein
Betrug übrigens, der oftmals Schwarzarbeit und Umge-
hung des Mindestlohns mit sich zieht .
Zum anderen jedoch ist es vor allem ein Betrug an je-
dem ehrlichen Unternehmer . Und ich bin selbst einer und
weiß, wovon ich spreche . Ich kann mein Unternehmen
noch so optimal aufstellen . Solange ich brav meine Steu-
ern zahle, aber mein Mitbewerber aus dem Nachbarort
nicht, werde ich den Preisvorteil von 19 Prozent Umsatz-
steuer niemals aufholen können . Mir sind mehrere solche
Fälle aus meinem Wahlkreis bekannt . Am Ende sind die
Ehrlichen die Dummen, und das ist ungerecht . Und ge-
nau deshalb muss hier endlich dringend etwas geändert
werden .
Wer für Steuergerechtigkeit und für Wettbewerbs-
gleichheit unter den kleinen und mittleren Unternehmen
ist, der muss dieses Gesetz nutzen, um Umsatzsteuerbe-
trug durch manipulierte Kassensysteme endlich zu unter-
binden. Wenn ich mir den Gesetzentwurf von Bundesfi-
nanzminister Wolfgang Schäuble so anschaue, muss ich
leider zum Fazit kommen: Ziel verfehlt . Nicht knapp,
sondern klar und deutlich .
Was uns das Bundesfinanzministerium hier vorgelegt
hat, reicht uns nicht aus . Es ist maximal ein Placebo .
Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf würde eine be-
trugssichere Software nur eingesetzt werden müssen,
wenn jemand denn eine Kasse einsetzt. Eine Pflicht, eine
Kasse zu benutzen, sieht der Entwurf leider nicht vor .
Will also der steuerhinterziehende Unternehmer Staat,
Kunden und ehrliche Unternehmer weiterhin betrügen,
schafft er sich entweder eine zweite, versteckte Kasse
an oder schafft einfach alle Kassen im Betrieb ab und
kassiert in den Schuhkarton . Wer ernsthaft glaubt, dass
Steuerbetrüger freiwillig mit Steuerbetrug aufhören, der
glaubt auch an den Weihnachtsmann . So verspielt man
Glaubwürdigkeit beim Kampf gegen den Steuerbetrug .
Auch bei der Frage der Belegausgabe – also der Aus-
gabe eines Kassenbons – ignoriert das Bundesfinanzmi-
nisterium alle Warnungen von Verbänden, Gewerkschaf-
ten, Kassenherstellern und Steuerfahndern . Unisono
berichten diese uns, dass eine sogenannte Belegausgabe-
pflicht essenziell für den Kampf gegen Umsatzsteuerbe-
trug ist . Diese erhöht nämlich das Entdeckungsrisiko für
den Unternehmer ungemein und erleichtert die Arbeit der
Steuerfahnder erheblich . Und dennoch setzt das Bundes-
finanzministerium auch da wieder auf Freiwilligkeit und
nimmt sogar noch den Verbraucher in die Pflicht. Nach
den Plänen des BMF würde der Unternehmer, wenn er
denn überhaupt noch eine Kasse hat, nur auf Verlangen
des Kunden verpflichtet sein, einen Bon auszuhändigen.
Mit Verlaub, wir wissen alle, wohin das führen würde: zu
gar keinen Kassenbons mehr .
Aus den genannten Gründen ist der vorliegende Ge-
setzentwurf aus unserer Sicht – und ich zitiere hier mal
den Finanzausschuss des Bundesrates –: „ungeeignet“,
„nicht wirksam“, „voller konzeptioneller Mängel“, „un-
realistisch“ . In Zeugnissprache formuliert: stets bemüht .
Nun wollen wir hier niemandem Nachhilfe erteilen .
Was wir aber wollen, ist ein Gesetz, das Umsatzsteuer-
betrug effektiv und wirksam bekämpft . Und deshalb me-
ckert die SPD nicht nur, sondern hat wie immer konkrete
Verbesserungsvorschläge .
Erstens. Grundlage für eine flächendeckend effektive
und nachhaltige Bekämpfung des Umsatzsteuerbetruges
an Ladenkassen ist für uns die Einführung einer allge-
meinen Registrierkassenpflicht ab einer Umsatzgrenze
von 17 500 Euro . Dies beinhaltet die Aufzeichnung und
Dokumentation von Barumsätzen, die den Prinzipien
der Vollständigkeit und Unveränderbarkeit entsprechen
muss . Eine gesetzliche Festlegung auf ein bestimmtes
System oder einen bestimmten Anbieter halten wir tech-
nisch, aber auch europarechtlich für schwierig .
Zweitens . Darüber hinaus fordern wir eine Belegaus-
gabepflicht. Dies würde die Entdeckungsgefahr für tech-
nische Manipulationen erheblich erhöhen . Ein Verkauf
an der Kasse vorbei wird für den Kunden sofort nach-
vollziehbar, wenn er keinen Beleg erhält . Dabei ist wich-
tig, dass die Pflicht zur Ausgabe beim Unternehmer liegt
und nicht als Holschuld auf die Kunden abgewälzt wird .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618938
(A) (C)
(B) (D)
Eine Belegausgabepflicht ist eine der wesentlichen For-
derungen seitens der Steuerfahnder und existiert bereits
unter anderem in Österreich, Italien, Schweden, Grie-
chenland, der Slowakei und Slowenien . Ich habe bisher
noch kein einziges überzeugendes Argument gehört, das
gegen eine Kassenpflicht und gegen eine Belegausga-
bepflicht spricht, weder vom Bundesfinanzministerium,
noch von der Wirtschaft, die, im Gegenteil, uns sogar
hinter vorgehaltener Hand unterstützt, weil auch sie ein
Interesse an Wettbewerbsgleichheit hat .
Ich denke, wir alle im Haus schreiben uns die Schlag-
worte Steuergerechtigkeit und Wettbewerbsgleichheit
auf unsere Fahnen . Bei diesem Gesetz kann nun jeder
Einzelne beweisen, wie ernst er es meint . Die SPD-Bun-
destagsfraktion geht beim Kampf gegen Steuerhinter-
ziehung und Steuervermeidung stets voran . Das ist auch
beim Kampf gegen Umsatzsteuerbetrug durch manipu-
lierte Kassensysteme nicht anders . Daher fordern wir
nachdrücklich ein Gesetz, das diesen Betrug effektiv und
nachhaltig bekämpft . Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, ich glaube ja immer auch an die Vernunft
und die Kraft der besseren Argumente und lade Sie des-
halb herzlich ein, diesen Weg gemeinsam mit uns zu be-
gehen .
Richard Pitterle (DIE LINKE): Eines gleich vorweg:
Die Bundesregierung ist wahrlich nicht dafür bekannt,
bei drängenden Problemen schnell geeignete Lösungen
parat zu haben . Schlimm nur, wenn diese Probleme jedes
Jahr zu Steuerausfällen in Milliardenhöhe führen! Und
nicht nur schlimm sondern auch peinlich wird es, wenn
die Bundesregierung und die sie tragende Große Koali-
tion dann versuchen, ihren nach jahrelanger Untätigkeit
endlich vorliegenden Lösungsvorschlag als rechtzeitig
zu verkaufen . Genau das versucht die Bundesregierung
mit ihrem heute vorliegenden Gesetzentwurf, und das
lässt Ihnen die Linke so nicht durchgehen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von Union und SPD!
Worum geht es heute im Einzelnen: Die Bundesregie-
rung will mit ihrem eingebrachten Gesetzentwurf zum
Schutz vor Manipulationen an digitalen Grundaufzeich-
nungen den Steuerbetrug durch Kassenmanipulationen
bekämpfen . Es ist ein offenes Geheimnis, dass in Ge-
werben, in denen viel mit Bargeld gezahlt wird, wie zum
Beispiel im Restaurant oder der Eisdiele um die Ecke,
die Versuchung groß ist, nicht jeden kleinen Umsatz ord-
nungsgemäß zu registrieren und zu versteuern . Die Ver-
suchung ist vor allem deshalb so groß, weil es zum Bei-
spiel für den Restaurantbetreiber so wahnsinnig einfach
ist, das eine oder andere verkaufte Bier einfach nicht in
die offizielle Abrechnung zu übernehmen.
Im Fokus stehen hierbei Registrierkassen, also die
ganz normalen Kassen auf dem Tresen, in die die Um-
sätze eingetippt werden und die die Belege ausspucken .
Hier hat sich inzwischen geradezu ein richtiger Wirt-
schaftszweig entwickelt, der zum Beispiel spezielle
Software anbietet, die die Umsätze in den Registrier-
kassen frisiert und einen Teil der Einnahmen unter den
Tisch fallen lässt . Man muss auch nicht lange in dunklen
Schwarzmarktecken suchen, bevor man solche Produkte
findet, nein, diese Systeme werden teilweise ganz offen
angeboten . Ein Mitarbeiter aus der Finanzverwaltung
berichtete, dass er undercover auf einer Messe war, wo
elektronische Kassensysteme ausgestellt wurden . Bei ei-
nem der Stände hat es nicht mal eine Minute gedauert,
bis ihm unverhohlen vom Standbetreiber zusätzlich zur
Kasse auch gleich die passende Schummelsoftware an-
gepriesen wurde – auf einer offiziellen Messe!
Ein solches Schattengewerbe entsteht selbstverständ-
lich nicht über Nacht: Bereits 2003 hat der Bundesrech-
nungshof auf die Möglichkeit der Kassenmanipulation
hingewiesen . Und obwohl es, wie in unserem Restaurant-
beispiel, im Einzelfall oft nur kleine Beträge sind – zu-
sammengerechnet entsteht unserer Gesellschaft ein Rie-
senschaden: Schätzungen nach werden auf diese Weise
jedes Jahr bis zu 10 Milliarden Euro Steuern hinterzogen .
Seit Jahren haben die Bundesländer daher auf eine
gesetzgeberische Lösung gedrängt. Das Bundesfinanz-
ministerium hat dem jedoch kein Gehör geschenkt . Der
heute vorliegende Gesetzentwurf kam erst zustande,
nachdem eine Mehrheit der Mitglieder im Finanzaus-
schuss einschließlich der Linken darauf gedrängt hat . Mit
Verlaub, Herr Schäuble, das war Arbeitsverweigerung
unter Inkaufnahme eines Schadens in Milliardenhöhe!
Was genau steht nun letztlich in Ihrem verspätet vor-
gelegten Entwurf? Sie wollen die Besitzer von Registrier-
kassen dazu verpflichten, diese durch technische Vorkeh-
rungen gegen nachträgliche Manipulationen zu sichern,
und außerdem unangemeldete Kassennachschauen durch
das Finanzamt ermöglichen . So weit, so gut . Inwieweit
dies allein wirklich Abhilfe schaffen kann, werden wir in
den anstehenden Beratungen im Finanzausschuss inten-
siv diskutieren müssen . Die Linke wird sich daran wie
immer konstruktiv beteiligen, denn im Gegensatz zur
Bundesregierung wollen wir anpacken und nicht Däum-
chen drehen .
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Was lange währt, wird endlich gut . Dies trifft lei-
der nicht auf den heute vorgelegten Gesetzentwurf zum
Schutz vor manipulierten Registrierkassen zu .
Bereits vor 13 Jahren stellte der Bundesrechnungshof
fest, dass durch manipulierte Registrierkassen massiv
Steuerbetrug und Schwarzgelderwirtschaftung betrieben
werden . Spektakuläre Fälle wie der Eissalon in Rhein-
land-Pfalz, dessen Besitzer mehr als 1,9 Millionen Euro
Steuer hinterzogen hatte, waren keine Einzelfälle, son-
dern die Spitze des Eisbergs . Es wurde bekannt, dass
sogar Apotheken – in der Wahrnehmung vieler Bürger
eigentlich eine seriöse Branche – mit Schummelsoftware
systematische Steuerhinterziehung organisiert hatten .
Das Problem hat sich mit der fortschreitenden Digita-
lisierung immer weiter verschärft . Denn Registrierkassen
sind heute vielfach schlicht und einfach Computer mit
darunter angebrachter Bargeldbox . Die in den Regis-
trierkassen gespeicherten Daten können in vielen Sys-
temen beliebig, ohne die geringsten Spuren zu hinter-
lassen, verändert werden . Vor acht Jahren schon begann
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit der Entwicklung
eines Sicherheitssystems, das die Umsatzmanipulation
an elektronischen Kassensystemen ausschließen soll-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18939
(A) (C)
(B) (D)
te . Unter Leitung der PTB wurde eine entsprechende
technische Lösung im Rahmen des INSIKA-Projektes
(INtegrierte SIcherheitslösung für messwertverarbeiten-
de KAssensysteme) konzipiert und umgesetzt . Dieses
Vorhaben wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft
und Technologie als MNPQ-Projekt (Messen, Normen,
Prüfen und Qualitätssicherung) mit 225 000 Euro geför-
dert . Vor vier Jahren gab es ein Ergebnis: Das Sicher-
heitssystem INSIKA war einsatzfähig, aber die damalige
schwarz-gelbe Koalition kippte in sprichwörtlich letzter
Minute die Implementierung .
Im Taxigewerbe in Hamburg wurde das INSIKA-Sys-
tem dennoch eingesetzt, mit von allen Beteiligten, also
Taxibetrieben sowie Finanzbehörden, positiv bewerteten
Ergebnissen: Der unlautere Wettbewerb durch Schwarz-
fahrten wurde praktisch unmöglich – mit entsprechenden
besseren Auslastungen und Verdienstmöglichkeiten für
die ehrlich abrechnenden Fahrer und Betriebe –, und die
Steuerbehörden konnten nicht nur steigende Einnahmen
aus der Umsatz- und Einkommensteuer verzeichnen,
sondern auch ihren Prüfaufwand signifikant verringern.
In Berlin allerdings wurden diese Fakten nicht zur
Kenntnis genommen: Noch im März 2015 ließ mir der
Bundesminister der Finanzen durch seinen Staatssekretär
Michael Meister mitteilen, dass keine belastbaren Aussa-
gen über den Umfang und die Häufigkeit von Manipula-
tionen von Umsätzen vorliegen würden . Informationen
aus anderen Ländern wurden vonseiten des Bundesfi-
nanzministeriums grob wahrheitswidrig und falsch dar-
gestellt . Und auch die Bundestagsfraktion der CDU/CSU
lehnte in einem Positionspapier noch im August 2015
eine verpflichtende Einführung eines manipulationssi-
cheren Kassensystems ab .
Vielmehr machte im Rahmen der Forderung nach
Einführung des INSIKA-Verfahrens das Wort die Run-
de, hier sei eine „INSIKA-Mafia“ am Werke. Man kann
trefflich fragen, ob nicht vielmehr eine Mafia am Werke
ist, manipulationssichere Kassen zu verhindern .
Es ist dem Engagement vor allem der Finanzverwal-
tungen in Schleswig-Holstein und Hamburg und nicht
zuletzt der Grünen-Bundestagsfraktion zu verdanken,
wenn heute die Bundesregierung einen neuen Anlauf
startet . Diesen Anlauf begrüße ich sehr .
Die Freude ist aber sehr begrenzt: Zwar ist die Ein-
bringung des Gesetzentwurfes positiv zu bewerten –
denn damit wird das erste Mal überhaupt die Notwen-
digkeit zum Handeln anerkannt –, wenn ich aber die
Gesetzvorlage lese, kommt bei mir schnell Ernüchterung
auf . Dieser Gesetzentwurf ist ein zahnloser Tiger, er wird
eher neue Probleme verursachen und auf absehbare Zeit
das Problem nicht lösen, sondern eine Lösung weit in die
Zukunft verschieben .
Der Gesetzentwurf sieht ausdrücklich keine Belegaus-
gabepflicht vor, obwohl Steuerfahnder genau dies vehe-
ment fordern . Auch sollen dem Gesetzentwurf zufolge
die Belege keine Sicherheitsmerkmale, mit denen für den
Kunden oder im Rahmen einer Kassennachschau leicht
erkennbar wäre, ob der Geschäftsvorgang ordnungsge-
mäß gespeichert worden ist, enthalten .
Dies führt im Ergebnis dann dazu, dass die Finanzver-
waltung aufwendige Kassennachschauen mit Testkäufen,
Datenanalysen und technischer Prüfung der Kassensys-
teme durchführen muss . Es ist völlig klar, dass dieser bü-
rokratische Aufwand nur im begrenzten Umfang von der
Verwaltung geleistet werden kann – Prüfungen werden
also relativ selten sein . Wie damit das Problem des Steu-
erbetrugs gelöst werden soll, erschließt sich mir nicht .
Der Gesetzentwurf lehnt das INSIKA-Verfahren ab
bzw . entzieht ihm durch die fehlende Belegausgabe-
pflicht die Grundlage. Stattdessen sollen vom Bundesamt
für Sicherheit in der Informationstechnik zertifizierte Si-
cherheitseinrichtungen das Problem der manipulierbaren
Kassen beseitigen . Jedoch gibt es überhaupt noch kein
fertiges Zertifizierungssystem! Auf die Idee, ein fertiges,
frei verfügbares und erprobtes Verfahren, wie INSIKA,
abzulehnen und dafür auf ein Sicherheitssystem, das ja
noch gar nicht existiert, zu setzen, muss man erst mal
kommen .
Die Steuerjuristen geben an, dass sie den Einsatz des
INSIKA-Verfahrens ablehnen, weil dieses nicht techno-
logieoffen sei . Dabei verkennt dieses – falsche – Argu-
ment, dass es nicht um eine Technologie geht, sondern
um das Prinzip: Im Kern kommt es darauf an, dass die
eingegebenen Daten dem real getätigten Umsatz entspre-
chen sollen und auch wirklich in das System übernom-
men werden – deshalb Belegausgabe mit Signatur – und
fälschungs- bzw . manipulationssicher gespeichert wer-
den – deshalb Übertragung an eine fälschungssichere
Hardwareeinheit („Stick“) oder einen fälschungssicheren
Speicher, zum Beispiel per Datenübertragung an ein un-
abhängiges System . Diese Prinzipien müssen manipula-
tionssicher umgesetzt werden. Die mit der Zertifizierung
von Software verbundene Lösung im Gesetzentwurf
sucht sich nun gerade die Technologie aus, die weder fäl-
schungssicher noch unmittelbar einsetzbar – weil noch
nicht entwickelt –, noch kostenmäßig heute verlässlich
erfassbar ist. Denn der Aufwand der Zertifizierung und
die mit dem Zertifizierungsvorgang verbundene Inflexi-
bilität können kostenmäßig noch nicht belastbar beziffert
werden .
Deshalb fordere ich die Koalitionsfraktionen dazu
auf, diesen Gesetzentwurf gründlich nachzubessern . Der
Steuerbetrug mit manipulierten Kassensystemen kann
nur dann endlich beendet werden, wenn die Unverän-
derbarkeit und die Vollständigkeit der aufgezeichneten
Geschäftsvorgänge sichergestellt ist . Um diese Anforde-
rungen zu erfüllen, muss der Gesetzentwurf um eine ge-
setzliche Belegausgabepflicht ergänzt werden. Außerdem
sollte das INSIKA-Verfahren in der jetzt vorliegenden
Form zugelassen werden . Damit stünde eine Sicherheits-
lösung sofort zur Verfügung . Es kann nicht sein, dass die
Manipulation der Kassen noch über Jahre hinweg mög-
lich sein wird . Die Bundesregierung macht sich dann
ähnlich schuldig, wie sie es durch gezieltes Wegschauen
bei manipulierter Software bei der Motorsteuerung von
Autos gemacht hat – im Falle des Umsatzbetruges mit
manipulierten Kassensystemen zum Schaden aller Ver-
braucherinnen und Verbraucher .
Durch den Betrug mit manipulierten Kassen entge-
hen den Haushalten von Bund und Ländern Jahr für Jahr
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618940
(A) (C)
(B) (D)
schätzungsweise 5 bis 10 Milliarden Euro . Problemver-
schärfend ist, dass steuerloyale Unternehmen zunehmend
unter den Wettbewerbsnachteilen gegenüber steuerun-
ehrlichen Konkurrenten leiden . Das Grundprinzip unse-
res Wirtschaftssystems, der freie und faire Wettbewerb,
ist in bestimmten Wirtschaftszweigen stark gefährdet . Es
ist höchste Zeit, endlich zu handeln!
Dr. Michael Meister, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Zur Erhaltung unseres funk-
tionstüchtigen und wettbewerbsfähigen Steuersystems
und eines effektiven Steuervollzugs hat die Bundesre-
gierung den Gesetzentwurf zum Schutz vor Manipula-
tionen an digitalen Grundaufzeichnungen eingebracht .
Der Entwurf stellt, wie ich finde, einen sehr guten Aus-
gangspunkt für die Diskussion dar, die darauf abzielen
muss, eine angemessene Lösung zur Bewältigung dieses
Problems zu finden, um dem Verfassungsauftrag einer
gleichmäßigen, gesetzmäßigen und verhältnismäßigen
Besteuerung auch in Zukunft gerecht zu werden .
Dazu ist es erforderlich, dass das steuerliche Verfah-
rensrecht mit den veränderten technischen Möglichkei-
ten Schritt halten und sowohl rechtlich als auch technisch
weiterentwickelt wird . Dies war bereits wesentliches An-
liegen des kürzlich verabschiedeten Gesetzes zur Moder-
nisierung des Besteuerungsverfahrens .
Auf eine solche Weiterentwicklung zielt auch der vor-
gelegte Gesetzentwurf, in dem digitale Grundaufzeich-
nungen vor Manipulationen geschützt werden sollen . Bei
digitalen Grundaufzeichnungen handelt es sich zum Bei-
spiel um elektronische Kassendaten .
Aufgrund der vielfältigen, modernen, digitalisierten
und technisierten Möglichkeiten, können diese digi-
talen Kassendaten ohne großen Aufwand in der Praxis
nachträglich manipuliert werden . Das heißt, nach der
Dateneingabe in die Kasse werden zum Beispiel nicht
dokumentierte Änderungen oder Stornierungen vorge-
nommen .
Weitere Manipulationsmöglichkeiten sind, dass Vor-
gänge über einen langen Zeitraum offengehalten werden
oder dass noch vor Abschluss der Dateneingabe eine Ma-
nipulation, das heißt eine nicht protokollierte Änderung
der eingegebenen Daten, erfolgt .
Vermehrt befindet sich auch Manipulationssoftware im
Einsatz . Diese Software ermöglicht umfassende Ände-
rungen und Löschungen von Daten, indem zum Beispiel
Datenbanken inhaltlich ersetzt oder Bedienereingaben
unterdrückt werden . Der Einsatz solcher Manipulations-
software ist bei einer systematischen Anwendung in der
Praxis für die Finanzbehörden kaum erkennbar .
Diesem Phänomen der Manipulation an digitalen
Grundaufzeichnungen soll der von der Bundesregierung
beschlossene Gesetzentwurf entgegenwirken . Ziel ist es,
die Unveränderbarkeit von digitalen Grundaufzeichnun-
gen sicherzustellen und Manipulationen einen Riegel
vorzuschieben . Dies klingt sehr abstrakt . Daher lassen
Sie mich kurz verdeutlichen, was im Wesentlichen mit
diesem Gesetzentwurf erreicht werden soll:
Nachträgliche Manipulationen an digitalen Grundauf-
zeichnungen sollen künftig erkennbar sein und dadurch
vermieden werden .
Durch die vorgesehene Protokollierung, die zeitgleich
mit dem Zeitpunkt der Erfassung der Daten beginnt, soll
vor Abschluss des Geschäftsvorfalls eine weitere bereits
erkannte Manipulationsmöglichkeit ausgeschlossen wer-
den .
Auch „sonstige Vorgänge“ sind künftig aufzeich-
nungspflichtig. Hierdurch wird verhindert, dass tatsächli-
che Geschäftsvorfälle durch „Trainingsbuchungen“ oder
den „Trainingskellnermodus“ verschleiert werden .
Das vorgesehene Zertifizierungsverfahren hat neben
dem Aspekt der Technologieoffenheit den großen Vorteil,
dass neuen Manipulationsmöglichkeiten schnell begeg-
net werden kann und diese verhindert werden können,
zum Beispiel durch Änderungen bzw . Anpassungen der
Technischen Richtlinien oder Schutzprofile. Das heißt,
dieses fortschreibbare und lernende System ist kurzfris-
tig anpassbar, sodass Zeiträume für mögliche neue Mani-
pulationen sehr kurz gehalten werden können .
Um dieses System wirksam auszugestalten, soll es
zukünftig in Deutschland verboten sein, gewerbsmäßig
nicht zertifizierte technische Sicherheitseinrichtungen in
den Verkehr zu bringen oder zu bewerben .
Mit der Möglichkeit einer nicht angekündigten Kas-
sennachschau wird ein nicht kalkulierbares Entdeckungs-
risiko geschaffen .
Darüber hinaus wird der Ordnungswidrigkeitstatbe-
stand bei Verstößen gegen die neuen Aufzeichnungs-
pflichten erweitert. Zuwiderhandlungen können künftig
mit einer Geldbuße von bis zu 25 000 Euro geahndet
werden .
Erstmals liegt ein Gesetzentwurf vor, der die Chance
bietet, erkannten Manipulationen an digitalen Grundauf-
zeichnungen wirksam zu begegnen .
Die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfs hat einige Zeit
in Anspruch genommen, da es sich um eine technisch an-
spruchsvolle Materie handelt und aus Sicht der Bundes-
regierung sichergestellt werden musste, dass neben den
bereits erkannten Manipulationsmöglichkeiten auch zu-
künftigen Manipulationen – die es mit Sicherheit geben
wird – schnell begegnet werden kann .
Wie dieses Ziel erreicht werden könne, darüber gab es
viele und intensive Diskussionen . In diesen Diskussionen
bestand mit allen Beteiligten Konsens, dass es dieses Ziel
zu erreichen gilt . Umstritten ist jedoch, welches techni-
sche Konzept zugrunde gelegt werden sollte .
Die Bundesregierung hat sich immer für ein tech-
nologieoffenes Verfahren ausgesprochen, auch um den
europarechtlichen Anforderungen gerecht zu werden .
Darüber hinaus ermöglicht ein solches Verfahren, dass
wissenschaftlicher und technischer Fortschritt – wofür
unser Land gerade Maßstab ist – nicht behindert wird .
An dieser Stelle möchte ich daher hervorheben,
dass aufgrund der Technologieoffenheit auch die
INSIKA-Technik, die verschiedentlich Erwähnung findet
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18941
(A) (C)
(B) (D)
und die Ihnen sicherlich geläufig ist, als ein mögliches
Verfahren grundsätzlich zertifizierungsfähig und damit
zulässig ist .
Daher hoffe ich, dass wir uns in den parlamentarischen
Beratungen nicht über einzelne technische Verfahren
auseinandersetzen, um zu bewerten, welches vielleicht
besser als das andere ist, sondern dass wir das Ziel – die
Bekämpfung der Manipulationen – im Auge behalten .
Auf der Grundlage des Gesetzentwurfs sollte es mei-
nes Erachtens möglich sein, eine politische Einigung zu
finden. Gelänge dies nicht, würde dies allein zulasten der
Steuerehrlichen gehen .
Es wäre der Öffentlichkeit auch nicht vermittelbar,
wenn wir alle betonen, Manipulationen bekämpfen und
den schwarzen Schafen das Handwerk legen zu wollen,
es jedoch nicht schaffen, uns auf rechtliche Grundlagen
dafür zu verständigen . Nunmehr bietet sich uns die ein-
malige Chance hierzu . Wir sollten diese nutzen und nicht
in die Auseinandersetzungen der vorherigen Jahre zu-
rückfallen .
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
bewachungsrechtlicher Vorschriften (Tagesord-
nungspunkt 18)
Dr. Kristina Schröder (Wiesbaden) (CDU/CSU):
Ich freue mich sehr, dass wir heute das vom Bundeswirt-
schaftsministerium vorgelegte Gesetz zur Änderung be-
wachungsrechtlicher Vorschriften abschließend beraten .
Wir beschließen damit eine Reform, die Wirtschafts- wie
Innenpolitiker auf Bundes- wie Länderebene vorange-
trieben haben . Denn sie verbessert die Standards unserer
privaten Sicherheitsbranche – einer Branche, die schon
seit Langem ihren schlechten Ruf hinter sich lassen
möchte und daher stärkerer Regulierung zustimmt . Und
sie verbessert damit maßgeblich die Architektur unserer
inneren Sicherheit .
Private Bewacher übernehmen immer mehr Aufgaben,
auch im öffentlichen Raum und in sehr sensiblen Berei-
chen wie Flüchtlingsunterkünften . Da war es dringend
angezeigt, dass der Gesetzgeber hier auch den regulato-
rischen Rahmen schafft, der dem gerecht wird . Und auch
der Anschlag von Ansbach im Juli hat die Notwendig-
keit dieser Maßnahmen belegt . Dort sind Menschenleben
gerettet worden, weil die Einlasskontrolle der Großver-
anstaltung zuverlässig funktioniert hat . Weil hier gutes
Personal richtig reagiert hat .
In den parlamentarischen Beratungen haben mein
Kollege Marcus Held, Berichterstatter der SPD, und ich
in enger Zusammenarbeit mit dem BMWI sehr gute Er-
gebnisse erzielt . Die Grundlage dafür waren die Ergeb-
nisse der zu dem Thema eingerichteten Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe, in die sich viele Fachleute aus der Praxis,
zum Beispiel aus IHKen und Gewerbeämtern, einge-
bracht haben . Die wichtigsten Maßnahmen des Gesetzes
sind folgende: Es wird ein bundesweites, elektronisch
auswertbares Bewacherregister aufgebaut werden, das
Daten über Unternehmer und Personal enthalten wird .
Also zum Beispiel, ob die notwendigen Prüfungen und
Unterrichtungen durchlaufen wurden und ob die Zuver-
lässigkeit geprüft wurde . Das erleichtert Kontrollen vor
Ort und wird die Transparenz in der Branche ein großes
Stück nach vorn bringen . Herr Held und ich haben uns
sehr dafür starkgemacht, dass dieser wichtige Schritt jetzt
gemacht und nicht auf die lange Bank geschoben wird .
Auch Bewachungsunternehmer müssen künftig einen
Sachkundenachweis mit Prüfung erbringen, ebenso Be-
wachungspersonal, das bei der Bewachung von Flücht-
lingsunterkünften und Großveranstaltungen in leitender
Funktion eingesetzt wird . Denn diese Einsatzorte sind
besonders sicherheitsrelevant und erfordern spezielle
Kenntnisse .
Für die Zuverlässigkeitsprüfung, die alle Gewerbe-
treibenden und das gesamte Personal vor Einstellung
durchlaufen müssen, holen die zuständigen Behörden
künftig über Polizeibehörden, Bundes- und Gewerbezen-
tralregister deutlich mehr Informationen ein, um die Se-
riosität und Eignung für die Branche abzufragen . Bislang
kommt man schon mit einem einfachen Führungszeugnis
aus und wird für den Rest des Arbeitslebens nicht mehr
überprüft . Auch eine regelmäßige Wiederholung der Zu-
verlässigkeitsprüfung im Rhythmus von fünf Jahren wird
etabliert, und der überholte Katalog der Straftaten, bei
denen eine Unzuverlässigkeit angenommen wird, wird
um einige Vergehen erweitert .
Mit Hinblick auf die Gefahr von islamistischen An-
schlägen in Deutschland und auf die Vorfälle in Flücht-
lingsunterkünften, bei denen Bewacher übergriffig
wurden, war es von Beginn an mein Ziel, dass auch
Informationen der Verfassungsschutzbehörden in die
Zuverlässigkeitsüberprüfung einbezogen werden . Das
gewichtige Gegenargument war, ob es wirklich erfor-
derlich und praktikabel sei, dass jedes einzelne Gewer-
beamt mit den Verfassungsschutzbehörden in Kontakt
tritt, zumal die Anforderungen an sichere Schnittstellen,
Datenschutz usw . enorm seien . Als schlanke Lösung ha-
ben wir dann den Vorschlag erarbeitet, die Verfassungs-
schutzabfragen digital und automatisiert über das neu ge-
schaffene Bewacherregister abzuwickeln . Es wird so nur
eine Schnittstelle zwischen der Verbunddatei der Verfas-
sungsschutzbehörden und dem Register geben müssen .
Unsere 150 Gewerbeämter müssen somit nicht selbst mit
dem Verfassungsschutz in Kontakt treten . Über das Re-
gister wird nun also für alle Gewerbetreibenden sowie
alle Bewacher von Flüchtlingsunterkünften und zugangs-
beschränkten Großveranstaltungen eine Regelabfrage
beim Verfassungsschutz erfolgen . Das stellt sicher, dass
Personen, die als extremistisch eingestuft werden, der
Zugang zu dem Berufsfeld verweigert wird .
Damit verbunden ist folgerichtig auch eine Nachbe-
richtspflicht, die wir ebenfalls in den parlamentarischen
Verhandlungen in das Gesetz einbringen konnten . Sie
stellt sicher, dass auch im Zeitraum zwischen zwei Zu-
verlässigkeitsprüfungen sicherheitsrelevante Informa-
tionen aus der Extremismusbeobachtung die Gewerbe-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618942
(A) (C)
(B) (D)
ämter erreichen werden . Hierfür muss nur ein Minimum
an Identifizierungsdaten über die zuverlässigkeitsüber-
prüften Personen gespeichert werden . Zu einem Daten-
sammeln kommt es ausdrücklich nicht, auch wenn die
Rechtspolitiker der SPD davor große Angst hatten .
Kurzum: Ich halte die Punkte Regelabfrage und Nach-
berichtspflicht in dieser Gesetzesnovelle für entschei-
dend . Denn es wäre schließlich ein schreckliches Sze-
nario, wenn ein unseren Verfassungsbehörden bekannter
Islamist in einem Fußballstadion als Bewacher arbeiten
und dort einen Anschlag verüben könnte, nur weil der
Informationsfluss vom Verfassungsschutz zu den Gewer-
bebehörden nicht funktioniert .
Ich freue mich, dass wir somit ein gutes, durchdachtes
und mit den Praktikern abgestimmtes Gesetz verabschie-
den, das die Anforderungen an die Branche angemessen
anhebt . Denn es geht in der Tat um elementare, sicher-
heitspolitische Fragestellungen .
Vielen Dank an alle, die an der Novelle von § 34a der
Gewerbeordnung konstruktiv mitgewirkt haben, insbe-
sondere an meinen Berichterstatterkollegen von der SPD,
Marcus Held .
Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Ich
bin dankbar, dass ich als Innenpolitiker heute die Mög-
lichkeit erhalte, über den Gesetzentwurf hier sprechen zu
dürfen . Wer jetzt glaubt, ein Innen- und Sicherheitspo-
litiker hat hierzu garantiert sehr puristische Auffassun-
gen – vielleicht der Wirtschaft schwer vermittelbar –, der
irrt . Denn ich habe auch als ehemaliger Polizist schon
meine Meinung zum Thema Sicherheitswirtschaft im
Laufe der Jahre verändert . Warum? Die Polizei kann die
stetig wachsende Aufgabenfülle und die damit gestie-
genen Qualitätsanforderungen immer schwerer bewälti-
gen . Dies liegt auch daran, dass es für die öffentlichen
Haushalte in Bund und Ländern immer schwieriger wird,
die Schuldenbremse einzuhalten und gleichzeitig hohe
Investitionsmittel im Bereich der inneren Sicherheit zur
Verfügung zu stellen . Deshalb erscheint mir Aufgaben-
kritik bei der Polizei sehr wichtig, ohne allerdings dabei
das staatliche Gewaltmonopol anzutasten .
Ich bin heute vielmehr der Ansicht, dass bestimmte
sicherheitsrelevante Aufgaben verstärkt von Sicherheits-
unternehmen ausgeführt und wahrgenommen werden
können . Dass dies möglich ist, zeigt sich schon heute bei
internationalen Sportveranstaltungen, Risikofußballspie-
len, sonstigen Großveranstaltungen, Besuchen hochran-
giger Vertreter anderer Staaten, im Bereich des öffent-
lichen Personenverkehrs, Schwerlasttransporten und der
Bewachung von Flüchtlingsunterkünften . Nicht zuletzt
auch die von Unternehmen wahrgenommenen Sicher-
heitsaufgaben im Bereich der kritischen Infrastrukturen
beweisen, wie ernsthaft wir uns dieser Thematik widmen
sollten . Gleichzeitig zeigen diese Beispiele, wie die Po-
lizei und damit der öffentliche Haushalt entlastet werden
kann .
Sicherheit darf natürlich nicht abhängig sein von der
Frage, welche finanziellen Mittel zur Verfügung stehen.
Deshalb muss der Kern staatlicher Aufgabenwahrneh-
mung, also das Gewaltmonopol des Staates, klar garan-
tiert sein . Staatliche und private Sicherheitskräfte sind
dann in der Lage, als gut eingespieltes Team zusammen-
zuarbeiten, und zwar im Interesse der inneren Sicherheit .
Das Potenzial der deutschen Sicherheitswirtschaft ist be-
reits hoch . Mit knapp 250 000 Mitarbeitern könnte diese
Branche ein veritabler Bestandteil der deutschen Sicher-
heitsarchitektur sein, aus meiner Sicht ist er es faktisch
bereits . Allerdings sind die Qualitätsanforderungen, die
wir im Bereich der öffentlichen Sicherheit stellen, sehr
hoch . Daher braucht es einen solchen hohen Qualitäts-
standard auch in der Sicherheitswirtschaft .
Wer guten Gewissens Sicherheitsdienstleistungen
dem Sicherheitsgewerbe zuweisen möchte, der muss sich
darauf verlassen können, dass die Qualität den Standards
entspricht, die der Bürger von uns gewohnt ist und auch
erwartet . Das sehe ich heute in der Sicherheitswirtschaft
noch nicht in ausreichendem Maße gewährleistet . Es
gibt erkennbare Defizite. Nur ein Beispiel dafür sind die
zahlreichen Vorfälle der Vergangenheit, wo es in Flücht-
lingsunterkünften zu erheblichem Fehlverhalten von
Sicherheitspersonal gekommen ist . Der Gesetzentwurf
soll dazu dienen, die Qualitätsanforderung an deutsche
Sicherheitsunternehmen erkennbar zu steigern .
Kurzfristig gedacht wirken diese höheren Qualitäts-
standards vermeintlich belastend für die Unternehmen .
Ich bin jedoch der Überzeugung, dass sich hohe Qualität
immer durchsetzen wird . Öffentliche Auftraggeber kön-
nen viel leichter Aufgabengebiete verlagern, wenn die
Qualitätskriterien und das Image der Branche stimmen .
Am langen Ende wird die Sicherheitswirtschaft davon
profitieren, weil wir sie zu Qualität und damit auch zum
Erfolg ein wenig zwingen .
Nehmen wir das Beispiel Schweiz . Dort sind Quali-
tätsstandards und das Image der Sicherheitswirtschaft
herausragend gut . Aus Sicht der Bevölkerung stehen sich
Sicherheitsunternehmen und Polizei in fast nichts nach .
Allerdings wird dort auch wesentlich mehr in Zulassung,
Überprüfung oder Aus- und Fortbildung investiert .
Der hier vorliegende Gesetzentwurf ist ein sehr guter
und wichtiger Schritt . Wir heben die Standards und ha-
ben die Anforderungen an Gewerbetreibende verschärft .
Nicht nur Bewachungsunternehmer müssen künftig einen
Sachkundenachweis erbringen, sondern ebenso Bewa-
chungspersonal, das bei der Bewachung von Flüchtlings-
unterkünften und Großveranstaltungen in leitender und
nicht leitender Funktion eingesetzt wird . In Bezug auf
die Zuverlässigkeit ist nunmehr neben Auskünften des
Gewerbezentralregisters, der Polizeibehörde, des Bun-
deszentralregisters auch die Möglichkeit einer Abfrage
bei den Landesbehörden für Verfassungsschutz gegeben .
Im Rahmen der Zuverlässigkeitsprüfung wird künftig für
alle Gewerbetreibende sowie alle Bewacher von Flücht-
lingsunterkünften und zugangsbeschränkten Großveran-
staltungen eine Regelabfrage beim Verfassungsschutz
erfolgen . Des Weiteren haben wir gesetzliche Regelbei-
spiele, die eine Unzuverlässigkeit begründen, eingeführt .
Insbesondere das bundesweit einzuführende Bewacher-
register war uns sehr wichtig, und hier danke ich aus-
drücklich meiner Fraktionskollegin Frau Dr . Schröder für
ihren Einsatz . Man könnte es auch als Gunst der Stunde
bezeichnen, denn sie als ehemalige Innenpolitikerin hat
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18943
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hier eine sehr gute Balance zwischen Wirtschafts- und
Innenpolitik erreicht .
Die Union sieht das bisher Erreichte als Erfolg, kann
sich aber in Zukunft noch weitere Schritte in diese Rich-
tung vorstellen .
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung der
Branche halten wir ein sektorspezifisches Gesetz durch-
aus für angemessen . Sinn und Zweck einer gewerblichen
Bewachung – so die Intention des § 34a GewO – ist der
gewerbsmäßige Schutz fremden Lebens und Eigentums .
Die Sicherheitswirtschaft hat sich mittlerweile jedoch zu
einem so wichtigen und vielfältigen Teil der Sicherheits-
architektur entwickelt, dass es immer schwererfällt, dies
alles unter lediglich eine Vorschrift des Gewerberechts
zu subsumieren . Ein einheitliches Gesetz erschiene mir
hier angemessener .
Des Weiteren sollten wir in einem nächsten Schritt
überlegen, ob eine einheitlich geregelte Berufsausbil-
dung generell als Zugangsvoraussetzung für eine Tätig-
keit im Sicherheitsgewerbe den gestiegenen Anforde-
rungen und einem besseren Image dieses Berufsstandes
nicht zuträglich wäre .
Abschließend möchte ich aber noch einmal betonen,
dass wir mit dem heute vorgelegten Gesetzesentwurf
deutlich mehr Sicherheit und Qualität im Sicherheits-
gewerbe auf den Weg bringen . Ich bitte Sie um Zustim-
mung .
Marcus Held (SPD): Heute behandeln wir abschlie-
ßend den Regierungsentwurf zur Änderung bewa-
chungsrechtlicher Vorschriften . Es ist ein gutes Gesetz
geworden, was wir zusammen in der Koalition im par-
lamentarischen Verfahren erarbeitet haben . Mein Dank
gilt deswegen auch den Unionskolleginnen und -kolle-
gen und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den
Bundesministerien für die gute Zusammenarbeit . Es ist
wichtig, dass wir dieses Gesetz nun auf den Weg bringen .
Denn nach verschiedenen Vorfällen und Übergriffen in
Flüchtlingsheimen, aber auch im Hinblick auf Großver-
anstaltungen brauchen wir vor allem ein gutes Überwa-
chungsgewerbe mit qualifiziertem Personal. Ein solches
konnte ich jüngst auch in meinem Wahlkreis kennenler-
nen, das ich dann auch in meiner Funktion als ehrenamt-
licher Stadtbürgermeister von Oppenheim für das hiesige
Weinfest engagiert hatte . Die Medien waren nach dem
viertägigen Weinfest voll des Lobes über dieses Unter-
nehmen . Denn es gab nur wenige Zwischenfälle auf dem
Weinfest . Der Oppenheimer Polizeichef wird in den Me-
dien mit den Worten zitiert: „Das war eine gute Maßnah-
me, sie sind zivil und deeskalierend, aber sehr präsent
aufgetreten .“ Deshalb gab es auf dem Fest auch keinen
einzigen Taschen- oder Handydiebstahl .
Private Sicherheitsdienste sind, wie ich bereits mehr-
mals betont habe, ein wichtiger Bestandteil in der Sicher-
heitsarchitektur Deutschlands und an vielen Stellen nicht
mehr wegzudenken . Immerhin über 200 000 Beschäftig-
te hat das Sicherheitsgewerbe . Deswegen haben wir uns
in der SPD-Bundestagsfraktion auch intensiv mit dem
Thema auseinandergesetzt . Dabei galt es, wie ich dies am
Beispiel der Security-Firma in meinem Wahlkreis betont
hatte, die bisher seriösen privaten Sicherheitsgewerbe zu
stärken, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen
und gut qualifiziertes Personal haben, und die schwarzen
Schafe, die es ja leider auch im privaten Sicherheitsge-
werbe gibt, einzudämmen . Mit unter anderen folgenden
Maßnahmen soll dies zukünftig gelingen: Sachkunde-
nachweise als Erlaubnisvoraussetzung für Bewachungs-
unternehmer, Sachkundenachweise für Bewachungsper-
sonal in leitender Funktion, das Flüchtlingsunterkünfte
oder zugangsgesicherte Großveranstaltungen bewacht,
die Möglichkeit einer Anfrage beim Verfassungsschutz
bezüglich des Bewachungsunternehmers und von Wach-
personen, die Flüchtlingsunterkünfte oder Großveran-
staltungen bewachen sollen und regelmäßige Überprü-
fung der Zuverlässigkeit des Bewachungsunternehmers
und des -personals .
Das Herzstück des Gesetzes ist allerdings die Ein-
richtung eines Bewacherregisters bis zum 31 . Dezember
2018 . Hier sollen die Daten der Bewachungsunternehmer
und des -personals bundesweit erfasst werden . In einer
Verordnung wird zusätzlich geregelt, dass das Mitführen
eines Bewacherausweises zzgl . das Mitführen von Iden-
tifizierungsdokumente verpflichtend wird.
Ein, wie ich finde, guter Gesetzentwurf, den wir heute
zu beschließen haben . Doch eins möchte ich hier eben-
falls nicht unerwähnt lassen . Die innere Sicherheit ist ne-
ben der äußeren und der sozialen Sicherheit ein wichtiges
Bedürfnis für unsere Bürgerinnen und Bürger . Die hohe
Abfrage beim KfW-Förderprogramm zum Einbruchs-
schutz zeigt dies . Hier muss auch ein Schwerpunkt unse-
rer parlamentarischen Arbeit liegen .
Das Ende der Einsparungen bei der Bundespolizei in
den letzten Jahren konnte die SPD gegenüber dem Koa-
litionspartner zum Glück durchsetzen . Mehr Bundespoli-
zisten werden in den nächsten Jahren wieder eingestellt .
Auch in den Ländern darf beim Polizeipersonal nicht ge-
spart werden .
Qualifizierte Sicherheitsunternehmen werden zu-
künftig die Sicherheitsstruktur in Deutschland stärken
können . Ich bin mir sicher, dass der vorliegende Ge-
setzentwurf dies umsetzen wird, sodass seriöse private
Sicherheitsunternehmen mit gut ausgebildetem Personal
gestärkt werden und Vorfälle, wie wir sie in der Vergan-
genheit in Flüchtlingsunterkünften oder Großveranstal-
tungen erleben mussten, verhindert werden können .
Thomas Lutze (DIE LINKE): Die private Sicher-
heitsbranche ist im Zuge der verstärkten Flüchtlingszu-
wanderung deutlich gewachsen . Rund 10 000 der rund
219 000 Beschäftigten im Bewachungsgewerbe sind
inzwischen in Flüchtlingsunterkünften tätig . Gab es im
Jahr 2000 noch 2 570 Wach- und Sicherheitsdienste, sind
nun etwa 4 000 Firmen auf dem Markt . Die Zahl der
Mitarbeiter ist innerhalb der letzten sechs Jahre in der
gesamten Branche um 48 000 angestiegen . Jene Mitar-
beiter, die im Bereich des Schutzes von Flüchtlingsun-
terkünften tätig sind, tragen oftmals Waffen, obwohl sie
im Durchschnitt nur etwa zwei Wochen geschult werden .
Die Liste der Vorfälle, in denen es in den letzten Jahren zu
Fehlverhalten und Straftaten durch Sicherheitspersonal
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618944
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kam, ist lang . Die Linksfraktion begrüßt es daher, dass
die Bundesregierung angesichts der weiter steigenden
Zahl von Bewachungsunternehmen erhöhte Standards
einführen möchte, ebenso die regelmäßige Überprüfung
von Unternehmen und Personal . Es ist überfällig, dass
gesetzlich sichergestellt wird, dass die Gewerbetreiben-
den und das Personal Standards der persönlichen Eig-
nung, Zuverlässigkeit und Sachkunde erfüllen . Obwohl
wir einzelne Maßnahmen begrüßen und glauben, dass sie
eine Verbesserung darstellen, ist der Gesetzentwurf ins-
gesamt jedoch ungenügend .
Hierbei ist insbesondere die vorgesehene Möglichkeit
des Datenabgleichs mit den Landesämtern für Verfas-
sungsschutz zu kritisieren . Es ist nicht geregelt, ob die
Landesämter lediglich melden, ob es einen Treffer im
nachrichtendienstlichen Informationssystem gibt oder
nicht oder ob die Landesämter im eigenen Ermessen eine
Zuverlässigkeitsprognose abgeben sollen . Nicht nach-
vollziehen können wir, dass die Regelungen zum Fach-
kundenachweis nur bei bestimmten Tätigkeiten, nicht
aber im gesamten Wachschutzgewerbe gelten sollen .
Letztendlich fehlen auch konkrete Vorgaben hinsichtlich
des genauen Inhalts und der Qualität der Ausbildung .
Zwar wird durch verstärkte Kontrolle und ein bisschen
mehr Transparenz auf die katastrophale Situation reagiert,
jedoch ändert das nichts daran, dass die gegenwärtige
Entwicklung der Privatisierung von Sicherheitsaufgaben
ganz grundsätzlich bedenklich ist . Es wird Zeit, dass hier
grundlegend umgedacht wird . Dass man dazu aber nicht
bereit ist, zeigen die verschiedenen Rufe der Union nach
mehr sogenannten Hilfspolizisten . Deren Ausbildung
im Schnellverfahren ist aber ganz sicherlich nicht der
richtige Weg . Nach maximal drei Monaten Ausbildung
bereits mit Schusswaffe in Flüchtlingsunterkünften ein-
gesetzt zu werden, wo schnell eine Situation entstehen
kann, unter großem Stress eine Entscheidung zu treffen,
kann verheerende Folgen haben . Hierzu braucht es viel-
mehr eine intensive Polizeiausbildung und umfassende
Rechtskenntnisse . Letztendlich handelt es sich hierbei
um jene Ausbildung, welche private Sicherheitsdienste
nur in deutlich geringerem Maße gewährleisten . Daran
werden auch die nun geplanten erhöhten Standards nichts
ändern. Deshalb findet der vorliegende Antrag bei der
Linken keine Zustimmung .
Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Inzwi-
schen sind zwei Jahre vergangen, seit 2014 die schweren
Übergriffe von Mitarbeitern privater Sicherheitsdienste
auf Menschen in Flüchtlingsunterkünften stattgefunden
haben .
Zeit genug also, ein umfassendes Regelungskonzept
zu erarbeiten – sollte man meinen . Daher wundert mich
schon, dass im vorliegenden Entwurf nach – zahlreichen
zum Teil auch guten Änderungen – der Bereich Aus-,
Weiter- und Fortbildung nun letztlich weitgehend ausge-
klammert bleiben soll . Dabei sind das doch gerade die
entscheidenden Instrumente, mit denen am besten Qua-
lität gefördert und der notwenige Schutz der Grund- und
Menschenrechte in der täglichen Arbeit verankert wer-
den kann .
Hier wäre eine inhaltliche Reglung wichtig, die an-
gemessen auf die unterschiedlichen Einsatzgebiete und
die damit jeweils verbundenen Anforderungen eingeht .
Aus genau diesem Grund reicht es auch nicht, wenn bei-
spielsweise im Flüchtlingsbereich nur bei einer leitenden
Funktion eine Sachkundeprüfung verlangt wird . Das
wird der übertragenen Aufgabe nicht gerecht und schafft
auch im Übrigen nicht die Grundlage für eine gute Zu-
sammenarbeit mit staatlichen Stellen .
Auch wäre es sinnvoll, konkrete Regelungen vorzuse-
hen, die geeignet sind, bei privaten Sicherheitsdiensten
die im öffentlichen Interesse notwenige Transparenz her-
zustellen . Das gilt dabei besonders für die Sicherheits-
dienste, die im staatlichen Auftrag tätig werden . Denn
gerade im staatlichen Auftrag müssen hohe Maßstäbe
gelten und auch eingehalten werden . Anders ist die Mit-
wirkung privater Dienstleister an der Gemeinschaftsauf-
gabe „Innere Sicherheit“ jedenfalls nicht vorstellbar und
auch nicht zielführend .
Und dabei muss auch klar sein und klar bleiben, dass
das staatliche Gewaltmonopol nicht aufgeweicht werden
darf . Schließlich gibt es gute Gründe, die Ausübung ho-
heitsrechtlicher Befugnisse in der Regel nur Angehöri-
gen des öffentlichen Dienstes zu übertragen .
Der vorliegende Gesetzentwurf bleibt somit trotz ei-
niger Verbesserungen weiter hinter dem Antrag meiner
Fraktion vom Dezember 2014 zurück .
Wie sich das Gesetz in der Praxis bewähren wird,
hängt jetzt aber auch davon ab, wie der Vollzug ausge-
staltet wird, wobei die wahrscheinlich wichtigste Fragen
lauten dürfen: Wird die Zuverlässigkeitsprüfung dazu
führen, dass zukünftig keine bekennenden Rechtsextre-
men mehr in Flüchtlingsunterkünften eingesetzt werden?
Wird das geforderte Register so aufgebaut, dass tatsäch-
lich wirksame Kontrollen vor Ort möglich werden?
Ich hoffe, da wurde in den letzten zwei Jahren auch
schon Vorarbeit geleistet . Wenig ambitioniert erscheint
mir da aber, dass wesentliche Regelungen zur Zuverläs-
sigkeitsprüfung erst 2019 in Kraft treten sollen .
Eines muss uns allen jedenfalls klar sein: Vorkomm-
nisse wie die von 2014 dürfen sich nicht wiederholen!
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Axel
Troost, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Solidaritätszuschlag für gleichwertige Lebensver-
hältnisse in ganz Deutschland verwenden (Tages-
ordnungspunkt 19)
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Liebe Kollegin-
nen und Kollegen der Linken, auch ich bin der Meinung,
dass der Bund auch nach dem Auslaufen des Solidarpak-
tes II Ende 2019 mit in der Verantwortung ist, für gleich-
wertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu sorgen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18945
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Ich sehe die Lösung allerdings nicht wie Sie in der
Fortführung des Solidaritätszuschlags, der schon jetzt
nicht zweckgebunden in die Finanzierung der deutschen
Einheit, sondern in den allgemeinen Bundeshaushalt
fließt. Gleichwohl werden vom Bund enorme Lasten für
die Entwicklung der neuen Länder geschultert .
Was den Bundeshaushalt angeht, erwarten wir weiter-
hin eine gute Entwicklung der Steuereinnahmen . Gleich-
zeitig sparen wir aufgrund des Niedrigzinsumfelds und
der soliden Haushaltspolitik unseres Finanzministers
Zinsausgaben .
Angesichts einer derartig guten Kassenlage finde ich
es den Steuerzahlern gegenüber unverantwortlich, zu for-
dern, eine Abgabe auf alle Ewigkeit weiterzuführen, bei
deren Einführung wir den Bürgern versprochen hatten,
dass sie nur auf Zeit erhoben werden würde .
Abgesehen davon gibt es nicht unberechtigte Zwei-
fel hinsichtlich der Verfassungsgemäßheit unbegrenzter
Fortführung . Und diese Ansicht wird von den Spitzen
der Union geteilt: Im vergangenen Jahr haben sie sich
auf einen schrittweisen Abbau des Soli ab dem Jahr 2020
geeinigt . Ein solches Vorgehen halte ich sowohl für haus-
haltsverträglich als auch dem Steuerzahler gegenüber
verantwortbar . Und damit ist es ein Vorhaben, das die
CSU-Landesgruppe voll und ganz unterstützt .
Eine Lösung für die finanzielle Ausstattung finanz-
schwacher Länder – unabhängig von der Himmelsrich-
tung – zu finden, ist meines Erachtens in erster Linie
eine Aufgabe, die bei der laufenden Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzbeziehungen gelöst werden muss .
Hier liegen bereits Vorschläge auf dem Tisch, die durch-
aus ohne eine Beibehaltung des Soli auskommen . Und
auch der Bund stiehlt sich hier nicht aus der Verantwor-
tung, sondern ist bereit, einen erheblichen finanziellen
Beitrag zu leisten .
Der Bund leistet schon jetzt enorme Unterstützung
insbesondere für die Kommunen . Hier erinnere ich zum
Beispiel auch an den 3,5 Milliarden Euro umfassenden
Kommunal-Investitionsförderungsfonds, aus dem ins-
besondere Investitionen finanzschwacher Kommunen
gefördert werden . Durch eine zusätzliche Unterstützung
in anderen Bereichen, die ein Vielfaches dessen beträgt,
werden die Kommunen weiter entlastet, was ihnen zu-
sätzliche Investitionsspielräume eröffnet .
Noch ein Wort zum Gerechtigkeitsaspekt: Im Antrag
der Linken ist die Rede davon, dass von einem Wegfall
des Soli vor allem Gutverdiener profitieren. Das ist rich-
tig, aber auch nur eine Seite der Medaille . Eine andere
Betrachtungsweise ist, dass Gutverdiener seit 25 Jahren
überproportional zum Aufkommen des Soli beitragen –
ein Aspekt, der im Antrag gern verschwiegen wird . Dass
sie das tun, ist auch gerecht . Aber genauso gerecht und
zwangsläufige Folge ist, dass sie bei seiner Abschaffung
auch entsprechend profitieren. Und Sie wissen, dass die
Union ein Steuerreformvorhaben entwickelt, wodurch
vor allem durch den Abbau des sogenannten Mittel-
standsbauches und der Beseitigung der kalten Progres-
sion untere und mittlere Einkommen entlastet werden
sollen .
Es ist also kein Argument des Antrags der Linken
stichhaltig genug für mich, um den Solidaritätszuschlag
bis in alle Ewigkeit aufrechtzuerhalten und womöglich
regelmäßig neue Verwendungszwecke für ihn zu suchen .
Eine glaubwürdige Haushalts- und Finanzpolitik sieht
für mich und die Union anders aus . Daher kann die Uni-
onsfraktion den Antrag der Linken nur ablehnen .
Anja Karliczek (CDU/CSU): Die Menschen in ganz
Deutschland haben mit dem Solidaritätszuschlag Großar-
tiges geleistet . Sie haben mit diesem Geld zum Gelingen
der deutschen Einheit und zur insgesamt guten Entwick-
lung in Ost und West beigetragen . Dass es uns heute in
Deutschland so gut geht wie niemals zuvor in der Bun-
desrepublik, daran haben die Beiträge durch den Solida-
ritätszuschlag einen hohen Anteil . Das verdient höchste
Anerkennung .
Der Solidaritätszuschlag wurde 1991 erstmalig erho-
ben und zwar – das wird nach nunmehr 25 Jahren häufig
vergessen – zunächst befristet für zwölf Monate . Diese
Befristung wurde 1995 aufgehoben . Der Solidarpakt II
zum Aufbau der ostdeutschen Länder und zur Bewäl-
tigung der einheitsbedingten Lasten ist hingegen nicht
befristet . Er läuft 2019 aus . Zwar besteht entgegen der
öffentlichen Wahrnehmung kein rechtlicher Zusammen-
hang zwischen dem Soli als einer Ergänzungsabgabe und
dem Solidarpakt II als Bundesergänzungszuweisungen .
Aber es besteht für die Menschen ein ideeller Zusam-
menhang zwischen beidem . Das ist der Grund, warum
die Bürgerinnen und Bürger spätestens 2019 eine klare
Aussage über die Zukunft des Solidaritätszuschlags er-
warten, und das ist der Grund, warum wir 2019 mit dem
zumindest stufenweisen Abbau des Solidaritätszuschlags
in der kommenden Legislaturperiode beginnen sollten .
Der Solidaritätszuschlag darf nicht zu einer Dauerab-
gabe werden . Aber wir werden den Soli nicht von jetzt
auf gleich abschaffen können . Das müssen wir den Men-
schen ehrlich sagen . Die Reduzierung muss im Einklang
mit unserem Haushalt stehen .
Die gute wirtschaftliche Entwicklung hat dazu geführt,
dass die Steuereinnahmen weit über den Erwartungen lie-
gen . Das gibt uns die Möglichkeit, unseren Haushalt wei-
ter zu konsolidieren und gleichzeitig für eine Entlastung
der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen. Damit profitieren
sie ganz unmittelbar von der guten Wirtschaftslage .
Immer wieder haben wir den Abbau des sogenannten
Mittelstandsbauchs angemahnt . Aus Rücksicht auf die
allgemeine Haushaltslage mussten wir dieses Vorhaben
aber immer wieder zurückstellen . Jetzt ist die Zeit, damit
Ernst zu machen .
Das etappenweise Abschmelzen des Soli bedeutet
nicht das Ende der Verpflichtung, die wir uns gegeben
haben: für gleiche Lebensverhältnisse in allen Himmels-
richtungen Deutschlands zu sorgen und die strukturellen
Unterschiede zwischen den Ländern möglichst auszu-
gleichen . Ganz im Gegenteil: Daran werden wir weiter
arbeiten . Die Zukunft des Solidaritätszuschlags kann
aber nur in der Gesamtsicht einer Einigung mit den Län-
dern innerhalb der Neuregelung der Finanzbeziehungen
zwischen Bund und Ländern entschieden werden . Darü-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618946
(A) (C)
(B) (D)
ber wird derzeit intensiv beraten . Besonderes Augenmerk
legen wir dabei auf die finanzielle Ausstattung der Kom-
munen und darauf, wie die Finanzen zwischen Bund und
Ländern verteilt sind .
In dem Antrag der Fraktion Die Linke wird vorge-
schlagen, die Einnahmen aus dem Solidaritätszuschlag
auch für die kommunale Daseinsvorsorge einzusetzen .
Der Bund investiert bereits große Summen zur Entlas-
tung der Bürger, und er wird dies weiter tun . Die Kommu-
nen werden allein von 2012 bis 2017 um 30 Milliarden
Euro entlastet, zum Beispiel bei den Sozialleistungen,
insbesondere der Kinderbetreuung, der Grundsicherung
im Alter bei Erwerbsminderung . Die Bundesbeteiligung
an den Kosten der Unterkunft liegt in den Jahren 2015
bis 2017 bei 14,2 Milliarden Euro . Bei der Förderung
von Investitionen für Land und Kommunen wurden von
der Bundesregierung 3,5 Milliarden Euro Fördergelder
aufgelegt. Allein in dieser Wahlperiode fließen rund die
Hälfte der 23 Milliarden Euro der prioritären Maßnah-
men aus dem Koalitionsvertrag an die Länder und Kom-
munen . Das ist eine Leistung des Bundes .
Ziel der Bund-Länder-Verhandlungen muss es jetzt
sein, eine Gesamtregelung zu finden, die nachhaltig ist,
die tragfähig ist und die jeder Ebene unseres föderalen
Systems gerecht wird, die aber auch klar die Verantwort-
lichkeiten einer jeden Ebene bemisst . Und – das möchte
ich noch einmal hervorheben –: Wir müssen mit Blick
auf die Schuldenbremse handlungsfähig bleiben . Auch
das gilt für jede unserer staatlichen Ebenen . Das bedeu-
tet auch: Es darf keine Besserstellung der Länder allein
auf Kosten des Bundes geben . An der Konsolidierung der
Haushalte haben sich die Länder angemessen zu beteili-
gen . Die Bundesländer tragen Verantwortung für die Fi-
nanzen ihrer Kommunen . Diese müssen sie wahrnehmen .
Und ich meine: Sie müssen sie sogar in einem höheren
Umfang wahrnehmen, als das bisher der Fall ist . Das ist
der Weg, um eine gute Entwicklung in allen Landesteilen
fortzusetzen und nachzusteuern, wo es notwendig ist .
Bernhard Daldrup (SPD): Der Solidaritätszuschlag
oder Soli hat einen etwas missverständlichen Namen .
Schließlich handelt es sich hierbei letztlich um nichts
anderes als eine Steuer, wenn auch in Form einer Son-
derabgabe . Derzeit bringt der Solidaritätszuschlag dem
Bund jährliche Einnahmen von rund 15 Milliarden Euro .
Bei seiner Einführung wurde der Solidaritätszuschlag
schlicht mit der „Finanzierung der Vollendung der Einheit
Deutschlands“ begründet . Trotzdem ist er nicht identisch
mit dem Solidarpakt, dem Finanzrahmen für die Aufbau-
leistungen in Ostdeutschland nach der Einheit . Der Soli-
darpakt läuft 2019 aus, der Solidaritätszuschlag – also die
Steuer – ist hiervon jedoch unabhängig . Der Solidaritäts-
zuschlag ist darum auch nicht zeitlich befristet .
Es gibt Leute, die nun fordern, man müsse den Soli-
daritätszuschlag abschaffen, weil er seinen Sinn verloren
habe . Das halte ich für falsch . Ich teile vielmehr die Ein-
schätzung der Fraktion Die Linke, dass wir dieses Geld
auch künftig dringend benötigen, um für die Gleichwer-
tigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland zu sorgen,
so wie es das Grundgesetz vorschreibt . Wir brauchen das
Geld für Bildung, Infrastruktur, Breitbandausbau und
viele andere Dinge, die lebenswerte Kommunen ausma-
chen .
So sieht es ja auch die Bundeskanzlerin, die noch im
Dezember 2014 erklärt hat: „Wir werden auf jeden Fall
auch nach dem Auslaufen des Solidarpakts auf die Ein-
nahmen aus dem Solidaritätszuschlag angewiesen sein .“
An dieser Feststellung hat sich bis heute nichts geändert .
Wie sollte der Staat auch plötzlich auf Einnahmen von
15 bis 20 Milliarden Euro im Jahr verzichten, ohne seine
Aufgaben massiv zu vernachlässigen? Ich möchte den-
jenigen sehen, der die seitenlange Liste mit Kürzungs-
vorschlägen für diejenigen staatlichen Leistungen prä-
sentiert, die wir uns dann nicht mehr leisten können . Wer
den Solidaritätszuschlag ersatzlos abschaffen will, muss
darum auch sagen, wie er das finanzieren will. Das gilt
umso mehr für Forderungen nach noch weitergehenden
Steuerentlastungen .
Warum lehnen wir es als SPD-Fraktion ab, die Steuer-
einnahmen des Staates so massiv zu beschneiden? Mehr
als 25 Jahre nach der Deutschen Einheit sehen wir heute,
dass sich die Lebensverhältnisse in Deutschland immer
noch stark unterscheiden – ja, die Unterschiede nehmen
sogar wieder zu . Inzwischen sind es zum Glück weni-
ger die Unterschiede zwischen Ost und West, die uns die
größten Sorgen machen . Die Solidarpakte I und II haben
hier viel Gutes bewirkt . Umso größere Sorgen bereiten
uns heute strukturschwache, häufig altindustrielle und
schrumpfende Gebiete in einigen Teilen Deutschlands,
die besonders stark vom demografischen Wandel betrof-
fen sind .
Schwierig ist die Situation etwa in Teilen der ostdeut-
schen Bundesländer, im Ruhrgebiet oder im Saarland,
aber eben nicht nur dort . Eines der Länder mit den größ-
ten Unterschieden zwischen den einzelnen Regionen ist
heute Bayern: Die Lebensbedingungen am Starnberger
See sind meilenweit entfernt von denen im Bayerischen
Wald . Diese neuen regionalen Ungleichheiten verlaufen
somit nicht mehr nur zwischen Ost und West und auch
nicht ausschließlich entlang des alten Stadt-Land-Gefäl-
les .
Wenn wir es mit der Gleichwertigkeit der Lebensver-
hältnisse ernst meinen und überall in Deutschland le-
benswerte Kommunen erhalten wollen, brauchen wir ei-
nen neuen Solidarpakt für Deutschland: ein solidarisches
Projekt, um das Auseinandergehen der Lebensverhältnis-
se zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen
zu bekämpfen . Ein solcher Solidarpakt wird sich daran
orientieren, wo der Bedarf am größten ist – und nicht,
wie in der Vergangenheit, lediglich an der Himmelsrich-
tung . Das wird Geld kosten . In einer solchen Situation
auf Einnahmen von 15 bis 20 Milliarden Euro zu ver-
zichten, wäre darum der völlig falsche Weg .
Am Instrument des Solidarzuschlags hängen wir da-
bei allerdings nicht . Man kann ja tatsächlich die Frage
stellen, ob eine Sonderabgabe, wie sie der Soli nun ein-
mal ist, ein geeignetes Instrument für die langfristige Si-
cherung der staatlichen Einnahmen ist . Insofern sind wir
bei der Frage nach der Zukunft der Sonderabgabe So-
lidarausgleich durchaus gesprächsbereit . Ich erinnere an
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18947
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(B) (D)
den gemeinsamen Vorschlag von Bundesfinanzminister
Dr . Wolfgang Schäuble und Hamburgs Erstem Bürger-
meister Olaf Scholz, die im Rahmen der Verhandlungen
zum Länderfinanzausgleich vorgeschlagen hatten, den
Soli in die Einkommenssteuer zu integrieren . Dieser Vor-
schlag ist leider an der CSU gescheitert .
Aus Sicht der SPD ist somit nicht wichtig, ob das In-
strument des Solidarzuschlags in seiner jetzigen Form
erhalten bleibt . Entscheidend ist für uns vielmehr, das
Einnahmevolumen des Solis langfristig zu erhalten, um
die notwendigen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit
unseres Landes zu ermöglichen .
An diesen Überlegungen merkt man: Man kann die
Zukunft des Solidaritätszuschlags nicht diskutieren, ohne
das gesamte Konstrukt der Bund-Länder-Finanzbezie-
hungen in den Blick zu nehmen . Letztlich geht es um die
Frage, wie Solidarität in diesem Land organisiert werden
muss .
Das ist auch der Grund, warum wir den Antrag ab-
lehnen . Zwar geht der Antrag inhaltlich in die richtige
Richtung, bei den konkreten Forderungen springt er aber
zu kurz: Die Linke fordert, den Solidaritätszuschlag in
seiner jetzigen Form und Höhe beizubehalten . Das ist
uns zu unflexibel und zu starr. Richtig ist, dass wir auf
das Einnahmevolumen des Solis nicht leichtfertig ver-
zichten sollten . Auf welche Weise wir diese Einnahmen
jedoch sichern, ist dabei nachrangig . Denkbar sind hier
verschiedene Lösungswege: von der Integration des Soli
in die Einkommenssteuer bis hin zu den verschiedenen
Formen einer neuen Gemeinschaftsaufgabe .
Dr. Jens Zimmermann (SPD): Die Frage, wie wir
in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse schaf-
fen können, steht auf der Agenda der Bundesregierung
und auch der Bundesländer weiterhin ganz oben . Gleich-
wertige Lebensverhältnisse bedeuten aus sozialdemokra-
tischer Sicht, dass die Menschen ihre Grundbedürfnisse
befriedigen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben
können . Wir wollen, dass Deutschland ein gerechtes und
erfolgreiches Land bleibt – ein Land, in dem die Gesell-
schaft zusammenhält .
Die Einheitsfrage stellt sich inzwischen neu, nicht
mehr nur zwischen Ost und West, sondern quer durchs
Land . Die Schere zwischen prosperierenden und notlei-
denden Kommunen geht weiter auseinander . Gleichwer-
tige Lebensverhältnisse, für die der Bund verfassungsmä-
ßig gemäß Artikel 72 Absatz 2 GG in der Verantwortung
steht, sind kein Garant, aber eine wichtige Grundlage für
den Zusammenhalt einer Gesellschaft . Für diesen Zu-
sammenhalt sorgen in Deutschland die sozialen Trans-
fersysteme, die für unterschiedliche Lebenssituationen
individuelle Unterstützung bieten . Mindestlohn, Miet-
preisbremse oder die Erhöhung des Wohngeldes sind nur
einige Beispiele für sozialdemokratische Errungenschaf-
ten in der aktuellen großen Koalition .
Finanzpolitisch geht es bei der Frage der Schaffung
gleichwertiger Lebensverhältnisse darum, für die Zeit
nach 2019 die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu zu
regeln, und zwar so, dass Kommunen in Ost- und West-
deutschland je nach Bedürftigkeit Mittel erhalten . Dafür
führen alle Beteiligten viele Gespräche . Mit Auslaufen
des Solidarpaktes II im Jahre 2019 steht auch zur Dis-
kussion, was mit dem Solidaritätszuschlag passieren soll .
Der hier zu beratende Antrag der Kollegen der Fraktion
der Linken beschäftigt sich ebenfalls mit der Zukunft des
Solidaritätszuschlages . Die Linken betonen in ihrem An-
trag den großen Beitrag, den der Solidaritätszuschlag für
die Wiedervereinigung Deutschlands geleistet hat, und
fordern, ihn weiterhin als Instrument einzusetzen, um für
gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland zu sor-
gen . Sie fordern in dem Antrag von der Bundesregierung
deshalb zum einen, den Solidaritätszuschlag in seiner jet-
zigen Höhe und Form als Bundessteuer beizubehalten .
Zum anderen fordern sie die Bundesregierung auf, Vor-
schläge zu unterbreiten, wie der Soli zukünftig zur Her-
stellung und Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnis-
se in Deutschland verwendet werden kann – ob über eine
Finanzierung eines Vorausgleichs zwischen den Ländern,
einer Aufstockung kommunaler Infrastruktur- und Inves-
titionsmittel oder eines Solidarpaktes III .
Wir als SPD-Fraktion teilen die Ansicht, dass der Soli-
daritätszuschlag in der Vergangenheit unentbehrlich war
und auch immer noch ist, um die Solidarpakte I und II fi-
nanziell zu stützen . 2015 betrugen die Einnahmen durch
den Soli, die allein dem Bund zustehen, knapp 16 Mil-
liarden Euro . Auf Grundlage des Solidaritätszuschlags-
gesetzes wird der Soli erhoben als Ergänzungsabgabe
zur Einkommensteuer, Kapitalertragsteuer und Körper-
schaftsteuer .
Es ist richtig, die Beratungen zur Neuordnung der
Bund-Länder-Finanzen auch dazu zu nutzen, die Struk-
tur des Solidaritätszuschlages anzupassen . Es gibt aller-
dings verschiedene Vorschläge, wie der Soli umstruktu-
riert werden soll . Die Diskussion dreht sich darum, ob
der Soli schrittweise abgebaut oder in anderer Form bei-
behalten werden soll . Einig sind wir uns in der Großen
Koalition jedenfalls darüber, dass es aus haushälterischer
Perspektive für den Bund problematisch wäre, den Soli
auf einen Schlag abzuschaffen . Der Bund braucht auch
für die kommenden Jahre einen finanziellen Spielraum
für Investitionen . Aus unserer Sicht geht es einerseits um
die Frage, wie die Einnahmen aus dem Soli langfristig
auch den Ländern und Kommunen für ihre Aufgaben
zugutekommen können . Und andererseits geht es da-
rum, nicht in verfassungsrechtliche Schwierigkeiten zu
geraten . Denn der Solidaritätszuschlag ist als sogenann-
te Ergänzungszuweisung von seinem Wesen her zwar
zeitlich nicht befristet, aber eigentlich als eine vorüber-
gehende Zusatzabgabe für die Arbeitnehmer gedacht .
Deshalb gibt es immer wieder Diskussionen um die
Verfassungsmäßigkeit des Soli . Unter anderem das Nie-
dersächsische Finanzgericht vertritt deshalb die Auffas-
sung, dass – auch unter Berücksichtigung der sprudeln-
den Haushaltseinnahmen des Bundes – die Erhebung des
Soli verfassungswidrig sei . Momentan steht hierzu eine
Entscheidung des BVerfG noch aus . Deshalb halten wir
es für sinnvoll – und diese Ansicht teilen wir mit vielen
Bundesländern –, den Soli nach 2019 in die Einkommen-
steuer zu integrieren . So müsste der Bund langfristig nicht
vollständig auf die Einnahmen aus dem Soli verzichten,
und Länder und Kommunen würden über die bestehen-
den Regelungen der Finanzverfassung automatisch einen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618948
(A) (C)
(B) (D)
Teil der Einnahmen erhalten . Mit einer Integration des
Soli in den Einkommensteuertarif würde man außerdem
auch der Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit des
Solidaritätszuschlages aus dem Weg gehen .
Wir wollen zukünftig auch die Länder und Kom-
munen an den Einnahmen aus dem Soli beteiligen und
gleichzeitig verfassungsrechtliche Probleme vermeiden .
Für beide Anliegen bietet der vorliegende Antrag keine
Lösung an . Deshalb lehnen wir den Antrag ab .
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Seit vielen Jahren gibt
es immer wieder Debatten um den Soli . Von konservati-
ver und liberaler Seite werden dabei eine Vielzahl von
Mythen und Verdrehungen in die Welt gesetzt, um ihn
in der Bevölkerung unbeliebt zu machen . Immer wieder
wird behauptet, der Soli sei erstens zeitlich beschränkt,
stelle zweitens eine große finanzielle Belastung für die
Bürgerinnen und Bürger dar, sei drittens ausschließlich
für den Aufbau Ost bestimmt gewesen und viertens nicht
mehr verfassungsgemäß, da fünftens dieser Zweck nun
vollendet sei . Lassen Sie mich diese fünf Punkte rich-
tigstellen .
Erstens ist der Solidaritätszuschlag eine Bundessteuer
ohne Verfallsdatum .
Zweitens trifft der Soli nicht die kleinen Einkommen,
sondern vor allem die Besser- und Spitzenverdiener so-
wie die Kapitalgesellschaften . Er arbeitet damit eher ge-
gen die soziale Spaltung .
Drittens wurde das Solidaritätszuschlagsgesetz 1995
nicht durch eine, sondern durch vier Aufgaben begründet,
nämlich mit der Herstellung der Einheit Deutschlands,
der langfristigen Sicherung des Aufbaus in den neuen
Ländern, der Neuordnung des bundesstaatlichen Finanz-
ausgleichs und der Entlastung der öffentlichen Haushal-
te . Der Solidaritätszuschlag dient also nicht exklusiv dem
Aufbau Ost . Das ist eine Geschichtsklitterung, die durch
Wiederholung nicht weniger falsch wird .
Viertens sei der Soli nicht mehr verfassungsgemäß,
paradoxerweise genau deshalb, weil der Solidarpakt II
ausläuft und der Bund die Mittel nun zunehmend einfach
selbst behält, statt sie in notleidende Regionen weiter-
zuleiten . Aber zum einen könnte die Regierung dieses
selbstgemachte Problem leicht lösen . Und zum anderen
hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach die Verfas-
sungsgemäßheit des Solidaritätszuschlags unterstrichen
und Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollan-
träge in den letzten Jahren stets zurückgewiesen . Dies
unterstreicht auch ein jüngeres Gutachten des Wissen-
schaftlichen Dienstes des Bundestages . Es gibt keinen
Anlass zur Sorge von einem juristischen Haushaltsrisiko,
das ist reine Propaganda .
Fünftens wird der zweistellige Milliardenbetrag wei-
terhin dringend gebraucht, den der Soli Jahr für Jahr
zuverlässig generiert . Nicht zuletzt die Kanzlerin selbst
musste diese Realität anerkennen und betonte vor zwei
Jahren, dass und warum sie den Soli auch über 2019 hi-
naus erhalten will: „Wir wollen keine Steuererhöhung,
aber wir können auf bestehende Einnahmen auch nicht
einfach verzichten .“ Konkret sprach sie auch den an-
haltenden Bedarf an, nämlich die strukturschwachen
Regionen in den neuen Bundesländern wie auch in den
alten . Deshalb dürften die Entwicklungsmaßnahmen
für notleidende Regionen nicht mit dem auslaufenden
Solidarpakt II enden . Leider folgten ihren Worten keine
Taten, ein dritter Solidarpakt III ist nicht einmal offen
angedacht, geschweige denn in Planung . Im Gegenteil
wird alle Jahre wieder, gerade auch von Bundesfinanz-
minister Schäuble, sogar eine schrittweise Abschaffung
des Solis ins Spiel gebracht . Das sind schlicht populisti-
sche Spielchen auf Kosten abgehängter Regionen in ganz
Deutschland .
Dagegen bringt die Linke den Antrag „Solidaritäts-
zuschlag für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz
Deutschland verwenden“ ein . Darin enthalten sind kon-
krete Vorschläge zu seiner künftigen Verwendung . Falls
dieser Vorschlag von der Regierungskoalition im Plenum
abgelehnt wird, fordern wir sie auf, eine eigene Initiati-
ve dazu auf den Weg zu bringen . Investieren Sie in die
flächendeckende Zukunftsfähigkeit Deutschlands, und
legen Sie endlich einen dritten Solidarpakt auf .
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag, den Solidari-
tätszuschlag beizubehalten . Auch wir glauben, dass nicht
so ohne Weiteres auf die Einnahmen des Solis verzichtet
werden kann, wie zum Beispiel Herr Schäuble dies be-
hauptet . Der Finanzminister verspricht Steuersenkungen,
anstatt wirksam und nachhaltig den Investitionsstau oder
die Altschuldenproblematik von Ländern und Kommu-
nen anzugehen . Es muss darum gehen, zukunftsfähi-
ge Reformvorschläge zu erarbeiten . Ziel muss es sein,
finanzschwache Länder und Regionen solidarisch zu
unterstützen – und zwar unabhängig von Himmelsrich-
tungen . Eine strukturelle Reform der gesamten Finanzbe-
ziehungen zwischen Bund und Ländern muss die wach-
sende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen armen und
reichen Regionen angemessen ausgleichen, um unserem
Verfassungsauftrag gerecht zu werden .
Wir sprechen heute über den Solidaritätszuschlag
auch vor dem Hintergrund eines Vermittlungsausschus-
ses, der in letzter Sekunde – genau genommen sogar eini-
ge Minuten nach der gesetzten Frist – einen Kompromiss
in einer anderen Frage, nämlich für die Erbschaftsteuer-
reform, gefunden hat . Als Mitglied dieses Vermittlungs-
ausschusses muss ich sagen: So wichtig es ist, die Hand-
lungsfähigkeit der Politik zu zeigen, so wenig zufrieden
bin ich mit dem Ergebnis .
Auch beim Thema Solidaritätszuschlag und bei der
zwingend dazugehörigen Neuordnung der Bund-Län-
der-Finanzbeziehungen nähern wir uns einer Frist in
großen Schritten . Die jetzigen Regelungen gelten zwar
bis 2019 – aber durch die anstehenden Landtags- und die
Bundestagswahl wird weder eine Einigung im nächsten
Jahr noch eine Einigung in 2018 nach Konstituierung des
neuen Parlamentes einfacher .
Es gilt, sich in diesem Herbst endlich wieder an den
Verhandlungstisch zu begeben und auf eine transparente
Weise eine Reform auf den Weg zu bringen, die der An-
forderung des Grundgesetzes gerecht wird, gleichwerti-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18949
(A) (C)
(B) (D)
ge Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu ermöglichen .
Der jetzige Länderfinanzausgleich wird diesen Heraus-
forderungen nicht mehr gerecht und ist auch nicht auf
die zukünftige demografische und sozialräumliche Ent-
wicklung vorbereitet . Viele Kommunen leiden unter ei-
ner maroden Infrastruktur, hohen Schuldenständen und
einem immensen Investitionsstau . Anderen hingegen
geht es prächtig . Dabei geht die Schere zwischen armen
und reichen Kommunen immer weiter auseinander . Auf
diese Herausforderung könnte im Rahmen einer Gesam-
treform eine neue Ausrichtung des Solidaritätszuschlags
unabhängig von Himmelsrichtungen eine Antwort sein .
Auch die Länder brauchen Planungssicherheit, mit
welchen Einnahmen sie ab dem Jahr 2020 rechnen dür-
fen . Man kann doch nur anständige Politik machen,
wenn man weiß, wie viele Mittel einem voraussichtlich
zur Verfügung stehen . Wenn die Große Koalition diese
Fragen nicht beantwortbar macht, brauchen wir uns nicht
wundern, wenn die Länder nur auf den Bund schielen
und ihn für missglückte Finanzplanungen verantwortlich
machen .
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
der elektronischen Akte in Strafsachen und zur
weiteren Förderung des elektronischen Rechtsver-
kehrs (Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Wir befinden
uns in einer paradoxen Situation . Im alltäglichen priva-
ten, beruflichen und öffentlichen Bereich bedienen wir
uns Tag für Tag elektronischer Dokumentation . Im Ok-
tober 2013 wurde durch das Gesetz zur Förderung des
elektronischen Rechtsverkehrs in Gerichten die elek-
tronische Aktenführung in den meisten gerichtlichen
Verfahrensordnungen etabliert – nicht aber so in Straf-
sachen . Hier müssen Akten immer noch in Papierform
geführt werden, obwohl der Großteil ihres Inhalts mit-
hilfe von elektronischer Datenverarbeitung erstellt und
übermittelt wird . Durch die aktuelle rechtliche Lage wird
der Arbeitsaufwand erhöht und das Verfahren verlängert .
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
passt die Vorschriften über den elektronischen Rechts-
verkehr in Strafsachen an die Regelungen für andere
Gerichtsbarkeiten an und modernisiert so die Strafjus-
tiz . Obwohl die große StPO-Reform von Justizminister
Maas wohl als gescheitert abgeschrieben werden muss,
setzt sich die Union hier weiterhin für eine Verbesserung
der Justiz ein .
Der Entwurf sieht eine optionale elektronische Akten-
führung bis zum 31 . Dezember 2025 vor . Ab 2026 soll
die elektronische Aktenanlegung und -führung in Straf-
sachen verbindlich sein . Für andere Gerichtsbarkeiten
soll die verpflichtende Einführung der elektronischen
Akte in gesonderten Gesetzen erfolgen, um dem unter-
schiedlichen Umstellungsaufwand in den verschiedenen
Rechtsbereichen Rechnung zu tragen .
Der Entwurf sieht bewusst keine technischen und or-
ganisatorischen Vorgaben vor, sondern steckt den recht-
lichen Rahmen ab . Zum einen sollen Ergänzungen und
Änderungen in der Strafprozessordnung vorgenommen
werden, um eine elektronische Akteneinsicht zu ermögli-
chen . Zum anderen werden der elektronische Rechtsver-
kehr in Strafsachen und die Kommunikation zwischen
den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten neu gere-
gelt . Nur so können die eingangs beschriebenen beste-
henden Hürden abgebaut werden .
Gleichzeitig können die vielfältigen Vorteile von elek-
tronischen Akten genutzt werden: Die Kommunikation
zwischen Gerichten, Behörden und Verfahrensbeteiligten
wird beschleunigt . Akten werden kontinuierlich verfüg-
bar, und es kann gleichzeitig von verschiedenen Orten auf
sie zugegriffen werden . Außerdem wird die Auswertung,
Darstellung und Verarbeitung von Daten vereinfacht . All
dies führt zu Einsparungen von Raum-, Personal-, Porto-
und Versandkosten .
Jedoch birgt die elektronische Akte in Strafsachen
nicht nur Vorteile, sondern auch eine erhöhte Gefahr für
das Grundrecht der im Strafprozess Beteiligten auf in-
formelle Selbstbestimmung gemäß Artikel 2 Absatz 1 in
Verbindung mit Artikel 1 Grundgesetz . Daher sieht der
Gesetzentwurf neben dem allgemeinen Datenschutzrecht
bereichsspezifische Datenschutzregelungen vor. Nach
diesen ist eine Verarbeitung und Nutzung von personen-
bezogenen Daten in einer elektronischen Akte nur zuläs-
sig, solange sie für das konkrete Strafverfahren erforder-
lich ist . Eine Verwendung für verfahrensübergreifende
Zwecke ist hingegen ausgeschlossen . Eine Erhebung von
personenbezogenen Daten ist nur im Rahmen strafpro-
zessrechtlicher Ermächtigungsgrundlagen wie §§ 161,
163 StP0 möglich .
Darüber hinaus sieht der Entwurf organisatorische
und technische Maßnahmen vor, um den besonderen An-
forderungen von den hochsensiblen personenbezogenen
Daten im Strafrecht gerecht zu werden . Diese Maßnah-
men werden durch Rechtsverordnungen auf Grundlage
von §§ 32 II, III, 32b V und 32f V Strafprozessordnung
konkretisiert . Hierbei handelt es sich beispielsweise um
Zutritts-, Zugriffs-, Weitergabe- oder Verfügbarkeitskon-
trollen .
Eine Verwendung der personenbezogenen Daten aus
den elektronischen Akten soll nur zulässig sein, wenn
sie durch eine Rechtsvorschrift erlaubt oder angeordnet
wird . Um datenschutzrechtlich bedenkliche Rasterfahn-
dungen zu verhindern, ist ein maschineller Abgleich nur
bei zuvor individualisierten Akten zulässig . Letzteres
werden wir unter Berücksichtigung des Vorschlags des
Bundesrats diskutieren . Hiernach soll ein maschineller
Abgleich innerhalb der jeweiligen Strafverfolgungsbe-
hörde zulässig sein, wenn sie strafrechtlichen Ermittlun-
gen dient .
Wir wollen mit all diesen Regelungen die bestmög-
liche Kombination aus den Vorteilen und Errungen-
schaften der technischen Innovation und den Schutz des
Grundrechts der Betroffenen erreichen . In den ausste-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618950
(A) (C)
(B) (D)
henden Beratungen ist es mir von Wichtigkeit, dass wir
in Einklang mit den Bundesländern effektive Reglungen
finden, die auch in den Landeshaushalten darstellbar
sind . Hier bitte ich das BMJV, noch intensiver auf die
Länder einzugehen .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir beraten heute in
der ersten Lesung den Gesetzentwurf zur Einführung der
elektronischen Akte im Strafverfahren . Für die anderen
Verfahrensordnungen wurde bereits im Jahr 2013 der
Einzug der elektronischen Gerichtsakte beschlossen .
Vielen Anwaltskanzleien liegen die Akten aus einem
Strafverfahren nur noch in digitaler Form vor . Die Er-
mittlungsbehörden und Gerichte sichten die mittels elek-
tronischer Datenverarbeitung erstellten Dokumente am
Bildschirm . Es kann festgestellt werden, dass die elek-
tronische Arbeit schon heute die Realität in der Justiz
darstellt . Jeder digitalisierten Akte liegt jedoch weiterhin
die Akte in Papierform zugrunde .
Mit der elektronischen Akte in Strafsachen soll der
technische Fortschritt nachvollzogen und die Strafjustiz
modernisiert werden . Es handelt sich um weit mehr als
den Wechsel eines Mediums . Die Vorteile einer elektro-
nischen Aktenführung sind nicht von der Hand zu wei-
sen .
Der manuelle Transport und die postalische Versen-
dung der Akten in Papierform zwischen Ermittlungsbe-
hörden, Gerichten und Rechtsanwälten nehmen viel Zeit
in Anspruch und verursachen hohe Kosten .
Die Versendung der Akte bedingt die zeitweise Nicht-
verfügbarkeit und führt zur Verlängerung der Verfahrens-
dauer .
Die Lagerung der Papierakten ist mit hohen laufenden
Kosten für Vorhalte- und Erhaltungsmaßnahmen verbun-
den .
Demgegenüber können elektronische Akten nach Be-
griffen schneller durchsucht und gefiltert werden. Ver-
knüpfungen zwischen verschiedenen Aktenbestandteilen
lassen sich einfacher erstellen .
Arbeitserleichterungen könnte auch der direkte Zu-
griff auf Gesetztestexte oder zitierte Fundstellen im Ge-
setzeskommentar verschaffen .
Mit diesem Gesetzentwurf soll die gesetzliche Grund-
lage für die Einführung der elektronischen Akte in
Strafsachen geschaffen werden . Die Vorteile der elekt-
ronischen Akte wiegen schwer . Es müssen aber auch Be-
denken geäußert werden .
Die Führung einer elektronischen Akte stellt einen
Eingriff in das grundrechtlich geschützte Recht auf infor-
mationelle Selbstbestimmung der Verfahrensbeteiligten
dar . Das Grundrecht wird nur nicht verletzt sein, wenn
wir weiterhin den absoluten Datenschutz gewährleisten
können .
Bedenken in Fragen des Datenschutzes bestehen dabei
in unzähliger Vielfalt:
Es besteht die Gefahr des Datenmissbrauchs durch
unbefugte Zugriffe von außen, aber auch durch die unbe-
fugte Verwendung durch Personen mit Zugriffsrechten .
Ein elektronisches Dokument lässt sich einfacher mani-
pulieren und die Veränderung schwerer nachvollziehen .
Es besteht in höherem Maße die Anfälligkeit von Daten-
verlust als bei einer Papierakte . Weiterhin stellt sich auch
die Frage, ob die Justizverwaltungen die Datenhoheit
technisch und finanziell wahren können oder eine Ver-
lagerung auf externe Dienstleister unter Wahrung des
Grundrechtsschutzes notwendig ist . – Diese Liste ließe
sich noch um weitere Aspekte verlängern .
Im Zusammenhang mit dem Datenschutz ist der Ver-
fahrensgrundsatz der Unschuldsvermutung zu sehen .
Für Medien und die breite Öffentlichkeit geht mit einem
Anfangsverdacht oftmals die Vorverurteilung einher .
Eine Differenzierung zwischen einem laufenden Ermitt-
lungsverfahren und einer gerichtlichen Verurteilung ist
zunehmend nicht erkennbar . Es muss Aufgabe des Ge-
setzgebers und der Justizbehörden sein, die Beschuldig-
tenrechte durch Datenschutz zu wahren .
Einen weiteren Aspekt möchte ich mit einer Phrase
beleuchten:
Wer schreibt, der bleibt,
wer speichert, muss die Lesbarkeit sicherstellen .
Mir stellt sich die Frage, ob wir auf eine Archivierung
ohne Papierakten verzichten können . Die Vorteile der
Ersparnis von Ressourcen und die Eingrenzung von La-
gerungskosten sind hoch zu bewerten . Es muss aber si-
chergestellt sein, dass elektronische Akten auch in meh-
reren Jahrzehnten noch lesbar sind . Ich sehe eine weitere
Gefahr des Verlusts wichtiger Daten .
Diese Fragestellungen müssen in der weiteren Bera-
tung in den Ausschüssen diskutiert und Antworten gefun-
den werden . Die Beschuldigtenrechte stellen ein wichti-
ges Gut in einem Rechtsstaat dar . Machen wir uns an die
Arbeit!
Dirk Wiese (SPD): Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf der Bundesregierung wird die gesetzliche Grundla-
ge für die Führung elektronischer Akten im Strafverfah-
ren geschaffen . Damit gleichen wir die Regelungen zur
Erstellung, Aufbewahrung und Abfrage von Strafakten
an die meisten gerichtlichen Verfahrensordnungen an,
wo schon seit einigen Jahren die Möglichkeit der elek-
tronischen Aktenführung besteht . Die Führung elektro-
nischer Akten im Strafverfahren soll danach für einen
Übergangszeitraum ab 1 . Januar 2018 möglich sein und
ab 1. Januar 2026 verpflichtend und flächendeckend ein-
geführt werden . Diese Anpassung ist dringend notwen-
dig; denn alleine der Prozess der Erstellung von Strafak-
ten entbehrt derzeit einer gewissen Logik . Obwohl die
Mehrzahl der in Strafakten befindlichen Dokumente
bereits mittels elektronischer Datenverarbeitung erstellt
und zunehmend auch elektronisch übermittelt wird, muss
am Ende aufgrund gesetzlicher Regelungen ein Papier-
dokument stehen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf,
den wir heute hier in erster Lesung beraten, werden wir
nach Verabschiedung einen Schlussstrich unter diese um-
ständliche Handhabe ziehen und die Regelungen über die
Erstellung, Aufbewahrung und Herausgabe von Strafak-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18951
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ten durch Digitalisierung den meisten gerichtlichen Ver-
fahrensordnungen angleichen .
Bis zur Verabschiedung des Gesetzes führt der Weg
aber erst einmal über die Ausschussberatungen, und da
möchte ich die Gelegenheit nutzen, um kurz zwei Punkte
zu nennen, bei denen ich erhöhten Beratungsbedarf sehe .
Erstens habe ich mit hohem Interesse die Stellungnah-
me des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverban-
des zur Kenntnis genommen und bedanke mich für die
Zusendung . Wir werden hier noch einmal genau prüfen
müssen, inwieweit wir den Gesetzentwurf verändern
müssen, um eine möglichst hohe Zugänglichkeit auch für
Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten . Ich ste-
he hierzu auch schon mit meiner Kollegin Kerstin Tack,
der behindertenpolitischen Sprecherin der SPD-Bundes-
tagsfraktion, im intensiven Austausch .
Zweitens möchte ich kurz den Kernpunkt der Stellung-
nahme des Bundesrates ansprechen: die Kosten für den
Betrieb des Internetportals zum Abruf der Akten . Dieses
Portal soll – nach derzeitigem Stand – in die IT-Architek-
tur der Landesjustizverwaltungen integriert werden . Ein
Abruf von Daten über dieses Portal soll kostenfrei sein .
Hier kritisiert der Bundesrat, dass ein kostendeckender
Betrieb des Portals durch die Länder somit nicht möglich
sei . Gerne können wir uns das in den Ausschussverhand-
lungen näher anschauen . Ich möchte jedoch schon hier
kurz die Gegenäußerung der Bundesregierung zitieren,
die Folgendes klarstellt:
Die in den Ländern geplanten und bereits konkret
eingeleiteten Maßnahmen zur Einführung des elek-
tronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen
Aktenführung beruhen auf der „Grobkalkulation des
Verbesserungs- und Investitionsbedarfs für die Ein-
führung des elektronischen Rechtsverkehrs und der
elektronischen Akte“, die im März 2014 im Auftrag
der Bund-Länder-Kommission für Informations-
technik in der Justiz erstellt wurde . Diese Erhebung
erfasst den gesamten in der ordentlichen Gerichts-
barkeit und den Fachgerichtsbarkeiten entstehen-
den Kostenbedarf . Die in den Ländern geplanten
und bereits konkret eingeleiteten Maßnahmen zur
Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und
der elektronischen Aktenführung beruhen auf dieser
Kalkulation . Eine gesonderte Kostenermittlung al-
lein für den Bereich des Strafverfahrens wäre vor
diesem Hintergrund nicht sinnvoll, weil die Ak-
tenführungssysteme in den Ländern einheitlich für
die gesamte ordentliche Gerichtsbarkeit entwickelt
werden .
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Im Grundsatz
spricht nichts dagegen, aber alles dafür, auch in Straf-
sachen die elektronische Akte einzuführen . Deshalb ist
im Grundsatz der Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen
auch zu begrüßen . Die Vorteile einer elektronischen Akte
haben Sie im Gesetzentwurf – Seite 31 – auch ganz gut
zusammengefasst: Beschleunigung der Kommunikation
zwischen Gericht bzw . Behörde und Verfahrensbeteilig-
ten, schnellere Übermittlung von Akten und Dokumen-
ten, kontinuierliche und orstunabhängige Verfügbarkeit
der Akten sowie einfache, komfortable und schnelle
Suchmöglichkeiten . Um all diese Vorteile einer elekt-
ronischen Akte zu nutzen, müssen aber drei, vier Dinge
gegeben sein, von denen ich im Hinblick auf die Vorga-
ben im Gesetzentwurf glaube, dass sie noch nicht optimal
gelöst sind .
Erstens . Die Vorteile können sich schnell in Nachteile
verwandeln, wenn – in welchem Zeitraum auch immer;
wir könnten noch darüber reden, ob 2026 nicht ein we-
nig unambitioniert ist – die Einführung gerade nicht für
das gesamte Strafverfahren gilt . Sie schlagen in Ihrem
Gesetzentwurf vor, dass per Rechtsverordnung die Ein-
führung der elektronischen Aktenführung auf einzelne
Gerichte oder Strafverfolgungsbehörden oder auf allge-
mein bestimmte Verfahren beschränkt werden kann . In
der Begründung wird dann von „Pilotprojekten“ gespro-
chen und sogar angedeutet, es könne möglich sein, die
elektronische Aktenführung auf bestimmte Arten von
Delikten einzuschränken . Das alles erscheint mir we-
nig zielführend zu sein . Hier wünsche ich mir ein wenig
mehr Stringenz .
Zweitens . Sie sagen in Ihrem Gesetzentwurf völlig zu
Recht, dass es sichere Übertragungswege geben soll . Nun
will ich hier im Detail gar nicht über das praktische Elend
mit dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach
reden, sondern noch einmal auf die De-Mail eingehen .
Bei De-Mail sind circa 1 Million Privatnutzer und Pri-
vatnutzerinnen, einige Zehntausend Mittelstandskunden
und circa 1 000 De-Mail-Großkunden aus Wirtschaft und
Verwaltung registriert . Manche sprechen deshalb schon
vom Scheitern der De-Mail . Ende März 2016 nutzten
gerade einmal 60 Prozent der Behörden De-Mail . Und
gerade im Hinblick auf die Europäisierung des Rechts
erweist es sich eben als Problem, dass De-Mail nur in
Deutschland nutzbar ist .
Sie schreiben in der Begründung, bei den sicheren
Übertragungswegen gehe es nicht um die Gewährleis-
tung der vertraulichen Kommunikation . Genau das ist
aber ein ziemlich entscheidender Punkt für die Übermitt-
lung einer elektronischen Akte oder gar der Kommuni-
kation zum Beispiel zwischen Verteidigerin und Gericht .
Nur wenn die vertrauliche Kommunikation wirklich
gewährleistet ist, wird die elektronische Akte überzeu-
gen. Ich finde, wir sollten hier gemeinsam noch einmal
nachdenken, ob nicht gerade im Strafverfahren eine ver-
pflichtende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sichergestellt
werden soll .
Drittens . Die elektronische Akte kann nur dann über-
zeugen, wenn die Verfahrensbeteiligten den gleichen
Bedingungen unterliegen . Das, was sie an Stringenz bei
der Einführung der elektronischen Akte bei Gerichten,
Staatsanwaltschaften und Behörden vermissen lassen,
setzen sie bei den Rechtsanwältinnen und Verteidigerin-
nen um . Während erstere, also Gerichte, Staatsanwalt-
schaften und Behörden, elektronische Akten anlegen
können, sollen dies Rechtsanwältinnen und Verteidige-
rinnen. Für diese legen sie eine Nutzungspflicht dahin
gehend fest und machen das sogar laut der Begründung
zu einer Form- und Wirksamkeitsvoraussetzung, dass
sie die Dokumente elektronisch übermitteln sollen . Ich
glaube, wir würden mehr und besser für die elektronische
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618952
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Akte werben, wenn wir den einen das nicht erlauben und
die anderen verpflichten. Gleiches Recht für alle wäre
hier überzeugender .
Viertens . Völlig zu Recht wollen Sie einen neuen
Vierten Abschnitt im Achten Buch der Strafprozessord-
nung einführen . Erlauben Sie mir aber, dass ich im Hin-
blick auf die Sensibilität des Strafverfahrens meine Skep-
sis zur Regelung der Auftragsdatenverarbeitung durch
nichtöffentliche Stellen zum Ausdruck bringe . Dies soll
mit dem Gesetz möglich sein, und Sie begründen das da-
mit, dass andernfalls ein „effizienter und wirtschaftlicher
IT-Betrieb“ erschwert werden würde . Das erläutern Sie
aber nicht weiter . In Ihrer Begründung werden Sie auch
widersprüchlich; denn zum einen sollen die Einschrän-
kungen nur den Betrieb und die Wartung dezentraler In-
formationskomponenten betreffen, auf der anderen Seite
wird in der Begründung aber auch von „rechtsverbindli-
cher und dauerhafter Speicherung von Aktendaten“ ge-
sprochen . Ich denke, wir sollten an dieser Stelle wirklich
noch einmal genau überlegen, ob wir im sensiblen Be-
reich des Strafverfahrens eine Auftragsdatenverarbeitung
durch nichtöffentliche Stellen wirklich sinnvoll finden.
In jedem Fall aber sollte die Option der Begründung von
Unterauftragsverhältnissen durch nichtöffentliche Stel-
len gestrichen werden .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In der
letzten Legislatur wurde bereits beschlossen, den elekt-
ronischen Rechtsverkehr im Zivilrecht für alle Angehö-
rigen der Justiz ab 2022 verpflichtend einzuführen. Nun
folgt die elektronische Strafakte ab 2018 fakultativ und
ab 2026 obligatorisch .
Wir schreiten also weiter wagemutig voran bei der Di-
gitalisierung sensibler Daten, und jede und jeder, der dies
infrage stellt, gilt als modernisierungsfeindlicher Tech-
nikmuffel . Dass unbekannte Hacker nicht nur mühelos
in unsere Bundestagskommunikation eindringen konnten
und die obersten Sicherheitsbehörden nicht einmal das
Telefon der Kanzlerin sichern konnten, scheint uns nicht
im Geringsten zu irritieren .
Und so werden auch die Anforderungen an die Daten-
sicherheit in dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht im
Geringsten geregelt .
Die neuen §§ 32a bis 32f der Strafprozessordnung
enthalten im Wesentlichen fünf verschiedene Verord-
nungsermächtigungen, in denen jeweils die Regelungs-
befugnisse für die organisatorischen und technischen
Rahmenbedingungen, einschließlich der einzuhaltenden
Anforderungen des Datenschutzes und der Datensicher-
heit, an die Exekutive delegiert werden . Das halte ich
schlicht für verfassungswidrig, denn diese Vorgaben zum
Schutz der informationellen Selbstbestimmung muss der
Gesetzgeber selbst vornehmen .
So sieht es auch die Datenschutzbeauftragte in ihrer
ausführlichen Stellungnahme vom 10 . Mai 2016:
„Die automatisierte Datenverarbeitung ermöglicht es
technisch, die Daten auch größerer Aktenbestände inner-
halb weniger Sekunden oder Minuten zu kopieren und
über weite Entfernungen unbemerkt abzurufen .
Daher sind diese elektronisch gespeicherten Daten ge-
gen unberechtigte Zugriffe besonders zu schützen . Die
wesentlichen Vorgaben dazu kann der Gesetzgeber schon
angesichts des Risikos für das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung und weiterer Grundrechte aus verfas-
sungsrechtlichen Gründen nicht an die Praxis delegie-
ren .“
Noch gefährlicher wird es, wenn dann noch alle elekt-
ronischen Strafakten bundesweit zentral gespeichert wer-
den sollen .
Hinzu kommt, dass die Verarbeitung dieser gespei-
cherten Daten nach dem neuen § 497 Strafprozessord-
nung nicht nur durch private Auftragnehmer, sondern
auch durch Unterauftragnehmer erfolgen darf, wenn nur
der Zugang zu den Servern von einer öffentlichen Stelle
kontrolliert wird . Ob der Server im In- oder Ausland ist,
spielt ebenfalls keine Rolle .
Ich würde jedenfalls nicht wollen, dass alle diese stän-
dig wechselnden Angestellten und Aushilfskräfte einer
mir unbekannten IT-Firma Einblick in beispielsweise
meine Vergewaltigungsakte bekommen .
Auch hier teilt die Datenschutzbeauftragte meine Be-
denken:
„Unklar ist etwa, warum lediglich der Zutritt und der
Zugang zu Datenverarbeitungsanlagen einer öffentlichen
Stelle vorbehalten sein soll . Der eigentliche Zugriff auf
die in den Akten gespeicherten Daten wäre also dem Auf-
tragnehmer ohne Weiteres erlaubt .
Dies entspricht zwar dem Charakter einer Auftrags-
datenverarbeitung, verdeutlich jedoch, dass die mit der
Auslagerung auf nichtöffentliche Stellen verbundenen
Risiken nicht adäquat behandelt werden .“
Und auch die öffentlichen Stellen selbst sollen die
Daten in weitem Umfang für verfahrensfremde Zwecke
nutzen dürfen .
Nach § 498 Strafprozessordnung ist das immer dann
erlaubt, wenn ein Gesetz dies bereits für die herkömmli-
chen Personendaten vorsieht . Dabei wird verkannt, dass
eine elektronische Akte ganz andere Möglichkeiten der
Auswertung und Verarbeitung bietet . Nachrichtendienste
könnten nach § 474 StPO künftig vollständige Aktenin-
halte in ihre Datenbestände übernehmen .
Das BKA-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
April 2016 wird dabei völlig ignoriert .
Und im Rahmen der Akteneinsicht nach § 32f StPO
bleibt völlig offen, wie dem erhöhten Verbreitungsrisiko
einer elektronischen Akte und damit der Kenntniserlan-
gung durch unberechtigte Dritte entgegengewirkt werde
soll . Lapidar heißt es im Absatz 5: „Die Bundesregierung
bestimmt durch Rechtsverordnung die für die Einsicht in
elektronische Akten geltenden Standards .“
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Großen Koaliti-
on: Das ist zu wenig! Vergessen Sie nicht: Es kann jeden
von uns treffen . Auch bei Bagatellstraftaten oder sogar
Ordnungswidrigkeiten .
Es ist ja vielleicht ganz nett, künftig umfangreiche
Wirtschaftsstrafsachen nicht mehr in Leitzordnern trans-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18953
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portieren zu müssen . Das lässt sich allerdings auch jetzt
schon meist anders lösen . Hochrisikotechnologien wie
beispielsweise Atomkraftwerke verzichten nicht umsonst
komplett auf digitale Bauteile .
Ich stelle daher infrage, dass die Digitalisierung un-
serer Hochrisikodaten tatsächlich der einzige Weg in die
Moderne ist .
Eigentlich müssten wir es doch längst besser wissen:
Vertraulichkeit ist im Netz nicht zu halten . Und dass auch
Sie keine Idee davon haben, wie das bewerkstelligt wer-
den soll, zeigt Ihr Gesetzentwurf, der im Hinblick auf
den Datenschutz eine einzige Leerstelle ist .
Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir
befassen uns heute in erster Lesung mit dem Entwurf
des Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte
in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektro-
nischen Rechtsverkehrs . Dieses Gesetz soll die Rechts-
grundlagen dafür schaffen, dass Akten in Strafsachen
elektronisch geführt werden können – und nach einer
Übergangsphase auch zwingend elektronisch geführt
werden müssen . Immerhin erstellen Gerichte, Staatsan-
waltschaften, Strafverteidiger sowie andere Verfahrens-
beteiligte Dokumente in aller Regel längst elektronisch .
Das gilt auch für die meisten nicht durch einen Rechts-
beistand vertretenen Bürgerinnen und Bürger . Es ist des-
halb an der Zeit, auch im Strafverfahren die Vorausset-
zungen dafür herzustellen, dass im Sinne einer modernen
und effizient arbeitenden Strafjustiz solche Dokumente
nicht nur elektronisch übermittelt, sondern auch elektro-
nisch weiterbearbeitet werden können . Zugleich schafft
der Entwurf auch die Grundlagen für ein Onlineaktenein-
sichtsportal, durch das Verfahrensbeteiligte, auch solche
ohne rechtlichen Beistand, künftig barrierefrei Einsicht
in die sie betreffenden Akten in dem Umfang nehmen
können, den die Akteneinsichtsregeln vorgeben .
Der vorliegende Gesetzentwurf legt insgesamt ein be-
sonderes Augenmerk auf die Belange des Datenschutzes .
Hier ergeben sich aus der künftigen elektronischen Ak-
tenführung zahlreiche Besonderheiten . Beispielsweise
ist vorgesehen, das Durchsuchen von gesamten Aktenbe-
ständen im Sinne einer Rasterfahndung nicht zuzulassen .
Auch Schutzmaßnahmen gegen das unzulässige Verbrei-
ten von Akteninhalten sind vorgesehen .
In allen anderen Verfahrensordnungen bestehen die
Rechtsgrundlagen für die elektronische Aktenführung
bereits seit mehr als zehn Jahren – allerdings ohne dass
bislang eine verbindliche Frist für die Einführung der
elektronischen Akte vorgesehen ist und ohne dass davon
bislang flächendeckend Gebrauch gemacht worden wäre.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung geht hier im
Strafverfahrensrecht einen Schritt weiter . Auf ausdrück-
lichen Wunsch aus den Ländern sieht der Entwurf vor,
dass die Akten im Strafverfahren – also bei Gerichten
und Staatsanwaltschaften – ab dem 1 . Januar 2026 ver-
pflichtend elektronisch zu führen sind. Dieser Medien-
wechsel stellt einen bedeutenden Umbruch dar, der mit
erheblichem Umsetzungsaufwand vor allem für die Län-
der verbunden ist . Aus diesem Grund sieht der Entwurf
eine relativ lange Übergangsphase bis 2026 vor, in der
die Länder selbst entscheiden können, in welcher Ge-
schwindigkeit sie von Papier auf die elektronische Akte
umstellen wollen .
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum
Entwurf darum gebeten, zum 1 . Januar 2026 die elek-
tronische Aktenführung nicht nur im Strafverfahren,
sondern auch in den anderen gerichtlichen Verfahrens-
ordnungen verpflichtend vorzusehen. Die Bundesregie-
rung begrüßt diesen Vorschlag der Länder und steht einer
entsprechenden Ergänzung des Gesetzentwurfes offen
gegenüber . Das vorliegende Vorhaben ist damit nach dem
schon in der vergangenen Legislaturperiode verabschie-
deten Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechts-
verkehrs bei den Gerichten ein weiterer Meilenstein auf
dem Weg zur Digitalisierung der Justiz .
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur steuerlichen
Förderung von Elektromobilität im Straßenver-
kehr (Tagesordnungspunkt 21)
Olav Gutting (CDU/CSU): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf der Bundesregierung bekennen wir uns
klar zu einer klimaschutzorientierten, umweltfreundli-
chen Zukunftspolitik und machen einen weiteren Schritt
hin zu einer emissionsfreieren Zukunftsmobilität!
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, bis 2020 unseren
CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um mindestens 40 Pro-
zent zu senken . Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine
Reduktion der Kohlendioxidemissionen im Straßenver-
kehr unausweichlich . Der Ausbau und die Akzeptanz der
Elektromobilität als Schlüssel zu einem nachhaltigen und
ressourcenschonenden Mobilitätssystem spielen daher
eine besonders große Rolle bei der Energiewende und
beim Umweltschutz .
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Leistungen des Ar-
beitgebers – sogenannte geldwerte Vorteile – an den Ar-
beitnehmer zur Unterstützung hinsichtlich der Nutzung
der Elektromobilität steuerbefreit werden bzw . pauschal
durch den Arbeitgeber besteuert werden können . Steu-
erfrei sind nunmehr das Laden von Elektrofahrzeugen
im Betrieb und den Betriebsteilen des Arbeitgebers wie
auch die Überlassung einer Ladestation für den privaten
Bereich . Pauschal besteuert werden können Zuschüsse
für den Erwerb der Ladeinfrastruktur oder deren Über-
eignung durch den Arbeitgeber . Die einkommensteuer-
lichen Maßnahmen werden vom 1 . Januar 2017 bis zum
31 . Dezember 2020 befristet .
Dieser steuerliche Anreiz wird die Attraktivität des
Einsatzes von Elektrofahrzeugen sowohl für Arbeitgeber
als auch für Arbeitnehmer steigern . Arbeitgeber müssen
für die geldwerten Vorteile, die sie dem Arbeitnehmer
durch das Aufladenlassen gewähren, die Lohnsteuer we-
der einbehalten noch abführen . Und Arbeitnehmer pro-
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fitieren dadurch, dass sie weder Stromkosten noch die
darauf entfallende Lohnsteuer zahlen müssen .
Diese steuerlichen Maßnahmen sind eine sinnvolle
Ergänzung zu dem Maßnahmenbündel der Bundesregie-
rung zur Förderung der Elektromobilität .
Die zukünftige Marktentwicklung der Elektromobili-
tät hat großes Potenzial in Deutschland . Seit 2007 ist die
Anzahl an zugelassenen Elektrofahrzeugen in Deutsch-
land jährlich stark angestiegen . Im internationalen Ver-
gleich hinkt Deutschland, was die Anzahl der Neuzulas-
sungen von Elektrofahrzeugen angeht, allerdings noch
immer hinterher .
Während in Norwegen mehr als jeder vierte neu zu-
gelassene Pkw mit Strom fährt und in den Niederlanden
der Anteil an Elektrofahrzeugen 2,3 Prozent am Pkw-Ge-
samtmarkt beträgt, liegt er in Deutschland derzeit bei we-
niger als 1 Prozent .
Trotz des noch geringen Anteils an zugelassenen
Elektroautos gehört Deutschland hinter Japan und Chi-
na schon jetzt zu den wichtigsten Herstellerländern für
Elektrofahrzeuge und ist damit auf gutem Wege, im
Jahr 2020 Leitmarkt und Leitanbieter bei der Elektro-
mobilität zu werden . Der Technologiewandel verspricht
auch große Beschäftigungspotenziale . Es ist somit Auf-
gabe der Politik, die vielen Chancen, die Elektromobili-
tät in ökologischer und ökonomischer Hinsicht bietet, zu
ergreifen und zu nutzen .
Mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent-
wurfes tragen wir einen Teil dazu bei . Wir werden da-
mit unseren Zielen – CO2-Reduktion und Leitmarkt und
Leitanbieter zu werden – ein weiteres Stück näher kom-
men .
Florian Oßner (CDU/CSU): Die Förderung der Elek-
tromobilität inklusive der Wasserstoff- und Brennstoff-
zellentechnologie steht bei uns als CDU/CSU-Fraktion
ganz oben auf der Agenda . Auch ich persönlich kämp-
fe momentan für eine Wasserstofftankstelle in meiner
Heimatregion Landshut-Kelheim . Wir wollen bis zum
Jahr 2020 in Deutschland den CO2-Ausstoß gegenüber
1990 um mindestens 40 Prozent senken . Um dieses Ziel
zu erreichen, müssen insbesondere im Verkehrssektor die
Emissionen noch deutlich gemindert werden . Hierfür ist
es zwingend notwendig, den Anteil von Elektrofahrzeu-
gen auf unseren Straßen zu erhöhen . Derzeit fahren rund
55 000 Elektroautos auf Deutschlands Straßen, darunter
33 000 Hybridfahrzeuge und 19 000 reine Elektrofahr-
zeuge . Das ist eindeutig zu wenig .
Als Automobilland Nummer eins in der Welt ist für
uns klar:
Wir wollen auch beim Thema Elektromobilität weiter-
hin die Messlatte in der automobilen Entwicklung setzen .
Um die Zahl der Neuzulassungen von Elektrofahrzeugen
zu erhöhen, müssen wir für private und gewerbliche
Nutzer weitere Anreize schaffen . Erstens . Förderung der
Elektromobilität . Am 18 . Mai dieses Jahres hat die Bun-
desregierung ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur
Förderung von Elektromobilität beschlossen, welches
zeitlich befristete Kaufanreize sowie zusätzliche An-
strengungen bei der öffentlichen Beschaffung von Elek-
trofahrzeugen beinhaltet . Aber auch der Einzelplan 12
des Bundeshaushalts 2017, den wir als Deutscher Bun-
destag in der letzten Sitzungswoche in der ersten Lesung
behandelt haben, zeigt mehr als deutlich, dass wir es mit
der Förderung von Elektromobilität ernst meinen und
den richtigen Weg eingeschlagen haben, um die Akzep-
tanz und Attraktivität für den deutschen Autofahrer zu
steigern . Bislang wurde mit dem Regierungsprogramm
„Elektromobilität“ im Wesentlichen die Marktvorberei-
tungsphase unterstützt und hierfür gut 1,5 Milliarden
Euro für Forschung und Entwicklung bereitgestellt .
Nun geht es im zweiten Schritt darum, einen sich selbst
tragenden Markt zu unterstützen . So investieren wir un-
ter anderem 300 Millionen Euro in eine flächendeckende
Ladeinfrastruktur für Elektromobilität . Es werden daher
15 000 Ladesäulen in ganz Deutschland aufgebaut . Da-
mit lösen wir ein Stück weit das Henne-Ei-Problem, wie
es unser Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt in
seiner Rede so treffend formuliert hat .
An dieser Stelle möchte ich auch noch mal die Ge-
legenheit nutzen und meinen ausdrücklichen Dank an
Alexander Dobrindt für sein großes Engagement beim
Thema Elektromobilität aussprechen . Es ist neben der
digitalen Revolution das entscheidende Verkehrsprojekt
unserer Zeit .
Zweitens . Maßnahmen im Gesetz . Mit dem Gesetz-
entwurf, den wir hier heute in zweiter Lesung debattie-
ren, nehmen wir nun einige Änderungen im Bereich der
Kraftfahrzeugsteuer und der Einkommensteuer vor, um
die Elektromobilität auf Deutschlands Straßen attrakti-
ver zu machen . Diese steuerlichen Maßnahmen ergänzen
das eben bereits angesprochene Maßnahmenbündel zur
Förderung der Elektromobilität im Straßenverkehr und
stellen sich im Einzelnen wie folgt dar: a) Bei erstmali-
ger Zulassung reiner Elektrofahrzeuge gilt seit dem 1 . Ja-
nuar 2016 bis zum 31 . Dezember 2020 eine fünfjährige
Kraftfahrzeugsteuerbefreiung . Diese wird rückwirkend
zum 1 . Januar 2016 nun auf zehn Jahre verlängert . Die
zehnjährige Steuerbefreiung für reine Elektrofahrzeuge
wird zudem auf technisch angemessene, verkehrsrecht-
lich genehmigte Umrüstungen zu reinen Elektrofahrzeu-
gen ausgeweitet .
b) Im Einkommensteuergesetz werden vom Arbeit-
geber gewährte Vorteile für das elektrische Aufladen ei-
nes privaten Elektro- oder Hybridelektrofahrzeugs des
Arbeitnehmers im Betrieb des Arbeitgebers und für die
zur privaten Nutzung zeitweise überlassene betriebliche
Ladevorrichtung steuerbefreit . Der Arbeitgeber erhält die
Möglichkeit, geldwerte Vorteile aus der unentgeltlichen
oder verbilligten Übereignung der Ladevorrichtung und
Zuschüsse pauschal mit 25 Prozent zu besteuern . Die Re-
gelungen werden befristet für den Zeitraum vom 1 . Janu-
ar 2017 bis 31 . Dezember 2020 .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zum bedeu-
tendsten Verkehrsthema der absehbaren Zukunft zeigt die
CDU/CSU-Fraktion wieder einmal, dass wir Antworten
auf die drängenden Fragen unserer Zeit geben .
Aus den genannten Gründen bitte ich um Zustimmung
für den Antrag .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18955
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Andreas Schwarz (SPD): Ich habe bereits bei der
ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfes Ende
Juni auf die für uns als SPD-Bundestagsfraktion ent-
scheidenden Punkte hingewiesen, die es uns in der Sum-
me leicht machen, zuzustimmen .
Wer Klimaschutz will, muss handeln . Er muss auch
Geld in die Hand nehmen, um umweltbewusstes Han-
deln zu fördern . Das tun wir . Mit der Kaufprämie bieten
wir einen Anreiz für diejenigen, die sich ein Elektroauto
zulegen wollen, die Kaufentscheidung bislang aber aus
finanziellen Gründen noch aufgeschoben haben.
Mit dem Gesetzentwurf beschließen wir auch, dass
rückwirkend ab dem 1 . Januar 2016 neuzugelassenen
Elektrofahrzeugen eine zehnjährige Befreiung von der
Kraftfahrzeugsteuer gewährt wird . Damit verdoppeln
wir immerhin den Zeitraum der Steuerbefreiung . Dieser
zusätzliche finanzielle Anreiz kann sich durchaus sehen
lassen, wie wir finden.
Mit all den weiteren Maßnahmen wie zum Beispiel
der steuerlich geförderten Zurverfügungstellung des
Stroms beim Arbeitgeber haben wir ein Paket geschnürt,
das dazu beitragen wird, dass endlich mehr Elektrofahr-
zeuge auf die Straße kommen .
Auch bei der Anhörung des Deutschen Bundestages
wurde der Gesetzentwurf der Bundesregierung von meh-
reren Experten positiv bewertet . Der Kollege von der
IG Metall bezeichnet den Gesetzentwurf „als durchaus
gutes Gesamtpaket“ .
Herr Professor Hechtner sagte – ich zitiere –: „Insge-
samt sind das positive Regelungen, die sehr wohl einen
Effekt auf das Nachfrageverhalten der Konsumenten ha-
ben können .“
Weiter sagte er, der Gesetzentwurf „flankiert die an-
deren politischen Maßnahmen, um die Nachfrage nach
emissionsarmen Fahrzeugen zu unterstützen“ .
Es ist doch völlig klar . Wenn wir es nicht schaffen, die
Ladeinfrastruktur massiv auszubauen, dann werden wir
schlicht nicht erfolgreich sein . Das will keiner, und das
wird auch nicht passieren .
Mit der Verabschiedung des heutigen Gesetzentwurfs
schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass es mit der
Förderung der Elektromobilität endlich entscheidend vo-
rangeht .
Dr. Jens Zimmermann (SPD): Um die Klimaziele
Deutschlands bis 2020 tatsächlich zu erreichen, sind in
vielen Lebensbereichen Anstrengungen nötig . Außer
Frage steht, dass der Straßenverkehr hierzu einen ent-
scheidenden Beitrag leisten muss . Dafür ist es nötig,
die Zahl der Automobile mit Benzin- oder Dieselmoto-
ren durch emissionsfreie oder emissionsärmere Antrie-
be zu ersetzen . Als Gesetzgeber können wir zwar die
Rahmenbedingen verbessern . Mit der Kaufprämie, dem
sogenannten Umweltbonus und dem hier vorliegenden
Gesetzentwurf haben wir ein Gesamtpaket aus zeitlich
befristeten Kaufanreizen, weiteren Mitteln für den Aus-
bau der Ladeinfrastruktur, zusätzlichen Anstrengungen
bei der öffentlichen Beschaffung von Elektrofahrzeugen
sowie aus steuerlichen Maßnahmen aufgelegt . Die Große
Koalition jedenfalls hat ihre Hausaufgaben gemacht .
Nun ist die Automobilindustrie am Zug . Sie sollte in
ihrem eigenen Interesse viel Energie in die Innovations-
forschung stecken, um Elektroautos für die Kunden at-
traktiver zu machen . Neben attraktiveren Preisen gehört
hierzu auch die Erhöhung der Reichweite von Elektro-
fahrzeugen . Langfristig wird dies nicht nur dem Klima
guttun oder den Straßenverkehr zukunftsfähig gestalten,
sondern auch dazu beitragen, dass der Automobilstandort
Deutschland seine herausragende Position gegenüber der
internationalen Konkurrenz behaupten kann .
Der hier abschließend zu beratende Entwurf eines Ge-
setzes zur steuerlichen Förderung von Elektromobilität
im Straßenverkehr enthält steuerliche Maßnahmen im
Kraftfahrzeug- und im Einkommensteuergesetz, die die
Kaufprämie flankieren sollen. Vorgesehen im Gesetzent-
wurf der Bundesregierung waren neben einer Befreiung
von der Kraftfahrzeugsteuer für reine Elektroautos von
derzeit fünf auf zukünftig zehn Jahre für Neuzulassungen
zwischen 2016 und 2020 auch Steuerbefreiungen sowie
Begünstigungen im Bereich der Einkommensteuer . Mit
Änderung des § 3 Nummer 46 EStG wird eine Steuer-
befreiung eingeführt, wenn das Elektroauto oder das
Hybrid elektroauto beim Arbeitgeber aufgeladen wird .
Die für das Aufladen anfallenden Stromkosten werden
also nicht als geldwerter Vorteil versteuert – anders als
bei anderen Vergünstigungen des Arbeitgebers wie bei-
spielsweise Essensgutscheinen . In die Steuerfreiheit ein-
bezogen werden auch Vorteile aus der vom Arbeitgeber
zur privaten Nutzung überlassenen Ladeinfrastruktur
sowie die Kosten für deren Installation oder Inbetrieb-
nahme .
Die Sachverständigen hielten die im Gesetzentwurf
vorgeschlagenen Maßnahmen als Flankierung der Kauf-
prämie insgesamt für sinnvoll; das kann als Kompliment
an die Bundesregierung verstanden werden . Wir haben
uns als SPD-Fraktion in den Verhandlungen trotzdem
erfolgreich für weitere Verbesserungen eingesetzt . Nach
Auswertung der Sachverständigenanhörung haben wir
uns innerhalb der Großen Koalition auf einige kleine-
re Änderungen am Gesetzentwurf in § 3 Nummer 46
EStG geeinigt . So haben wir die Steuerbefreiung auch
auf Dienstwagen von Arbeitnehmern ausgeweitet, die die
Fahrtenbuchmethode anwenden. Damit profitieren nun
alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, unabhängig
davon, ob sie ein privates Elektroauto oder einen Dienst-
wagen nutzen . Mit dieser Änderung greifen wir eine
Forderung des Bundesrates und einiger Sachverständiger
auf .
Wir werden außerdem das steuerfreie Aufladen auch
auf verbundene Unternehmen im Sinne des § 15 Aktien-
gesetz ausweiten, aber bewusst nicht auf Anlagen Dritter .
Dafür wird der Begriff „im Betrieb des Arbeitnehmers“
in § 3 Nummer 46 EStG im GE präzisiert . Bisher war
diese Definition lediglich in der Gesetzesbegründung
enthalten . Damit haben wir teilweise eine Forderung
des Bundesrates aufgegriffen . Dieser hatte gefordert, die
Steuerbefreiung auf Betriebe der mit dem Arbeitgeber
verbundenen Unternehmen sowie auf Anlagen Dritter au-
ßerhalb des Betriebes auszuweiten . Wir teilen hier aller-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618956
(A) (C)
(B) (D)
dings die Ansicht der Bundesregierung und der meisten
Sachverständigen, dass die Ausweitung auf die Anlagen
Dritter dem Ziel des Gesetzentwurfes zuwiderläuft, die
Zahl der Ladestationen in der Fläche zu erhöhen . Denn es
geht bei den Maßnahmen eben gerade darum, zusätzlich
zu den schon bestehenden Ladestationen den Bau neuer
zu fördern .
Nicht im Gesetzentwurf selbst, sondern im Bericht des
Finanzausschusses haben wir uns mit unserem Koaliti-
onspartner auf eine Formulierung geeinigt, die den Be-
griff der Ladeinfrastruktur präzisiert . Denn einige Sach-
verständige sahen Klärungsbedarf bei der Frage, was zur
Ladeinfrastruktur gehört und was nicht . Mit dieser Klar-
stellung soll auch bürokratischer Aufwand für Arbeitneh-
mer und Arbeitgeber vermieden werden .
Insgesamt werden mit den beschlossenen Maßnahmen
nicht nur Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlastet,
sondern auch Arbeitgeber begünstigt . Sie haben zukünf-
tig die Möglichkeit, den Aufbau von Ladestationen auf
dem Betriebsgelände über die Lohnsteuer bezuschussen
zu lassen . Hierdurch soll der Anreiz für Arbeitgeber er-
höht werden, sich stärker am Ausbau der Ladeinfrastruk-
tur von Elektrofahrzeugen zu beteiligen .
Wir als SPD-Fraktion stimmen dem vorliegenden Ge-
setzentwurf zu .
Thomas Lutze (DIE LINKE): Sie wollen die Elektro-
mobilität der Pkw fördern, indem Sie unter anderem die
Befreiung der Kfz-Steuer verlängern und die steuerrecht-
liche Bestimmungen für das Nutzen von Dienst-E-Autos
sowie das Aufladen in der Firma klarer regeln wollen.
Klingt alles nett und sinnvoll . Es wird aber nieman-
den zusätzlich dazu bewegen, sein bisheriges Auto mit
Verbrennungsmotor gegen ein E-Mobil einzutauschen .
Warum? Weil es sich trotz Steuergeschenken nicht an-
satzweise rechnet . Wenn Sie diese Form der Mobilität
fördern wollen, müssen Sie Geld in die Hand nehmen
und Forschungsprojekte massiv fördern . In Deutschland
gibt es eine breitgefächerte Landschaft an technischen
Universitäten, Hochschulen, Fachhochschulen und Ins-
tituten . Aber nirgendwo gibt es Forschung für leistungs-
fähige Akkumulatoren, kurz Akkus . Auch die meisten
Produktionsstandorte der Hersteller haben Deutschland
den Rücken gekehrt . Diese Entwicklung müssen wir um-
kehren, die Industrie zurückholen sowie Forschung und
Entwicklung massiv fördern .
Betrachtet man Fahrzeuge, die heute auf den Straßen
anzutreffen sind, dann sind gerade die Reichweiten und
die Ladezeiten der Akkus neben dem hohen Kaufpreis des
Fahrzeugs die größten Hemmnisse für die Anschaffung
eines E-Mobils . Wenn man mit seinem Auto nur 120 bis
maximal 150 Kilometer weit kommt und anschließend
das Fahrzeug stundenlang aufladen muss, dann ist so ein
Fahrzeug schlichtweg nicht konkurrenzfähig . Bei durch-
schnittlich 35 000 Euro Anschaffungspreis, der zwischen
10 000 und 15 000 Euro höher ist als ein vergleichbares
Fahrzeug mit Verbrennungsmotor, wird niemand eine
Kfz-Steuerersparnis von fünfmal 120 Euro zum Anlass
nehmen, umzusteigen . Ich mache es nicht, und der Fahr-
dienst des Deutschen Bundestages aus Kostengründen
offenbar auch nicht . Bereits die Einführung der Kaufprä-
mie für E-Autos von 3 000 bis 4 000 Euro pro Fahrzeug
hat zu keinem sprunghaften Anstieg der Zulassungszah-
len geführt . Diejenigen, die sich als Zweit- oder Dritt-
wagen ein fürs Image cooles E-Mobil leisten können,
bekommen noch etwas Geld vom Staat . Vollkommener
Unfug!
In Deutschland gibt es ein dichtes Netz für E-Mobi-
lität . Ich meine nicht die gelegentlichen Ladestationen,
die man in den Innenstädten findet. Ich meine unser Ei-
senbahnnetz, dessen Diesellücken endlich geschlossen
werden sollten . Oder die zunehmenden Netze innerstäd-
tischer Straßenbahnen, die Überlegungen, wieder Ober-
leitungs- und Akkubusse einzuführen, alles das ist Elek-
tromobilität .
Sie fördern aber auch sogenannte Hybridfahrzeuge,
also Autos, die neben ihrem Elektroantrieb auch einen
Verbrennungsmotor mit sich rumschleppen . Sorry, auch
wenn diese Fahrzeuge aus Benzin- und Dieselsicht eine
interessante Perspektive haben, mit Elektromobilität ha-
ben sie nur sehr wenig zu tun . Förderungswürdig sind sie
aus Sicht der Linksfraktion nicht .
Dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht
steuerrechtlich zu Kasse gebeten werden sollen, wenn sie
ihr Fahrzeug an ihrem Arbeitsplatz auftanken, ist begrü-
ßenswert . Es ist nur sehr entscheidend, dass dies dann
auch für E-Fahrräder und vergleichbare individuelle Mo-
bile gilt .
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Für die
deutsche Klimapolitik spielt die Wende beim motorisier-
ten Individualverkehr eine entscheidende Rolle . Selbst-
verständlich will die Gesellschaft mobil sein und bleiben .
Sie will das allerdings, ohne die Klimakrise zu verschär-
fen . Um im Verkehrssektor die Einsparziele bei den
Emissionen zu erreichen, braucht es ein ganzes Bündel
von Maßnahmen . Es geht zum einen darum, unnötiges
Verkehrsaufkommen zu vermeiden . Es geht um schwel-
lenlose und bequeme Übergänge zwischen den Verkehr-
strägern . Zum anderen sind bestehende Technologien,
wie der motorisierte Individualverkehr, klimafreundli-
cher zu gestalten .
Ein wesentlicher Baustein für den Straßenverkehr ist
die Elektromobilität . Mit klimafreundlichem Strom gela-
den sind Elektroautos, -busse und -fahrräder eine Tech-
nologie, die dem Klimaschutz dient . Sie reduziert die
Abhängigkeit vom Rohstoff Öl drastisch und steigert die
Luft- und Lebensqualität, nicht nur in den Städten .
Der vorliegende Gesetzentwurf verweist aus gutem
Grund auf das Ziel Deutschlands, bis 2020 den CO2-Aus-
toß gegenüber dem Jahr 1990 um bis zu 40 Prozent zu
senken . Dabei hält auch die Bundesregierung die Steige-
rung des Anteils der Elektrofahrzeuge für eine zentrale
Maßnahme .
Das hört sich zunächst sehr ambitioniert und ver-
nünftig an . Wenn ich mir dann aber die vorgeschlagenen
Maßnahmen ansehe, dann kann es mit der Absicht der
Bundesregierung, CO2-Emissionen im Straßenverkehr
einzusparen, nicht weit her sein . Die Bundesregierung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18957
(A) (C)
(B) (D)
kann nicht ernsthaft annehmen, dass die Verlängerung
einer bestehenden Kfz-Steuerbefreiung sowie das steu-
erbefreite „Stromtanken“ beim Arbeitgeber irgendetwas
an den überkommenen Strukturen im Verkehrssektor än-
dern .
Deutlicher als mit diesem Gesetzentwurf kann die
Bundesregierung ihre Scheu vor einem wirklich großen
Wurf nicht zur Schau stellen. Allein die finanziellen Aus-
wirkungen von maximal 20 Millionen Euro im Jahr spre-
chen hier eine deutliche Sprache .
Es stellt sich dennoch die grundsätzliche Frage, wa-
rum diese Mindereinnahmen letztlich vom Steuerzahler
finanziert werden sollen. Vor dem Hintergrund der Kli-
maziele ist es an der Zeit, eine konsistente und klima-
freundliche Besteuerung von Pkw einzuführen . Autos
mit hohem Verbrauch und hohem Ausstoß zahlen mehr,
Autos mit wenig Ausstoß weniger . Aus einer Klimaper-
spektive betrachtet ist ein solches Vorgehen unmittelbar
einleuchtend . Nun haben wir die paradoxe Situation,
dass wir einerseits halbwegs bessere Bedingungen für
die Elektromobilität schaffen . Andererseits klima- und
gesundheitsschädliche Dieselfahrzeuge weiterhin sub-
ventionieren . Ganz zu schweigen von den klimaschädli-
chen Steuersubventionen bei den Dienstfahrzeugen und
im Luftverkehr .
Wollen wir unsere Klimaziele erreichen, ist es an der
Zeit, die Besteuerung der einzelnen Technologien im
Verkehrssektor an ihren Umweltauswirkungen bzw . ih-
ren sogenannten externen Kosten auszurichten .
Der vorliegende Gesetzentwurf führt im Gegensatz
dazu zu insgesamt mehr Fahrzeugen auf der Straße . Über
die Kaufprämie und geringfügige Erleichterungen bei
der Steuer werden einige Liebhaber von Elektroautos zu-
schlagen . Der Rest bleibt beim Diesel und Benziner .
Wir wollen nicht verkennen, dass die vorgeschlagene
Steuerbefreiung die Beseitigung von Bürokratie bedeutet
und sich daher als flankierende Maßnahme positiv auf
die Elektromobilität auswirkt . Zu einem eigenständigen
Anreiz zum Kauf eines Elektrofahrzeugs führen diese
Regelungen aber ganz sicher nicht . Zur Erreichung der
nationalen Klimaziele brauchen wir eine weitgehende
Dekarbonisierung des Verkehrssektors bis spätestens
2050 . Dieser Gesetzentwurf kann vor diesem Hinter-
grund nicht einmal als Tropfen auf den heißen Stein be-
zeichnet werden .
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung
der Versorgung und der Vergütung für psych-
iatrische und psychosomatische Leistungen
( PsychVVG)
– des Antrags der Abgeordneten Maria Klein-
Schmeink, Dr. Harald Terpe, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Psy-
chisch erkrankte Menschen besser versorgen –
Jetzt Hilfenetz weiterentwickeln
(Tagesordnungspunkt 22 a und b)
Reiner Meier (CDU/CSU): Es ist in der Debatte
schon mehrfach angeklungen: Die Reform der Versor-
gung und der Vergütung im Bereich der psychiatrischen
und psychosomatischen Leistungen ist äußerst viel-
schichtig und komplex . Dass die Strukturen in einem
erklärtermaßen lernenden System stetig weiterentwickelt
werden und dass dabei auch die Erfahrungen aus den Di-
alogen mit Patienten und Leistungserbringer einfließen,
sollte vor diesem Hintergrund wahrlich niemanden über-
raschen . Heute liegt uns nun ein Gesetzentwurf vor, der
nicht nur wichtige Verbesserungen für die Versicherten
enthält, sondern auch gerechtere und transparentere Ver-
gütungsstrukturen schaffen wird . Transparentere Vergü-
tungsstrukturen sind im Bereich der psychiatrischen und
psychosomatischen Versorgung durchaus geboten . Nicht
alle regionalen Kostenunterschiede lassen sich etwa mit
besseren Leistungen oder örtlichen Besonderheiten nach-
vollziehen . Aus diesem Grund werden künftig leistungs-
bezogene Vergleiche zwischen den Häusern eine wichti-
ge Orientierung für die Verhandlungspartner geben und
die Kostentransparenz ganz wesentlich verbessern . Den-
noch geht es hier nicht um unreflektierte Gleichmacherei.
Gerade auf dem Land, wo Häuser mit regionalen Versor-
gungsverpflichtungen für die Patientinnen und Patienten
besonders wichtig sind, kann dies nun bei den Budgets
berücksichtigt werden. Die wohnortnahe, flächendecken-
de Versorgung bleibt auch weiterhin unser Leitbild .
Ein roter Faden der Gesundheitspolitik in dieser Le-
gislaturperiode ist die Gewährleistung hoher Qualität in
der gesetzlichen Krankenversicherung . Deshalb werden
wir den Gemeinsamen Bundesausschuss beauftragen,
unter anderem Vorgaben für eine leitliniengerechte Be-
handlung der Patienten ebenso wie für die Ausstattung
der Einrichtungen zu erarbeiten . Gleichzeitig schaffen
wir für Menschen mit psychischen Erkrankungen die
Möglichkeit, sich in den eigenen vier Wänden durch spe-
zielle Behandlungsteams versorgen zu lassen . Dadurch
können Patienten in ihrer gewohnten Umgebung bleiben
und eine Aufnahme in die stationäre Psychiatrie vermei-
den .
Eine gute Versorgung psychisch erkrankter Menschen
sollte sich in erster Linie dem Patienten widmen und nicht
Listen und Formularen . Deshalb verzichten wir nicht nur
weitestgehend auf neue Bürokratie, sondern nehmen die
Selbstverwaltung in die Pflicht, den Dokumentationsauf-
wand, wo es geht, zu reduzieren . Dazu werden die Do-
kumentationsregeln jährlich auf den Prüfstand gestellt
und unnötige Bürokratie gestrichen . Das entlastet Ärzte,
Psychotherapeuten und Pflegekräfte und schafft Raum
für mehr Zuwendung an die Patienten .
Zum Schluss möchte ich noch auf die Klarstellungen
für die Zuweisungen für Krankengeld und Auslandsver-
sicherte im Rahmen des morbiditätsorientierten Risi-
kostrukturausgleichs eingehen . Uns allen ist klar, dass
eine Änderung für zurückliegende Jahresabschlüsse die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618958
(A) (C)
(B) (D)
Ausnahme bleiben muss . Dennoch lege ich Wert auf die
Feststellung, dass wir mit dem Änderungsantrag ledig-
lich einen rechtssicheren Vollzug des bereits im Jahre
2014 beschlossenen GKV-FQWG gewährleisten, nicht
mehr und nicht weniger .
Wenn wir heute die Beratungen förmlich beginnen,
dann tun wir das in der Gewissheit, dass wir die Versor-
gungsstrukturen für psychisch und psychosomatisch er-
krankte Menschen an wichtigen Stellen verbessern . Im
Interesse dieser Menschen darf ich Sie um konstruktive
Beratungen im Ausschuss bitten .
Dirk Heidenblut (SPD): Anfang 2016 haben wir mit
dem Eckpunktepapier als Ergebnis aus dem strukturier-
ten Dialog die Abkehr vom Pauschalierenden Entgelt-
system Psychiatrie und Psychosomatik, PEPP, in seiner
bisherigen Form eingeleitet . Das heute vorgelegte Gesetz
resultiert daraus und greift die verschiedenen Eckpunk-
te auf . Zunächst bin ich sehr froh, dass wir damit, wie
von der SPD seit Langem gefordert, die berechtigten Be-
denken aller Fachverbände am PEPP aufgegriffen haben
und eine Lösung vorlegen, die gerade für Menschen mit
schwersten psychischen Erkrankungen eine Verschlech-
terung in der Versorgung verhindert . Das war auch das
Ziel unserer Vereinbarung im Koalitionsvertrag . An die-
ser Stelle möchte ich noch einmal dem Ministerium und
den Fachverbänden danken, die die Chance, die wir mit
der Vorgabe des strukturierten Dialogs eröffnet haben,
produktiv genutzt haben . Nicht zuletzt hat das gemein-
same Grundlagenpapier nahezu aller Fachverbände die
wesentlichen Impulse für die Eckpunkte und damit für
das Gesetz geliefert .
Ganz wesentlich ist dabei die Umstellung auf ein bud-
getorientiertes Entgeltsystem . Das krankenhausindivi-
duelle Budget, das regionale und strukturelle Besonder-
heiten berücksichtigt, bietet die Grundlage für eine gute
Versorgung . Es wird von den Verhandlungspartnern vor
Ort abhängen, dies entsprechend auszukleiden .
Besonders freut mich an dieser Stelle, dass wir mit
der Fortführung der Psychiatrie-Personalverordnung,
PsychPV, auch weiterhin eine verbindliche Personalbe-
messungsgrundlage erhalten, bis diese durch eine neue
Richtlinie des GBA abgelöst wird . Und hier ist die Vorga-
be jetzt ebenfalls völlig klar: Sie wird eine verbindliche
Grundlage sein, die zugleich – und das ist unverzicht-
bar – einer konkreten Nachweispflicht unterworfen ist.
Gerade in der Psychiatrie hat eine angemessene Per-
sonalausstattung einen zentralen Einfluss auf einen er-
folgreichen Behandlungsprozess, und das gilt für alle
Berufsgruppen gleichermaßen . Der GBA erhält die klare
Vorgabe, bis 2020 die nötigen, soweit möglich, auf Evi-
denz gestützten Grundlagen zu schaffen und in eine ent-
sprechende Richtlinie zu überführen . Und wir erwarten,
dass dies auch in dem genannten Zeitrahmen geschieht .
Für uns ist es selbstverständlich, dass sich die so fest-
gelegte Personalausstattung in den Budgets, also bei der
Finanzierung wiederfindet, wobei auch tarifliche Fragen
ausreichend berücksichtigt sein müssen .
In vielen Fällen sind wir leider noch von einer 100-pro-
zentigen Umsetzung der PsychPV entfernt . Daher wird
auf dem Weg hin zur neuen Personalrichtlinie eine konti-
nuierliche Anpassung zwingend erfolgen müssen . In den
Kalkulationshäusern soll die 100-prozentige Erreichung
der PsychPV bereits grundsätzlich vorgeschrieben wer-
den . Es ist aus unserer Sicht richtig, die Personalfrage
so deutlich zu fokussieren; denn ein großer Mangel des
bisherigen PEPP war, dass gerade in der neu angedachten
Personalrichtlinie keine Verbindlichkeit lag .
Es werden zugleich die Regelungen für die Psychia-
trischen Institutsambulanzen, PIA, weiterentwickelt mit
dem Ziel, dass die tatsächliche Leistungserbringung in
der Bedarfsplanung eine angemessene Berücksichtigung
finden kann. Die PIA ist eine ganz wesentliche Kompo-
nente der Überleitung und der Entlastung im ambulanten
System . Eine pauschale Anrechnung, wie bisher, wird
der tatsächlichen Bedarfsermittlung im ambulanten Be-
reich jedoch nicht gerecht .
Das Gesetz wird heute eingebracht, und wir werden –
natürlich unter Berücksichtigung der Anhörung – in die
parlamentarische Diskussion einsteigen . Dabei wird zu
klären sein, ob das mit den Eckpunkten Angedachte aus-
reichend berücksichtigt ist . Vor allen Dingen wird sich
zeigen, ob das Ziel einer stationären Psychiatrie, für alle
Patienten eine bedarfsgerechte und gute Versorgung bei
hoher Transparenz zu gewährleisten – wozu etwa auch
der Krankenhausvergleich gehört –, erreicht werden
kann . Wie gewohnt: Nachbesserungen sind nicht ausge-
schlossen .
Mit dem Gesetz werden zudem Leistungen der stati-
onsäquivalenten Versorgung neu eingeführt . Durch diese
Leistungen sollen Menschen mit schwersten psychischen
Erkrankungen auch zu Hause Hilfe erfahren können . Ob-
gleich meine Kollegin auf diesen Bereich detailliert ein-
gehen wird, ist mit einzubeziehen, ob und wie wir hier
die Erfahrungen aus den parallel zum PEPP entwickelten
Modellen nach § 64b berücksichtigen können bzw . ob an
dieser Stelle mehr Raum für Entwicklung gegeben wer-
den muss .
Ich freue mich auf die anstehenden Diskussionen,
und – das sei mir zum Schluss gestattet – es freut mich
vor allen Dingen, dass PEPP abgelöst wird .
Wir schaffen mit dem Gesetz eine sinnvolle und drin-
gend notwendige Weiterentwicklung in der Versorgung
und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische
Leistungen . Ich will jedoch nicht verhehlen, dass es auch
mit dem Gesetz noch ein weiter Weg zu einer unbedingt
erforderlichen, wirklich vernetzten und sektorenüber-
greifenden Versorgung ist . Aber es gilt, im Sinne aller
Beteiligten diesen Weg konsequent zu gehen .
Helga Kühn-Mengel (SPD): Mehrfach hat sich der
Bundestag in den letzten Jahren mit der Finanzierung
psychiatrischer Krankenhausbehandlung befasst . Schon
der Name des jetzt vorliegenden Gesetzentwurfs macht
deutlich, dass es dieses Mal nicht nur um die Vergütung,
sondern auch und sogar vorwiegend um die Weiterent-
wicklung der Versorgung geht . Das ist der Schwerpunkt
dieses Gesetzentwurfs . Wesentliches Merkmal einer
strukturellen Weiterentwicklung psychiatrischer und
psychosomatischer Behandlung ist die Neuaufnahme
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18959
(A) (C)
(B) (D)
der stationsäquivalenten Behandlung in den Katalog
der Krankenhausleistungen . Damit ist Home Treatment
gemeint . Eine psychiatrische Unterstützung kann eben
nicht nur im Krankenhaus, sondern beispielsweise auch
in der Wohnung, eventuell auch am Arbeitsplatz stattfin-
den .
Wir können hier auf die Erfahrungen aus den Model-
len nach § 64b zurückgreifen, die parallel zum PEPP ent-
wickelt wurden . Und diese Erfahrungen zur integrierten
Versorgung sind positiv . Es gibt eben psychisch kranke
Menschen, die Krankenhausbehandlung benötigen, aber
nicht bereit sind, in ein Krankenhaus zu gehen . Vielleicht
machen ihnen die vielen Menschen Angst oder auch nur
der eine Mitpatient, der dann mit im Zimmer liegt; viel-
leicht scheuen sie aus religiösen Gründen eine gemischt-
geschlechtliche Station, vielleicht können sie sich außer-
halb der eigenen Wohnung nicht mehr gut orientieren,
oder sie hängen vielleicht so stark an Bezugspersonen,
dass sie sich von diesen nicht trennen können . Für solche
Menschen wird mit diesem Gesetz eine Krankenhausbe-
handlung im eigenen Lebensumfeld ermöglicht . Das ist
ein großer Fortschritt .
Immer wieder müssen wir uns klarmachen, dass psy-
chisch Kranke einen anderen Krankheitsverlauf und Um-
gang mit der Krankheit zeigen . Während die somatisch
Erkrankten aktiv auf das Gesundheitssystem zugehen,
zieht sich der psychisch Kranke häufig zurück, wird in-
aktiv, den Hilfsangeboten weniger zugänglich und muss
oft erst für eine Behandlung gewonnen werden . Nicht
ohne Grund wurde im SGB V festgeschrieben, dass die
besonderen Belange psychisch Kranker zu berücksichti-
gen seien .
Mit der Einführung einer stationsäquivalenten psy-
chiatrischen Behandlungsmöglichkeit im häuslichen
Umfeld wird eine Lücke zwischen stationärer und ambu-
lanter Behandlung geschlossen mit der Aufgabe, die sek-
torenübergreifende Versorgung zu stärken . Das haben die
Fachverbände seit Langem gefordert, wir haben es uns
im Koalitionsvertrag als Ziel gesetzt, und wir gehen jetzt
an die Umsetzung . Ein wichtiger Schritt . Wir ermögli-
chen aber nicht nur eine flexiblere Behandlung durch die
Krankenhäuser, sondern wollen auch die Zusammenar-
beit der Kliniken mit niedergelassenen Psychiaterinnen
und Psychiatern, Anbietern von Integrierter Versorgung,
Psychotherapeuten, sonstigen Therapeuten und Pflege-
diensten intensivieren . Im Gesetz ist ausdrücklich festge-
halten: Leistungen im Rahmen der stationsäquivalenten
Behandlung können ganz oder teilweise vom Kranken-
haus auch an andere an der ambulanten psychiatrischen
Versorgung teilnehmende Leistungserbringer delegiert
werden .
Die Vernetzung der regionalen Hilfen ist insbesonde-
re für schwer psychisch kranke Menschen wichtig, die
gleichzeitig oder aufeinanderfolgend mehrere Hilfen be-
nötigen: einen personenzentrierten Hilfemix, multipro-
fessionell, interdisziplinär und integriert . Themen wie
Arbeit, Freizeitgestaltung, Selbstversorgung und Teilha-
be am gesellschaftlichen Leben sind dabei zu berücksich-
tigen . Solche Leistungen müssen gut koordiniert werden .
Im Krankenhaus ist die tägliche Abstimmung unter den
an der Behandlung Beteiligten selbstverständlich . Im am-
bulanten Bereich findet eine solche Abstimmung seltener
statt . Als Hilfe zum Zugang zu ambulanten Leistungen
und zur Koordination derselben haben wir vor 15 Jahren
die Soziotherapie im SGB V verankert . Sie kann und soll
additive Leistungen von unterschiedlichen ambulanten
Leistungserbringern zu einem Hilfeprogramm bündeln,
sie soll dabei den schwer psychisch kranken Menschen
verlässlich begleiten . Leider wird Soziotherapie noch im-
mer nicht überall angeboten . Auch dort, wo es sie gibt,
wird sie nur selten genutzt .
Das ambulante Hilfesystem muss auch dazu in der
Lage sein, koordinierte Hilfeprogramme zu erbringen .
Man kann auch von Komplexleistungen sprechen . Das
soll nicht die stationsäquivalente Behandlung überneh-
men . Diese ersetzt stationäre Behandlung, nicht am-
bulante durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte,
Psychotherapeuten und sonstige Therapeuten . Deren
Leistung muss allerdings gerade bei schwer psychisch
Kranken stärker koordiniert werden . Dazu kann die So-
ziotherapie dienen . Wir sollten sie endlich in das Versor-
gungsgeschehen und in dieses Gesetz einbeziehen .
Wir haben heute eine zunehmende Inanspruchnahme
psychiatrischer und psychotherapeutischer Leistungen
und damit eine weitaus häufigere Behandlung seelischer
Erkrankungen als früher . Diese Krankheitsbilder sind
auch eine Hauptursache für langwierige Arbeitsunfähig-
keit und frühe Verrentung . Zu einer guten Behandlung
gehört der Blick auf die individuellen Bedürfnisse des
Patienten . Gerade bei seelischen Erkrankungen gilt dies
besonders . Das Gesetz stärkt die Sicherstellung einer gu-
ten Versorgung .
Harald Weinberg (DIE LINKE): Zu Beginn möchte
ich Folgendes festhalten: Der Widerstand und der Protest
der Fachverbände und der betroffenen Kolleginnen in
den psychiatrischen Einrichtungen zusammen mit ihrer
Gewerkschaft verdi gegen die Einführung eines Pauscha-
len Entgeltsystems in Psychiatrie und Psychosomatik,
PEPP, hat sich gelohnt: PEPP kommt nicht so wie ge-
plant – und das ist gut so . Es ist aber noch nicht weg, es
droht, durch die Hintertür eingeführt zu werden .
Und das wäre falsch, denn eine angemessene psychi-
atrische Versorgung der Patientinnen und Patienten kann
nicht gewährleistet sein, wenn den Krankenhäusern für
ihre Patientinnen und Patienten nicht die tatsächlich ent-
stehenden Kosten erstattet werden, sondern irgendwie
ermittelte Durchschnittskosten . Man muss der SPD in
dieser Frage zugestehen, dass sie sich in der Koalition
für Verbesserungen eingesetzt hat – etwas, was man ja
in diesen Tagen von der SPD nicht in allen Fragen sagen
kann, wenn man zum Beispiel ihr Einknicken bei CETA
oder ihren Eiertanz bei der hälftigen Finanzierung der
Krankenkassen durch die Arbeitgeber anschaut . Mein
Glückwunsch dazu!
Nach den Eckpunkten liegt nun der Gesetzentwurf
zum PsychVVG – noch so ein schönes Kürzel – vor .
Ausgeschrieben heißt das: Gesetz zur Weiterentwicklung
der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und
psychosomatische Leistungen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618960
(A) (C)
(B) (D)
Im Rahmen meiner viel zu kurzen Redezeit kann ich
nur kurz auf drei Punkte eingehen:
Erstens die Möglichkeit für die Krankenhäuser, eine
stationsäquivalente Behandlung einzurichten, das soge-
nannte Home-Treatment, zweitens die Einführung eines
krankenhausindividuellen Budgetsystems verbunden
mit Einführung eines systematischen Krankenhausver-
gleichs, drittens Bestimmungen zur Mindestpersonalaus-
stattung und ihre Kontrolle .
Diese Möglichkeit einer stationsäquivalenten Versor-
gung im häuslichen Umfeld der Patientinnen einzurich-
ten, ist zunächst einmal sehr zu begrüßen . Neue, sektor-
übergreifende Versorgungsformen sind gerade in diesem
Bereich dringend erforderlich .
Problematisch ist jedoch, dass dies an eine Verringe-
rung der Bettenzahl gekoppelt ist . Hierzu sollen Kas-
sen und Krankenhausgesellschaft auf der Bundesebene
„Grundsätze(n) für den Abbau nicht mehr erforderlicher
Betten aufgrund der Durchführung der stationsäquivalen-
ten Behandlung“ vereinbaren . Nach diesen Grundsätzen
sollen Krankenkassen und Krankenhaus vor Ort „im Be-
nehmen“ mit den Ländern konkret Bettenabbau beschlie-
ßen . Das ist ein starker Eingriff in die Planungshoheit der
Länder bei der Krankenhausplanung, denn „Benehmen“
bedeutet nicht, dass die Länder dabei wirklich mitbestim-
men können . Ein Automatismus zum Bettenabbau jen-
seits einer genauen Prüfung ihrer Erforderlichkeit darf es
nicht geben . Es ist aus gutem Grund Aufgabe der Länder
und nicht der Kostenträger, den Bedarf an Krankenhäu-
sern festzulegen . Dieses Prinzip sollte nicht durchlöchert
werden .
Wichtig ist aus unserer Sicht, dass diese neuen Versor-
gungsformen ausreichend personell und finanziell ausge-
stattet werden . Und da sind einige Zweifel angebracht,
ob sich die stationsäquivalente Behandlung kostenneut-
ral umsetzen lässt .
Die Vergütung soll auf Krankenhausebene durch die
Vertragsparteien als Gesamtbudget vereinbart werden .
Das soll gelten ab 2018 . In den Jahren 2018 und 2019
erfolgt sie budgetneutral . Grundlage sind die Vorjahres-
budgets, dabei wird ein krankenhausindividueller Basi-
sentgeltwert ermittelt . Und hier kommt dann doch wieder
der bundeseinheitliche PEPP-Katalog zur Anwendung .
Ab 2020 gelten dann die neuen Regelungen für die Er-
mittlung des Gesamtbudgets . Sie enthalten ein deutliches
Droh- und Druckpotenzial zur Durchsetzung von Durch-
schnittspreisen . Es werden Bundesdurchschnittsentgelte
für Leistungen ermittelt und als Vergleichsmaßstab he-
rangezogen . Krankenhäuser und Kassen sollen vor Ort
beraten, wie über Anpassungsvereinbarungen die Aus-
gaben an den Bundesdurchschnitt angeglichen werden
können . Das könnte einen ganz ähnlichen Effekt haben
wie die in PEPP ursprünglich vorgesehene automatische
Konvergenz .
Einige Verbände und Organisationen sprechen in dem
Zusammenhang von der Einführung von PEPP durch die
Hintertür . Das ist aus meiner Sicht noch nicht entschie-
den, aber die Gefahr ist unverkennbar .
Bis einschließlich 2019 gilt die Psychiatrie-Perso-
nalverordnung, Psych-PV, als Personalbemessungs-
instrument weiter . Ab 2020 soll es verbindliche Min-
destanforderungen für die berufsgruppenbezogene
Personalausstattung geben . So weit, so gut . Diese sollen
aber vom Gemeinsamen Bundesausschuss, G-BA, fest-
gelegt werden, also von Kassen und Krankenhäusern .
Damit besteht die Gefahr, dass die dringend notwendi-
ge Personalbemessung nicht im Rahmen von Leitlinien
evidenzbasiert erfolgt, sondern von Interessenkonflikten
zerrieben und verwässert wird . Wir fordern, dass hier
Fachgesellschaften, Gewerkschaft und Patientenorgani-
sationen in die Entscheidungen eingebunden werden .
Außerdem kann man Zweifel bekommen, wie ernst
es die Bundesregierung mit Verbesserungen beim Perso-
nal meint . Derzeit wird die durchschnittliche Deckungs-
quote der Psych-PV um die 90 Prozent geschätzt . Wenn
wir 100 Prozent Erfüllung der Personalvorgaben wollen,
müssten die Personalkosten in einer Größenordnung von
600 Millionen Euro pro Jahr steigen . Der Gesetzentwurf
geht aber nur von 65 Millionen im Jahr 2018 aus . Das
reicht hinten und vorne nicht . Wenn die Bundesregierung
das, was sie vorhat, auch ernst nähme, dann müsste sie
wesentlich mehr Geld einplanen . Notwendig wäre auch
ein Sanktionsmechanismus, der Krankenhäuser belohnt,
die Stellen schaffen, oder die bestraft, die es nicht tun .
Aber der Gesetzentwurf sieht ja noch nicht einmal vor,
dass die Kliniken den Kassen nachweisen müssen, ob
sie die zusätzlichen Mittel bis 2019 für Personal einset-
zen oder für eine Dividendenerhöhung ihrer Aktionäre .
So wird das nichts! Da auch für die notwendige Aufsto-
ckung der Personalmittel Referenzwerte der Kalkulati-
onskrankenhäuser herangezogen werden sollen, muss
auf jeden Fall sichergestellt sein, dass die in die Kalku-
lation einbezogenen Häuser die Vorgaben der Psych-PV
voll erfüllen . Ansonsten sind sie aus der Stichprobe aus-
zuschließen .
Fazit: Das PsychVVG hat einiges an Licht zu bieten,
aber auch noch ziemlich viel Problematisches, das sich
im Schatten findet. Ich hoffe, wir werden das Gesetz in
den Beratungen noch erheblich verbessern, denn das ist
im Sinne der Patientinnen und Patienten dringend nötig .
Aber wir wissen zu würdigen, dass dies seit Jahren die
erste Regelung ist, die zumindest vordergründig nicht in
Richtung Markt und Wettbewerb geht, sondern die Ver-
sorgung im Fokus hat . Auch im Antrag der Grünen sind
einige vernünftige Vorschläge enthalten, die die Koaliti-
on prüfen sollte .
Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Bundesregierung hat den dringenden Kor-
rekturbedarf am alten, von CDU und FDP eingerichteten
PEPP-System endlich erkannt . Insofern geht der Gesetz-
entwurf in die richtige Richtung . Die Neuausrichtung hin
zu einem Budgetsystem wird aber nicht konsequent voll-
zogen . Es bleibt zu befürchten, dass durch die Hintertür
eine preisorientierte Kalkulation entlang von Einzelleis-
tungen fortgeschrieben wird . Der Gesetzentwurf bleibt
weit hinter seinen Zielen, die sektorenübergreifende Be-
handlung in der psychiatrischen Versorgung zu fördern
sowie die Transparenz und die Leistungsorientierung der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18961
(A) (C)
(B) (D)
Vergütung zu verbessern, zurück . Der deutliche Anstieg
von Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Kran-
kenhäusern, häufig wiederkehrende stationäre Aufenthal-
te, lange Wartezeiten in der ambulanten Behandlung und
ein fortdauernder Anstieg von frühzeitiger Erwerbsun-
fähigkeit sind deutliche Hinweise, dass die Versorgung
psychisch erkrankter Menschen dringend verbessert wer-
den muss .
Ziel muss ein bedarfsgerechtes, regionales, psychia-
trisch/psychotherapeutisches und psychosoziales Ver-
sorgungsnetz sein, das flexibel verschiedenste personen-
zentrierte und lebensweltbezogene Behandlungsformen
ermöglicht: die ambulante Begleitung in den eigenen
Alltag während, nach oder statt einem stationären Auf-
enthalt, die enge Abstimmung mit gemeindenahen so-
zialpsychiatrischen Hilfen im Gemeindepsychiatrischen
Verbund, die Einbeziehung von Psychiatrieerfahrenen
und Angehörigen sowie eine ambulante Krisenbeglei-
tung . Ein Entgeltsystem muss diese Veränderungen er-
möglichen und befördern .
Ein sehr kritischer Punkt im alten PEPP war die Fra-
ge der Personalausstattung, weil die alte Psych-PV ab-
geschafft wurde und neue Personalstandards noch durch
den G-BA entwickelt werden sollten . Gut ist, dass die
Psych-PV jetzt weiter gilt und auch deren Umsetzung
nachgehalten wird . Nicht gut ist, dass erst ab 2020 der
Nachweis gegenüber den Krankenkassen geführt werden
muss, dass die Stellen auch besetzt waren . Wer Gelder
für Personal erhält, muss dieses auch für Personal aus-
geben . Klar ist, wir haben Weiterentwicklungsbedarf .
Der für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention erforderliche Personalbedarf zur Vermeidung
von Zwangsbehandlungen muss gesondert erfasst und
vergütet werden . Außerdem müssen die in der UN-Kin-
derrechtskonvention geschützten Besonderheiten der
Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie stär-
ker berücksichtigt werden . Uns reicht nicht, wenn nur die
Selbstverwaltung darüber entscheidet . Wir wollen, dass
eine unabhängige, trialogisch besetzte Expertenkommis-
sion die Weiterentwicklung in der psychiatrischen Ver-
sorgung begleitet .
Mit dem Gesetzentwurf wird es Krankenhäusern in
einem ersten Schritt ermöglicht, Patientinnen und Pati-
enten in ihrem Lebensumfeld zu behandeln, was im An-
schluss an die stationäre Versorgung zu einem gleitenden
Übergang in den ambulanten Bereich beitragen kann . Das
finden wir gut. Es fehlen jedoch Maßnahmen für die am-
bulante Versorgung, die es ermöglichen, Menschen mit
schweren psychischen Erkrankungen ausreichend inten-
siv zu behandeln, um stationäre Aufnahmen im Vorfeld
zu vermeiden . Ziel muss es sein, dass die verschiedenen
Leistungserbringer in einem gemeindepsychiatrischen
Verbund abgestimmte Behandlungen aus einer Hand
auch im häuslichen Umfeld und unter Einbeziehung des
familiären und sozialen Umfelds anbieten . Hierfür sind
rechtliche Vorgaben für Modellvorhaben auch in der am-
bulanten Versorgung zu schaffen sowie deren Finanzie-
rung sicherzustellen .
Abschließend möchte ich noch auf den Griff in den
Gesundheitsfonds eingehen, der ebenfalls im PsychVVG
geregelt ist . Die Bundesregierung kann keine triftigen
Gründe dafür nennen, warum sie für die Mehrbelastun-
gen aufgrund der gesundheitlichen Versorgung von Asyl-
berechtigten und der Telematikinfrastruktur 1,5 Milliar-
den Euro veranschlagt . Eigentlich geht es ihr darum, den
Anstieg von Zusatzbeiträgen im Wahljahr zu mildern .
Die Begründung ist nur herangezogen und hält der sach-
lichen Überprüfung nicht stand . Die gesundheitliche Ver-
sorgung von nicht erwerbstätigen Asylberechtigten wird
wie bei allen SGB-II-Beziehenden aus Steuermitteln fi-
nanziert . Dieses Vorgehen ist unverantwortlich . Denn es
verstärkt die vielfältigen Ressentiments gegen Flüchtlin-
ge und verstärkt Befürchtungen von Versicherten, dass
sie wieder einmal die Zeche zahlen müssen .
Ingrid Fischbach, Parl . Staatssekretärin beim Bun-
desminister für Gesundheit: Die Sicherung der Qualität
in der Versorgung mit psychiatrischen und psychoso-
matischen Leistungen in Deutschland ist der Bundes-
regierung ein wichtiges Anliegen . Rund 41 Jahre nach
der sogenannten „Psychiatrie-Enquete“ des Deutschen
Bundestages hat sich vieles in der Versorgung seelisch
erkrankter Menschen verbessert . Was Therapeuten und
Einrichtungen hier leisten, verdient unsere besondere
Wertschätzung . Zur Anerkennung gehört dabei auch eine
angemessene finanzielle Honorierung.
Bevölkerungsweit haben wir es mit einer zunehmen-
den Inanspruchnahme psychiatrischer und psychothera-
peutischer Leistungen zu tun und damit einer weitaus
häufigeren Behandlung seelischer Erkrankungen als
früher . Der heute vorliegende Gesetzentwurf wird dazu
beitragen, die Versorgung auf diesem Feld nachhaltig zu
stärken .
Durch die Neugestaltung streben wir – wie zuvor be-
reits auf anderen Feldern der Versorgung – eine Förde-
rung der sektorenübergreifenden Behandlung an, also
eine Verzahnung von ambulanter und stationärer Versor-
gung . Stationäre Aufenthalte können hierdurch verkürzt
oder ganz vermieden werden, was den Patientinnen und
Patienten – und insbesondere seelisch erkrankten Kin-
dern – unmittelbar zugutekommt . Denn Behandlungen
im gewohnten Lebensumfeld können helfen, Trennungen
und Beziehungsabbrüche zu vermeiden, Bindungen und
Familienkompetenzen zu erhalten oder zu verbessern
und dadurch den Erfolg der Behandlung zu stärken .
Die Koalition hat sich in dieser Wahlperiode intensiv
damit beschäftigt, wie ein neues Vergütungssystem in der
Psychiatrie und Psychosomatik den Bedürfnissen seelisch
Erkrankter gerecht werden kann und gleichzeitig den
Zielen Leistungsorientierung und Transparenz gerecht
wird . Der Gesetzentwurf zielt damit in seiner Grundaus-
richtung auf eine Weiterentwicklung der Versorgung und
der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische
Leistungen . Um dies zu erreichen, werden systematische
Veränderungen des Vergütungssystems vorgenommen .
In einem Punkt waren sich alle an der Erarbeitung des
Gesetzentwurfes Beteiligten von Anfang an einig: Obers-
te Zielsetzung muss die Sicherstellung einer guten Ver-
sorgung für seelisch kranke Menschen sein .
Eine seelische Erkrankung kann nun einmal nicht mit
einem gebrochenen Arm gleichgesetzt werden . Ein und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618962
(A) (C)
(B) (D)
dasselbe Krankheitsbild kann unter unterschiedlichen
Begleitumständen auch unterschiedliche Therapieansät-
ze erfordern . Dies ist mit festen Preisen bei seelischer Er-
krankung also nur schwer zu erfassen . Der Gesetzentwurf
sieht vor, dass psychiatrische und psychosomatische Kli-
niken ihr Budget weiterhin individuell verhandeln kön-
nen und regionale oder strukturelle Besonderheiten (in
der Leistungserbringung) dabei berücksichtigt werden
können . Im Ergebnis wird damit die Verhandlungsebene
vor Ort gestärkt .
Zugleich halten wir an den Zielen Transparenz und
Leistungsorientierung fest . Dies spiegelt sich unter ande-
rem in dem Vorschlag wider, an einem bundesweiten und
empirisch kalkulierten Entgeltkatalog festzuhalten . Denn
es ist zu gewährleisten, dass eine auskömmliche Finan-
zierung auch in ein entsprechendes Behandlungsangebot
umgesetzt wird .
Durch die parallele Einführung eines leistungsbezo-
genen Krankenhausvergleichs wird transparent, inwie-
weit unterschiedliche Budgethöhen von Krankenhäusern
auf Leistungsunterschiede, regionale oder strukturelle
Besonderheiten in der Leistungserbringung oder aber
andere klinikindividuelle Aspekte zurückzuführen sind .
Die leistungsorientierte Ausgestaltung eröffnet die Mög-
lichkeit, Versorgungsstrukturen zu analysieren und zu
optimieren . Damit soll der Vergleich den Krankenhäu-
sern und Kostenträgern vor Ort ermöglichen, ein der
Leistungserbringung angemessenes Budget zu verhan-
deln . In der Vergleichbarkeit der Einrichtungen auf der
Grundlage ihrer Leistungen liegt die Chance für mehr
Vergütungsgerechtigkeit zwischen den Einrichtungen .
Gleiches kann gleich und Ungleiches ungleich vergütet
werden .
Für Menschen, die seelisch erkrankt sind, ist die per-
sönliche Zuwendung vonseiten des Behandlungs- und
Pflegepersonals besonders wichtig. Eine ausreichende
Personalausstattung in den Kliniken ist mir daher ein
besonderes Anliegen . Um dies zu erreichen, soll der Ge-
meinsame Bundesausschuss beauftragt werden, in seinen
Qualitätsrichtlinien (mit Wirkung zum 1 . Januar 2020)
verbindliche Mindestpersonalvorgaben für die personelle
Ausstattung der stationären psychiatrischen und psycho-
somatischen Einrichtungen festzulegen .
Entsprechende Qualitätsrichtlinien sollen möglichst
auf wissenschaftlichen Nachweisen beruhen . Sie sollen
die Voraussetzungen schaffen, dass Behandlungsstan-
dards von hochwertigen Leitlinien realisiert werden kön-
nen und somit zu einer Behandlung der Patientinnen und
Patienten nach medizinisch besten verfügbaren Erkennt-
nissen beitragen .
Zur Stärkung der sektorenübergreifenden Versorgung
können Menschen mit schweren psychischen Erkrankun-
gen in akuten Krankheitsphasen auch in ihrem häusli-
chen Umfeld (sog . „home treatment“) durch ein mobiles,
multiprofessionelles Behandlungsteam versorgt werden .
Ambulante Leistungserbringer werden hier mit einbezo-
gen . Damit werden die Bedarfsgerechtigkeit und die Fle-
xibilität der Versorgung erhöht .
Damit ausreichend Zeit für die Ausgestaltung des Ent-
geltsystems im Sinne eines Budgetsystems bleibt, wird
die Phase, in der Krankenhäuser das System freiwillig
anwenden können (sog . „Optionsphase“), um ein Jahr bis
Ende 2017 verlängert . Darüber hinaus werden die Jah-
re 2017 bis 2019 weiterhin budgetneutral ausgestaltet .
D . h ., den Kliniken entstehen durch das neue Entgeltsys-
tem in diesen Jahren weder Gewinne noch Verluste . Die
mit der langen budgetneutralen Einführungsphase ver-
bundenen geschützten Bedingungen ermöglichen es den
Einrichtungen, sich bis zur ökonomischen Wirksamkeit
ab dem Jahr 2020 auf die neuen Strukturen einzustellen .
Alles in allem glaube ich: Man kann mit Fug und
Recht sagen, dass mit dieser Neuausrichtung die Weiter-
entwicklung des Psych-Entgeltsystems auf einem guten
Weg ist .
Lassen Sie mich aber auch noch einige Worte zu The-
men jenseits der Versorgung von seelisch kranken Men-
schen sagen, die der Gesetzentwurf ebenfalls aufnimmt .
So sollen zum Beispiel die Deutsche Krankenhaus-
gesellschaft und der Spitzenverband der Gesetzlichen
Krankenversicherung anhand gemeinsam festzulegender
Kriterien ein bundesweites Verzeichnis der Standorte von
Krankenhäusern und ihren Ambulanzen erstellen, um un-
ter anderem eine bessere Grundlage für die Qualitätssi-
cherung, Krankenhausplanung und Statistik zu schaffen .
Im Gesetzentwurf ist auch vorgesehen, dass wir im
Jahr 2017 einmalig 1,5 Milliarden Euro aus der Liqui-
ditätsreserve entnehmen . Hiermit sollen vorübergehende
Mehrbelastungen der gesetzlichen Krankenkassen im
Zusammenhang mit der gesundheitlichen Versorgung
von gesetzlich versicherten Asylberechtigten sowie im
Hinblick auf Investitionen in den Aufbau einer moder-
nen und innovativen Versorgung (Aufbau der Telematik-
Infra struktur) finanziert werden.
Die Integration der Asylberechtigten in den Arbeits-
markt ist eine der wichtigsten Aufgaben, die wir auf allen
gesellschaftlichen Ebenen mit einer großen Kraftanstren-
gung meistern müssen . Gerade auch die sozialen Siche-
rungssysteme sind darauf angewiesen, dass möglichst
viele Asylberechtigte zu Beitragszahlern werden . Je bes-
ser die Integration gelingt, desto schneller können wir die
Skeptiker davon überzeugen, dass Integration nicht nur
aus humanitärer Verantwortung geschieht, sondern eben
auch eine Investition in die Zukunft ist, und umso eher
kann auch die aktuelle Mehrbelastung für die gesetzliche
Krankenversicherung durch steigende Beitragseinnah-
men zu einer Chance werden .
Aus diesem Grund halte ich eine Zwischenfinanzie-
rung durch eine Entnahme aus der Liquiditätsreserve für
gerechtfertigt . Es erscheint mir nicht sachgerecht, stei-
gende Zusatzbeiträge zu akzeptieren, solange wir in der
Liquiditätsreserve noch umfangreiche Reserven haben,
um außergewöhnliche und vorübergehende Belastungen
aufzufangen .
Insgesamt haben wir daher für das Jahr 2017 eine ver-
tretbare Lösung gefunden . Wir stellen sicher, dass die
Versicherten nicht zusätzlich belastet werden . Dennoch
leistet auch die gesetzliche Krankenversicherung einen
Beitrag zur Bewältigung der gesamtgesellschaftlichen
Herausforderung durch die Flüchtlingskrise .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18963
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten
im Strafverfahren und zur Änderung des Schöf-
fenrechts (Tagesordnungspunkt 23)
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): In einem Recht-
staat gilt es, auch die Rechte von Leuten, die unter Ver-
dacht stehen, zu stärken . Deshalb freue ich mich, dass
wird bei der Umsetzung des Fahrplans zur Stärkung der
Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten
in Strafverfahren wieder einen Schritt weiter gekommen
sind .
Die vom Europäischen Parlament und dem Europä-
ischen Rat beschlossene Richtlinie 2013/48/EU wird
nun auch durch punktuelle Veränderungen in unserem
deutschen Gesetz eingehalten . Diese Richtlinie bekräf-
tigt das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in
Strafverfahren sowie bei Verfahren zur Vollstreckung des
Europäischen Haftbefehls . Sie beschließt das Recht auf
Benachrichtigung eines Dritten und von Konsularbehör-
den bei Freiheitsentzug eines Jugendlichen . Wir haben
schon immer auf europäischer Ebene für diese Mindest-
standards plädiert und damit am Ende auch Recht be-
halten . Die Grundaussagen unseres Gesetzentwurfs sind
lediglich minimale Veränderungen in unserem bereits
bestehenden Recht .
In der Strafprozessordnung geht es darum, das Recht
auf Rechtsbeistand zu festigen und gleichzeitig den Bei-
stand bei einem polizeilichen Verhör zu gewährleisten .
Auch im Jugendgerichtsgesetz wird nur eine Kleinig-
keit eingefügt, die in der Praxis so meistens schon An-
wendung findet. Es geht um die Weitergabe von Informa-
tionen an den Erziehungsberechtigen oder gesetzlichen
Vertreter oder Konsularbehörden während des Freiheits-
entzugs .
Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in
Strafsachen wird um die Möglichkeit erweitert, einen
Rechtsbeistand im ersuchenden Mitgliedstaat zu benen-
nen .
Hierbei bot sich die Möglichkeit zur Änderung des
Gerichtsverfassungsgesetzes in Bezug auf die ehrenamt-
lichen Richter in der Strafrechtspflege, die sogenannten
Schöffen, die eine historische und wichtige Rolle in unse-
rem Rechtssystem spielen . Die Schöffentätigkeit ist eine
ehrenamtliche Tätigkeit, die jeder deutsche Bürger über
18 ausüben kann . Wie wichtig das Ehrenamt in unserer
Bundesrepublik ist, sollte jedem von uns bewusst sein:
Rund ein Drittel aller deutschen Bürger übt ein Ehren-
amt aus . Es darf und soll für uns nicht wie eine Floskel
klingen, aber es kann nicht oft genug betont werden, wie
wichtig alle Ehrenamtlichen für unsere Gesellschaft sind .
Das Schöffensystem, welches schon seit dem Mittelalter
in Deutschland und nun auch in einigen anderen Län-
dern existiert, soll wichtiger Bestandteil unseres Rechts-
systems bleiben . Sie sollen weiterhin das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger in die Justiz bestärken . Zudem
dienen die Schöffen als Rechtsprechungsorgan, das für
lebensnahe Rechtsprechung sorgen kann, und sie sind
ein hervorragendes Symbol unserer Volkssouveränität
in Deutschland . Somit sehe ich die Schöffen als wich-
tigen und zu erhaltenden Bestandteil unseres Rechtspre-
chungsorgans . Aus diesen Gründen halte ich eine Ände-
rung des Gerichtsverfassungsgesetzes in Bezug auf die
ehrenamtlichen Richter in der Strafrechtspflege für einen
sehr sinnvollen Vorschlag .
Im Zuge der Debatte über den Gesetzentwurf zur
Umsetzung der EU-Richtlinie sollten wir auch über eine
andere wichtige Reform sprechen . Herr Minister Maas,
Sie haben am Anfang der Legislaturperiode die Reform
der StPO groß angekündigt . Diese Ankündigung hat in
Juristenkreisen und auch bei anderen Menschen, die mit
der StPO arbeiten, großes Interesse und Erwartungen ge-
weckt . Bedauerlicherweise warten wir noch immer auf
den Reformvorschlag, der von Ihnen einst so großartig
angekündigt worden ist . Nicht nur die Richterinnen und
Richter sind enttäuscht, sondern auch wir . Wir sollten die
Gelegenheit nutzen, im Zuge der Beratung des hier vor-
liegenden Gesetzentwurfs zu überlegen, ob wir nicht den
einen oder anderen dringenden Reformpunkt der StPO
ebenfalls noch aufnehmen .
Insgesamt denke ich, dass der von der Regierung vor-
gelegte Gesetzentwurf auch dafür als gute Grundlage
dienen kann – wie auch für die weiteren Beratungen und
Diskussionen .
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Die Stärkung
von Verfahrensrechten von Verdächtigen und Beschul-
digten ist von enormer Bedeutung für die Bürgerinnen
und Bürger und damit für unseren Rechtsstaat als Gan-
zen . In diesem Sinne erstellte die EU im Jahr 2009 einen
Fahrplan zur Verbesserung der Umsetzung der elemen-
taren Grundrechte im Verfahrensrecht . Ein Meilenstein
dieses Fahrplans ist die 2013 beschlossene Richtlinie zur
Stärkung von Verfahrensrechten . In dem vorliegenden
Gesetzentwurf wird diese Richtlinie nun in deutsches
Recht umgesetzt .
Das deutsche Verfahrensrecht erfüllt bereits jetzt ei-
nen Großteil der Anforderungen der Richtlinie . An eini-
gen Stellen gibt es aber noch Handlungsbedarf . In diesem
Rahmen warten wir auch alle weiterhin auf die groß an-
gekündigte umfassende Reform der Strafprozessordnung
aus Ihrem Haus, verehrter Herr Justizminister Maas . Am
Beginn des vierten und damit letzten Jahres dieser Le-
gislaturperiode hält sich meine Hoffnung auf den großen
Wurf in diesem zentralen Bereich unseres Rechtssystems
in sehr engen Grenzen . Die notwendigen Änderungen
hätten nämlich im Rahmen der Reform des Strafprozess-
rechts vorgenommen werden können .
Insgesamt werden vier Änderungen zur Umsetzung
der Richtlinie nötig .
Erstens soll ein Anwesenheitsrecht des Verteidigers
bei der polizeilichen Vernehmung etabliert werden . Dem
Beschuldigten bereits in diesem Stadium einen Rechts-
beistand an die Seite zu stellen, ist ein Kernstück der
Umsetzung der genannten Richtlinie .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618964
(A) (C)
(B) (D)
Zweitens werden mögliche Kontaktsperren gemäß
§§ 31 ff . EGGVG eingeschränkt . Diese sollen in Zukunft
nicht mehr den Verteidiger einschließen . Nur so kann ein
uneingeschränkter Rechtsbeistand des oder der Verdäch-
tigen bzw . Beschuldigten gesichert werden . Momentan
ist es möglich, den Verdächtigten bzw . Beschuldigten
jeglichen Kontakt zur Außenwelt zu untersagen, wenn
eine gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit
von einer terroristischen Vereinigung ausgeht und die
Kontaktsperre zur Abwehr der Gefahr geboten ist . Dies
steht im Widerspruch zu dem in Artikel 47 und 48 der
EU-Grundrechtscharta gewährleisteten Recht auf wirk-
samen Rechtsbehelf und den Verteidigungsrechten . Eine
Gesetzesänderung ist dementsprechend erforderlich .
Drittens soll im Falle eines Europäischen Haftbefehls
die gesuchte Person über das Recht informiert werden,
im ersuchenden Mitgliedsstaat einen Rechtsbeistand be-
nennen zu können, um die Grundrechte auf wirksamen
Rechtsbehelf und Verteidigung rundum zu sichern .
Viertens regelt der neue Gesetzentwurf eindeutig, dass
bei Festnahmen von Jugendlichen die Erziehungsberech-
tigten oder die gesetzlichen Vertreter so bald wie möglich
zu unterrichten sind . Momentan ist dies nur indirekt gem .
§ 67 JGG geregelt . Durch die Richtlinie sehen wir eine
explizite Regelung als geboten an . Allerdings fordern wir
eine Angleichung der Ausnahmeregelungen des neuen
§ 67a JGG an den § 67 JGG . Die Umstände, unter denen
eine Benachrichtigung der Erziehungsberechtigten oder
gesetzlichen Vertreter ausnahmsweise ausbleiben darf,
müssen neu festgelegt werden . Denn § 67 JGG und § 67a
JGG sichern das elterliche Erziehungsrecht von Vater
und Mutter aus Artikel 6 GG . Dieses ist für uns von her-
ausragender Bedeutung und gehört gesichert .
Mit diesen Änderungen ist es uns möglich, das Recht
des Verdächtigen bzw . Beschuldigten auf ein faires Ver-
fahren weiter zu stärken . Gleichzeitig wird auch der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte Rechnung getragen, der in seinem Urteil im-
mer wieder Verdächtigen und Beschuldigten ein Zugang
zu Rechtsbeistand und Verteidigung ohne Einschränkung
zuspricht .
Darüber hinaus trägt die Umsetzung der Richtlinie
zur Weiterentwicklung des gemeinsamen europäischen
Rechtsraumes bei . In Artikel 82 Absatz 1 AEUV wurde
festgelegt, dass Urteile in Strafsachen gegenseitig aner-
kannt werden sollen . Um das hierfür notwendige Ver-
trauen zu schaffen, müssen gemeinsame Mindeststan-
dards für Rechte von Verdächtigen bzw . Beschuldigten
festgelegt werden .
Neben der Umsetzung der erwähnten Richtlinie sollen
Veränderungen beim Schöffenrecht vorgenommen wer-
den . Aufgrund des akuten Schöffenmangels sind Maß-
nahmen zur Stärkung des Schöffenbestandes dringend
notwendig. Daher soll die verpflichtende Unterbrechung
der Schöffentätigkeit nach zwei aufeinanderfolgenden
Amtszeiten wegfallen . So wird vor allem eine länge-
re Tätigkeit von engagierten, erfahrenen Bürgerinnen
und Bürgern als Schöffen möglich . Nach der jetzigen
Regelung haben sie nach der Zwangspause häufig das
Höchstalter von 75 Jahren überschritten, und eine wei-
tere Beteiligung ist ausgeschlossen . Im Gegenzug soll
eine weitere Möglichkeit geschaffen werden, das Amt
abzulehnen, um den Interessen der Schöffen Rechnung
zu tragen und eine Überlastung zu verhindern .
Mithilfe dieser Änderung ist es uns möglich, das Ver-
trauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung aufrecht-
zuerhalten und lebensnahe Urteile langfristig zu gewähr-
leisten .
Die Bundesrepublik setzte sich stets für die Schaf-
fung von gemeinsamen Mindeststandards innerhalb der
Europäischen Union ein . Mit dem vorliegenden Entwurf
setzen wir diesen Standard in unserer Rechtsordnung um
und stärken gleichzeitig unseren Rechtsstaat .
Dirk Wiese (SPD): Deutschland ist bei den Verfah-
rensrechten von Beschuldigten grundsätzlich gut aufge-
stellt . Wir erfüllen die europäischen Vorgaben weitge-
hend und haben weltweit einen der höchsten Standards .
Ab und an gibt es natürlich Nachbesserungsbedarf, bei-
spielsweise wenn trotz Umsetzungsbedarf Richtlinien
des Europäischen Parlaments und des Rates noch nicht in
nationales Recht kodifiziert wurden. So ist es auch hier.
Der heute hier in erster Lesung zu beratende Gesetzent-
wurf zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldig-
ten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffen-
rechts setzt hauptsächlich die Richtlinie 2013/48/EU vom
22 . Oktober 2013 um . Kernpunkt des Gesetzentwurfs ist
die Änderung der Vorschriften über eine Kontaktsperre
in den §§ 31 bis 36 des Einführungsgesetzes zum Ge-
richtsverfassungsgesetz . Eine solche Kontaktsperre wird
den Zugang zum Verteidiger nicht mehr in allen Fällen
ausschließen . Außerdem verankern wir gesetzlich ein
ausdrückliches Anwesenheitsrecht des Verteidigers, ins-
besondere bei polizeilicher Befragung, bei Ermittlungs-
maßnahmen und bei Identifizierungs- und Vernehmungs-
gegenüberstellungen .
Zusätzlich wird im JGG eine neue Regelung aufge-
nommen werden, dass der Erziehungsberechtigte und der
gesetzliche Vertreter eines Jugendlichen grundsätzlich so
bald wie möglich unter Angabe von Gründen zu unter-
richten sind, wenn dem Jugendlichen die Freiheit entzo-
gen wurde . Einzige Ausnahme bildet hier die erhebliche
Gefährdung des Kindeswohls durch eine solche Unter-
richtung . Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn die
Eltern verdächtigt werden, an der vorgeworfenen Tat be-
teiligt gewesen zu sein . Hier besteht dann die naheliegen-
de Gefahr, dass die Eltern im wesentlichem Maße von ih-
ren eigenen Interessen geleitet werden und dass sich dies
im Hinblick auf das Kindeswohl abträglich auswirkt .
Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in
Strafsachen wird durch den vorliegenden Gesetzentwurf
ebenfalls ergänzt. Hier wird die Verpflichtung verankert
werden, in Verfahren zur Vollstreckung eines Europä-
ischen Haftbefehls die gesuchte Person auch über ihr
Recht zu unterrichten, im ersuchenden Mitgliedstaat ei-
nen Rechtsbeistand zu benennen .
Als letzter Punkt sind noch der Wegfall der ver-
pflichtenden Unterbrechung der Schöffentätigkeit nach
zwei aufeinanderfolgenden Amtsperioden und die Erwei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18965
(A) (C)
(B) (D)
terung der Möglichkeiten, ein Schöffenamt abzulehnen,
zu benennen .
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Diese Rede geht
zu Protokoll und bietet so einen guten Anlass, etwas
grundsätzlicher zu werden .
Immer wieder sieht sich die EU in der Kritik . Dabei
wird häufig vergessen, dass es die Regierungen der Mit-
gliedstaaten sind, die erheblichen Einfluss auf die Ge-
setzgebung innerhalb der EU haben, und zumindest in
Deutschland über den Artikel 23 GG und das EUZBBG
erhebliche Mitbestimmungsrechte für den Bundestag
existieren . Natürlich muss die EU demokratischer, fried-
licher und sozial gerechter werden . Eine Pauschalkritik
an der EU allerdings wird ihrer Rolle nicht gerecht .
Das zeigt sich auch am vorliegenden Gesetz zur Stär-
kung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Straf-
verfahren; denn dieses Gesetz basiert auf der Richtli-
nie des Europäischen Parlaments und des Rates vom
22 . Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem
Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur
Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über
das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Frei-
heitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Drit-
ten und mit Konsularbehörden während des Freiheits-
entzugs . Diese Richtlinie, die Mindeststandards festlegt,
zeigt, dass es mit der EU möglich ist, eine Erhöhung der
Mindeststandards zu erreichen . Davon sollte es viel mehr
geben, gerade weil die Idee eines Vereinigten Europa
eine gute Idee ist und die Idee der Nationalstaaten sich
überholt hat .
Es ist besonders positiv hervorzuheben, dass die
Richtlinie eine Angleichung der Standards auf höhe-
rem Niveau als bislang gerade im sensiblen Bereich des
Strafverfahrensrechts ermöglicht . Gerade der Umgang
mit Beschuldigten im Strafverfahren ist immer wieder
ein Gegenstand populistischer und einfacher Antworten,
Antworten, die dann kaum mit der Würde des Menschen
in Übereinstimmung zu bringen sind . Es ist deshalb au-
ßerordentlich zu begrüßen, dass mit der Richtlinie und
dem darauf basierenden und heute zu debattierenden
Gesetz die Rechte von Beschuldigten im Strafverfahren
gestärkt werden .
Das vorliegende Gesetz setzt die Richtlinie nun in
deutsches Recht um und nimmt Änderungen unter an-
derem an der Strafprozessordnung, StPO, vor . Die StPO
ist derzeit Gegenstand noch mindestens zweier weiterer
Gesetzgebungsverfahren . Aus Sicht der Rechtsanwender
und Rechtsanwenderinnen, aber auch derjenigen, die im
parlamentarischen Verfahren die einzelnen Vorschläge
prüfen und bewerten sollen, wäre es sicherlich wün-
schenswert, dass zukünftig versucht wird, keine paral-
lelen Gesetzgebungsverfahren in Bezug auf ein Gesetz
durchzuführen .
Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf Änderungen
am Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz,
EGGVG, und im Jugendgerichtsgesetz, JGG vor .
In der StPO soll mit dem vorliegenden Gesetz ein
Anwesenheitsrecht des Verteidigers bei polizeilichen
Vernehmungen festgeschrieben werden . Gleichzeitig
soll mit einer Änderung der Vorschriften über eine Kon-
taktsperre in den §§ 31 bis 36 im EGGVG eine solche
Kontaktsperre den Zugang zum Verteidiger nicht mehr in
allen Fällen ausschließen . Schließlich soll mit der Ände-
rung im JGG festgeschrieben werden, dass der bzw . die
Erziehungsberechtigte und der gesetzliche Vertreter ei-
nes Jugendlichen so bald wie möglich unter Angabe von
Gründen zu unterrichten sind, wenn dem Jugendlichen
die Freiheit entzogen wurde .
Damit werden in der Umsetzung der Richtlinie Ver-
fahrensrechte von Beschuldigten in Strafverfahren ge-
stärkt, was die Linke ausdrücklich begrüßt . Es ist explizit
zu begrüßen, dass neben den bereits in § 168c Absatz 1
StPO und § 163a Absatz 2 in Verbindung mit § 168c
Absatz 1 StPO verankerten Anwesenheitsrechtes eines
Rechtsbeistandes bei Beschuldigtenvernehmungen im
Ermittlungsverfahren bei richterlichen und staatsanwalt-
schaftlichen Vernehmungen nun durch eine Ergänzung
des § 163a Absatz 4 StPO dieses Anwesenheitsrecht auch
auf polizeiliche Beschuldigtenvernehmungen ausgedehnt
wird . Es ist auch richtig, klarstellend aufzunehmen, dass
dem Rechtsbeistand und auch der Staatsanwaltschaft
nach der Vernehmung des Beschuldigten Gelegenheit
zu geben ist, sich dazu zu erklären oder Fragen an den
Beschuldigten zu stellen . Diese Regelungen stärken das
faire Verfahren und sind damit auch ein Beitrag die De-
mokratie zu stärken .
Ebenfalls auf ausdrückliche Zustimmung der Lin-
ken trifft die Umsetzung der Regelungen von Artikel 5
der Richtlinie durch die Änderungen im JGG . Das JGG
enthielt bislang gerade keine ausdrückliche Bestimmung
darüber, dass, soweit einem Jugendlichen die Freiheit
entzogen wurde, „die Person, die Inhaberin der elterli-
chen Verantwortung für das Kind ist“, von dem Freiheits-
entzug und den Gründen hierfür zu unterrichten ist . Der
neue § 67a JGG ändert das nunmehr und schafft auch
hier mehr Rechte für Beschuldigte .
Schließlich treffen auch die Änderungen in §§ 31 ff .
EGGVG auf die Zustimmung der Linken . Die Kon-
taktsperre an sich, das heißt die Unterbindung jeglicher
Verbindung zwischen Gefangenen und der Außenwelt,
trifft dabei nach wie vor auf die Kritik der Linken . In-
sofern hätten wir uns durchaus auch vorstellen können,
die Regelungen in den §§ 31 ff . EGGVG zu streichen .
Die grundsätzliche Herausnahme des Kontaktes zum
Verteidiger bzw . zur Verteidigerin aus dem Anwendungs-
bereich der §§ 31 ff . EGGVG ist jedoch ein Schritt in die
richtige Richtung .
Gerade um die Idee von Europa zu stärken, wäre es
wünschenswert, wenn durch die EU mehr solcher Richt-
linien verabschiedet werden . Dann macht die Umsetzung
in deutsches Recht Spaß .
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Schaffung EU-weiter gemeinsamer Mindest-
standards für Strafverfahren ist grundsätzlich ein wich-
tiger und richtiger Schritt . Ein solcher Schritt soll durch
die Umsetzung einer EU-Richtlinie gegangen werden .
Es geht um das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbei-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618966
(A) (C)
(B) (D)
stand in Strafverfahren, im Verfahren zur Vollstreckung
eines Europäischen Haftbefehls, um das Recht auf Be-
nachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das
Recht auf Kommunikation mit Dritten sowie mit Konsu-
larbehörden während des Freiheitsentzugs . Im deutschen
Recht sind die meisten Vorgaben aus der Richtlinie be-
reits verankert . Das vorliegende Gesetz sieht nur kleinere
weitere Änderungen vor . Diese enthalten Positives, zum
Beispiel dass nun ein ausdrückliches Anwesenheitsrecht
des Verteidigers bei polizeilichen Vernehmungen vorge-
sehen ist . Und wenn jemand aufgrund eines EU-Haft-
befehls festgenommen wird, soll er zukünftig darüber
informiert werden, dass er auch im ersuchenden Mit-
gliedstaat einen Anwalt nehmen kann und wie er das be-
werkstelligen kann .
Negativ und unverständlich hingegen ist, dass an den
Vorschriften zur Kontaktsperre herumgedoktert wurde,
statt sie gänzlich zu streichen . Diese Regelungen wur-
den seit ihrer Einführung 1977 nie mehr angewendet .
Im letzten Jahr hatte Justizminister Maas angekündigt,
diesen alten Zopf abzuschneiden und die Kontaktsperre
zum Verteidiger aus dem Gesetz zu streichen . Jetzt ist sie
immer noch drin – wenn auch eingeschränkter . Minister
Maas sagte zur Begründung der Streichung, Gesetzge-
bung müsse auf der „Höhe der Zeit“ sein . Das bedeute
nicht nur, die Befugnisse des Staates auszuweiten . Wenn
staatliche Befugnisse ihre Notwendigkeit verloren hät-
ten, dann solle der Gesetzgeber auch den Mut und die
Kraft haben, sie wieder abzuschaffen . Recht hatte der
Mann . Jetzt müsste der Minister zeigen, dass er Mut und
Kraft hat, die Streichung dieser völlig überflüssigen und
höchst bedenklichen Regelung voranzutreiben .
Das eigentliche Problem der europäischen Zusam-
menarbeit bei der Strafverfolgung in der EU aber re-
geln die EU-Richtlinie und der vorliegende Gesetzent-
wurf nicht . Das ist die Angleichung von Strafrecht und
Strafverfahrensrecht unter Wahrung der Grundsätze der
Grund- und Menschenrechte aus den Europäischen Ver-
trägen und der hohen rechtsstaatlichen Standards der
Verfassungen von Staaten wie Deutschland . Auch in der
deutschen Strafprozessordnung gibt es sicher einiges an
Reformbedarf . Wir arbeiten ständig daran . Gleichwohl
ist das rechtsstaatliche Niveau höher als in einigen an-
deren EU-Staaten . Das kann etwa bei der Vollstreckung
eines Europäischen Haftbefehls zu rechtsstaatlich be-
denklichen Situationen führen . Auch in Deutschland
können Personen festgenommen werden, gegen die in
einem anderen EU-Mitgliedstaat ein Haftbefehl vorliegt .
Das kann zu einer wirksamen Strafverfolgung beitragen,
weil sich eine Person, gegen die ein Haftbefehl ergan-
gen ist, diesem nicht einfach durch Absetzen ins Ausland
entziehen kann . Sie kann zur Strafverfolgung oder Voll-
streckung einer Freiheitsstrafe an das andere EU-Land
übergeben werden . Der EU-Haftbefehl vereinfacht und
beschleunigt den Ablauf im Vergleich zum herkömmli-
chen, oft langwierigen Auslieferungsverfahren erheblich .
Das Verfahren, das auf dem Grundsatz der gegensei-
tigen Anerkennung beruht, ist aber nur akzeptabel, wenn
die rechtlichen Standards und Beschuldigtenrechte ver-
gleichbar gut geregelt sind . Ist es nicht so, wird es pro-
blematisch . Die Besonderheit des EU-Haftbefehls ist es
nämlich, dass die Rechtmäßigkeit eines Haftbefehls aus
einem anderen Mitgliedstaat nicht nochmals gesondert
nach nationalen Bestimmungen überprüft werden darf .
Das betrifft dann natürlich ebenso das Rechtsstaatsni-
veau und die Beschuldigtenrechte . Auch das Erfordernis
der beiderseitigen Strafbarkeit ist beim EU-Haftbefehl
eingeschränkt .
Welche Schwierigkeiten es gibt, zeigt ein aktueller
Fall aus Rumänien . Hier wurde gegen einen deutschen
Staatsbürger, der in Rumänien lebt und dort Verleger ei-
ner regierungskritischen Zeitung ist, ein Verfahren we-
gen angeblicher Korruption eingeleitet . Mittlerweile ist
er verurteilt und sitzt in Rumänien in Haft . Sein Sohn
übernahm die Geschäfte des Vaters . Nun werden auch
gegen ihn plötzlich Korruptionsvorwürfe erhoben . Er
wurde aufgrund eines Ersuchens der rumänischen Be-
hörden in England festgenommen, kam dort in Untersu-
chungshaft . Im November soll über seine Überstellung
entschieden werden . Vieles deutet auf ein politisch moti-
viertes Verfahren hin . All dies verdeutlicht die Probleme,
die Ersuchen aus EU-Mitgliedstaaten verursachen kön-
nen, in denen rechtsstaatlich bedenkliche Bedingungen
herrschen, es ein völlig anderes Strafverfahrensrecht und
auch andere Straftatbestände gibt .
Zumindest hat der Gerichtshof der Europäischen
Union, EuGH, im April dieses Jahres entschieden, dass
Europäische Haftbefehle aus Ungarn und Rumänien in
Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten nicht ohne
Weiteres vollstreckt werden dürfen . Zuvor müssen die
Behörden Informationen über die dortigen Haftbedin-
gungen abfragen . Der EuGH hat allerdings gleichzeitig
erklärt, dass die allgemeinen Haftbedingungen im ersu-
chenden Staat allein noch kein Grund seien, die Vollstre-
ckung eines europäischen Haftbefehls abzulehnen .
Wirklich helfen kann also nur die Rechtsangleichung
im Strafrecht und Strafverfahrensrecht im gesamten EU-
Raum und eine entsprechende Rechts- und Staatspraxis,
selbstverständlich unter Wahrung höchster rechtsstaatli-
cher Standards . Sonst wird uns diese Diskussion immer
wieder einholen, wie zum Beispiel bei Einführung der
geplanten Europäischen Staatsanwaltschaft . Auch hier-
bei wollen wir natürlich nicht hinter Standards, die unse-
re deutsche Rechtsordnung hält, zurückbleiben .
Mir ist klar, wie hoch kompliziert die komplette
Rechtsangleichung ist . Aber ohne sie bleiben die kleinen
Schritte Stückwerk, das häufig unpraktikabel ist und in
den Einzelfällen zu unbefriedigenden und ungerechten
Ergebnissen führen kann .
Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir be-
fassen uns heute in erster Lesung mit dem Entwurf des
Zweiten Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von
Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des
Schöffenrechts . Dieses Vorhaben knüpft mit seinem Ti-
tel an das Gesetz zur Stärkung der Beschuldigtenechte
an, das wir in der vergangenen Legislaturperiode bera-
ten und beschlossen haben, um das deutsche Recht an
die Vorgaben der Europäischen Union zur Stärkung der
Rechte des Beschuldigten im Bereich der Dolmetschung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18967
(A) (C)
(B) (D)
und bei der Unterrichtung über seine Rechte und über
den Tatvorwurf anzupassen . Wie auch jetzt bestand be-
reits damals nur ein geringfügiger Umsetzungsbedarf,
weil das deutsche Strafverfahrensrecht die Beschuldig-
tenrechte umfassend in den Blick nimmt und bereits
heute in hohem Maße schützt . Deutschland hat sich vor
diesem Hintergrund immer besonders engagiert für einen
hohen europäischen Standard der Beschuldigtenrechte
im Strafverfahren eingesetzt und die europäische Road
Map für die Beschuldigtenrechte massiv vorangetrieben .
Aktuelle internationale Entwicklungen zeigen uns, dass
wir auch über die EU hinaus für hohe Mindeststandards
im Strafverfahren eintreten müssen . Das gilt insbesonde-
re auch für den Bereich, der mit dem jetzt zu beratenden
Vorhaben umgesetzt werden soll: das Recht auf Zugang
zu einem Rechtsanwalt .
Wer sich mit dem Vorwurf einer Straftat konfrontiert
sieht, muss das Recht haben, sich frühzeitig und wäh-
rend des gesamten Verfahrens von einem unabhängigen
Rechtsanwalt als Verteidiger beraten und unterstützen zu
lassen . Dieses Recht auf anwaltlichen Beistand gehört
zu den fundamentalen Grundrechten des Beschuldigten
im Strafverfahren . Es muss gerade auch bei schweren
und schwersten Tatvorwürfen grundsätzlich ohne Ein-
schränkungen gewährt werden . Ausnahmen müssen auf
extreme Sondersituationen zur Abwehr gegenwärtiger
Gefahren für Leib oder Leben Dritter beschränkt bleiben .
Die Vorschriften über die sogenannte Kontaktsperre sol-
len daher künftig uneingeschränkt nur noch gegenüber
Mitgefangenen und Dritten zur Anwendung kommen,
gegenüber einem Verteidiger nur noch in den ganz engen
Grenzen, die sich aus der EU-Richtlinie ergeben .
Daneben sieht der Gesetzentwurf nur geringfügige,
überwiegend klarstellende Regelungen vor, um die deut-
sche Rechtslage den europäischen Vorgaben anzupassen .
Ich nenne hierzu nur beispielhaft die Anwesenheitsrechte
des Verteidigers bei Vernehmungen und Gegenüberstel-
lungen, die, um sie effektiv auszugestalten, einhergehen
müssen mit einem aktiven Frage- und Äußerungsrecht
des Verteidigers .
Wir haben das vorliegende Gesetzgebungsvorha-
ben um einen weiteren Punkt ergänzt, der ebenfalls das
Strafverfahren betrifft . Schöffen sollen in Zukunft auch
länger als zwei Amtsperioden ohne Unterbrechung tätig
sein dürfen . Vor allem aktive Seniorinnen und Senioren
können das Schöffenamt somit durchgehend bis zum Er-
reichen der Altersgrenze ausüben .
Die Bundesregierung legt damit einen Gesetzentwurf
vor, der zum einen die Beschuldigtenrechte den europa-
rechtlichen Vorgaben entsprechend stärkt und zum ande-
ren dafür Sorge trägt, dass vorhandenes Engagement für
das Schöffenamt auch zum Einsatz kommen kann .
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Än-
derung des Bundesfernstraßenmautgesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 25)
Karl Holmeier (CDU/CSU): Mit der stetigen Erwei-
terung und Vertiefung der Lkw-Maut bekennt sich die
Große Koalition zum Wechsel von der Steuer-hin zur
Nutzerfinanzierung. In diesem Tenor ist auch der Ent-
wurf des Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundes-
fernstraßenmautgesetzes zu sehen, über das wir heute in
erster Lesung beraten .
Der Erhalt und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
ist eine Daueraufgabe . Eine gute Infrastruktur ist von
entscheidender Bedeutung für eine gute Wirtschaftsent-
wicklung . Die deutsche Verkehrspolitik steht tatsächlich
vor gewaltigen Herausforderungen, vor allem bei der
Straßeninfrastruktur . Hier bedarf es enormer Anstren-
gungen .
Einen großen Beitrag zur Bewältigung dieser Heraus-
forderungen haben wir heute Morgen mit der Einbrin-
gung des Bundesverkehrswegeplans 2030 erbracht .
Dies hat die Union mit ihrem CSU-Verkehrsminister
Alexander Dobrindt erkannt . Wir haben es angepackt!
Wir haben besondere Anstrengungen unternommen, um
zusätzliche Ausgaben für eine moderne, sichere und leis-
tungsstarke Verkehrsinfrastruktur auf den Weg zu brin-
gen . Daran halten wir auch in Zukunft fest .
Wir werden Straßen, Schienen- und Wasserwege er-
halten und weiter ausbauen . Diesem Ziel dient auch die
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beabsichtigte Aus-
weitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen .
Der Bund erhebt die Lkw-Maut bislang auf rund
12 800 Kilometern Bundesautobahnen sowie auf rund
2 300 Kilometern autobahnähnlicher Bundesstraßen .
Obgleich Lkw sämtliche Bundesstraßen befahren und die
Verkehrsinfrastruktur damit belasten, ist der Großteil der
etwa 40 000 Kilometer Bundesstraßen noch nicht maut-
pflichtig. Mit der zusätzlichen Erhebung der Lkw-Maut
auf allen Bundesstraßen sollen zusätzliche Einnahmen
generiert werden, die in die Infrastruktur reinvestiert
werden . Die Höhe der Einnahmen hängt natürlich von
den jeweiligen Fahrleistungen ab, die Lkw auf den Bun-
desstraßen erbringen . Die bisherigen Schätzungen belau-
fen sich auf bis zu 2 Milliarden Euro, die der Bund mit
der neuen Stufe der Lkw-Maut ab 2018 mehr einnehmen
wird, ein Milliardenbetrag, der nach Abzug der Betrei-
berkosten voll dem Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfra-
struktur zugutekommen wird .
Unser Verkehrsminister Alexander Dobrindt steht für
Investitionsrekorde und den größten Infrastrukturhaus-
halt, der jemals in den Deutschen Bundestag eingebracht
wurde: Fast 14 Milliarden Euro für die Infrastruktur im
Jahr 2017 . Das ist noch einmal ein Zuwachs von knapp
10 Prozent im Vergleich zum Jahr 2016 . Für 2018 ist in
Relation zu den Ausgaben im Jahr 2014 gar ein Rekord-
mittelaufwuchs von 40 Prozent vorgesehen . Die Investi-
tionen in die Infrastruktur sind von 10,4 auf 14,4 Milliar-
den Euro gestiegen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618968
(A) (C)
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Wir haben einen klaren Schwerpunkt: Es geht uns um
Zukunftsinvestitionen in die Infrastruktur . Denn Mobili-
tät schafft Arbeit und Wohlstand .
Mit der Lkw-Maut generieren wir nicht nur zusätz-
liche Einnahmen . Die durchdachte Ausgestaltung hat
darüber hinaus in der Transportbranche Anreize für In-
vestitionen in eine ökologische Flotte gesetzt . Die Maut
hat sich also auch als ein wirksames Instrument zur be-
schleunigten Modernisierung der von Mautgebühren be-
troffenen Fahrzeugflotte erwiesen. Die Modernisierung
wirkt sich positiv auf die Menschen aus, die unmittel-
bar an den Straßen wohnen – vor allem natürlich in Bal-
lungsgebieten .
Wir betreiben eine ökologische Verkehrspolitik .
Ich freue mich auf die nun anstehenden parlamentari-
schen Beratungen im Verkehrsausschuss . Dabei sollten
unsere Forderungen aus dem Entschließungsantrag vom
25 . März 2015 zum Entwurf des Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes Eingang
in die Beratungen finden. Mir geht es vor allem darum,
dass Handwerksbetriebe nicht benachteiligt werden . Dar-
über hatten wir schon bei der Erweiterung der Lkw-Maut
auf Fahrzeuge mit 7,5 Tonnen lange diskutiert . Ziel wäre,
eine eigene Fahrzeuggruppe zwischen 7,5 und 12 Tonnen
einzuführen .
Entscheidend wird auch sein, dass die Mautsätze auf
Bundesautobahnen und Bundesstraßen die gleiche Höhe
aufweisen . Hier muss unbedingt ein Weg gefunden wer-
den, den ländlichen Raum ohne Autobahnanbindung
nicht durch höhere Mautsätze auf Bundesstraßen zu be-
nachteiligen .
Das alles wird zu spannenden Beratungen führen .
Packen wir es an!
Thomas Viesehon (CDU/CSU): Das Vierte Gesetz
zur Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes, das
wir heute in erster Lesung im Bundestag beraten, ist ein
weiterer Baustein einer vorzugsweise durch den Nutzer
finanzierten Verkehrsinfrastruktur; denn damit wird zu-
künftig auch auf allen Bundesstraßen die Lkw-Maut er-
hoben .
Ich danke Bundesverkehrsminister Alexander
Dobrindt für die konsequente und gradlinige Fortschrei-
bung dieser eingeschlagenen Richtung und die Umset-
zung unserer Vereinbarung zur Ausweitung der Maut-
pflicht aus unserem Koalitionsvertrag.
Die Ausweitung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen
generiert jährliche Mehreinnahmen von knapp 2 Milliar-
den Euro . Zuzüglich der jetzigen Nettomauteinnahmen
von 3,4 Milliarden Euro stehen damit mehr als 5 Milli-
arden Euro jährlich zweckgebunden im Verkehrshaushalt
für die Straßeninfrastruktur des Bundes zur Verfügung .
Unsere derzeitigen Gesamtausgaben für den Erhalt
und den Neubau von Bundesautobahnen und Bundes-
fernstraßen belaufen sich – nach Einläuten des Investi-
tionshochlaufs durch diese Bundesregierung – auf circa
9 Milliarden Euro im Jahr .
Damit beteiligt sich die Güterkraftverkehrsbranche in
direkter Form zu mehr als der Hälfte an den Gesamtkos-
ten für die in Anspruch genommene Infrastruktur . Dar-
über hinaus trägt sie die nicht unerheblichen Kosten für
etwaige Umstellungen der Geräte und Mehrverwaltung .
Dafür und für die Bereitschaft in den vergangenen
Jahren, die im Koalitionsvertrag beschlossene Auswei-
tung der Maut ohne großen Widerstand mitzutragen,
möchte ich den vielen Unternehmerinnen und Unterneh-
mern der Güterkraftverkehrsbranche an dieser Stelle ein-
mal ausdrücklich danken; denn sie stehlen sich nicht aus
ihrer Verantwortung . Sie sind, wie wir alle wissen, das
Rückgrat der erfolgreichen deutschen Wirtschaft .
Mit der Mautausweitung erreichen wir aber nicht nur
eine breitere Basis für die Finanzierung unserer Straßen-
verkehrswege; es gelingt uns so auch besser, diejenigen,
die für den Verschleiß der Infrastruktur hauptsächlich
verantwortlich sind, stärker zu belasten .
Damit schaffen wir die gerechtere Kostenteilung zwi-
schen den privaten Nutzern, die mit dem Pkw die Straße
wenig abnutzen, und den Transportunternehmen mit ih-
ren schweren Nutzfahrzeugen .
Darüber hinaus will das Bundesverkehrsministerium
bis Ende nächsten Jahres die Ausweitung der Maut auf
kleinere Lkws mit einem zulässigen Gesamtgewicht von
3,5 bis 7,5 Tonnen und auf Fernbusse prüfen . Gleiches
gilt für die Einbeziehung von Lärmkosten .
Neben dem finanziellen Aspekt hat die Ausweitung der
Maut aber auch positive Auswirkung in Sachen Nachhal-
tigkeit: Die steigenden Kosten und die Einstufung nach
Emissionsklassen bilden für die Unternehmen den An-
reiz, möglichst emissionsarme Fahrzeuge einzusetzen .
Wir alle wünschen uns zudem eine weitere Verlagerung
der Gütertransporte von der Straße auf die Schiene und
die Wasserstraße . Hier trägt die Mautausweitung im di-
rekten Wettbewerb zu einer Stärkung dieser alternativen
Verkehrsträger bei .
Ich habe als Berichterstatter für meine Fraktion in den
letzten Jahren in diesem Zusammenhang viele Gesprä-
che zum kombinierten Verkehr geführt . Einige Produ-
zenten in Deutschland haben gute Erfahrungen mit dem
verknüpften Weg über Straße und Schiene gemacht . Für
etliche Schwertransporte ist der Weg über die deutschen
Binnenwasserstraßen nach wie vor der effizienteste
Transportweg .
Viele wollen ihren Beitrag zur weiteren Einsparung
von CO2 leisten, aber sie können ihre Lieferketten nur
dann weg von der Straße verlagern, wenn dieser Weg
wirtschaftlich ist . Da spielen die Transportkosten, aber
auch der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle .
Dennoch werden wir in Zukunft nicht auf den Liefer-
weg über die Straße verzichten können . Wir müssen den
Verkehr und seine Infrastruktur hierzulande sichern . Das
ist unerlässliche Voraussetzung für eine zuverlässig funk-
tionierende Wirtschaft in Deutschland .
Mit der weiteren Ausweitung der Maut und den damit
erreichten zweckgebundenen Mehreinnahmen sichern
wir nicht nur den derzeitigen Investitionshochlauf für die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18969
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Straße, sondern sorgen in Kombination mit den weite-
ren Steuereinnahmen auch dafür, dass die enormen Ge-
samtinvestitionen des Bundesverkehrswegeplanes 2030
in Straße, Schiene und Wasserstraße sicher finanzierbar
sind. Hiervon profitiert letztlich auch die Schieneninf-
rastruktur, die Voraussetzung für einen weiteren Ausbau
unseres Schienengüterverkehrsnetzes ist .
Mit dem jetzt zur Beratung vorliegenden Gesetz wer-
den wir unsere erfolgreiche Verkehrspolitik weiter fort-
setzen und Versäumnisse der Vergangenheit beseitigen;
denn das Gesetz ist gerecht, es stärkt die Nachhaltigkeit
und schafft über die Zweckbindung die Finanzierungssi-
cherheit für unsere Verkehrsinfrastruktur!
Sebastian Hartmann (SPD): Im Mittelpunkt des
Vierten Änderungsgesetzes steht die Ausweitung der
Mauterhebung für Lkw oberhalb 7,5 Tonnen auf alle
Bundesstraßen – ein Netz von 40 000 Kilometern, auf
dem ab Mitte 2018 Beiträge zur Nutzerfinanzierung für
die Infrastrukturkosten geleistet werden . Wir freuen uns,
dass mit dieser Ausdehnung vom bisher auf Bundesau-
tobahnen und einige zweispurige Bundesstraßen be-
grenzten Aufkommen dann erhebliche Mehreinnahmen
verbunden sein werden, die der Verkehrsinfrastruktur zu-
gutekommen . Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich von
Anfang an dafür stark gemacht, diese Ausweitung noch
in dieser Legislaturperiode zu beschließen .
Was zur Umsetzung des geänderten Bundesfernstra-
ßenmautgesetzes benötigt wird, ist das nächste Wege-
kostengutachten, das die Berechnung und Festlegung der
Mautsätze für den Zeitraum nach 2017 vornehmen muss .
Bereits im aktuellen Wegekostengutachten 2013 bis 2017
waren Veränderungen in der Berechnungsgrundlage nötig
geworden, um zum Beispiel Umweltkosten veranschla-
gen zu können, aber auch das veränderte Zinsniveau an-
zulegen . Für die nächste Stufe wird es darauf ankommen,
angemessene Mautsätze zu finden, die im Spannungsge-
flecht aus Vorgaben der EU-Wegekostenrichtlinie, Voll-
kosten der Bundesstraßen und Belastungsgrenzen ihrer
Nutzer ermittelt werden müssen . Zu vermeiden ist, dass
durch Umrechnung der Vollkosten auf die Fahrleistung
als Grundlage der Mautsätze auf Bundesstraßen am Ende
die maximal zulässigen Mautteilsätze viel höher liegen
als auf Bundesautobahnen . Einheitliche Mautteilsätze
sind deshalb eine Forderung der Wirtschaft .
Neu ist im Bundesfernstraßenmautgesetz ab die-
ser vierten Änderung vor allem, dass ein Teil der Bau-
last an den Bundesstraßen nicht mehr beim Bund liegt:
Auf 8 Prozent des gesamten Netzes beziffert der Ge-
setzentwurf die Streckenabschnitte von Bundesstraßen,
die als Ortsdurchfahrten in Kommunen von mehr als
80 000 Einwohnern verlaufen . Hier wird eine Auskeh-
rung der Mauteinnahmen über die Bundesländer statt-
finden, in deren finanzverfassungsrechtlicher Zuständig-
keit sich die Gemeinden befinden. Ihre Verwendung soll
zweckgebunden sein .
Bei aller Freude über die erfolgreiche Weichenstel-
lung darf nicht in Vergessenheit geraten, dass der tech-
nische und geschäftliche Betrieb der Mauterhebung un-
bedingt über das Vertragsende der Toll Collect hinaus
sichergestellt werden muss . Der Betreibervertrag der
mit den technischen Umsetzungen zur Ausweitung der
Mauterhebung betrauten Toll Collect GmbH endet im
August 2018 – auf keinen Fall darf es danach zu einer
Unterbrechung des Betriebs kommen, mit der die Ein-
nahmen aus der Nutzerfinanzierung gefährdet würden.
Herbert Behrens (DIE LINKE): Eigentlich ist heute
ein Tag zur Freude; denn mit der Ausweitung der Lkw-
Maut auf alle Bundesstraßen wird eine Forderung erfüllt,
die von allen im Parlament vertretenen Parteien seit Jah-
ren erhoben wird .
Mit der Mautausweitung wird vor allem ein Wettbe-
werbsnachteil der Bahn beim Güterverkehr deutlich ver-
ringert, die bekanntlich für jeden gefahrenen Kilometer
bezahlen muss . Diese Ungleichbehandlung ist einer der
Gründe dafür, dass in den letzten Jahren immer mehr
Güter auf der Straße transportiert werden und der Gü-
terverkehr auf der Schiene stagniert . Ich bin mir sicher,
dass wir hier im Parlament diesen Trend umkehren kön-
nen, und die Mautausweitung ist ein erster Schritt in die-
se Richtung . Dass dieser Weg beschritten werden muss,
sollte jedem klar sein; denn die negativen Folgen des
massiv wachsenden Straßengüterverkehrs für Mensch
und Umwelt wird niemand ernsthaft bestreiten .
Aber der Teufel steckt bekanntlich im Detail, und die-
se Details trüben meine Freude ungemein . Es gibt eine
lange Liste von Einwänden gegen dieses Gesetz und die
Mautpolitik der Bundesregierung, von denen ich nur drei
ansprechen möchte .
Erstens: Wieder einmal konnte sich die Bundesregie-
rung nicht dazu durchringen, auch die Fernbusse in die
Mautpflicht zu nehmen. Mit der Mautbefreiung für Fern-
busse widerspricht die Bundesregierung ihrem eigenen
Credo, das Verursacherprinzip zu stärken und zunehmend
auf eine Nutzerfinanzierung zu setzen. In ihrer Gegenäu-
ßerung zur Stellungnahme des Bundesrates verweist die
Bundesregierung darüber hinaus eindringlich auf den
Gleichheitsgrundsatz, wenn sie dessen Forderung nach
der Ausnahme landwirtschaftlicher Nutzfahrzeuge von
der Mautpflicht kategorisch ausschließt. Offensichtlich
sind Fernbusse aber gleicher als Fahrzeuge der Landwirt-
schaft, oder anders ausgedrückt: Die Regierung hat selbst
keine Argumente mehr, eine Fernbusmaut abzulehnen .
Herr Dobrindt! Aus ihrem Hause hätte ich jetzt we-
nigstens mit einer Maut für ausländische Busunterneh-
men gerechnet – zum Glück musste ich einen solchen
Unsinn wie bei der Pkw-Maut in ihrem Gesetzentwurf je-
doch nicht finden. Die Linke wird jedoch darauf dringen,
dass eine Maut für Fernbusse in diesem Gesetz zu finden
sein wird . Eine Fernbusmaut ist nämlich „fair, sinnvoll,
gerecht“ und vor allem längst überfällig!
Zweitens entpuppt sich der Gesetzentwurf als riesige
Datenkrake . Jetzt müssen Daten 120 Tage lang gespei-
chert werden, die früher nicht einmal übermittelt wur-
den – nämlich die Positionsdaten aller Lkw, und zwar un-
abhängig davon, ob sie auf einer mautpflichtigen Straße
unterwegs sind oder nicht . Dies kommt der Totalüberwa-
chung aller Speditionen gleich; denn es geht hier schlicht
um Bewegungsprofile! Der Hinweis, dass die Daten nach
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618970
(A) (C)
(B) (D)
einem Tag anonymisiert werden sollen, beruhigt mich da
wenig . Vor allem bleibt völlig unklar, wo diese Datensät-
ze überall abgelegt werden und wer diese Daten nutzen
darf . Sollte es der Fall sein, dass sie vom Mautbetreiber
Toll Collect – bei dem die Daten ja auflaufen – kommer-
ziell genutzt werden dürfen, wäre das ein Geschenk im
Wert von mehreren hundert Millionen Euro . Mit so ei-
nem Datensatz können nämlich kostenpflichtige Zusatz-
dienste angeboten werden, und Toll Collect hätte dann
neben dem reinen Mauteinzug ein weiteres Monopol,
was ich nicht akzeptieren kann . Also, beim Thema Da-
tenerfassung und Datennutzung muss dringend nachge-
bessert werden .
Beim Stichwort Toll Collect komme ich zum grund-
legenden Kritikpunkt an der Mautpolitik des Verkehrs-
ministeriums . Die ganze Mautausweitung steht nämlich
vergaberechtlich auf mehr als wackligen Füßen . Die
Direktvergabe der technischen Aufrüstung des Mautsys-
tems an Toll Collect dürfte dem Europarecht widerspre-
chen; denn so ein großer Auftrag muss eigentlich ausge-
schrieben werden . Zieht ein Konkurrent von Toll Collect
doch noch vor Gericht, kann das ganze Unterfangen der
Mautausweitung noch scheitern . Es kann nicht angehen,
dass der Verkehrsminister ständig eine Politik der Hin-
terzimmerdeals betreibt; denn das hat mit nachhaltiger
Verkehrspolitik nichts zu tun . Diesen Stil kann man lei-
der mit einem einfachen Änderungsantrag nicht ändern .
Neuen Wind im BMVI kann wohl nur die Bundestags-
wahl bringen .
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dass die
Linke neben einem Ausrufungszeichen sehr viele Fra-
gezeichen bei der Mautausweitung sieht . Ich hoffe aber
sehr, wenn ich zum Beispiel an die Äußerungen von
Martin Burkert zur Fernbusmaut denke, dass wir gemein-
sam im parlamentarischen Verfahren wenigstens den Ge-
setzentwurf zu einer runden Sache machen können .
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Bundesregierung möchte mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf die Maut für Lastkraftwagen (Lkw-Maut)
auf alle Bundesstraßen ausweiten . Aktuell gilt diese fast
ausschließlich auf Autobahnen und vierspurigen Bundes-
straßen . Die Ausweitung soll in Kürze rund 2 Milliarden
Euro zusätzlich in den Bundeshaushalt spülen .
Wir meinen: Zusätzliche Einnahmen im Verkehrsbe-
reich sind dringend notwendig, da wir einen riesigen Sa-
nierungsstau aus den letzten Jahren vor uns herschieben .
Daher haben wir auch schon immer eine Ausweitung der
Lkw-Maut gefordert, damit der Bund genügend Geld zur
Verfügung hat, um die kaputten Straßen zu reparieren .
Deutschland liegt beim Zustand seiner Verkehrsinfra-
struktur weit zurück, und entsprechend groß ist der Nach-
holbedarf . Wir haben in den nächsten Jahren die Mam-
mutaufgabe nachholende Sanierung zu stemmen – und
zusätzlich den laufenden Erhaltungsbedarf . Dafür sind
die zusätzlichen Mittel durch die Ausweitung der Lkw-
Maut auf alle Bundesstraßen ein Beitrag .
Der Verkehrsminister muss aber aufpassen, dass die
Mehreinnahmen nicht in die falschen Kanäle laufen .
Diese Gefahr besteht . Denn Herr Dobrindt hat bayeri-
sche CSU-Kollegen, die bei ihm auf der Matte stehen,
um ihre Ortsumgehung im Wahlkreis zu bekommen . Wir
stellen gerade einen Bundesverkehrswegeplan auf, und
es werden aktuell die Ausbaugesetze zur Umsetzung des
BVWP beraten . Wenn Sie, wie am Mittwoch geschehen,
in den laufenden Prozess eingreifen und verfrüht das
Füllhorn öffnen, dann ist das Investition nach Gutsher-
renart und nichts anderes . Wir brauchen Investitionen,
die dem Gesamtnetz dienen – und nicht einzelnen Abge-
ordneten vermeintlich die Wiederwahl sichern .
Ein weiteres wichtiges Thema: Was Sie bei diesem
Gesetz verpasst haben, ist die Berücksichtigung von
innerörtlichen Ausweichverkehren . Hier brauchen Sie
dringend eine echte Lösung, Herr Dobrindt . Ich habe
Sie dazu bereits im Rahmen der Regierungsbefragung
am 11 . Mai 2016 angesprochen . Aber richtig verstanden
haben Sie die Problematik anscheinend noch nicht: Sie
beabsichtigen nämlich, auch sämtliche Ortsdurchfahr-
ten zu bemauten . Die Bundesstraßen werden dort dann
bemautet, aber auf Landes- oder Gemeindestraßen wird
keine Maut erhoben . Dies wird unweigerlich wieder zu
innerörtlichen Ausweichverkehren führen . Ein Konzept,
wie Sie dem begegnen wollen, fehlt komplett .
Diese Problematik wird unweigerlich entstehen . Am
einfachsten und sinnvollsten wäre es natürlich, die Lkw-
Maut auf den Bundesstraßen nur außerörtlich zu erheben .
Dann sparen sie sich auch die Verrenkungen, um das
beim Bund eingenommene Geld für die Nutzung der
innerörtlichen Bundesstraßen verlustfrei zu den großen
Kommunen zu bekommen . Denn ab 80 000 Einwohner
haben ja die Städte die Zuständigkeit für die Baulast der
Bundesstraßen . Direkt zahlen können wir aber nicht an
die Städte, sondern nur an die Länder . Da bin ich ja mal
gespannt, ob die dort erhobenen Mauteinnahmen dann
auch wirklich ohne Bearbeitungsgebühr der Länder an
die Städte gelangen .
Die Bundesländer und Kommunen sind daran interes-
siert, ihre Städte möglichst brummifrei zu halten oder die
Brummis zumindest auf den Hauptstraßen zu halten . Für
sinnvoll durchdachte Lösungen werden Sie da sicherlich
Partner finden. Bessern Sie also den Gesetzentwurf ent-
sprechend nach – für eine ganzheitliche Verkehrspolitik
in Deutschland und für weniger Belastungen durch Lärm
und Emissionen in den Städten und Gemeinden! Machen
Sie endlich Verkehrspolitik aus einem Guss und nicht so
ein ideologisches Flickwerk!
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung
der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarkts-
tabilisierung (FMSA-Neuordnungsgesetz – FMSA-
NeuOG) (Tagesordnungspunkt 26)
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Mit dem Aus-
bruch der Finanzkrise im Jahre 2008 schaute die Welt in
den Abgrund; denn die Finanzmärkte als Schlüsselmärk-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18971
(A) (C)
(B) (D)
te unseres Wirtschaftssystems waren praktisch funkti-
onsunfähig . Misstrauen hatte die Banken und andere
Finanzakteure ergriffen, Finanzinstitutionen waren nicht
länger bereit, einander Geld zu leihen . Dominoeffekte
konnten das Finanzsystem zum Einsturz bringen, mit
ungeahnten Folgen für die Wirtschaft, für Unternehmen
und Arbeitsplätze, für die Finanzierung der Infrastruktur
bis zu den Spareinlagen für die Altersvorsorge . Der Staat
war zu diesem Zeitpunkt die einzige Institution, die noch
in der Lage war, Vertrauen wiederherzustellen . Nach den
Beschlüssen der G 7 und der Mitglieder der Euro-Zone
wurden weltweit Maßnahmen zur Stabilisierung und
zum Erhalt der Funktionsfähigkeit des Finanzsystems er-
griffen . Der Bundestag beschloss, bis zu 400 Milliarden
Euro Garantien und bis zu 80 Milliarden Euro Kapitalhil-
fen unter strengen Bedingungen für die Finanzinstitutio-
nen bereitzustellen . Nach acht Jahren können wir festhal-
ten: Die 168 Milliarden Euro in Anspruch genommene
Garantien wurden inzwischen vollständig zurückgeführt .
Keine dieser Garantien ist ausgefallen . Von den Kapital-
hilfen in Höhe von maximal 29,4 Milliarden Euro wur-
den 14,8 Milliarden Euro zurückgeführt, 14,6 Milliarden
Euro stehen noch aus .
Bis heute liegt die Kontrolle und Abwicklung aller
Maßnahmen in der Hand der Bundesanstalt für Finanz-
marktstabilisierung, FMSA . Daneben konnte die FMSA
als zusätzliches Stabilisierungsinstrument sogenannte
Abwicklungsanstalten, Bad Banks, gründen . Risikopo-
sitionen und nichtstrategisch notwendige Geschäftsbe-
reiche von Banken konnten so abgespalten werden, um
anschließend die Portfolien möglichst wertschonend ab-
zubauen . Über 70 Prozent des Volumens der Ersten Ab-
wicklungsanstalt, EAA, entstanden aus der WestLB, und
circa 50 Prozent der FMS-Wertmanagement, entstanden
aus der Hypo Real Estate, HRE, konnten inzwischen ab-
gebaut werden .
Eine weitere Aufgabe übernahm die FMSA mit der Er-
hebung einer nationalen Bankenabgabe, die dazu beitra-
gen sollte, das zukünftig nicht der Steuerzahler, sondern
die Banken selbst eine finanzielle Basis schaffen, aus de-
nen die Kosten einer möglichen Abwicklung von Banken
finanziert werden können. Deutschland war hier Vorreiter
in Europa . Denn mit dem deutschen Restrukturierungs-
gesetz inklusive der Bankenabgabe wurde die Blaupause
für den europäischen einheitlichen Abwicklungsmecha-
nismus zum 1 . Januar 2016 vorgelegt . Mit der Umset-
zung der Bankenunion, wonach erstens die Europäische
Zentralbank, EZB, die Aufsicht über die 120 größten und
international vernetzten Banken übernahm, wurde zwei-
tens auch ein neuer Abwicklungsmechanismus für gro-
ße Banken geschaffen . Auch die 21 größten deutschen
Banken fallen nun in den Zuständigkeitsbereich der eu-
ropäischen Abwicklungsbehörde . Im Falle der Sanierung
oder Abwicklung einer Bank werden zukünftig zuerst die
Eigentümer und Gläubiger von Banken herangezogen,
bevor ein von den Banken selbst zu finanzierender Fonds
im Falle der Abwicklung einer Bank zur Finanzierung in
Anspruch genommen werden kann . Damit soll die Ver-
antwortung und Haftung bei den Banken verbleiben und
verhindert werden, dass der Steuerzahler für die Fehler
von Banken zahlen muss .
Mit der Errichtung der Bankenunion verbleibt für die
FMSA damit nur noch der Verantwortungsbereich für die
eher kleinen deutschen Banken, und sie wird damit zur
nationalen Abwicklungsbehörde . Deshalb soll mit dem
vorliegenden Gesetz die Bundesanstalt für Finanzmarkt-
stabilisierung weiterentwickelt und umstrukturiert wer-
den . Die bisherigen Aufgaben der FMSA werden auf die
Finanzagentur des Bundes und auf die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, übertragen . Da seit
dem 31 . Dezember 2015 die Antragsfrist für den neue
Maßnahmen für Finanzmarktstabilisierungfonds ausge-
laufen sind, steht dieser nicht mehr für neue Maßnahmen
zur Verfügung . Die Überwachung und Abwicklung be-
stehender Maßnahmen konzentrieren sich heute auf die
Minderheitsbeteiligungen an der Commerzbank und der
pbb, Deutsche Pfandbriefbank, der stillen Einlage bei der
Portigon AG, Nachfolge WestLB, und zum anderen auf
die Aufsicht über die eigenen Abwicklungsanstalten EAA
und FMS-Wertmanagement . Mit dem Abbau der Portfo-
lien und der Reduzierung der bisherigen Maßnahmen soll
aus Effizienzgesichtspunkten und auch im Interesse der
Personalstabilität die FMSA in die Finanzagentur des
Bundes übertragen werden . Die Finanzagentur hat bisher
auch die Refinanzierung des Finanzmarktstabilisierungs-
fonds übernommen und war stets beratendes Mitglied im
interministeriellen Lenkungsausschuss der FMSA .
Die FMSA als nationale Abwicklungsbehörde mit der
Zuständigkeit für die Abwicklung der eher kleinen Ban-
ken soll zum 1 . Januar 2018 auf die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht übertragen werden . Die
umfangreiche Expertise und Kapazitäten, die inzwischen
bei der FMSA aufgebaut wurden, haben eine schlagkräf-
tige Abwicklungseinheit geschaffen . Diese wird zukünf-
tig, unabhängig von der Aufsichtsfunktion der BaFin, als
eigenständige Organisationseinheit mit eigener Exekuti-
vdirektion ausgestattet werden .
In weiteren Beratungen ist darauf zu achten, dass auch
in Zukunft die parlamentarische Kontrolle und Überwa-
chung wie bei dem bisherigen parlamentarischen Finanz-
marktgremium gewährleistet ist .
Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Die Finanzmarkt-
krise und insbesondere die folgende Insolvenz von
Lehman Brothers in den USA und Deutschland im Sep-
tember 2008 haben – wie wir alle wissen – staatliche
Rettungseingriffe notwendig gemacht . In kürzester Zeit
wurde der Finanzmarktstabilisierungsfonds (SoFFin/
FMS) eingerichtet . Zur Verwaltung dieses Fonds sowie
zur Umsetzung und Überwachung der Stabilisierungs-
maßnahmen des Fonds, der in der Spitze mit einem Etat
von 480 Milliarden Euro ausgestattet war, wurde die
Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung (FMSA)
eingerichtet . Mit diesem Fonds konnten Banken, die in
Schieflage geraten waren, wie zum Beispiel die Hypo
Real Estate, die WestLB oder die Commerzbank, stabili-
siert werden . Insgesamt wurden 168 Milliarden Euro an
Liquiditätsgarantien und 29,4 Milliarden Euro an Kapi-
talhilfen eingesetzt .
Diese Liquiditätsgarantien wurden inzwischen voll-
ständig zurückgeführt, ohne dass dabei eine dieser
Garantien ausgefallen ist . Im Gegenteil: Für die Inan-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618972
(A) (C)
(B) (D)
spruchnahme der Garantie haben die Institute gezahlt .
Des Weiteren wurden die Kapitalhilfen zu einem großen
Teil auch wieder zurückgeführt . Hier stehen zurzeit noch
circa 14,6 Milliarden Euro aus . Als weiteres Stabilisie-
rungsinstrument trat im Jahr 2009 die bundesrechtliche
Abwicklungsanstalt hinzu . Die Bundesanstalt für Fi-
nanzmarkstabilisierung konnte nun Abwicklungsanstal-
ten gründen, die Risikopositionen und nicht strategienot-
wendige Geschäftsbereiche von Banken übernahmen .
Zweck dieser Abwicklungsanstalten ist es, die übernom-
menen Risikopositionen wertschonend abzubauen . Die
FSMA machte von dieser Möglichkeit auch zweimal Ge-
brauch . 2009 gründete sich die Erste Abwicklungsanstalt
(EAA), die in mehreren Schritten in großem Umfang
Risikopositionen der WestLB übernahm . 2010 wurde da-
rüber hinaus die FMS-Wertmanagement gegründet, die
Risikopositionen der HRE-Gruppe übernahmen .
Im Laufe der Zeit hat sich der gesetzliche Rahmen der
Finanzmarktstabilisierung in Deutschland verändert und
weiterentwickelt . So ist es gut und richtig, dass die Ban-
kenabwicklungen nicht mehr vom Steuerzahler, sondern
von den Eigentümern und Gläubigern der betroffenen
Banken sowie von den aus Beiträgen der Banken finan-
zierten Abwicklungsfonds getragen werden . Ferner ist
die Entwicklung von der staatlichen Stützung von Ban-
ken hin zur Finanzierung der Abwicklung von Banken
durch Eigentümer, Gläubiger und Banken mit Auslau-
fen der Antragsfrist für neue Maßnahmen des FMS zum
31 . Dezember 2015 einerseits und die Errichtung des
europäischen einheitlichen Abwicklungsmechanismus
(Single Resolution Mechanism, SRM) zum 1 . Januar
2016 andererseits weitgehend abgeschlossen .
Die Aufgaben der FMSA beschränken sich daher nur
noch auf die Verwaltung der noch ausstehenden Maßnah-
men . Dies umfasst zum einen die Verwaltung der beste-
henden Minderheitsbeteiligungen des FMS an der Com-
merzbank und der pbb Deutsche Pfandbriefbank sowie
der stillen Einlagen bei der Portigon AG und zum ande-
ren die Aufsicht über die Abwicklungsanstalten EAA und
FMS-Wertmanagement .
Der nun hier vorliegende Gesetzentwurf zur Neuord-
nung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanzmarkts-
tabilisierung trägt diesem Umstand Rechnung . Hiernach
ist es aus Effizienzgesichtspunkten geboten, die FMSA in
ihrer jetzigen Form umzustrukturieren .
So sollen die Aufgaben als Nationale Abwicklungsbe-
hörde (NAB) als eigener Geschäftsbereich in die Bun-
desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin)
eingegliedert werden . Die Verwaltung des Finanzmarkt-
stabilisierungsfonds soll in die Bundesrepublik Deutsch-
land – Finanzagentur GmbH (Finanzagentur) integriert
werden .
In der BaFin soll ein neuer Geschäftsbereich (Ab-
wicklung) eingerichtet werden . Hier wird der gesamte
Abwicklungsbereich der FMSA einschließlich der in die-
sem Bereich tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
der FMSA übertragen . Ziel ist es, den bereits jetzt inten-
siven Informationsaustausch und die Zusammenarbeit
von Aufsichts- und Abwicklungsbehörde weiter zu ver-
einfachen . Durch die Schaffung eines zusätzlichen Ex-
ekutivdirektors bzw . -direktorin soll auch die operative
Unabhängigkeit der Abwicklungsfunktion von der Auf-
sichtsfunktion gewährleistet werden . Durch eine eigene
Vertretung der Abwicklungsbehörde im Direktorium der
BaFin wird eine starke Leitung der Abwicklungsbehör-
de geschaffen, die mit viel Gewicht deutsche Interessen
auch auf internationaler Ebene vertreten kann .
Festzustellen ist, dass die Aufgaben der Abwicklungs-
behörde auf der einen Seite schnell gewachsen sind,
während die Aufgaben im FMS-Bereich durch Schlie-
ßung des FMS für neue Maßnahmen und Rückführung
bestehender Maßnahmen in den letzten Jahren deutlich
zurückgegangen sind . Dies wird auch zukünftig fort-
schreiten . Da die FMSA ohne den Abwicklungsbereich
als kleine Behörde zurückbleiben würde, ist es sinnvoll,
die FMSA in eine größere Einheit zu integrieren . Dabei
kommt eine Eingliederung dieses Teils in die BaFin we-
gen Interessenkonflikten zwischen Bankenaufsicht und
Beteiligungsführung nicht in Betracht . Insofern ist hier
mit der Finanzagentur meines Erachtens ein richtiger und
kompetenter Partner gefunden worden . Die Finanzagen-
tur ist bereits jetzt mit Fragen des FMS vertraut, da sie
die Refinanzierung des FMS übernommen hat.
Wir werden versuchen, den vorliegenden Gesetzent-
wurf noch in diesem Jahr abzuschließen, damit bis 2018
alle Kernaufgaben umgesetzt werden können . Wir wer-
den also mit den Beteiligten Gespräche führen und disku-
tieren . Auf diese Diskussion freue ich mich und bedanke
mich für Ihre Aufmerksamkeit .
Roland Claus (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf
der Bundesregierung setzt die Logik von Koalition und
Regierung zur staatlichen Rettung von Banken fort . Seit
2008 werden mit Steuergeldern Banken gerettet und
gesichert, die in der Finanzkrise 2007/08 in Schwierig-
keiten geraten waren . Die Fraktion Die Linke hatte sich
2008 gegen den Weg der staatlichen Bankensicherung
aus guten Gründen ausgesprochen . Gregor Gysi hatte
dazu 2008 im Bundestag erklärt:
Verantwortlich für diese Krise sind nicht nur Bank-
manager – die stehen allerdings ganz oben an –,
sondern auch Politikerinnen und Politiker, Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler und Journalis-
tinnen und Journalisten, die uns jahrelang gepredigt
haben, dass die Freiheit der Finanzmärkte zu einer
gigantischen Wirtschaft führt . Aber das Gegenteil
ist passiert . Wir haben es nicht nur mit einer Krise
auf den Finanzmärkten zu tun, sondern auch in den
Bereichen Wirtschaft, Politik und Demokratie, was
zum Teil noch geleugnet wird . Oskar Lafontaine hat
darauf hingewiesen, dass der von Ihnen zunächst be-
rufene und dann wieder zurückgetretene Tietmeyer
erklärt hatte, dass die Finanzmärkte die Politik be-
herrschen . Heute sagen Sie, dass Sie zu diesem Ge-
setz gezwungen sind . Damit räumen Sie ein, immer
noch beherrscht zu werden . Die Kernfrage lautet
deshalb, zu welchen Veränderungen wir kommen
müssen, um so etwas zukünftig auszuschließen .
Seit Bestehen des Sonderfonds für die Finanzmarkt-
stabilisierung und der entsprechenden Bundesanstalt hat
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18973
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dieser Fonds auf Kosten der Steuerzahler 22,6 Milliarden
Euro Verlust angesammelt, nach öffentlich zugänglichen
Informationen der FMSA . Die durch SPD und Grüne,
anschließend durch CDU/CSU und SPD systematisch
betriebene Deregulierung der Finanzmärkte ermöglichte
Finanzinstituten spekulative Geschäfte, die zu Milliar-
denverlusten führten, die zum großen Teil auf die Steu-
erzahlerinnen und Steuerzahler abgewälzt wurden . Ein
Beispiel ist die Commerzbank, die auf Grundlage des ers-
ten Finanzmarktstabilisierungsgesetzes mit über 18 Mil-
liarden Euro staatlichem Kapital ausgestattet wurde . Der
Aktienanteil daran ist inzwischen weitgehend entwertet .
Auf den Anteil an stillen Einlagen hat die Commerzbank
nur einen Bruchteil der ursprünglich vereinbarten Zinsen
gezahlt . Gleichzeitig hat die Commerzbank die Bundes-
hilfen genutzt, um sich Wettbewerbsvorteile insbesonde-
re gegenüber Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu
verschaffen, also genau gegenüber denjenigen Finanzin-
stituten, die am wenigsten zur Finanzkrise beigetragen
haben .
Koalition und Bundesregierung haben darauf ver-
zichtet, die Verursacher und Nutznießer der Krise in die
Pflicht zu nehmen. Die ungelöste Bankenkrise ist immer
noch eine Bedrohung der europäischen Staaten, weil das
Gewicht der Finanzmärkte auch die Rettungsboje der
Staatshaushalte unter Wasser drückt . Beschlossen hatte
die Koalition eine Pseudobankenabgabe, die nach oben
gedeckelt ist und von der Vorstellung ausgeht, dass die
nächste Finanzkrise schwach ausfallen und erst „in ei-
nem halben Jahrhundert“ stattfinden wird. Eine solche
Annahme ist nicht nur naiv, sondern bedient bewusst die
Lobbyinteressen der Finanzbranche zulasten der Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler . Außer gegen Euro-Staaten
richten Banken und Hedge-Fonds ihre spekulativen An-
griffe auch auf Rohstoffe und Nahrungsmittel . Das Leid
der Opfer dieser Spekulationswellen wird von den Ak-
teuren in Kauf genommen .
Schädliche Finanzinstrumente und Aktivitäten müs-
sen verboten werden, zum Beispiel Hedge-Fonds,
Schattenbanken, ungedeckte Leerverkäufe und Wertpa-
piere auf Grundlage von Kreditausfallversicherungen
ohne eigenen Kredit . Insolvente Banken sind zu ver-
gesellschaften – mit dem Ziel einer Einbindung ihrer
volkswirtschaftlich sinnvollen Tätigkeitsbereiche in ein
öffentliches Bankensystem und der Abwicklung ihrer un-
produktiven Bestandteile . Über eine Re-Regulierung der
Finanzmärkte und die Stärkung der Eigenkapitalanfor-
derungen hinaus müssen spekulative Exzesse durch eine
Finanztransaktionsteuer und einen Finanz-TÜV einge-
dämmt, Privatbanken verstaatlicht werden . Der Banken-
sektor muss auf seine Kernfunktionen Zahlungsverkehr,
Ersparnisbildung und Finanzierung zurückgeführt und
entsprechend geschrumpft werden, damit die Steuerzah-
lerinnen und Steuerzahler nicht immer wieder aufs Neue
erpresst werden .
Im Gesetzentwurf zur Neuordnung der FMSA wer-
den die vorgesehenen strukturellen Veränderungen dar-
gestellt . Die parlamentarische Begleitung soll weiter in
dem ausschließlich geheim tagenden Finanzmarktgre-
mium erfolgen . Auch dieses Geheimgremium hatte mei-
ne Fraktion seit 2008 kritisiert . Die jetzt beabsichtigten
Strukturänderungen sind weitgehend nachvollziehbar,
aber sie folgen weiterhin der falschen Logik . Die Frak-
tion Die Linke spricht sich für die Überweisung in die
vorgeschlagenen Ausschüsse, aber gegen den Gesetzent-
wurf aus .
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem FMSA-Neuordnungsgesetz sind zwei wichtige
Änderungen verbunden . Die Eingliederung der Tätigkeit
des FMSA als Nationale Abwicklungsbehörde in die
BaFin und die Überführung der Verwaltung des Finanz-
marktstabilisierungsfonds und der „Bad Banks“ in die
Finanzagentur GmbH .
Das Positive zuerst: Mit der Integration der Bad Banks
in die Finanzagentur kann nun deren Refinanzierung di-
rekt über die Agentur zu besseren Konditionen als bisher
stattfinden. Wir haben bereits seit 2012 immer wieder
auf das Einsparpotenzial verwiesen, welches sich durch
eine direkte Refinanzierung durch die Finanzagentur des
Bundes ergeben würde . Das ist erst als inhaltlich falsch
abgetan und dann, als die Richtigkeit unserer grünen
Argumentation erkannt wurde, aus politischen Gründen
vom Bundesfinanzministerium abgelehnt worden. Wir
begrüßen, dass die Bundesregierung nun unseren Vor-
schlag doch aufgreift und die Verschwendung von Steu-
ergeldern beendet . Bedauerlich ist, dass von dieser Mög-
lichkeit nicht deutlich früher Gebrauch gemacht wurde .
Wäre die Refinanzierung bereits im Jahr 2012 umge-
stellt worden, hätte bis heute nach meiner konservativen
Schätzung ein niedriger dreistelliger Millionenbetrag
eingespart werden können . Für diese unnötigen Zinsaus-
gaben zulasten des Steuerzahlers trägt der Bundesfinanz-
minister die Verantwortung .
Diskussionsbedarf haben wir in diesem Zusammen-
hang jedoch bei der genauen Konstruktion der Integrati-
on der Bad Banks in die Finanzagentur: Die Finanzagen-
tur ist eine GmbH und soll jetzt mit der Trägerschaft der
FMSA beliehen werden und dabei der Rechts- und Fach-
aufsicht des BMF unterstehen . Gleichzeitig untersteht
die FMSA weiterhin direkt der Rechts- und Fachaufsicht
des BMF . Warum ist dieses exotische Konstrukt notwen-
dig? Da überzeugt mich die Begründung noch nicht .
Fragen haben wir auch bei der Nationalen Abwick-
lungsbehörde, die in die BaFin integriert werden soll . Die
FMSA und in Zukunft die BaFin sind als nationale Be-
hörden in den europäischen Abwicklungsmechanismus
eingebunden . Dies ist ein relativ neues Konstrukt, und
viele Punkte bleiben unklar .
Zunächst ist wichtig, dass hier keine demokratischen
Kontroll- und Rechenschaftslücken entstehen . Die Nati-
onale Abwicklungsbehörde wird in die BaFin als neuer
Geschäftsbereich eingegliedert mit fünftem Exekutivdi-
rektor . Das FinDAG sieht in § 2 die „Rechts- und Fach-
aufsicht“ des BMF über die BaFin vor . Diese kollidiert
aber mit Artikel 47 der SRM-Verordnung, nach welchem
die nationale Abwicklungsbehörde „unabhängig“ han-
deln soll . Hier sollten wir überprüfen, wie die vom EU-
Recht geforderte Unabhängigkeit mit der BMF-Aufsicht
zusammenpasst . Wo liegen die entsprechenden Kon-
trollrechte und wem gegenüber ist die BaFin in diesem
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618974
(A) (C)
(B) (D)
Zusammenhang rechenschaftspflichtig? Gegebenenfalls
sind die entsprechenden Rechte und Pflichten zu kodi-
fizieren.
Der vorliegende Entwurf sieht eine Zusammenfüh-
rung der Abwicklung und der Aufsicht in der BaFin vor .
Dies ist nach der Richtlinie so möglich und auch in ande-
ren Ländern üblich. Um aber Interessenkonflikte zu ver-
meiden, zum Beispiel die Verschleppung einer nötigen
Bankenabwicklung, um ein Aufsichtsversagen zu ver-
schleiern, ist in der BRRD eine Trennung von Aufsicht
und Abwicklungsbehörde vorgesehen . Der Entwurf der
Bundesregierung setzt die entsprechenden Regelungen
zur operativen Unabhängigkeit und der organisatorischen
Trennung in der Satzung der BaFin um . Hier sollten wir
nochmals genauer hinschauen, ob die getroffenen Regeln
ausreichen, um Interessenkonflikte zu vermeiden, oder
ob weitergehende Maßnahmen nötig sind .
Auch in diesem Zusammenhang zu erwähnen sind die
Prüfungsrechte durch den Bundesrechnungshof . Dieser
berichtete im Januar 2016 über eine Verkürzung der Prü-
fungsrechte bei Stabilisierungsmaßnahmen, die Mittel
aus dem Europäischen Abwicklungsfonds erfordern . Die
Prüfrechte sind ab dem Jahr 2016 auf den Europäischen
Rechnungshof übergegangen . Die Prüfungen, die dieser
durchführen kann, sind aber deutlich weniger umfang-
reich als die bisherig durch den BRH durchgeführten
Prüfungen . Hier wäre zu prüfen, ob eine Kompensation
möglich ist . Das hatte ich schon bei der entsprechenden
Gesetzgebung angesprochen, dass wir uns damit be-
schäftigen sollten .
Nennen will ich auch die parlamentarische Kontrol-
le: Das Finanzmarktgremium bleibt weiter für Kontrolle
des Finanzmarktstabilisierungsfonds zuständig . Zukünf-
tig wird es insofern auch Vertreter der Geschäftsführung
der Finanzagentur laden können . Eine vergleichbare An-
passung in § 16 Restrukturierungsfondsgesetz bezüglich
Vertreter der BaFin, die zukünftig nach § 1 Restrukturie-
rungsfondsgesetz den Restrukturierungsfonds verwaltet,
fehlt allerdings .
Im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf will ich
auch die Geheimhaltungsvorschriften in § 10a Finanz-
marktstabilisierungsfondsgesetz (FMStFG) und § 16 Re-
strukturierungsfondsgesetz thematisieren . Hier fehlt eine
Regelung zur Entbindung von der Geheimhaltung . Mir
leuchtet es nicht ein, warum es bei der Kontrolle über die
Geheimdienste nach § 10 Absatz 2 Kontrollgremiumge-
setz (PKGrG) möglich ist, dass eine Mehrheit von zwei
Dritteln der anwesenden Mitglieder des Parlamentari-
schen Kontrollgremiums diese Entbindung vornimmt .
Aber bei der Überwachung der Bankenrettung soll es
grundsätzlich unmöglich sein . Was macht Bankenrettung
noch sensibler als das Handeln der Geheimdienste?
Jens Spahn, Parl . Staatssekretär beim Bundes-
minister der Finanzen: Der am 20 . Juli 2016 von der
Bundesregierung beschlossene Gesetzentwurf sieht die
Neuordnung der Aufgaben der Bundesanstalt für Finanz-
marktstabilisierung, der FMSA, vor . Dieses Vorhaben
markiert einen weiteren wichtigen Schritt bei der Bewäl-
tigung der Finanzmarktkrise . Damit knüpfen wir an die
Schließung des Finanzmarktstabilisierungsfonds FMS
für neue Maßnahmen zum Ende des letzten Jahres an .
Es ist vorgesehen, die im Jahr 2008 zum Höhepunkt
der Finanzkrise gegründete FMSA in ihrer heutigen Form
aufzulösen . Die zum damaligen Zeitpunkt angesichts ei-
nes drohenden Zusammenbruchs unseres Finanzsystems
notwendige Rettung notleidender Banken durch den Ein-
satz von Steuergeldern, den sogenannten Bail-out, haben
wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern über-
wunden .
Im Rahmen der Bankenunion haben wir eine neue
Ordnung mit dem Fokus auf den sogenannten Bail-in
eingeführt . Hierdurch werden die Eigentümer und Gläu-
biger der Banken bei einer Schieflage in die Verantwor-
tung genommen . Das ist essentiell, um die Grundlagen
der sozialen Marktwirtschaft auch im Finanzsektor
durchzusetzen . Wer als Eigentümer Gewinne einstreicht,
muss auch im Krisenfall die Verantwortung und Kosten
tragen, Risiko und Haftung müssen in Einklang gebracht
werden . Einen Bail-out durch den Steuerzahler darf es
nicht mehr geben .
Die Neuordnung des Finanzkriseninstruments FMSA
ist eine weitere Konsequenz in diesem Prozess . Für den
FMS, in dem sich die restlichen staatlichen Beteiligungen
aus der Krise befinden und für den die FMSA ursprüng-
lich gegründet wurde, schaffen wir eine zukunftsfähige
Verwaltung . Gleichzeitig legen wir den Grundstein für
eine schlagkräftige nationale Abwicklungsbehörde . Las-
sen Sie mich dabei einige Elemente besonders hervor-
heben .
Erstens: Die Verwaltung des Finanzmarktstabilisie-
rungsfonds FMS soll auf die Finanzagentur übergehen .
Die Finanzagentur ist bereits für die Refinanzierung des
FMS für den Bund zuständig . So schaffen wir eine Ver-
waltung aus einer Hand . Die können wir zum Anlass neh-
men, die Zinsvorteile des Benchmark-Emittenten Bund
auch für die Refinanzierung der Abwicklungsanstalt
zu nutzen, für die der FMS ohnehin der alleinige Ver-
lustausgleich verpflichtet ist: Die FMS Wertmanagement
in München . Dies wird erhebliche Kosteneinsparungen
zugunsten des Steuerzahlers ermöglichen .
Zweitens: Der Bereich nationale Abwicklungsbe-
hörde wird dagegen, wie bereits in der Umsetzung der
europäischen Richtlinie zur Sanierung und Abwicklung
von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen, der BRRD,
vorgesehen, in die Bundesanstalt für Finanzdienstleis-
tungsaufsicht, BaFin, eingegliedert . Dies ermöglicht es,
die Entscheidungen in Krisensituationen auf nationaler
Ebene unter einem Dach zusammenzuführen . Zudem
werden der Informationsaustausch und das Zusammen-
spiel zwischen den nationalen und europäischen Akteu-
ren im Bankenaufsichts- und Abwicklungsbereich er-
leichtert . Gleichzeitig werden die europäischen Vorgaben
zur strukturellen Trennung von Aufsichts- und Abwick-
lungseinheit durch die organisatorische Verankerung der
nationalen Abwicklungsbehörde als eigenständiger Ge-
schäftsbereich der BaFin umgesetzt .
Die Aufgaben der FMSA werden also in zwei Bereiche
aufgeteilt: auf der einen Seite die Verwaltung des FMS,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18975
(A) (C)
(B) (D)
die auf die Finanzagentur übergeht; auf der anderen Seite
die Abwicklungssäule, die in die BaFin integriert wird .
Durch die Überführung in bereits bestehende und gut
funktionierende größere Einheiten können die anstehen-
den Aufgaben künftig effizient und zielorientiert erle-
digt werden . Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
FMSA gehen in die jeweiligen Institutionen über, sodass
sich ihnen langfristige Perspektiven eröffnen und sie ihre
über Jahre aufgebaute Expertise auf dem Spezialgebiet
der Bankenstabilisierung und Bankenabwicklung in die
neuen Strukturen einbringen können .
Um Rechtsunsicherheiten zu beseitigen, wird überdies
klargestellt, inwieweit die Regelungen der Bundeshaus-
haltsordnung auf die bundesrechtlichen Abwicklungsan-
stalten nach § 8a Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz
anzuwenden sind . Einerseits wird hierdurch dem Um-
stand Rechnung getragen, dass die Abwicklungsanstal-
ten letztlich durch Steuergelder finanziert werden. Dies
gilt insbesondere für die Anwendbarkeit des Grundsatzes
der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit . Anderseits wird
Rechtssicherheit für die Abwicklungsanstalten geschaf-
fen, indem explizit klargestellt wird, dass sonstige Rege-
lungen der Bundeshaushaltsordnung nicht anzuwenden
sind . Dies erleichtert es den Abwicklungsanstalten, ihren
Auftrag bestmöglich auszuführen, die noch verbleiben-
den Portfolios im Sinne des Steuerzahlers gewinnorien-
tiert bzw . verlustminimierend zu veräußern .
Die FMSA hat in den letzten Jahren bei der keines-
wegs leichten Aufgabe, die Folgen der Finanzkrise von
2008 und 2009 zu bewältigen, exzellente Arbeit geleistet .
Dafür gilt den Verantwortlichen, stellvertretend den Mit-
gliedern des Leitungsausschusses, unser aller Dank . Klar
ist aber auch, dass, wenn die Aufgaben einer Institution
abnehmen, man nicht zuletzt im Interesse der operativen
Stabilität und zur Sicherheit der Beschäftigten zukunfts-
fähige Strukturen schaffen muss . Ich bin überzeugt, dass
wir mit diesem Gesetz dazu genau die richtige Weichen-
stellung vornehmen .
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch-
führung unionsrechtlicher Vorschriften über das
Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch
(Landwirtschaftserzeugnisse-Schulprogrammge-
setz – LwErzgSchulproG)
(Tagesordnungspunkt 27)
Katharina Landgraf (CDU/CSU): Als Berichter-
statterin für gesunde Ernährung freue ich mich, über die
aktuellen Entwicklungen bei den Schulprogrammen für
Schulobst und Schulmilch zu sprechen .
Als ich am 20 . Februar 2014 hier schon einmal über
die Vorhaben und Ankündigungen aus Brüssel berichtet
habe, konnten wir es als gute Nachricht verbuchen, dass
die Länder mehr Geld für das Schulobstprogramm er-
halten sollten und selber weniger dafür zahlen mussten .
Damals wurde der Kofinanzierungsanteil der Länder von
50 Prozent auf 25 Prozent gesenkt . Jetzt entfällt er sogar
ganz!
Damals verkündete Brüssel auch erstmals, dass die
Obst- und Schulmilchprogramme zusammengeführt
werden sollen . Und siehe da: Heute schaffen wir mit der
Umsetzung der EU-Verordnung die nationale Grundlage
für die Zusammenlegung der bisher getrennten Program-
me für Schulobst und -gemüse und Schulmilch . Mit der
heutigen Verabschiedung des Gesetzes zur Durchführung
unionsrechtlicher Vorschriften über das Schulprogramm
für Obst, Gemüse und Milch lösen wir das Schulobstge-
setz und die Schulmilch-Durchführungsverordnung ab .
Mit dieser Vereinfachung und dem gleichzeitigen Weg-
fall des Eigenanteils der Länder bietet sich die Chance,
dass Kinder in allen Bundesländern von beiden Program-
men profitieren. Die Realisierung des Programms wird
dadurch vereinfacht, und es wird eine Basis für eine ein-
heitliche Verteilung des zur Verfügung stehenden Bud-
gets geschaffen .
Ebendieses Budget wird zudem erhöht . Das EU-Parla-
ment verabschiedete im Frühjahr dieses Jahres nicht nur
die Zusammenlegung der Programme, sondern entschied
auch, dass die Finanzmittel um 20 Millionen Euro erhöht
werden . Die Mitgliedstaaten, die am Schulprogramm teil-
nehmen, verpflichten sich auch zu pädagogischen Maß-
nahmen . So sollen die Kinder über gesunde Ernährung
sowie über lokale Nahrungsmittelketten, ökologischen
Landbau, nachhaltige Erzeugung oder die Bekämpfung
der Lebensmittelverschwendung aufgeklärt werden . Kin-
dern soll auch die Landwirtschaft wieder nähergebracht
werden, beispielsweise durch Besuche von Bauernhöfen .
Ich halte es weiterhin für durchweg begrüßenswert,
dass sich die Europäische Union für die gesunde Ernäh-
rung der jungen Generation einsetzt . Die nationale Politik
muss zudem alles dafür tun, um die Rahmenbedingungen
zu schaffen, Anreize zu setzen und Ideen mit einem aus
EU-Mitteln finanzierten Programm zu begleiten.
Es gibt aber auch Grenzen hinsichtlich des Hand-
lungsspielraums der EU und auch der Berliner Politik .
Die Begeisterung für die tägliche Portion Obst und Ge-
müse muss vor Ort geweckt werden . Auf den Geschmack
kommen Mädchen und Jungen im wahrsten Sinne des
Wortes, indem ihnen in ihren frühen Jahren das entspre-
chende Angebot durch die sie betreuenden Erwachsenen
und Pädagogen gemacht wird .
Bestimmte Entscheidungen können nicht von der Po-
litik aus der Ferne getroffen werden . So sollte bei der
praktischen Umsetzung darauf geachtet werden, dass vor
allem Obst und Gemüse in die Schulen kommt, welches
regional bezogen wird . Das ist eine Gestaltungsmöglich-
keit der Träger vor Ort, die sich dieser verantwortungs-
voll annehmen sollten und dies auch tun . An dieser Stelle
wünsche ich mir, dass die Schulen ein solches Angebot
nicht als ein von oben verordnetes Übel ansehen, das nur
mehr Arbeit macht . Das Programm sollte Bestandteil des
gesamten Schulbetriebs und des Unterrichtsprogramms
sein . Kurzum: Es sollte zum ganz normalen Alltag in den
Schulen und Einrichtungen gehören .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618976
(A) (C)
(B) (D)
Aber auch Schulen haben nur begrenzt die Möglich-
keit, ihre Schützlinge mit gesunden Lebensmitteln in
Kontakt zu bringen . Das tatsächliche Leben mit Obst und
Gemüse findet vor allem in den Familien und nur sukzes-
siv in den Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen
statt . Dass es da läuft, hängt einzig und allein vom Be-
wusstsein der Familie ab . Der Idealfall wäre, wenn Vater
und Mutter selbst mit dem Thema „gesunde Ernährung“
und vor allem mit viel Obst und Gemüse aufgewachsen
sind . Die eigene Erfahrung, die man in seiner persönli-
chen Entwicklung, in seiner Umgebung, in seiner Fami-
lie gemacht hat, ist die beste Wissens- und Handlungs-
grundlage . Ist das nicht gegeben, so braucht man eine
entsprechende pädagogische Begleitung . An dieser Stelle
greift dann das Obst- und Gemüseprogramm in den Kitas
und Schulen wieder und ist allein schon aus diesen Grün-
den nur zu begrüßen .
Eine gesunde Ernährung und Bewegung sind die
Grundlagen für ein gesundes Aufwachsen . Dabei ist das
Wissen über gesunde Ernährung der zentrale Bestandteil .
Dieser wird wesentlich im Kindesalter erlernt und ge-
bildet . Die hier erworbenen Ernährungsmuster behalten
Kinder und Jugendliche oft ein Leben lang .
Die Evaluationen des Schulmilch- und des Schulobst-
programms haben eine deutliche Zunahme der Beliebt-
heit und Akzeptanz von Milch, Obst und Gemüse erge-
ben . Zudem stieg das Bewusstsein der Kinder um die
Wichtigkeit von Milch, Obst und Gemüse als Bestandteil
einer gesunden Ernährung . Daher appelliere ich an alle
Bundesländer, die sich bisher noch nicht an den Program-
men beteiligt haben, dies zum Wohle der Kinder schnell
nachzuholen, und freue mich über die Unterstützung zur
Umsetzung dieser Ziele aus Brüssel .
Jeannine Pflugradt (SPD): Um Kinder und Jugend-
liche an Obst sowie Gemüse außerhalb ihres familiären
Umfeldes heranzuführen, hat die Europäische Union im
Jahr 2009 ein Schulobst- und -gemüseprogramm in den
Mitgliedstaaten eingeführt . Mit dem Programm werden
seitdem jährlich europaweit 150 Millionen Euro Ge-
meinschaftsbeihilfe für die teilnehmenden Staaten be-
reitgestellt .
Vor zweieinhalb Jahren (im Januar 2014) legte die
EU-Kommission einen Vorschlag für ein neues, um-
fassendes Schulprogramm vor . Dieser sieht vor, das
Schulobst- und -gemüseprogramm sowie das Schul-
milchprogramm auf Basis der beschlossenen Mittel zu-
sammenzufassen . Der Hauptgrund für eine Zusammen-
legung war die aufkommende Kritik an der Effektivität
der beiden einzelnen Programme .
Mitte Dezember 2015 fiel endlich eine positive
Entscheidung zugunsten einer organisatorischen Zu-
sammenlegung beider Schulprogramme . Das neue
EU-Schulprogramm soll nun 100 Prozent der Kosten der
Mitgliedstaaten durch die EU übernehmen . Es fällt dem-
nach unter die EU-Beihilferegelungen der Gemeinsamen
Agrarpolitik (GAP). Die bisherige Kofinanzierung, die
möglicherweise einige Bundesländer davon abhielt, das
Programm auch umzusetzen, entfällt dadurch . Die Bei-
hilfen sollen ab dem Schuljahr 2017/18 gelten . Das be-
deutet, dass ab 2017 die zur Verfügung stehenden finan-
ziellen Mittel für Schulmilch bei 100 Millionen Euro und
für Schulfrucht bei 150 Millionen Euro liegen . Deutsch-
land stehen davon pro Schuljahr durchschnittlich 20 Mil-
lionen Euro zur Verfügung, die das Bundesministerium
für Ernährung und Landwirtschaft an die teilnehmenden
Bundesländer verteilt . Mit dem vorliegenden Gesetz
schaffen wir die Voraussetzungen, die EU-Verordnung in
nationales Recht umsetzen .
Um am Programm teilnehmen zu können, müssen die
Mitgliedstaaten für jedes Schuljahr eine nationale Stra-
tegie einreichen, in der sie darlegen, wie das Programm
ausgestaltet werden soll . In Deutschland sind die Bundes-
länder für die Durchführung des Programms zuständig .
Diese reichen je nach Ressourcen und regionalen Beson-
derheiten ihre regionalen Strategien beim Bund ein . Die
Strategie muss Angaben über Budget, Zielgruppen, Zeit-
raum, förderungswürdige Produkte und die geplanten
flankierenden Maßnahmen enthalten. Flankierende Maß-
nahmen (Ernährungsbildung und Ernährungsaufklärung)
unterstützen die Abgabe der Erzeugnisse und stehen im
direkten Zusammenhang mit den Zielen des Programms .
Erfreulich ist, dass nunmehr neun Bundesländer daran
teilnehmen (BW, BY, HB, NI, NW, RP, SL, ST, TH) .
Ziel ist die dauerhafte Erhöhung des Konsums von
Obst und Gemüse sowie Milch bei Kindern, um einen
Beitrag zur ausgewogenen Ernährung sowie der Ernäh-
rungsbildung zu leisten . Momentan haben in Deutsch-
land fast 2 Millionen Kinder und Jugendliche (3- bis
17-jährige) Übergewicht . Das ist besorgniserregend und
erschreckend . Das sind rund 15 Prozent . Neben dem An-
gebot einer ausgewogenen Ernährung müssen deshalb
auch die Ernährungsbildung verbessert und die Bewe-
gungsangebote optimiert werden, denn nur das Wissen
um eine ausgewogene Ernährung reicht nicht aus, um
das tatsächliche Ernährungsverhalten zu verändern . Bei-
spielsweise sollten Kinder lernen, woher die Nahrung
kommt, die gerade verzehrt wird, wie sie produziert wird
und wie sie am Ende im Supermarkt landet .
90 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer, der Schullei-
terinnen und Schulleiter der in Deutschland beteiligten
Schulen sagen übereinstimmend, dass spezifische Er-
nährungsprogramme ohne Probleme in den Schulalltag
integriert werden können . Doch in über 34 Prozent der
Schulen wird nicht täglich Obst und Gemüse angeboten .
Dabei ist es wichtig, dass alle Kinder und Jugendlichen
unabhängig von der sozialen Herkunft davon profitieren.
Niemand darf aus sozialen Gründen ausgeschlossen,
niemand sollte diskriminiert werden . Ein gemeinschaft-
licher Verzehr beeinflusst sowohl das Zusammengehö-
rigkeitsgefühl als auch die Denkweise über Ernährung .
Ich persönlich halte ausgewogene Essgewohnheiten
von klein auf für enorm wichtig und sehe sie auch als
eine Grundlage für einen gesunden Lebensstil . Obst,
Gemüse sowie Milchprodukte sind dabei unentbehrlich
für eine vollwertige, ausgewogene Ernährung . Diese Le-
bensmittel enthalten neben Vitaminen, Mineralstoffen,
Ballaststoffen sowie Kohlenhydraten auch einen hohen
Wasseranteil . Kinder und Jugendliche können mit die-
sem Schulprogramm erfahren, dass vermeintlich nur
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18977
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„gesunde“ Lebensmittel auch gut schmecken . Darüber
hinaus hat ausgewogene Ernährung eine positive Wir-
kung in der Vorbeugung zahlreicher lebensstilbedingter
Erkrankungen .
Gerade in der heutigen Zeit von Ganztagsschulen ist
die Schule auch ein Lernort für gesellschaftliche Auf-
gaben geworden . Eltern möchten ihre Kinder während
der Schulzeit gut behütet wissen . Dazu zählt auch eine
gute Essensversorgung . Außerdem werden Wertevorstel-
lungen nicht nur von den Eltern weitergegeben, sondern
auch von Lehrern und Mitschülern . Wenn in der Fami-
lie nicht regelmäßig Obst und Gemüse auf dem Tisch
steht, können abgestimmte Schulprogramme während
der Schulzeit neue Essgewohnheiten schaffen . Durch die
Einführung von Schulprogrammen übernimmt die Bun-
desregierung demnach eine kleine Mitverantwortung für
eine ausgewogene Ernährung von Schulkindern .
Die bereitgestellten EU-Mittel sind sicherlich nicht
ausreichend, um das Gesamtproblem von Übergewicht
und Fettleibigkeit in den Griff zu bekommen . Program-
me, wie die Verteilung von Obst, Gemüse und Milch an
Schulen, bieten sicherlich nur einen Anstoß . Wenn sich
die Bundesregierung noch intensiver um das Thema
Schulverpflegung bemühen würde, würde ich mich noch
mehr freuen . Was das neue Bundeszentrum für Ernäh-
rung in diesem Bereich leisten kann, müssen wir abwar-
ten . Deshalb sollten wir weiterhin über eine Lockerung
des Kooperationsverbots im Bereich Schulverpflegung
nachdenken . Nicht alles, was von den Bundesländern ge-
tan wird, ist schlecht, wie in den Paradeländern Saarland
und Berlin zu sehen ist, und nicht alles, was der Bund im
Bereich Ernährung und Schulverpflegung vorhat, muss
sich per se positiv auf die Problematik auswirken . Den-
noch ist es längst überfällig, über Synergien zwischen
Bundes- und Länderkompetenzen nachzudenken und sie
effektiv zu bündeln . Das Wohl der Kinder und Jugendli-
chen muss dabei im Mittelpunkt stehen und uns als Leit-
bild dienen .
Karin Binder (DIE LINKE): Seit Jahren fördert die
EU die Abgabe von Milch sowie Obst und Gemüse an
Schülerinnen und Schüler . Dafür gibt es zwei gute Grün-
de: erstens die Förderung des Absatzes von Milch, Obst
und Gemüse aus der Landwirtschaft und zweitens die
Förderung gesunder Ernährung von Kindern . Die Idee
dahinter: Lernen wir schon als Kinder, regelmäßig Obst
und Gemüse zu essen und Milch zu trinken, wird dies zu
einer gesunden Ernährungsgewohnheit, die wir ein Le-
ben lang beibehalten . Auch das stärkt dann später wieder
die heimische Landwirtschaft .
Dass es in unserer Gesellschaft in Sachen gesunder
Ernährung Handlungsbedarf gibt, ist unbestritten . Wir
müssen schon seit Jahren zunehmend gesundheitsbe-
lastende Ernährungsweisen feststellen, von der bereits
Kinder und Jugendliche betroffen sind . Jedes siebte Kind
leidet an Übergewicht, fast jedes zweite davon ist fettlei-
big . Jede beziehungsweise jeder vierte Jugendliche leidet
an Essstörungen .
Ein Grund ist im modernen Arbeitsalltag vieler Fami-
lien zu finden. In der Hektik zwischen Job, Schule, Fa-
milie und weiteren Verpflichtungen müssen Mahlzeiten
schnell zubereitet sein . Essen wird durch ein zunehmen-
des Angebot an Fertigmahlzeiten mit nicht erkennbarer
Zusammensetzung bestimmt . Frisch zubereitete Gerichte
und insbesondere frisches Obst und Gemüse kommen
zu kurz . Allgegenwärtige, teils aggressive Werbung
lenkt besonders Kinder und Jugendliche und deren El-
tern gezielt auf unausgewogene Produkte wie Fastfood,
Snacks und Softdrinks . Das hat auch die EU-Kommissi-
on erkannt und betonte schon 2014 in einer Auswertung
zum Schulmilch- und Schulobstprogramm: „Diese Ent-
wicklung durch die modernen Ernährungstrends hin zu
stark verarbeiteten Nahrungsmitteln mit oftmals hohen
Beimengungen von Zucker, Salz und Fett verstärkt sich
besonders bei jüngeren Altersgruppen weiter .“
Es gibt also dringenden Handlungsbedarf . Eine Maß-
nahme ist jetzt die Bündelung und Vereinfachung der
Schulprogramme . Dass davon am Ende auch die heimi-
schen Erzeuger direkt profitieren sollen, ist zu begrüßen.
Eine wichtige Voraussetzung für uns ist aber, dass aus-
schließlich unverarbeitete Erzeugnisse, also die natürli-
chen Rohprodukte, angeboten werden . Das ist so in dem
Gesetzentwurf nur unzureichend geklärt . Wenn nämlich
am Ende wieder nur stark gesüßte Kakaogetränke oder
Joghurtprodukte mit absurd hohen Zuckeranteilen an
die Kinder verteilt werden – samt der damit verbunde-
nen Markenwerbung und irreführenden Angaben zum
Inhalt –, ist das Schulmilchprogramm für die Katz . Das
würde die Idee gesunder Ernährung ad absurdum führen .
Dann profitieren wieder nur die großen Lebensmittelkon-
zerne, und die Bauern und die Kinder zahlen drauf .
Der Nachteil des jetzt vorgesehenen Schulprogramms
für Obst, Gemüse und Milch ist, dass nur ein kleiner Teil
von Schulen davon profitieren wird. Das Programm ist
auf Grundschulen beschränkt, und die begrenzten Mit-
tel reichen auch nur, um einen Teil der Schulklassen zu
versorgen . Weder Kitas noch Sekundarschulen haben et-
was von dem Programm, obwohl ein möglichst frühes
Kennenlernen und regelmäßiges Angebot ausgewogener
Lebensmittel für die Ernährungsbildung wichtig sind .
Im Sinne staatlicher Vorsorge wäre es daher, dass das
Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
die Vollfinanzierung sicherstellt. Stellen Sie die Kofinan-
zierung der EU-Mittel von 30 Millionen Euro aus dem
Bundeshaushalt zur Verfügung . Das Geld kann an ande-
rer Stelle, beispielsweise durch Verzicht auf wirkungslo-
se Imagekampagnen wie „Macht Dampf“ oder „Zu gut
für die Tonne“, eingespart werden .
Wenn die Bundesregierung die gesunde Ernährung
unserer Kinder und die Stärkung der heimischen Land-
wirtschaft ernst nimmt, übernimmt sie beim Schulpro-
gramm Verantwortung und sorgt für ein Schulmilch- und
Schulobstprogramm, an dem alle Kinder teilhaben und
teilnehmen können .
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach
langwierigen Verhandlungen ist das neue EU-Programm
zur Abgabe von Obst, Gemüse und Milch in Schulen und
Kindertagesstätten auch bei uns im Bundestag gelandet .
Der vorliegende Gesetzentwurf ist nur ein Anfang, der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618978
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noch vieler weiterer Bestimmungen bedarf, damit die
Länder damit arbeiten können . Leider liegt der Entwurf
erst jetzt vor, und die Durchführungsbestimmungen
eben dann noch später, sodass die von der EU geforder-
te Umsetzung mit den entsprechenden Vorlaufzeiten für
die Haushaltsplanungen 2017 nach Auskünften aus den
Bundesländern schon wieder in Verzug geraten ist . Ob
mit dem neuen EU-Schulprogramm eine Verwaltungs-
vereinfachung einhergeht, wie dies vorab proklamiert
wurde, bleibt abzuwarten . Skepsis kommt auch hier aus
den Ländern, die eine Verwaltungsvereinfachung derzeit
eher nicht sehen .
Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass die Europäi-
sche Union insgesamt rund 250 Millionen Euro in allen
teilnehmenden Mitgliedstaaten investiert . Zum Schul-
jahr 2017/18 stehen für Deutschland mindestens 29 Mil-
lionen Euro aus Brüssel bereit . In Deutschland beteiligen
sich leider erst neun Bundesländer an diesem guten Pro-
gramm . Die Abgabe von Milch erfolgt in 14 Bundeslän-
dern . Die Beteiligung an diesem Programm muss weiter
erhöht werden .
Das Ziel des Programmes ist es, Schülerinnen und
Schülern zu ermöglichen, einen gesunden Lebensstil
zu erlernen, und ihnen landwirtschaftliche Prozesse na-
hezubringen . Schulen sind die Orte, wo wir alle Kinder
erreichen . Hier müssen Gesundheitserziehung und Er-
nährungsbildung ansetzen . Hier müssen die Leitbilder
nachhaltigen und regionalen Wirtschaftens vermittelt
werden. Das Programm verpflichtet Schulen neben der
Ausgabe von Obst, Gemüse und Milch, auch begleitende
Ernährungsbildungsprojekte durchzuführen . Es ist zum
Beispiel möglich, dass sich die Kinder im Rahmen die-
ses Programmes die Bauernhöfe mit den Obstbäumen
und Gemüsefeldern anschauen können, um zu sehen, wie
ihre Nahrungsmittel produziert werden . Es geht darum,
Bezug zu den Lebensmitteln und Wertschätzung zu er-
reichen . Das kann kein Lehrbuch vermitteln, sondern nur
das eigene Erfahren, Entdecken und Erschmecken . Auch
müssen die Projekte genutzt werden, Kindern die Folgen
einer globalisierten Nahrungsproduktion, der Massen-
tierhaltung und des hohen Einsatzes von Pestiziden zu
erklären . All das lässt sich durch intelligent gestaltete
Schulernährungsprogramme erreichen und wird bereits
von vielen Bundesländern ganz hervorragend praktiziert .
Festzustellen ist aber auch, dass dieses Programm nur
ein Baustein von vielen im Kampf gegen die Fehlernäh-
rung bei Kindern und Jugendlichen und in dem Bemühen
ist, Kinder gesund aufwachsen zu lassen . Der Ausbau
einer gesunden Gemeinschaftsverpflegung ist ein wich-
tiger Baustein, Fehlernährung zu stoppen und soziale
Ungleichheiten aufzufangen . Kinder und Jugendliche,
die den ganzen Tag in der Kita und in der Schule ver-
bringen, brauchen hochwertiges, gesundes und leckeres
Schulessen .
In einer vom BMEL in Auftrag gegebenen Studie, die
bundesweit die Qualität der Verpflegung in Kitas unter-
suchte und im Januar 2016 veröffentlicht wurde, wird
einmal mehr die große Bedeutung von verbindlichen
Qualitätsstandards festgestellt . In den Kitas, in denen
der DGE-Standard umgesetzt wird, verbessert sich die
Qualität des Mittagessens, die Zufriedenheit mit der Ver-
pflegung steigt, und der Speiseplan wird abwechslungs-
reicher . Es kommen mehr frische Lebensmittel, mehr
Nahrung in Bioqualität und mehr regionale Produkte zum
Einsatz . Gemüse, Salate, Obst, fettarme Milchprodukte
und Fisch stehen häufiger auf dem Tisch, Fleischwaren
und süße Speisen hingegen seltener . Dies hat positive
Auswirkungen auf die Nährstoffversorgung der Kinder .
Aus der Studie lässt sich ganz deutlich ableiten, dass
durch den Einsatz dieses Instruments ein gesundheitsför-
derndes Verpflegungsangebot in der Kita gesichert wird
und die Ernährung einen höheren Stellenwert erlangt .
Das Problem: Es verfügen nur 35 Prozent der Kitas
über ein Verpflegungskonzept, weitere 10 Prozent sind
dabei, eines zu erarbeiten; in über 40 Prozent fehlt es
komplett . Nur knapp 30 Prozent nutzen die „DGE-Qua-
litätsstandards für die Verpflegung in Tageseinrichtungen
für Kinder“ als Basis für die Verpflegung.
In den Schulen sieht es im Übrigen nicht besser aus .
Und was macht Bundesminister Schmidt mit dieser
Datenlage und der Forderung der DGE und anderer Ex-
perten, die Qualitätsstandards verbindlich einzuführen?
Statt anzupacken und einen vernünftigen politischen
Rahmen zu setzen, schiebt der Minister die Verantwor-
tung den Bundesländern, den Schulen, den Lehrerinnen
und Lehrern und den Eltern zu – immer mit dem Hinweis
auf die fehlende Zuständigkeit .
Trotz dieser angeblich fehlenden Zuständigkeit wird
Schmidt aber immer wieder gerne aktiv, wenn er Foto-
apparate und Mikrofone der Journalisten erblickt . Dann
entwickelt er Schulmaterial, dann will er ein eigenes
Fach „Ernährung“ aus dem Boden stampfen, und er führt
teure Kampagnen durch, die nichts bewirken .
Es reicht aber nicht aus, Musterbeschwerdebriefe an
die Kommunen und Schulträger vorzuformulieren, die
besorgte Eltern losschicken sollen . Mit seiner Forderung
nach einem eigenen Schulfach „Ernährung“ hat Schmidt
sogar Ernährungsexpertinnen und -experten verärgert .
Namhafte Ökotrophologinnen haben sich in einem
Brandbrief an den Minister gewandt, mit der Bitte, die
Forderung nach einem eigenen Schulfach „Ernährung“
einzustellen, da die Forderung zum „derzeitigen Stand
kontraproduktiv und evtl . sogar schädlich“ ist .
Aus unserer Sicht verhindert das Kooperationsverbot
zwischen Bund und Ländern den sinnvollen und notwen-
digen Ausbau der Ganztagsschulen und den damit ein-
hergehenden Ausbau der Schulverpflegung. Wir fordern
die Aufhebung des Kooperationsverbots, damit ein neues
Ganztagsschulprogramm aufgelegt werden kann . Auf
dieser neuen verfassungsrechtlichen Basis ließen sich
mit den Bundesländern Vereinbarungen treffen, um Mit-
tel aus diesem Programm für den notwendigen Auf- und
Ausbau der Infrastruktur für Schulernährung zu nutzen .
Dr. Maria Flachsbarth, Parl . Staatssekretärin beim
Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft: Am
28 . September 2016 wird zum 16 . Mal der Weltschul-
milchtag stattfinden. Dieser wurde im Jahr 2000 von
der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen,
FAO, initiiert und wird mittlerweile in über 40 Ländern
http://www.fitkid-aktion.de/qualitaetsstandard.html
http://www.fitkid-aktion.de/qualitaetsstandard.html
http://www.fitkid-aktion.de/qualitaetsstandard.html
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18979
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gefeiert . Ziel der FAO ist es, die Aufmerksamkeit der
Öffentlichkeit auf eine gesunde Ernährung mit Milch
für Kinder und Jugendliche und auf die entsprechenden
Förderprogramme zu richten . Der Hintergrund dazu gibt
allerdings Anlass zur Sorge . Immer weniger Kinder früh-
stücken zu Hause oder bringen eine ausreichende Pausen-
verpflegung mit in die Kindertagesstätten oder Schulen.
Die Konsequenzen für die Kinder können enorm sein .
Sie sind unkonzentriert und nervös, können häufig die
vielen neuen Informationen, die sie im Laufe des Tages
erreichen, nicht verarbeiten . Auch das Immunsystem und
die Ausdauer bei Sport und Spiel können leiden – denn
sie profitieren ebenfalls erheblich von einer ausgewoge-
nen und abwechslungsreichen Ernährung .
Kinder werden durch Erziehung geprägt und lernen
am Vorbild, gerade von den Eltern, auch wenn es um die
Ernährung geht . Das Bewusstsein für Auswahl und Qua-
lität der Nahrungsmittel und für die Esskultur werden
zu Hause, aber auch häufig von Kita und Schule mitbe-
stimmt . Heute wird schon fast jedes dritte Kind unter drei
Jahren tagsüber außerhalb der Familie betreut . Viele Kin-
dertagesstätten und Schulen sind Ganztagseinrichtungen,
eine ausgewogene Außer-Haus-Verpflegung der Kinder
wird daher zunehmend wichtig . Das Bundesministerium
für Ernährung und Landwirtschaft setzt sich aus diesem
Grund gemeinsam mit den Bundesländern dafür ein,
dass möglichst viele Kinder in Kindertagesstätten und
Schulen regelmäßig eine Portion Obst, Gemüse und auch
Milch erhalten können . Die meisten von Ihnen kennen
die tägliche Portion Schulmilch . Auch das Schulobst- und
-gemüseprogramm erfreut sich wachsender Beliebtheit .
Es ist allerdings in der Bevölkerung noch nicht ganz so
bekannt . Daher möchte ich Ihnen kurz einen Überblick
über die beiden bisherigen Programme geben .
Das EU-Schulmilchprogramm kennen Generationen
von Schülern . Es wurde bereits 1977 eingeführt und ist
bis in die jüngste Vergangenheit eine Erfolgsgeschichte .
Leider geht die Beteiligung immer weiter zurück . Man
muss hier kritisch anmerken, dass circa 4,5 Cent EU-Bei-
hilfe pro Portion, bei circa 40 Cent Warenwert, keinen
ausreichenden Anreiz zur Beteiligung der Schülerinnen
und Schüler bieten . Bisher ist die Abgabe von Schul-
milch auch an keine Erfordernisse, wie zum Beispiel eine
Ernährungserziehung, geknüpft . Doch gerade die Verste-
tigung der begleitenden Ernährungsbildung ist eines der
Hauptanliegen des Bundesministeriums für Ernährung
und Landwirtschaft .
EU-Schulobst- und –gemüseprogramm . Wir alle wis-
sen: Obst und Gemüse liefern Kindern zahlreiche Vita-
mine, Nährstoffe und auch Ballaststoffe . Um Kindern
und Jugendlichen Obst und Gemüse schmackhaft zu ma-
chen, hat die EU im Jahr 2009 ein Schulobst- und -gemü-
seprogramm in den Mitgliedstaaten eingeführt und stellt
dafür jährlich europaweit 150 Millionen Euro Gemein-
schaftsbeihilfe für die Mitgliedstaaten zur Verfügung . In
Deutschland sind die Bundesländer für die Durchführung
des Programms zuständig . Mittlerweile neun Bundeslän-
der nehmen im Schuljahr 2016/2017 am Programm teil
und erhalten dafür rund 30 Millionen Euro Unionsbei-
hilfe . Bisher müssen die teilnehmenden Bundesländer
hier einen Kofinanzierungsanteil in Höhe von 25 Prozent
einbringen .
Die Kinder in den teilnehmenden Bildungseinrichtun-
gen profitieren jedoch nicht nur durch die kostenlose Ab-
gabe von Obst und Gemüse – ergänzt wird das Programm
auch durch begleitende pädagogische Maßnahmen . Da-
mit sollen Kindern zudem die Landwirtschaft und eine
größere Palette landwirtschaftlicher Erzeugnisse nä-
hergebracht werden, zum Beispiel durch Besuche von
Schulklassen auf Bauernhöfen oder Obstanbaubetrieben .
Weiterhin erhalten die Kinder Informationen über eine
gesunde Ernährungsweise, über die Vermeidung von Le-
bensmittelverschwendung und über lokale Nahrungsmit-
telketten .
Das Bundesministerium für Ernährung und Land-
wirtschaft setzt sich auch weiterhin dafür ein, dem
rückläufigen Verzehr von Milch und Milchprodukten
bei Kindern entgegenzuwirken und den Verzehr von
Obst und Gemüse zu erhöhen . Wir haben uns daher in
Verhandlungen mit der EU dafür eingesetzt, dass beide
Programme zusammengelegt werden – mit Erfolg: Ab
dem Schuljahr 2017/2018 wird das neue Schulprogramm
mit den beiden Komponenten Obst/ Gemüse und Milch
eingeführt . Lassen Sie mich Ihnen nun die wichtigsten
Eckpunkte des neuen EU-Schulprogramms erläutern .
Die EU erhöht die jährliche Finanzausstattung des neu-
en EU-Schulprogramms auf 250 Millionen Euro . Für die
Abgabe von Schulmilch werden jährlich 100 Millionen
Euro und für Schulobst und -gemüse jährlich 150 Milli-
onen Euro zur Verfügung gestellt . Auf Deutschland ent-
fallen davon für Schulobst und -gemüse jährlich mindes-
tens 19,7 Millionen Euro und für Schulmilch mindestens
9,4 Millionen Euro . Frisches Obst und Gemüse sowie
reine Trinkmilch können nunmehr auch grundsätzlich
kostenlos an die Kinder abgegeben werden . Für die Bun-
desländer wird eine Teilnahme am neuen Schulprogramm
noch attraktiver. So müssen diese künftig keine Kofi-
nanzierungsmittel mehr für das neue Schulprogramm
erbringen . Und schließlich, was wir sehr begrüßen, mit
dem neuen Programm werden die begleitenden pädago-
gischen Maßnahmen der Ernährungsbildung intensiviert .
Nehmen Sie als Beispiel den Ernährungsführerschein
für Schülerinnen und Schüler der dritten Klassen, der
im Rahmen dieses Programms eingesetzt werden kann .
So kommen wir auch dem von Bundesminister Christian
Schmidt geforderten Schulfach Ernährung einen großen
Schritt näher .
Die veränderten unionsrechtlichen Grundlagen er-
fordern nunmehr eine Anpassung der nationalen Re-
gelungen, um die nationalen Voraussetzungen für die
erfolgreiche und nachhaltige Einführung des EU-Schul-
programms zu schaffen . Der vorliegende Gesetzent-
wurf der Bundesregierung sieht folgende wesentliche
Punkte vor: Ablösung des Schulobstgesetzes sowie
der Schulmilchdurchführungsverordnung zum Schul-
jahr 2017/2018, Übertragung der Befugnisse zur Durch-
führung des neuen EU-Schulprogramms auf die Länder,
Festlegung eines Verteilungsschlüssels, welcher die Auf-
teilung der von der EU für Deutschland zur Verfügung
gestellten Finanzmittel für die beiden Programmteile –
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Schulobst- und -gemüse sowie Schulmilch – auf die Län-
der festlegt .
Mit diesem Gesetzentwurf möchte die Bundesregie-
rung noch in diesem Jahr die Voraussetzungen schaffen,
die den Ländern eine erfolgreiche Implementierung des
Schulprogramms ermöglichen .
Wir sollten uns dafür einsetzen, dass das Schulpro-
gramm flächendeckend von allen Bundesländern durch-
geführt wird, damit möglichst viele Kinder davon profi-
tieren können . Unser gemeinsames Ziel muss es sein, das
Bewusstsein für einen gesunden Lebensstil bei Kindern
und Jugendlichen zu erreichen . Dafür müssen die Grund-
lagen des Ernährungswissens im vorschulischen Bereich
und im Schulunterricht verankert werden . Herr Bundes-
minister Christian Schmidt setzt sich aus diesem Grund
auch für ein eigenes Schulfach Ernährung ein . Jedes Kind
sollte das Einmaleins einer gesunden Ernährung lernen –
unabhängig von der Herkunft und vom Schultyp . Hierzu
leistet das EU-Schulprogramm – insbesondere auch im
Rahmen der begleitenden pädagogischen Maßnahmen –
einen wichtigen Beitrag .
Anlage 22
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der
Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe
– der Beschlussempfehlung und des Berichts zu
dem Antrag der Abgeordneten Frank Tempel,
Kathrin Vogler, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN-
KE: Für eine zeitgemäße Antwort auf neue
psychoaktive Substanzen
(Tagesordnungspunkt 28 a und b)
Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute debattieren
wir im Rahmen des zugrundeliegenden Gesetzes über die
Verbreitung von neuen psychoaktiven Stoffen (NPS), um
durch die neu zu schaffende Regelung ihre Verfügbarkeit
als Konsum- und Rauschmittel einzuschränken .
Der Entwurf sieht ein weitreichendes Verbot des Um-
gangs mit neuen psychoaktiven Stoffen und eine Straf-
bewehrung des auf eine Weitergabe zielenden Umgangs
mit NPS vor . Wir schließen damit eine Regelungslücke,
weil nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes
vom 10 . Juli 2014 die neuen psychoaktiven Stoffgruppen
nicht mehr als Arzneimittel im Sinne des Arzneimittelge-
setzes eingeordnet werden können . Dies ist nötig, da das
Auftreten und die Verbreitung von NPS eine Gefahr für
die öffentliche Gesundheit darstellen können . Es ist in
diesem Kontext nicht nur eine Regelungslücke, sondern
auch eine Strafbarkeitslücke entstanden, welche noch
nicht in die Anlagen des Betäubungsmittelgesetzes auf-
genommen worden ist .
Mit der Maßnahme des vorliegenden Gesetzentwurfes
wird ein klares Signal gegeben, dass es sich um verbote-
ne und gesundheitsgefährdende Stoffe handelt .
Die Maßnahmen im Antrag der Fraktion Die Linke
verkennen das Gefährdungspotenzial von Drogen hin-
sichtlich der öffentlichen Gesundheit . Sie würden zu
einer Verharmlosung des Drogenkonsums führen, was
insbesondere unter dem Gesichtspunkt des Jugendschut-
zes nicht hinnehmbar ist . Die gesundheitlichen Schädi-
gungen und Risiken einer späteren Suchterkrankung sind
umso höher, je früher der Konsum von Drogen beginnt .
Denn bei den neuen psychoaktiven Stoffen, den soge-
nannten Legal Highs, Badesalzen oder Kräutermischun-
gen handelt es sich, entgegen ihrer harmlosen Namen, um
hochgefährliche Drogen . Die Verpackungen der Produk-
te sind so aufgemacht, dass sie gerade bei Jugendlichen
und jungen Erwachsenen den Eindruck erwecken, dass
es sich um geprüfte Produkte von standardisierter Qua-
lität handelt und der Konsum in Deutschland erlaubt ist .
Hierin ist ein weiteres Problem zu sehen, da genau dies
eben nicht der Fall ist . Im Gegensatz zu dem Konsum
von bekannten legalen oder illegalen Drogen, bei denen
die Gefahren zumindest grundsätzlich auch Jugendlichen
bekannt sein sollten, ist dies bei Legal Highs nicht der
Fall, und sie kommen sehr ungefährlich daher, wie etwa
Energydrinks oder Kautabak .
Die harmlos wirkenden gegenständlichen Produkte
enthalten meist Betäubungsmittel oder ähnlich wirkende
chemische Wirkstoffe in unterschiedlicher Konzentrati-
on, die auf den bunten Verpackungen nicht ausgewiesen
werden . Konsumenten rauchen, schlucken oder schnie-
fen diese Produkte zu Rauschzwecken . Dem Bundeskri-
minalamt wurden Fälle aus ganz Deutschland bekannt, in
denen es nach dem Konsum dieser Produkte zu teilweise
schweren, mitunter lebensgefährlichen Intoxikationen
kam . Die meist jugendlichen Konsumenten mussten mit
Kreislaufversagen, Ohnmacht, Psychosen, Wahnvorstel-
lungen, Muskelzerfall bis hin zu drohendem Nierenver-
sagen in Krankenhäusern notfallmedizinisch behandelt
werden . Die Drogenbeauftragte warnt vor den unkalku-
lierbaren Risiken des Konsums und der möglichen Straf-
barkeit des Umgangs mit solchen Produkten .
Ich bin davon überzeugt, dass durch die neue gesetz-
liche Regelung neben dem Schutz von potenziellen Kon-
sumenten auch gerade der Jugendschutz nachhaltig ver-
bessert werden kann .
Unter neuen psychoaktiven Substanzen werden bei-
spielsweise auch synthetisch hergestellte Modifikationen
bereits bekannter Drogen, bzw . Designerdrogen verstan-
den . So sind bereits mehr als 130 synthetische Cannabi-
noide entdeckt worden. Deren Rezeptoraffinität ist viel-
fach stärker als die von Tretrahydrocannabinol (THC) .
Weiterhin gehören dazu synthetische oder pflanzliche
Substanzen, die teilweise – noch – nicht im Betäubungs-
mittelgesetz gelistet sind, etwa synthetische Cathinone,
sowie „Research Chemicals“, oft chemische Reinsubs-
tanzen, die typischerweise mit dem Warnhinweis „Not
for human consumption“ versehen sind und unter ihrem
tatsächlichen Namen vertrieben werden .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18981
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Die Prävalenz des Konsums von neuen psychoakti-
ven Substanzen in Europa sei aus methodischen Grün-
den schwer zu ermitteln, hieß es bereits im Europäischen
Drogenbericht 2015 .
Es gibt leider einen Wettlauf zwischen dem Auftreten
immer neuer chemischer Varianten bekannter Stoffe und
den Verbotsregelungen im Betäubungsmittelrecht . Allein
im Jahr 2015 wurden 98 neue psychoaktive Substanzen
in der EU registriert, insgesamt bereits 560 und davon
380 allein in den letzten fünf Jahren . Meist sind es nur
kleine Veränderungen auf Molekülebene, aber eben die-
se machen es für uns als Gesetzgeber unmöglich, immer
wieder nachzusteuern und das Betäubungsmittelgesetz
entsprechend schnell zu ändern . Diese Hasenjagd wer-
den wir beenden .
Deshalb ergänzen wird das Betäubungsmittelgesetz
nicht um das Verbot einzelner Substanzen, sondern gan-
zer Stoffgruppen . Neu ist auch, dass wir mit dem verwal-
tungsrechtlichen Verbot und Sicherstellungs- und Ver-
nichtungsbefugnissen die Verbreitung der Stoffe effektiv
bekämpfen können .
Die Bundesregierung hat mehrfach klargestellt, dass
Handlungsverbote und Straf- bzw . Bußgeldbewährung
notwendig sind, um vor allem junge Erwachsene zu
schützen . Denn sie sind es, die sich oft in Unkenntnis
der Gefährlichkeit der Stoffe gesundheitlich schädigen .
Insbesondere werden auch Risiken durch den Mischkon-
sum mit den neuen psychoaktiven Stoffen und anderen
Drogen noch unkalkulierbarer .
Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD bitten ferner
das Gesundheitsministerium darum, zeitnah nach In-
krafttreten des Gesetzes im Wege einer Ausschreibung
dessen Auswirkungen in wesentlichen Bereichen über
einen Zeitraum von zwei Jahren durch unabhängige Ex-
pertinnen und Experten evaluieren zu lassen und dem
Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages diese
Evaluierung vorzulegen . Die Evaluierung soll insbeson-
dere die Erfahrungen und Auswirkungen auf den Kon-
sum von NPS, die Auswirkungen des Verzichts auf die
Strafbewehrung des Erwerbs und Besitzes von NPS zum
Eigenkonsum sowie Erfahrungen und Auswirkungen auf
die Suchthilfe umfassen . Ferner sollen Erfahrungen der
Strafverfolgungsbehörden und der Justiz beim Vollzug
des Gesetzes ohne die Möglichkeit der Erhebung von
Verkehrsdaten, die im Gesetz mit Blick auf die engen
Vorgaben, unter anderem des EuGH, nicht aufgenomme-
nen wurde, evaluiert werden . Hierdurch schaffen wir mit
dem Gesetz auch einen nachhaltigen Problemlösungsan-
satz .
Emmi Zeulner (CDU/CSU): Lassen Sie mich mit
dem Wichtigsten beginnen: Nicht handeln war und ist
keine Option im Rahmen der neuen psychoaktiven Sub-
stanzen . Denn die gesamte Gefährlichkeit ist im Moment
noch nicht genau abzuschätzen, und wir haben als Poli-
tik einen Schutzauftrag gerade für die Jugendlichen, die
Zielgruppe der Händler sind und die diesen unberechen-
baren Substanzen zum Opfer fallen .
Doch was versteht man unter neuen psychoaktiven
Substanzen – kurz NPS – überhaupt und was macht sie
so gefährlich? Verharmlost werden Sie vor allem online
in bunten Packungen, unter anderem als Badesalze, For-
schungschemikalien oder Kräutermischungen angebo-
ten, und suggerieren über den Begriff Legal Highs, dass
der Inhalt legal und ungefährlich ist, ein legaler Rausch,
den der Gesetzgeber nicht verbietet und der somit un-
bedenklich zu sein scheint . Doch nichts könnte weiter
davon entfernt sein . Die Landeskriminalämter schlagen
höchsten Alarm; denn seit 2007 steigen die Fallzahlen in
Verbindung mit NPS rasant an . Alleine in Bayern ist die
Zahl der Einlieferung von Konsumenten, die aufgrund
einer Intoxikation durch NPS ins Krankenhaus kamen,
von sieben im Jahr 2010 auf unglaubliche 305 Intoxikati-
onen 2015 angestiegen . Auch die Sicherstellungsfälle der
Polizei in Bayern sind von acht im Jahr 2012 auf 1 341
2015 explodiert . Davor dürfen wir unsere Augen nicht
verschließen .
Bei einem Gespräch mit dem Bayerischen Lande-
skriminalamt hat sich mir die Schilderung einer Her-
stellungsart sehr eingeprägt, die eine Gefahr dieser
Substanzen deutlich zeigt . Bei dem Prozess wird das
Trägermaterial, wie zum Beispiel verschiedene Kräuter,
in eine Mischtrommel gegeben und mit den psychisch
wirksamen Substanzen lose vermengt . Dann kommt es
zur Abfüllung, das heißt aber, dass bei den ersten Päck-
chen sehr viel von den relativ harmlosen leichteren Kräu-
tern sein können, wohingegen die schwereren psychoak-
tiven Substanzen sich am Boden der Trommel sammeln
und dadurch bei den letzten Päckchen eine extrem hohe
Potenzierung erfolgt . Diese Unkalkulierbarkeit der je-
weiligen Potenz der NPS führt leicht zu Überdosen und
ist neben dem einfachen anonymisierten Bestellvorgang
über das Inter- oder Darknet einer der Gründe für die Ge-
fährlichkeit .
Doch warum sind die Stoffe dann noch legal? Hier
stellt sich die größte Herausforderung für uns als Gesetz-
geber. Denn im Moment findet ein Wettlauf der Hersteller
mit der Politik statt . Wird ein Stoff über das Betäubungs-
mittelgesetz in die Illegalität überführt, so wird innerhalb
weniger Tage oder sogar Stunden ein neuer synthetischer
Stoff durch eine minimale Veränderung der chemischen
Zusammensetzung hergestellt, und es ergibt sich wieder
eine zunächst legale Substanz . Deren Aufnahme in das
BtMG muss dann wieder in einem aufwändigen Evidenz-
prozess neu geprüft werden . Kurz gesagt: Es muss erst
eine relevante Anzahl an Konsumenten nachweislich ge-
schädigt worden sein, bevor eine Aufnahme ins Gesetz
möglich ist . Doch wie viele jungen Menschen sollen die-
sen Stoffen noch zum Opfer fallen und im schlimmsten
Fall sterben, bis wir endlich Ihrer Ansicht nach handeln
müssen, liebe Fraktion Die Linke?
Der Handlungsbedarf besteht jetzt . Denn konnten
manche Substanzen, die nicht dem BtMG unterfallen,
vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im
Jahr 2014 noch in das Arzneimittelgesetz eingeordnet
werden, so fällt auch diese Möglichkeit nun weg . Der
EuGH hat festgehalten, dass NPS nicht unter den Arznei-
mittelbegriff fallen, weil sie gerade keine gesundheitsför-
dernde Wirkung haben . Diese Entscheidung war absolut
richtig . Doch sie hat eine Strafbarkeitslücke geschaffen .
Unterfällt der Stoff nicht dem BtMG oder dem AMG,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618982
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so kann er weiter im rechtsleeren und straflosen Raum
gehandelt werden . Dies konnten wir nicht hinnehmen .
Das Gesetz ist eine zwingende Konsequenz aus unserem
Schutzauftrag für die Konsumenten von Substanzen, die
über eine schwere Abhängigkeit bis zum Tode führen
können .
Um diese Lücke zu schließen und dem Katz-und-
Mausspiel wirksam entgegenzutreten, unterstellen wir
ganze Stoffgruppen der Strafbarkeit des neuen Gesetzes .
So erschweren wir es den Herstellern die gezielte Modi-
fikation, um der Illegalität zu entkommen. Kurz gesagt:
Das Gesetz macht aus Legal Highs Illegal Highs . Hierbei
geht es uns nicht um das Kriminalisieren der Konsumen-
ten, sondern um den Schutz der Menschen vor hochge-
fährlichen Substanzen und das Vorgehen gegen den Han-
del damit .
Um dieses Ziel zu erreichen setzt das Gesetz an meh-
reren Stellen an: Erstens mit dem bereits erwähnten
Verbot ganzer Stoffgruppen . Hier bestanden die Heraus-
forderung darin, die Gruppen einerseits nicht so weit zu
definieren, dass im Wege der Verordnungen möglichst
wenig nachgesteuert werden muss, sie andererseits aber
auch so eng zu fassen, dass ausschließlich psychoaktiv
wirkende Stoffe dem Verbot unterfallen . Hier hat das
Bundesgesundheitsministerium mit den Experten bei
dem Zusammenstellen der Stoffgruppen eine unglaubli-
che Arbeit geleistet . Danke dafür .
Zweitens mit dem umfassenden Verbot des Handels,
der Herstellung, der Ein-, Durch- und Ausfuhr, des Er-
werbs, Besitzes und Verabreichens von NPS . Um gerade
bei der noch geringen Evidenzlage keine Vorverurteilung
der Konsumenten zu erwirken, wurden Besitz und Er-
werb nicht der Strafbarkeit unterstellt . Dieser Punkt wird
jedoch auch im Rahmen der Evaluation auf seine Wirk-
samkeit hin überprüft werden . Denn gerade aufgrund der
Schnelligkeit bei der Anpassung der Herstellung der NPS
müssen wir hier immer aktuell bleiben, unsere Vorgaben
überprüfen und, wenn nötig, zielgerichtet anpassen . Das
Gesetz wird sich stetig weiterentwickeln . Doch wir ha-
ben eine sehr gute Grundlage dafür geschaffen .
Drittens geben wir den Strafverfolgungsbehörden
Instrumente an die Hand, die ihnen Ermittlung, Sicher-
stellung, Vernichtung und Handhabe gegen die Herstel-
ler und die Händler erleichtern . Diese geben der Polizei
mehr Handlungssicherheit und haben auch eine wichtige
präventive Wirkung . Im Rahmen der Evaluation wird
sich ergeben, ob wir die Instrumente erweitern müssen .
Viertens haben wir ein sehr gutes System der Straf-
tatbestände und Strafrahmen geschaffen, das sowohl in
der strafrechtlichen Vorwerfbarkeit differenziert als auch
im Strafrahmen, was dem Umstand gerecht wird, dass
uns für viele Stoffe noch die langjährigen Evidenzstudi-
en fehlen . Bei den Tatalternativen selbst unterscheiden
wir gerade auch danach, ob hier gewerbsmäßig gehan-
delt wird oder ob die NPS an Minderjährige abgegeben
werden . Hier fällt die Strafe natürlich höher aus . Diese
Unterscheidung ist wichtig, um hier individuell auch
wirklich härter gegen den Handel vorzugehen, der gezielt
junge Menschen anspricht .
Am Ende bleibt mir, meine Worte vom Beginn zu
wiederholen: Nicht handeln war hier keine Option . Ich
lehne daher den Antrag von der Linken deutlich ab und
begrüße den Gesetzentwurf ausdrücklich . Nicht die von
Ihnen geforderte Legalisierung von Cannabis löst un-
ser Problem, sondern ein aktives Vorgehen gegen diese
neuen Strukturen und Substanzen . Denn mit dem NPSG
nehmen wir diese neuen Stoffe mit Ihrer ganzen Ge-
fährlichkeit ernst und schaffen einen guten Schutz- und
Strafrahmen, der so dringend erforderlich ist . Wir dürfen
nicht weiter tatenlos zusehen, wie diese neuen Drogen
uns überschwemmen und die Zahl der Opfer exponentiell
ansteigt . Wir mussten handeln, und dies haben wir mit
dem neuen Gesetz getan .
Burkhard Blienert (SPD): Der aktuelle Drogenbe-
richt der Bundesregierung führt aus, dass im Jahr 2015
insgesamt 39 NPS in Deutschland entdeckt wurden, die
noch nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt wa-
ren . Auf europäischer Ebene weist der Europäische Dro-
genbericht 2016 im selben Jahr 98 neue Substanzen aus .
Seit 2008, dem Jahr, in dem mit der Erfassung der NPS
begonnen wurde, ist somit die Zahl auf rund 550 Sub-
stanzen gestiegen . Alleine in 2015 gab es in Deutschland
39 Todesfälle . Es war also dringend Zeit zum Handeln .
Es war überdeutlich, dass der Weg, im Anhang zum Be-
täubungsmittelgesetz die Substanzen aktualisiert aufzu-
nehmen, nicht erfolgreich ist und der Wettlauf mit dem
Kreieren neuer Substanzen nicht auf diese Weise gewon-
nen werden kann .
Mit dem heutigen Tag vollziehen wir nun einen wich-
tigen Schritt hin zu einer neuen, moderneren Drogenpo-
litik .
Ich danke daher der Drogenbeauftragten, dass sie sich
dieser komplexen Problemlage angenommen hat und
trotz aller Widerstände an dem nun gefundenen Weg fest-
gehalten hat .
Mit dem vorliegenden Gesetz und der hierin bein-
halteten Stoffgruppenstrafbarkeit beenden wir nun zum
einen das leidige „Hase-und-Igel-Spiel“ zwischen Her-
stellern dieser sogenannten Legal Highs und den Ord-
nungsbehörden .
Und zum Zweiten sehen wir von einer Strafverfol-
gung des Konsumenten ab . Er bleibt somit quasi straffrei .
Zukünftig bestrafen wir also Hersteller und Händler,
nicht aber mehr den Konsumenten . Wir beenden somit
auch die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Per-
sonen, die diese Stoffe zum Aufputschen nehmen . Ich be-
danke mich an dieser Stelle ausdrücklich auch bei allen
Kolleginnen und Kollegen aus den Ländern, die im Bun-
desrat ebenfalls dieser Linie gefolgt sind, und auch bei
meinen Fachkollegen im Gesundheitsausschuss, die an
dieser Stelle den Ratschlägen der Experten und nicht den
Rufen nach einer strikten Kriminalisierung gefolgt sind .
Mit diesem neuen Ansatz eröffnen wir die Möglich-
keit für eine verbesserte Präventionsarbeit . Wir brand-
marken nicht mehr Konsumenten und bestrafen trotzdem
die Händler und Hersteller dieser gefährlichen Stoffe .
Wir können jetzt aber offen in einen Dialog mit Betrof-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18983
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fenen über die Beweggründe des Konsums eintreten und
Auswege aus der Sucht erarbeiten .
Wichtig in Hinblick auf eine vorsorgende und ler-
nende Präventionspolitik ist aber auch, dass Wirkungen
dieser Gesetzgebung überprüft werden . Uns Sozialdemo-
kraten war es daher wichtig, entsprechende Evaluationen
ins Gesetz zu schreiben, die nach zwei Jahren stattzufin-
den haben . Anhand der dann erhobenen Daten werden
wir ablesen können, ob sich die Schwerpunktsetzung auf
die Händlerebene bewährt hat .
An dieser Stelle möchte ich allerdings auch noch ei-
nen Aspekt aus der öffentlichen Anhörung anbringen, der
für zukünftige Debatten im Bereich der Drogenpolitik
und insbesondere der Cannabispolitik von Bedeutung
sein dürfte: die angenommene Ausweichbewegung bei
den Produzenten .
Wir müssen natürlich im Blick haben, ob findige Her-
steller über die definierten Stoffgruppen hinaus nun nach
Substanzen suchen und diese dann schließlich auch auf
dem Markt anbieten, die den nun verbotenen Stoffen in
ihrer Wirkung ähneln . Sollte dies passieren, werden wir
handeln!
Lassen Sie mich aber an dieser Stelle auch noch mal
einen weiteren Gedankenanstoß formulieren: Wer sich
einen Überblick verschafft, wo die Problematik des
NPS-Konsums besonders virulent ist, der erkennt sehr
schnell, dass starke regionale Unterschiede beim Konsum
der NPS gibt . Daher drängt sich der Verdacht auf, dass
es auf Konsumentenseite Ausweichbewegungen gibt . Es
liegt auf der Hand, dass viele Konsumenten Sorge haben,
durch den Konsum anderer Drogen, wie beispielsweise
Cannabis, kriminalisiert zu werden und daher auf die
„legalen“ Badesalze und Kräutermischungen auswei-
chen . Es dürfte daher schon mehr als ein Zufall sein, dass
insbesondere in Bayern, dem Land mit der striktesten
Verbotspolitik in Hinblick auf den Cannabiskonsum, die
Konsumentenzahlen der Legal Highs relativ hoch sind .
Ich plädiere daher auch an dieser Stelle dafür, dass wir
uns nun auch offen der Diskussion um die Entkrimina-
lisierung des Cannabiskonsums stellen . Natürlich darf
es nicht darum gehen, Süchte zu banalisieren und den
Cannabisrausch für alle zu legitimieren . Aber wir sollten
uns endlich einen Ruck geben, von Bundesseite in abseh-
barer Zeit zu ermöglichen, dass Modellkommunen einen
regulierten Markt erproben .
Martina Stamm-Fibich (SPD): Kräutermischungen,
das sind für mich Teesorten – sonst nichts . Mit diesem
Gedanken habe ich im April 2016 an Schulen in meinem
Wahlkreis Erlangen eine Aufklärungskampagne gestar-
tet . Im Vorfeld wurde ich immer wieder von Bürgerinnen
und Bürgern und durch die lokale Presse auf die schlim-
men Nebenwirkungen der sogenannten „Legal Highs“
aufmerksam gemacht .
„Legal Highs“ heißen richtigerweise neue psychoakti-
ve Substanzen – oder abgekürzt NPS . Und dass die Dro-
gen bislang legal waren, lag vor allem daran, dass die
Hersteller der Drogen immer neue Substanzen kreiert ha-
ben, wenn alte Stoffe von den Drogenbehörden erkannt
und verboten wurden . Mit dem Gesetz zur Bekämpfung
der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe werden die
meisten der „Legal Highs“ nun illegal . Dieser Schritt ist
wichtig und längst überfällig . Denn aktuell liefern sich
Drogenhersteller und Drogenbehörden ein regelrechtes
Katz-und-Maus-Spiel . Kaum entdecken die Behörden
einen Stoff und verbieten die Zusammensetzung, wan-
deln die Drogenhersteller die Inhaltsstoffe leicht ab und
verkaufen künftig eine ebenso gefährliche Droge unter
anderem Namen . Die Suche der Drogenbehörden beginnt
dann erneut. Bis die Zusammensetzung identifiziert wer-
den kann, vergeht wertvolle Zeit . Und in dieser Zeit kon-
sumieren vor allem junge Menschen Drogen, die harm-
lose Namen tragen, aber gefährliche Nebenwirkungen
haben können . Konsumenten berichten von Panikatta-
cken, Kreislaufproblemen, und Orientierungsverlust . So-
gar Fälle von Herzstillstand sind bekannt . In Deutschland
sind im vergangenen Jahr 25 Menschen an den Drogen
gestorben .
Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Verbreitung
neuer psychoaktiver Stoffe sagt die Bundesregierung
nun den Drogenherstellern den Kampf an . Denn künftig
lassen sich ganze Stoffgruppen listen . Zwei Drittel der
Stoffe, die Drogenhersteller verwenden können, werden
mit den Stoffgruppen dann erfasst . Sie sind also quasi
von vornherein verboten . Das Gesetz liest sich jetzt zwar
wie ein Chemie-Lehrbuch, der Umfang macht es aber
erst möglich, so viele Stoffe wie möglich abzudecken .
Zwei Stoffgruppen sind hier besonders hervorzuheben:
synthetische Cannabinoide, also Stoffe, die die Wirkung
von Cannabis imitieren sollen – Konsumenten erwerben
diese Stoffe unter dem Namen Kräutermischungen und
den Amphetaminen verwandte Stoffe, käuflich zu erwer-
ben unter dem harmlosen Namen Badesalze .
Im fränkischen Forchheim wurde vor kurzem ein
Laden geschlossen, der illegal Kräutermischungen und
Badesalze vertrieb . Statt in solchen Läden können die
Konsumenten „ihren Stoff“ aber auch viel einfacher be-
ziehen: Sie bestellen die Drogen schnell und bequem im
Internet und lassen sie zu sich nach Hause liefern . Das
macht allerdings die Problematik noch größer und gravie-
render . Denn dass junge Menschen leicht an die Drogen
kommen, bedeutet nicht, dass die Drogen deshalb harm-
los sind . Schwerer ist es dagegen, an die Konsumenten
heranzukommen und sie über die Gefahren aufzuklären .
Neben der gesetzlichen Regelung müssen für mich
deshalb ganz klar auch Prävention und Aufklärung ste-
hen . Wir müssen den Drogen den harmlosen Anschein
nehmen und über die Risiken aufklären . Meine Aufklä-
rungskampagne „Kräutermischung – Tee sonst nix“ ist
bei den Schulen auf sehr große Resonanz gestoßen . Ge-
meinsam mit der örtlichen Drogenhilfe mudra und dem
größten Teeanbieter der Region gehe ich an Schulen und
kläre Jugendliche über die Gefahren der Drogen auf . Die
Mitarbeiter der mudra stellen sehr anschaulich dar, wel-
che Gefahren in den Drogen stecken. Häufig werden sie
von Eltern begleitet, die selbst ein Kind durch Drogen-
konsum verloren haben . Mit der Kampagne sprechen wir
die Probleme an, wir holen das Thema aus der Versen-
kung und lassen zu, dass sich junge Menschen mit der
Problematik auseinandersetzen . Wir zeigen ganz klar,
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618984
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dass es hier nicht um Spaß geht, sondern dass der Kon-
sum Leben kosten kann .
Das zeigt auch ein erschreckender Vorfall vom
Mai 2016 . Damals wurden in meinem Wahlkreis drei
Teenager bewusstlos aufgefunden und ins Krankenhaus
gebracht, nachdem sie Kräutermischungen konsumiert
hatten . Solche Meldungen allein schrecken offensichtlich
nicht ausreichend ab . Mittlerweile habe ich gemeinsam
mit der mudra mehr als 14 Schulklassen in meinem Wahl-
kreis besucht . Jede Schülerin und jeder Schüler bekommt
am Schluss ein Päckchen echte Kräutermischungen von
mir, also Tee – sonst nichts . Das soll zum kritischen
Nachdenken anregen – auch dann, wenn das Gespräch
vorbei ist . Lehrerinnen und Lehrer sind dankbar über die-
ses Angebot . Viele sind mittlerweile verzweifelt, weil sie
die Probleme zwar erkennen, aber nicht wissen, wie sie
mit ihnen umgehen sollen .
Mit dem Gesetz zur Bekämpfung der Verbreitung neu-
er psychoaktiver Stoffe machen wir nun die rechtliche
Seite wasserdicht . Wir deklarieren verbotene Stoffe . Und
weil ein Verbot ohne Strafe höchst unwirksam ist, defi-
niert das Gesetz auch das Strafmaß . Verboten werden ge-
nerell die Herstellung, das Inverkehrbringen, der Handel
und die Einführung der Drogen . Einzeltäter müssen mit
einer Geldstrafe und mit bis zu drei Jahren Haft rechnen .
Dealer und Banden müssen mit Haftstrafen von bis zu
zehn Jahren rechnen .
Aufklären müssen wir auch weiterhin – trotz neuem
Gesetz . Wir haben noch einen weiten Weg, um den Ge-
fahren der neuen psychoaktiven Substanzen angemessen
begegnen zu können . Das Gesetz ist ein erster wichtiger
Schritt . Aber er wird und kann nicht der letzte sein .
Frank Tempel (DIE LINKE): Ganz offensichtlich
ist der Bundesregierung ihre eigene Drogenpolitik zu
peinlich . Deswegen diskutieren wir sie nicht im Ple-
num . Stattdessen hat die Regierung unseren Tagesord-
nungspunkt auf 00 .55 Uhr angesetzt . Das verhindert jede
sinnvolle Debatte . Dabei müssten 39 Tote im Jahr 2015
durch den Konsum von sogenannten neuen psychoakti-
ven Stoffen – kurz NPS – eine parlamentarische Debatte
im Plenum notwendig machen .
Diese 39 Toten sind ein trauriges Sinnbild für die völ-
lig verfehlte Drogenpolitik dieser Bundesregierung . Sie
setzt vor allem auf das Mittel der Strafverfolgung . Die
Verbotspolitik steckt den Kopf vor den Problemen in den
Sand . Diese Drogenpolitik setzt darauf, dass mit einem
Verbot auch die drogenbezogenen Probleme aus der Welt
geschaffen werden . Gemessen an den Zielen der Scha-
densminimierung und Generalprävention ist diese Ver-
botspolitik aber krachend gescheitert .
Gerade die immer stärkere Verbreitung von NPS ist
eine direkte Folge des Drogenverbots . Beispiele aus Bay-
ern, Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Län-
dern zeigen: NPS werden vor allem dort konsumiert, wo
der Preis und der Zugang zu illegalisierten Substanzen zu
hoch und zu teuer sind . Konsumierende verzichten dann
eben nicht auf Rauschmittel, sondern greifen dann quasi
als Ersatz auf NPS zurück . Dabei sind diese Substanzen
in ihrer Vielzahl überhaupt nicht erforscht . Insbesondere
über die Langzeitrisiken des Konsums ist nichts bekannt .
Übrigens ist dieses Ausweichverhalten keineswegs neu
oder nur auf NPS beschränkt: Ich darf daran erinnern,
das Schnüffeln von Klebstoff folgt der gleichen Logik .
Es berauscht und dient als Ersatz für andere illegalisierte
Substanzen . Trotzdem würde niemand auf die Idee kom-
men, Klebstoff zu verbieten .
Mit einem neugeschaffenen Gesetz zur Bekämpfung
der Verbreitung neuer psychoaktiver Stoffe überträgt die
Bundesregierung nun den Verbotsansatz auf eine Viel-
zahl von Substanzgruppen . So richtig es ist, die Verbrei-
tung von NPS nicht unreguliert dubiosen Händlern zu
überlassen, so falsch ist es, NPS durch ein Stoffgruppen-
verbot zu begegnen . Diese Verbotspolitik wird weder die
Verbreitung von NPS mindern noch wird sie die Anzahl
der Drogentoten senken . Viel wahrscheinlicher ist, dass
noch viel gefährlichere psychoaktive Stoffe durch die
Produzenten entwickelt werden, um die Verbote immer
weiter zu umgehen . Ihre Politik befeuert geradezu die
Entwicklung immer riskanterer Substanzen .
Mit der Ausweitung der Verbotspolitik auf NPS wird
eine noch stärkere Versicherheitlichung der Drogenpoli-
tik stattfinden. Was heißt das konkret? Der Gesetzentwurf
möchte Maßnahmen und Befugnisse in der Telekommu-
nikationsüberwachung erweitern, weil der Großteil der
NPS online gehandelt wird . Zur Erinnerung: Schon jetzt
findet die Hälfte aller Überwachungsanordnungen in der
Telekommunikation aufgrund des Betäubungsmittelge-
setzes statt . Täglich greifen Polizei und Staatsanwalt-
schaft in die Grundrechte der Menschen ein, bis hin zum
Eigenbedarfskonsumierenden . Diese Eingriffe in die per-
sönlichen Freiheitsrechte werden zukünftig noch häufi-
ger und noch eklatanter stattfinden und sind auf keinen
Fall verhältnismäßig .
Der im Gesetz vorgesehene Straftatbestand des Inver-
kehrbringens ist der Grund, weshalb ich im Übrigen auch
nicht die Hoffnung teile, dass künftig der bloße Besitz
von NPS als entkriminalisiert gilt . Diese Hoffnung hat-
ten einige Sachverständige bei der Anhörung im Gesund-
heitsausschuss geäußert . Tatsächlich macht sich ein Kon-
sumierender wegen des Inverkehrbringens oder wegen
des Anstiftens zum Inverkehrbringen von NPS strafbar,
wenn sie oder er bei einem ausländischen Onlineshop
NPS bestellt . Dies gilt prinzipiell auch bei einer Bestel-
lung bei einem inländischen Onlineshop . In diesem Fall
werden aber zukünftige Gerichtsurteile zeigen, inwiefern
Konsumierende wegen Anstiftung zum Inverkehrbringen
belangt werden können . Schließlich hat der inländische
Onlinehandel dann bereits NPS in Deutschland vorrätig
gehalten . Zur Frage einer möglichen Kriminalisierung
von NPS-Konsumierenden können Sie sich sehr gerne
eine Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages durchlesen, die ich in Auftrag gegeben und
auf meiner Homepage dokumentiert habe .
Die Alternative zum NPS-Verbot hat Die Linke in
ihrem Antrag benannt . Der wichtigste Punkt lautet: Wir
brauchen endlich einen regulierten Zugang zu Cannabis .
Erst wenn Cannabis legal erhältlich ist, wird ein Groß-
teil der NPS in Deutschland verschwinden . Warum bin
ich davon überzeugt? Zwei Drittel aller in Deutschland
konsumierten NPS sind synthetische Cannabinoide . Sie
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18985
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werden konsumiert, weil für die Betroffenen Cannabis
nicht verfügbar ist, weil sie große Sorge vor Strafver-
folgungsbehörden haben oder weil sie den Verlust ihres
Führerscheins befürchten, der ihnen bei Cannabiskon-
sum droht . Synthetische Cannabinoide sind dann eine
Ersatzlösung . Dabei würden sie lieber das vergleichs-
weise gut erforschte Cannabis konsumieren, anstatt sich
unerforschten Kräutermischungen auszusetzen . Regulie-
ren Sie Cannabis, dann wird zumindest ein Großteil des
NPS-Konsums der Vergangenheit angehören .
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Anzahl neuer psychoaktiver Substanzen NPS steigt
seit Jahren . Die Substanzen werden derzeit, vor allem
im Onlinehandel, als scheinbar harmlose und legale Al-
ternativen zu klassischen Substanzen wie Cannabis oder
Ecstasy angeboten . Obwohl sich abzeichnet, dass der
Konsum von NPS nicht harmlos ist und zu gesundheit-
lichen Schäden führen kann, fehlt es bislang an einer
entschlossenen Initiative der Bundesregierung über das
Risiko der Stoffe aufzuklären und die Konsumentinnen
und Konsumenten präventiv mit diesbezüglichen Infor-
mationen zu versorgen . Trotz fehlender Risikoanalyse
und Vernachlässigung der Prävention legt die Regierung
ein undifferenziertes Verbotsgesetz vor . Natürlich gilt es,
die Gesundheit des Einzelnen sowie der Allgemeinheit
zu schützen . Doch die vorgeschlagenen Regelungen, die
dieses Ziel vermeintlich erreichen sollen, lehnen wir als
wenig geeignet ab .
Die Bundesregierung ist nicht bereit und in der Lage,
aus den Fehlern der derzeitigen repressiven Drogenpolitik
zu lernen . Auch der uns jetzt vorliegende Gesetzentwurf
spiegelt eindrücklich die naive Vorstellung, eine drogen-
freie Welt errichten zu können, wider . Diese Vorstellung
ist nicht nur überholt, sie ist auch nicht durchsetzbar . Das
Verbot – ob Betäubungsmittelgesetz oder Stoffgruppen-
verbot – hält nicht vom Konsum ab . Das zeigt doch die
langjährige Erfahrung mit dem Betäubungsmittelgesetz .
Ich kann die Bundesregierung daher nur nachdrücklich
dazu auffordern, endlich eine externe wissenschaftliche
Evaluierung der Auswirkungen der Verbotspolitik für
illegalisierte Betäubungsmittel zuzustimmen und dem
Bundestag zeitnah einen Bericht über die Ergebnisse
vorzulegen . Dies haben wir Grüne gemeinsam mit der
Linken in einem überfraktionellen Antrag bereits zu Be-
ginn der Legislaturperiode gefordert .
Der Gesetzentwurf verfehlt gleich mehrfach sein Ziel .
Auch in anderen Ländern, die Stoffgruppenregelungen
eingeführt haben, konnte die Nachfrage nach neuen psy-
choaktiven Substanzen nicht nachhaltig gesenkt werden .
Das Stoffgruppenverbot kann deshalb wenig dazu beitra-
gen, dass die gesundheitlichen Schäden infolge des Kon-
sums von neuen psychoaktiven Substanzen nennenswert
reduziert werden, im Gegenteil . Das Verbot ist vielmehr
ein Katalysator für die organisierte Kriminalität . Es führt
in der Konsequenz zu einem völlig unregulierten Markt,
auf dem es keinen Jugend- und Verbraucherschutz gibt .
Zudem werden die gesundheitlichen Risiken einer Sub-
stanz auf dem Schwarzmarkt erfahrungsgemäß größer;
denn Zusammensetzung und Wirkstoffgehalt der Pro-
dukte bleiben weiter unklar . Dies reduziert nicht die ge-
sundheitlichen Konsumrisiken für Konsumentinnen und
Konsumenten, sondern erhöht sie .
Außerdem sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass das
bestehende Drogenverbot erst den Markt für neue psy-
choaktive Substanzen bereitet hat . Konsumentinnen und
Konsumenten suchen nicht immer nach dem Kick oder
nach der nächsten neuen, stärkeren Rauscherfahrung .
Selbst wenn, würde man diese Gruppe von Konsumen-
tinnen und Konsumenten auch mit einem Stoffgruppen-
verbot nicht vom Konsum abhalten können . Es handelt
sich aber bei dem Großteil der Konsumentinnen und
Konsumenten um ein schlichtes Ausweichverhalten .
Der größte Teil der Konsumentinnen und Konsumenten
weicht auf diese Substanzen aus, um das Verbot illegaler
Drogen, insbesondere das derzeitige Cannabis-Verbot, zu
umgehen . Untersuchungen haben gezeigt, dass die Kon-
sumentinnen und Konsumenten von Räuchermischun-
gen, in denen synthetische Cannabinoide enthalten sind,
natürliches, wesentlich risikoärmeres Cannabis bevorzu-
gen, jedoch vor der Beschaffung auf dem Schwarzmarkt,
der Nachweisbarkeit der natürlichen Cannabisstoffe in
Drogentests und dem Verlust des Führerscheins zurück-
schreckt . Durch Ihre Politik erhöhen Sie das Risiko für
die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Sie doch ei-
gentlich schützen wollen .
Das Stoffgruppenverbot wird zudem die Marktdyna-
mik verschärfen . Der Onlinehandel, der vor allem aus
Asien bedient wird, wird durch das Stoffgruppenverbot
nicht eingedämmt werden können . Die deutschen Straf-
verfolgungsbehörden haben allenfalls im Rahmen von
Kooperationen mit ausländischen Behörden Handlungs-
macht . Auch die Zollbehörden werden nicht in der Lage
sein, sämtliche Lieferungen aus dem Ausland an Privat-
personen zu kontrollieren . Hier sind allenfalls Stichpro-
ben möglich .
Das Stoffgruppenverbot wird auch das Katz- und
Mausspiel von Anbietern und Gesetzgeber nicht verhin-
dern . Die organisierte Kriminalität wird weitere Substan-
zen auf den Markt bringen, die weder dem Stoffgruppen-
verbot noch dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen .
Diese neuen Substanzen können mitunter weitaus ge-
fährlicher als „klassische“ Substanzen sein, da über ihre
Wirkung und mögliche gesundheitliche Risiken aufgrund
ihrer Neuartigkeit noch weniger bekannt ist .
Wie auch schon das Betäubungsmittelrecht, so wird
auch das Stoffgruppenverbot die Forschung und den
Erkenntnisgewinn über neue psychoaktive Substanzen
hemmen . Dieser wäre jedoch insbesondere für die me-
dizinische Versorgung sowie Prävention dringend er-
forderlich . Denn erst wenn aussagekräftige Ergebnisse
zum Risikopotenzial sowie Substanzanalyseverfahren
zur Verfügung stehen, kann eine optimale medizinische
Behandlung erfolgen . Gerade für die Behandlung in der
Notaufnahme bei Menschen mit Vergiftungserscheinun-
gen ist es wichtig, durch Analyseverfahren festzustellen,
um welche Droge es sich handelt, um die entsprechende
Therapie durchzuführen .
Obwohl die Bundesregierung immer betont, dass sie
in ihrer Drogenpolitik die Säule der Prävention nicht ver-
gisst, blendet sie eine Implementierung entsprechender
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618986
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verhaltenspräventiver Maßnahmen in ihren Gesetzent-
würfen regelmäßig aus . Vielmehr untergräbt das Verbot
Information und Aufklärung, da die neuen psychoakti-
ven Substanzen in die Illegalität gedrängt werden . Dabei
ist für einen verantwortungsvollen Umgang mit neuen
psychoaktiven Substanzen die Aufklärung über Kon-
sumrisiken und Suchtgefahren unerlässlich . Glaubhafte
Aufklärung trägt dazu bei, dass (potenzielle) Konsumen-
tinnen und Konsumenten Maßnahmen der Schadens-
minderung kennenlernen oder sogar ganz vom Konsum
absehen . Denn erst wenn ich weiß, um welchen Stoff es
sich handelt, können die Risiken benannt werden und
über diese aufgeklärt werden . Die Aufklärung kann auch
dazu beitragen, dass potenzielle Konsumierende von der
Idee oder dem Vorhaben, neue psychoaktive Substanzen
einzunehmen, Abstand nehmen . Auch die Wichtigkeit
der Etablierung des Drug Checkings, der sich die Bun-
desregierung seit Jahren in den Weg stellt, sei hier noch
einmal erwähnt . Nicht nur, dass auf diese Weise neue
Substanzen schneller identifiziert werden können. In der
Schweiz und den Niederlanden sind die Erfahrungen
mit Drug-Checking-Programmen positiv und tragen zur
Schadensminderung bei . Der Gesetzentwurf enthält noch
nicht einmal eine Regelung, durch die die Auswirkun-
gen des einzuführenden Stoffgruppenverbotes überprüft
werden .
Ziel einer modernen und am Menschen orientier-
ten Drogenpolitik muss immer sein, die Schäden durch
riskanten Drogenkonsum zu reduzieren . Ein regulierter
Markt, der sich an dem Gefährlichkeitspotenzial einer
Substanz orientiert und der verhältnispräventive sowie
verhaltenspräventive Maßnahmen berücksichtigt, kann
den Jugend- und Verbraucherschutz verbessern sowie
deutlich mehr Spielräume für glaubwürdige Suchtprä-
vention schaffen . Das Verbot und das Strafrecht sind hier
der falsche Ansatz und tragen nicht zur Schadensminde-
rung bei .
Darum fordern wir die Bundesregierung in unserem
Entschließungsantrag auf einen Gesetzentwurf vorzule-
gen, der folgende Aspekte berücksichtig: Erstens sollen
neue psychoaktive Substanzen auf Grundlage einer wis-
senschaftlichen Risikobewertung reguliert werden . Hier-
bei ist Rechtssicherheit zu schaffen, welcher Umgang mit
neuen psychoaktiven Substanzen erlaubt ist, insbesonde-
re in der Medizin, Wissenschaft und Forschung sowie In-
dustrie als auch für Konsumentinnen und Konsumenten .
Zweitens müssen suchtpräventive Maßnahmen eta-
bliert werden, um Konsumentinnen und Konsumenten
über die Risiken des Konsums neuer psychoaktiver Sub-
stanzen wirksam aufzuklären . Dazu gehören Maßnah-
men zur Schadensminderung wie die Einführung von
Drug-Checking-Projekten sowie die Sicherstellung des
Zugangs zu Hilfs- und Unterstützungsangeboten bei pro-
blematischem Konsumverhalten .
Drittens muss die Cannabis-Prohibition endlich been-
det werden und ein Regulierungssystem für eine staatlich
kontrollierte Abgabe von Cannabis geschaffen werden,
das einen wirksamen Jugend- und Verbraucherschutz so-
wie glaubhafte Suchtprävention sicherstellt und hilft, den
derzeitigen Schwarzmarkt auszutrocknen . Hierzu haben
wir bereits mit unserem grünen Entwurf eines Cannabis-
kontrollgesetzes einen konstruktiven Vorschlag gemacht,
den es nur noch zuzustimmen gilt .
Schließlich müssen die Forschungsvorhaben zu neuen
psychoaktiven Substanzen gefördert werden, um den Er-
kenntnisgewinn über die jeweiligen Substanzen zu erhö-
hen, eine Bewertung des Gefährlichkeitspotenzials zu er-
möglichen, Substanzanalyseverfahren zu entwickeln und
zu verbessern sowie medizinische und therapeutische
Leitlinien zur Behandlung von Konsumierenden im Not-
fall sowie bei Abhängigkeitserkrankungen zu erarbeiten .
Anlage 23
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
abfallverbringungsrechtlicher Vorschriften
(Tagesordnungspunkt 29)
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Wir beraten heu-
te abschließend einen Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zum Abfallrecht . Es handelt sich um das Gesetz zur
Änderung abfallverbringungsrechtlicher Vorschriften .
Lassen Sie mich einen kurzen Überblick darüber geben,
um was es bei diesem Gesetz geht .
Das Außerlandesschaffen von gefährlichem Abfall
hatte in Europa über Jahrzehnte eine traurige Tradition .
Bis in die 70er-Jahre wurde sogenannter Giftmüll, den
man selbst nicht vernünftig entsorgen konnte oder woll-
te, illegal über die Landesgrenze gebracht . Ein erster
Schritt zur Bekämpfung dieser Zustände war das Baseler
Abkommen, dem Deutschland 1995 beitrat . Das Abkom-
men stellte erstmals weltweit geltende Regelungen über
den Export von gefährlichen Abfällen auf . Abfallexporte
benötigen seitdem die Zustimmungen der Behörden des
Ausfuhrlandes, sämtlicher Durchfuhrländer sowie des
Einfuhrlandes .
Aufbauend auf dem Baseler Abkommen traten in der
Folge eine ganze Reihe von europäischen und nationa-
len Gesetzen und Verordnungen in Kraft . Maßgeblich für
Deutschland ist hier das Abfallverbringungsgesetz von
1994 . Sie alle hatten und haben das Ziel, den illegalen
In- und Export von gefährlichen Abfällen zu kontrollie-
ren und gegebenenfalls zu unterbinden .
Leider ist die Situation auch heute noch unbefriedi-
gend . Noch immer gibt es zu viele Fälle illegaler Abfall-
transporte, ob bei Einfuhr oder Ausfuhr . Deutschland ist
die größte Volkswirtschaft Europas im Herzen des Konti-
nents . Wir haben Tag für Tag unzählige Warentransporte
über unsere Landesgrenzen . Angesichts der Umweltbe-
lastung von gefährlichem Abfall sehe ich keine andere
Möglichkeit, als die Kontrollmöglichkeiten weiter zu
verschärfen .
Gleichzeitig hat die Vergangenheit gezeigt, dass beste-
hende Straftatbestände bei Verstößen gegen das Abfall-
verbringungsgesetz nicht genau genug definiert waren.
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18987
(A) (C)
(B) (D)
Beides wird der vorliegende Gesetzentwurf nun ver-
bessern: eine effektivere Bekämpfung illegaler Abfall-
transporte durch verbesserte Kontrollmöglichkeiten
einerseits, eine größere Rechtssicherheit bei Verstößen
durch klare und vermehrte Straftatbestände andererseits .
Wir erreichen dies durch zweierlei: Erstens passen wir
das deutsche Abfallverbringungsgesetz an, und zwar an
die EG-Verordnung über die Verbringung von Abfällen .
Diese wird dahin gehend geändert, dass die Mitgliedstaa-
ten der EU bis Anfang 2017 Kontrollpläne erstellen müs-
sen . Diese regeln genau, welche Kontrollen nach EG-Ver-
ordnung durchzuführen sind und durchgeführt wurden .
Die Kontrollpläne selbst müssen regelmäßig überprüft
und aktualisiert werden . Werden künftig gefährliche Ab-
fälle über Landesgrenzen hinweg transportiert und wird
dies nicht ausreichend durch entsprechende Nachweise
vollständig dokumentiert, gilt dieser Transport künftig
von den Behörden als illegale Verbringung . Außerdem
wird das Umweltbundesamt dazu verpflichtet, alle ille-
galen Abfalltransporte in seinem jährlichen Bericht zu
veröffentlichen .
Der zweite Aspekt des Gesetzes betrifft Sanktionen
bei Verstößen . Hierzu werden Strafvorschriften für Ver-
stöße gegen die EU-Verordnung in das Abfallverbrin-
gungsgesetz eingefügt. Künftig verpflichtet bereits das
Abfallverbringungsgesetz, illegale Abfalltransporte zu
sanktionieren, und zwar strafrechtlich . Es wurden Vor-
schriften aufgenommen, die zum Teil bestimmten Para-
grafen des Strafgesetzbuches entsprechen . Bei schwe-
ren Verstößen gegen das Abfallverbringungsgesetz sind
künftig bis zu zehn Jahre Haft möglich . Darüber hinaus
werden neue Bußgeldtatbestände aufgenommen: Fehlen
beispielsweise Dokumente eines Abfalltransportes oder
sind diese unvollständig, ist ein Bußgeld zu entrichten .
Mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf setzen wir
nicht nur eine EU-Vorgabe eins zu eins um . Der Entwurf
ist ein Baustein hin zur nachhaltigen Entwicklung . Denn
er trägt maßgeblich dazu dabei, die illegale Beseitigung
von Abfällen zu bekämpfen . Ich bin mir sicher, dass wir
Gesundheitsrisiken und -gefahren, die von illegalen Ab-
fällen ausgehen, weiter senken können .
Vor allem aber wird das Gesetz dazu führen, dass
künftig mehr Abfälle umweltgerecht entsorgt werden .
Die neuen Straf- und Bußgeldtatbestände werden dazu
nicht zuletzt eine abschreckende Wirkung entfalten .
Außerdem exportieren wir mit dem Gesetz sozusagen
den Umweltschutz in unsere Nachbarländer: Künftig
wird es deutlich schwieriger, illegale Abfälle außer Lan-
des zu schaffen . Gleiches gilt natürlich auch in umge-
kehrter Richtung: Illegale Einfuhren gefährlicher Abfälle
nach Deutschland werden erschwert .
Alles in allem ist dieser Gesetzentwurf ein wesent-
licher Baustein, unser Abfallrecht umweltgerechter,
rechtssicherer und nachhaltiger zu gestalten .
Michael Thews (SPD): Noch Anfang der 70er-Jah-
re war auch in den Industriestaaten eine kostengünstige
Entsorgung fast aller Abfälle in der Nähe des jeweiligen
Entstehungsortes möglich, sodass für einen Export von
Abfällen fast kein Anreiz bestand . Der Ex- und Import
von Abfällen, die sogenannte grenzüberschreitende Ab-
fallverbringung, war also zunächst relativ bedeutungslos .
Dies hat sich in den folgenden Jahrzehnten stark ver-
ändert . Der Anstieg der Abfallmengen Preissteigerungen
bei der Abfallbeseitigung, bzw . -verwertung, aber auch
die wesentlich höheren technischen Anforderungen bei
der Beseitigung und Verwertung von Abfällen führten
zu einer Zunahme der illegalen Abfallbeseitigung in
Deutschland und der Zunahme des Exportes von Abfäl-
len, teils legal, teils illegal ins Ausland . International, in
der EU und auch national wuchs die Erkenntnis, dass
die Abfallverbringung geregelt werden muss . Bereits in
den achtziger Jahren erließ die EU eine erste Verord-
nung hierzu . 1989 schließlich wurde das Basler Über-
einkommen verabschiedet . Zunächst regelte das Basler
Übereinkommen nur die Beseitigung von gefährlichen
Abfällen . Die Europäische Union hat die Richtlinien des
Basler Übereinkommens in der EU-Abfallverbringungs-
verordnung für alle Mitgliedstaaten rechtsverbindlich
umgesetzt . Sie wurde durch die Verordnung (EG)
Nr . 1013/2006 des Europäischen Parlaments und des Ra-
tes (vom 14 . Juni 2006) über die Verbringung von Abfäl-
len (kurz: Verbringungsverordnung Abfall) ersetzt .
Sie ist seit dem 15 . Juli 2006 in Kraft, kam ab dem
12 . Juli 2007 zur Anwendung und ersetzte die älteren
Verordnungen . Seitdem werden diese Regeln, nämlich
Basler Übereinkommen, OECD-Regeln und die Europä-
ische Verbringungsverordnung Abfall ständig den geän-
derten technischen Veränderungen und neuen Erkennt-
nissen angepasst .
Heute sprechen wir wieder über ein Gesetz zur Ände-
rung abfallverbringungsrechtlicher Vorschriften . Dabei
handelt es sich um die Anpassung der deutschen Vor-
schriften an die im Jahre 2014 geänderte EU-Verordnung .
Es geht hauptsächlich um die verbesserte Bekämp-
fung illegaler Müllexporte . Unter anderem werden die
Kontrollen durch die Einführung höherer Anforderungen
an die zu erstellenden Nachweise vereinfacht .
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass
bei der Kontrolle der Abfallverbringung noch Lücken be-
stehen, die geschlossen werden müssen . Auch innerhalb
der Europäischen Union ist der illegale Export von Ab-
fällen, auch von gefährlichen Abfällen, immer noch ein
großes Problem .
Es gibt immer noch schwarze Schafe in der Entsor-
gungswirtschaft oder, besser gesagt, Kriminelle, die um
des Profites willen Umwelt und Gesundheit unserer Bür-
gerinnen und Bürger gefährden . Immer noch wird Abfall
zu billigen, aber technisch nicht zugelassenen Anlagen
im Ausland transportiert, um Geld zu sparen . Oder Ab-
fälle werden als Ware deklariert, um sie dann irgendwo
billig auf illegalen Deponien zu beseitigen .
Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Bestimmun-
gen zur Abfallverbringung verschärft werden . Besonders
wichtig ist, dass die Anforderungen an die Nachweise
erhöht wurden . Es ist für die kontrollierenden Behörden
wichtig zu wissen, als was der zu exportierende Abfall
deklariert wird . Es ist wichtig zu wissen, aus was der
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618988
(A) (C)
(B) (D)
Abfall besteht und zu welchen Behandlungsanlagen der
Abfall verbracht wird .
Die Neuregelung erlaubt den Behörden jetzt auch, ge-
nau nachzufragen, zum Beispiel nach der genauen Zu-
sammensetzung des Abfalles oder nach dem technischen
Stand der Abfallbehandlungsanlagen . Die bisherige Un-
klarheit im Gesetz wird damit beseitigt .
Nur mit diesem Basiswissen ist es überhaupt möglich,
festzustellen, ob die Abfälle korrekt eingestuft wurden
und eine korrekte Behandlung erfolgt . Die Behörden
brauchen diese Information, um zu klären, was eine lega-
le oder illegale Abfallverbringung ist .
Dass das Fehlen der vorgeschriebenen Nachweise
bzw . deren fehlerhafte Ausfüllung als illegale Verbrin-
gung eingestuft wird, ist ein sehr wichtiger, ergänzender
Schritt in die richtige Richtung . Den zuständigen Behör-
den wird damit der Vollzug erleichtert, illegale Müllex-
porte können so schneller gestoppt und bestraft werden .
Letztlich bleibt es aber dabei: Um illegale Abfallver-
bringung zu verhindern, sind qualifizierte Kontrollen
nötig . Dafür muss Personal vorhanden sein und dieses
Personal muss geschult sein . Die heute vorliegenden
Gesetzesänderungen bieten Möglichkeiten, die Kontrol-
len zu verbessern, aber sie müssen auch stattfinden. Zur
Vereinfachung sollte man, insbesondere bei gefährlichen
Abfällen, auch die Einführung elektronischer Nachweise
prüfen .
Wichtig für den verbesserten Vollzug ist auch unser
Änderungsantrag . Anordnungen der Behörden zur siche-
ren Lagerung von Abfällen dienen der Vermeidung von
Umweltgefahren durch Abfälle, deren grenzüberschrei-
tender Transport womöglich nicht ordnungsgemäß ist .
Diese Anordnungen sind dringliche Angelegenheiten .
Damit nun die Behörden nicht in jedem Einzelfall die
sofortige Vollziehbarkeit dieser Verfügungen anordnen
müssen, wollen wir, dass Widerspruch und Anfechtungs-
klage gegen diese Anordnungen keine aufschiebende
Wirkung haben .
Die Aufstellung von Kontrollplänen soll ebenfalls
für verbesserten Vollzug sorgen . Die Pläne sollen unter
anderem dafür sorgen, dass rechtzeitig die für die Kont-
rollen notwendigen Kapazitäten geschaffen werden . Die
Aufstellung der Pläne mit der Verpflichtung zur Zusam-
menarbeit ist für die Bundesländer sicherlich mit einigem
Verwaltungsaufwand verbunden . Um aber überhaupt
feststellen zu können, wie effektiv die Kontrollen sind,
sind sie meines Erachtens eine notwendige Maßnahme .
Ich plädiere aber dafür, dass diese Kontrollpläne nach
einiger Zeit auch im Hinblick auf ihre Durchführung,
auf ihren Nutzen und Effektivität überprüft werden . Die
Kontrollpläne dürfen keine Papiertiger sein, sie müssen
zu einer verbesserten Bekämpfung des illegalen Müllex-
portes führen .
Ich hoffe, dass wir mit dieser Gesetzesänderung Er-
folg haben, gleichzeitig bin ich mir aber sicher, dass die-
se Novelle nicht die letzte sein wird . Die Bekämpfung
illegaler Müllbeseitigung ist eine dauerhafte Aufgabe .
Wir müssen diesen Bereich immer beobachten, um neue
Schlupflöcher zu schließen und Gefahren abzuwehren.
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Müll – egal ob es sich
um Sondermüll, Elektronikschrott oder normalen Haus-
müll handelt: Wann immer damit gehandelt wird, bürdet
jemand gegen eine Geldleistung das Entsorgungsproblem
jemand anderem auf . Das ist für den einen eine bequeme
Lösung und für den anderen ein großes, profitträchtiges
Geschäftsfeld . Leider werden bei diesen Geschäften mit
Müll allzu oft ökologische Standards umgangen und ver-
nünftiges Recycling vermieden, weil das Extraprofite
bringt . Die Müllexportrate der EU erreicht regelmäßig
neue Rekordstände; was außerhalb der EU passiert, prüft
niemand, und zusätzlich wird ein viel zu großer Teil des
Mülls illegal entsorgt . Unklare Regelungen in der Ge-
setzgebung erschwerten die Verfolgung von zwielichti-
gen Müllgeschäften .
Dagegen will die EU härter und gezielter vorgehen,
und der vorliegende Gesetzentwurf gießt das EU-Recht
nun in nationales Recht .
Die Linke begrüßt dies und hält auch die Maßnahmen,
mit denen illegale Tatbestände konkretisiert werden und
mit denen die Zusammenarbeit der Behörden besser ge-
regelt werden soll, für richtige Schritte .
Wir bezweifeln allerdings, dass allein mit der No-
vellierung des Rechts in der Praxis Abhilfe geschaffen
wird, solange es beim Vollzug des europäischen Umwelt-
rechts – auch in Deutschland – weiter eklatante Defizi-
te gibt . Die besten Verordnungen und Regelungen hel-
fen dem Umweltschutz nicht weiter, wenn niemand sie
durchsetzt . Ohne Kontrollen und Überprüfungen ist es
unmöglich, illegale Machenschaften konsequent zu ver-
folgen . Besonders die Bundesländer haben Probleme, im
Bereich der Abfallverbringung ausreichend Kontrollen
durchzuführen . Im Umweltrecht scheitert die Durchset-
zung nämlich leider allzu oft an mangelnder Finanzaus-
stattung und zu wenig Personal .
Man gewinnt ohnehin den Eindruck, dass die Um-
setzung des bestehenden Umweltrechts stiefmütterlich
vernachlässigt wird, so, als handele es sich bei Umwelt-
vergehen um Kavaliersdelikte und nicht um Verbrechen,
die unsere Gesundheit und unsere Lebensgrundlagen
gefährden . Die Bundesländer betreiben zu oft die durch
Schuldenbremsen erzwungenen Haushaltseinsparungen
zulasten der Kontrollbehörden, was schamlos von zwie-
lichtigen Unternehmen ausgenutzt wird . Die deutlich
höheren Folgekosten müssen wir dann alle tragen – ein
kurzsichtiges schlechtes Geschäft .
Die Linke regt deshalb an, jede Verbesserung des Um-
weltrechts gleichzeitig mit einem Durchführungsplan zu
flankieren, der sicherstellt, dass er die Verwaltungen in
die Lage bringt, die Vorgaben durchzusetzen . Da reicht
die personelle und finanzielle Ausstattung der Behörden
allein mitunter nicht aus . Der Gesetzgeber ist selbst ge-
fragt, seine eigenen Regelwerke auf Konsistenz und Um-
setzbarkeit zu prüfen .
In Deutschland stand im Elektrogerätegesetz, dass es
verboten ist, Akkus in Geräten wie Smartphones und Ta-
blets fest, also nicht austauschbar, zu verbauen . Das hatte
einen tieferen Sinn: Neben Verbraucherschutz und länge-
rer Nutzbarkeit sollte so ein ordentliches Recycling der
Geräte und Akkus garantiert werden, um damit insgesamt
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18989
(A) (C)
(B) (D)
Ressourcen zu schonen . Trotz dieses Verbotes wurden in
Deutschland munter überall Geräte verkauft, in denen
Akkus fest eingebaut waren . Das Problem war, dass die
Behörden keine Durchführungsermächtigung für dieses
Verbot bekommen hatten . Es gab schlicht keine Behör-
de, die die Einhaltung des Verbots prüfen und Verstöße
ahnden konnte . Doch statt das Verbot durchzusetzen, ent-
schied sich die unionsgeführte Koalition gegen Verbrau-
cher- und Umweltschutz und strich einfach dieses Verbot
aus dem Gesetz; das ist ein klarer Rückschritt .
In Anbetracht dieses Beispiels fordert Die Linke die
Bundesregierung und die Regierungskoalition auf, die
vorgelegte Gesetzesnovelle auf ihre Konsistenz und Um-
setzbarkeit zu prüfen und mit entsprechendem Personal
und Befugnissen sicherzustellen, dass die neuen, wirk-
lich guten Regelungen auch umgesetzt werden können .
Beim Einsatz für Verbraucher-, Gesundheits- und Um-
weltschutz haben Sie unsere Unterstützung .
Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wenn es schon in dieser Legislaturperiode aufgrund
der Blockaden in der großen Uneinigkeitskoalition kein
ewig angekündigtes und dringend nötiges Wertstoffge-
setz geben wird, müssen wir ja schon froh sein, wenn
es überhaupt ein Gesetzentwurf zum Abfallrecht bis in
das Plenum des Deutschen Bundestages schafft . So hatte
Hendricks im Februar 2014 angekündigt, den EU-Emis-
sionshandel so rasch wie möglich wieder vom Kopf auf
die Füße zu stellen, und sie wollte insgesamt zwei Mil-
liarden Emissionszertifikate dauerhaft aus dem Markt
nehmen, was bis heute nicht geschehen ist . Aus welchen
Gründen diese Ankündigung bisher scheiterte, darüber
kann nur spekuliert werden . Auch ist nicht ersichtlich
aus, welchen Gründen sich Bundesministerin Hendricks
bei den Abgasmessungen RDE-Gesetzgebung mit den
Konformitätsfaktoren 1,6 und dann 1,2 nicht durchset-
zen konnte, obwohl sie diese 2015 als „Riesenfortschritt“
bezeichnet hatte .
Gleiches gilt für die Forderungen der Umweltminis-
terin eine verpflichtenden Quote für Elektrofahrzeuge
einzuführen, den Biospritanteil bei 5 Prozent zu deckeln,
die Agrarsubventionen in ihrer bisherigen Form abzu-
schaffen und öffentliche Gelder nur noch für öffentliche
Leistungen im Agrarsektor auszugeben oder die Natur-
schutzoffensive 2020 voranzubringen . Um nur einige
wenige Beispiele zu nennen . So reden wir heute also über
das Gesetz zur Änderung abfallverbringungsrechtlicher
Vorschriften .
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
begrüßt ausdrücklich das Gesetz zur Änderung abfallver-
bringungsrechtlicher Vorschriften . Denn eine verbesserte
Bekämpfung der illegalen Entsorgung von Abfällen ist
dringend geboten . Gerade angesichts der immer wie-
derkehrenden Müllskandale wie etwa in Sachsen oder
Sachsen Anhalt ist die Umsetzung der EU-rechtlichen
Vorgaben durch die Anpassung des Abfallverbringungs-
gesetzes an EU-Recht notwendig . Die in dem Gesetz-
entwurf vorgeschlagene Regelung, dass die Länder mit
den zuständigen Zollbehörden und dem Bundesamt für
Güterverkehr bezüglich der Inhalte der Kontrollpläne
Einvernehmen herbeiführen, ist fachlich sinnvoll . Auch
die strafrechtlichen Sanktionen, die in dem Gesetzent-
wurf bezüglich illegaler Entsorgung gefährlicher Abfälle
und nicht gefährlicher Abfälle vorgesehen sind, sind zu
begrüßen . Denn auch Abfälle, von denen keine Gefahr
aufgrund von Strahlung oder chemischer Zusammenset-
zung ausgeht, können schädlich für die Gesundheit von
Bürgerinnen und Bürgern oder gefährlich für Wasser und
Boden sein .
Leider wurden nicht alle Änderungsvorschläge der
Länder übernommen, die den Vollzug vereinfacht und
geringere Bürokratiekosten bedeutet hätten . Daher ent-
halten wir uns .
Anlage 24
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchfüh-
rung der Verordnung (EU) Nr. 655/2014 sowie zur
Änderung sonstiger zivilprozessualer Vorschriften
(EuKoPfVODG)
(Tagesordnungspunkt 30)
Sebastian Steineke (CDU/CSU): Mit der Verord-
nung Nummer 655/2014 der Europäischen Union hat
Brüssel einheitliche Regelungen zur Einführung eines
Verfahrens für einen Europäischen Beschluss zur vorläu-
figen Kontenpfändung im Hinblick auf die Erleichterung
der grenzüberschreitenden Eintreibung von Forderungen
in Zivil- und Handelssachen geschaffen . Ab dem 18 . Ja-
nuar 2017 gilt sie in allen EU-Mitgliedstaaten außer in
Großbritannien und Dänemark . Sie soll die Eintreibung
grenzüberschreitender Forderungen für Bürgerinnen und
Bürger und Unternehmen erleichtern und die Vollstre-
ckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Han-
delssachen in Streitfällen mit grenzüberschreitendem
Bezug vereinfachen . Hintergrund ist, dass Gläubiger in
allen EU-Mitgliedstaaten unter denselben Bedingungen
Beschlüsse zur vorläufigen Kontenpfändung erwirken
können .
Zwar gilt die EU-Kontenpfändungsverordnung bei
uns unmittelbar, dennoch waren im Hinblick auf die
Besonderheiten im deutschen Recht ergänzende Durch-
führungsvorschriften notwendig, die der vorliegende Ge-
setzentwurf beinhaltet . Das umfangreiche Gesetz wirkt
auf den ersten Blick sehr kleinteilig und außerordentlich
technisch . Beim näheren Hinsehen haben wir jedoch
noch Beratungsbedarf gesehen . Das Ergebnis der Bera-
tungen haben wir als Koalitionsfraktionen in unserem
Änderungsantrag formuliert .
Ich möchte hier nur auf einige wenige Dinge eingehen,
die aus unserer Sicht wichtig sind . Zunächst zum Kern
der Verordnung: Künftig soll ein einheitlicher Beschluss
zur vorläufigen Kontenpfändung ergehen, der von der
Bank umzusetzen ist . Im deutschen Recht haben wir da-
gegen zwei gerichtliche Entscheidungen: das Verfahren
auf Anordnung des Arrests nach §§ 916 ff . der Zivilpro-
zessordnung sowie die Vollziehung des Beschlusses nach
§§ 928 bis 930 der Zivilprozessordnung . Nach der Erwir-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618990
(A) (C)
(B) (D)
kung eines Arrestbeschlusses folgt also in einem zweiten
Schritt der Pfändungsbeschluss . Für grenzüberschreiten-
de Fälle ist nur noch ein Beschluss vorgesehen . Die nati-
onalen Wege bleiben aber weiter möglich .
Neben einigen richtigen Anmerkungen des Bundesra-
tes, die wir in den Änderungsantrag eingearbeitet haben,
waren uns, insbesondere nach intensiven Gesprächen mit
Praktikern und Gerichtsvollziehern, noch weitere Ände-
rungen wichtig . Unser Antrag sieht unter anderem den
Wegfall der Untergrenze von 500 Euro in den §§ 755 Ab-
satz 2 und 802l Absatz 1 der Zivilprozessordnung vor .
Das bedeutet, dass Gerichtsvollzieher zukünftig auch
bei zu vollstreckenden Ansprüchen, die unter 500 Euro
liegen, den Aufenthaltsort des Schuldners bei anderen
Behörden ermitteln können . Das Gleiche gilt für die Er-
mittlung des Arbeitgebers des Schuldners sowie die Er-
mittlung der vom Schuldner geführten Konten oder der
vom Schuldner gehaltenen Kraftfahrzeuge . Nach unserer
Auffassung besteht kein sachlicher Grund für das Beste-
hen dieser Grenze bei Drittabfragen . Gerichtsvollzieher
waren bei derartigen Verfahren immer auf die Selbstaus-
kunft des Schuldners angewiesen . Knapp die Hälfte aller
Fälle betrifft Verfahren, bei denen die Wertgrenze von
500 Euro unterschritten wird . Das heißt, dass eine nicht
unerhebliche Zahl aller Ansprüche davon betroffen ist .
Schuldner, die eine Vermögensauskunft bislang pflicht-
widrig nicht abgegeben haben, mussten zudem mit der
Beantragung eines Haftbefehls nach § 802g der Zivil-
prozessordnung rechnen . Vor diesem Hintergrund kann
durch die Streichung der Wertgrenze auch die Anzahl der
Anträge auf Erlass eines Haftbefehls wegen geringfügi-
ger Forderungen deutlich reduziert werden . Der Grund-
rechtseingriff im Rahmen einer Drittauskunft ist unzwei-
felhaft geringer als der Entzug der Freiheit .
Nicht zuletzt ist es kaum noch begründbar, weshalb
Forderungen unter 500 Euro weniger schutzwürdig sein
sollen als solche, die darüber liegen . Insbesondere Rech-
nungen von kleinen und mittelständischen Unterneh-
men oder von Handwerkern bewegen sich oftmals im
Bereich unterhalb der Wertgrenze . Insofern erleichtern
wir besonders in diesen Fällen das Verfahren . Uns war
es wichtig, hier einen Gleichklang der unterschiedlichen
Vorschriften in den Mitgliedstaaten herzustellen . Es kann
nicht sein, dass deutsche Gläubiger gegenüber anderen
benachteiligt werden . Hier hatten wir rechtliche Beden-
ken, die wir mit dem Änderungsantrag ausräumen .
Weiterhin enthält unser Änderungsantrag mit der Er-
gänzung von § 882c Absatz 1 der Zivilprozessordnung
die Feststellung, dass die Anordnung der Eintragung des
Schuldners in das Schuldnerverzeichnis Teil des Voll-
streckungsverfahrens ist . Der Gerichtsvollzieher soll in
jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Erledigung
bedacht sein . Dies gilt auch bei und nach Zustellung der
Eintragungsanordnung . Oftmals zeigt sich in der Praxis,
dass ein Schuldner erst mit der Zustellung der Eintra-
gungsanordnung seine Bereitschaft zeigt, eine gütliche
Einigung in Betracht zu ziehen . Zugleich regeln wir da-
mit, dass die Auslagen für die Zustellung der Eintragung
in das Schuldnerverzeichnis auch gegenüber dem Gläu-
biger als Auftraggeber im Sinne des Gerichtsvollzieher-
kostengesetzes in Ansatz gebracht werden können . Der
Bundesgerichtshof hat am 21 . Dezember 2015 entschie-
den, dass es sich hier um eine Amtszustellung handelt
und der Gläubiger im Eintragungsanordnungsverfahren
damit als Kostenschuldner ausschied . Mit der Neurege-
lung schaffen wir nicht nur eine gerechte Lösung, son-
dern entlasten auch in erster Linie unsere Bundesländer .
Der letzte wichtige Punkt, den ich hier erwähnen
möchte, ist die Einfügung einer zusätzlichen Num-
mer 208 im Kostenverzeichnis zum Gerichtsvollzie-
herkostengesetz . Die Gebühr Nummer 207 gilt nur für
solche Fälle, in denen eine gütliche Einigung explizit
und anstatt einer Vollstreckung beauftragt wird . Der Ge-
richtsvollzieher berechnet in Vollstreckungsverfahren,
in denen im Sinne von § 806b der Zivilprozessordnung
auch die gütliche Einigung versucht werden muss, nur
die Gebühr für das Vollstreckungsverfahren . Dies ist aus
unserer Sicht nicht sachgerecht . Der Arbeitsaufwand der
Gerichtsvollzieher für eine gütliche Einigung wird nach
geltendem Recht nicht ausreichend honoriert . Wird dem
Gerichtsvollzieher zukünftig der Auftrag erteilt, den Ver-
such einer gütlichen Erledigung zu unternehmen sowie
eine Pfändung vorzunehmen, so erhält er neben der Ge-
bühr für die Pfändung in Höhe von 16 Euro eine zusätz-
liche Gebühr in Höhe von 8 Euro für den Versuch der
gütlichen Erledigung .
Ich möchte mich bei unserem Koalitionspartner und
speziell beim Kollegen Dirk Wiese für die konstruktive
Zusammenarbeit bei der Gesetzesberatung bedanken .
Bei diesen doch sehr technischen Regelungen war es
wichtig, praktikable Lösungen zu finden. Dies ist uns
durchaus gut gelungen .
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Bereits aus dem
Jahr 2014 datiert die Kontenpfändungsverordnung der
Europäischen Union . Mit der heutigen Beratung soll
durch die Anpassung der zivilprozessualen Vorschriften
die Durchführbarkeit der Verordnung garantiert werden .
Das Arrestverfahren mit einem Kontenpfändungsbe-
schluss ist ein notwendiges und praktiziertes Mittel zur
Sicherung der Zwangsvollstreckung . Im Vordergrund
steht weniger die Befriedigung des Gläubigers, als viel-
mehr die Sicherheit, in das Konto des Schuldners über-
haupt vollstrecken zu können . Das Verfahren in der
europäischen Kontenpfändungsverordnung ist mit den
Vorschriften der Zivilprozessordnung strukturell ver-
gleichbar .
Die Verordnung verfolgt ein wichtiges Ziel . Den Gläu-
bigern soll die Eintreibung grenzüberschreitender Forde-
rungen erleichtert und die Vollstreckung durch Pfändung
ausländischer Konten vereinfacht werden . Das Verfahren
findet in allen teilnehmenden EU-Mitgliedstaaten unter
denselben Voraussetzungen Anwendung . Alle Gläubiger
sehen sich mit derselben Rechtslage und dem gleichen
Schutzniveau konfrontiert . Dies fördert die Rechtsklar-
heit und Rechtssicherheit im europäischen Rechtsraum .
Die Verordnung dient zur vereinfachten Eintreibung von
grenzüberschreitenden Forderungen nicht nur für Unter-
nehmen, sondern gleichermaßen für die Bürgerinnen und
Bürger . Es wird damit ein aktiver Beitrag zu mehr Ver-
braucherschutz geleistet .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18991
(A) (C)
(B) (D)
Mit den Änderungen der Zivilprozessordnung und
weiterer zivilprozessualer Regelungen möchten wir als
nationaler Gesetzgeber einen Beitrag zu mehr Rechtsklar-
heit und Rechtssicherheit bei der Eintreibung grenzüber-
schreitender Forderungen schaffen . Auf die Vielzahl der
gesetzlichen Änderungen soll nicht genauer eingegangen
werden . Ich möchte mich auf ein paar wesentliche As-
pekte beschränken, welche dem Rechtsanwender jedoch
erhebliche Erleichterungen bei der Durchsetzung des
Rechts verschaffen .
Vor Erlass der Verordnung musste im Vollstreckungs-
staat ein eigenständiges Vollstreckungsverfahren ein-
geleitet werden, um die Kontenpfändung zu erwirken .
Künftig erlässt das Gericht der Hauptsache den Be-
schluss zur vorläufigen Kontopfändung. Die Vorteile der
vereinfachten Rechtsdurchsetzung liegen auf der Hand:
Zeit- und Kostenaufwand werden erheblich reduziert .
Der Bürokratieabbau kommt allen Unternehmen und al-
len Bürgerinnen und Bürgern zugute .
Weniger Bürokratie ist ein positiver Beitrag zur Stei-
gerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen . Die
hohen Kosten durch das vorherige Verfahren werden
künftig wegfallen . Auch die Bürgerinnen und Bürger
werden wesentlich entlastet . Der Antrag beim Gericht,
wo der Titel bereits erwirkt wurde, schafft einen einfa-
cheren Zugang zum Recht . Das Vertrauen in das bekann-
te Justizsystem wird gestärkt .
Nicht zuletzt wird unvorhersehbaren Einflüssen im
Vollstreckungsstaat vorgebeugt . Der Beschluss zur
vorläufigen Kontopfändung ist von der kontoführen-
den Bank zu befolgen . Durch die Verbindlichkeit des
Beschlusses schaffen wir Struktur und Klarheit bei der
Rechtsdurchsetzung .
Weiterhin soll nicht unerwähnt bleiben, dass einige
Ergänzungen das Thema E-Justice betreffen . Der Einsatz
IT-gestützter Abläufe im Justizwesen ist aus dem Ge-
richtsalltag nicht mehr wegzudenken . Mit diesem Gesetz
wird ein weiterer Schritt hin zu einem vollständigen elek-
tronischen Vollstreckungsverfahren gemacht .
Ich kann mit gutem Gewissen um Zustimmung zu die-
sem Gesetzentwurf bitten .
Dirk Wiese (SPD): Heute beschließen wir das Gesetz
zur Durchführung der EU-Kontenpfändungsverordnung .
Ich glaube wir können mit Recht sagen, dass hier das
Struck’sche Gesetz wieder voll zur Geltung gekommen
ist: Kein Gesetz – und auch dieses – kommt aus dem
Parlament wieder so heraus, wie es eingebracht worden
ist . Das ist mit Sicherheit nicht immer von Vorteil, ge-
rade dann nicht, wenn man Kompromisse mit dem Ko-
alitionspartner machen muss, die einem vielleicht nicht
zu 100 Prozent gefallen . Bei dem vorliegenden Geset-
zesvorhaben verhält sich das jedoch völlig anders . In-
nerhalb der parlamentarischen Beratungen haben wir in
guten und konstruktiven Gesprächen mit den Kollegen
von der Union das Gesetz verbessert und optimiert . Mein
Kollege Herr Lange hat soeben den Gesetzentwurf noch
einmal mit seinen weiteren Änderungen vorgestellt . Ich
möchte mich deshalb auf die drei wichtigsten Punkte be-
schränken, die wir geändert haben .
Erstens . Wir haben die bestehende 500-Euro-Grenze
der §§ 755 II und 802l I ZPO für Drittabfragen abge-
schafft . Da Gläubiger solcher Forderungen ausschließ-
lich auf Selbstauskünfte der Schuldner angewiesen sind,
werden gerade kleinere Unternehmen mit kleineren For-
derungen hierdurch erheblich benachteiligt . Denn an-
ders als für Gläubiger von Forderungen über 500 Euro
bestand nach bisheriger Rechtslage für diese Gläubi-
ger auch nicht die Möglichkeit, bei einer unergiebigen
Meldeauskunft, etwa beispielsweise weil der Schuldner
seinen melderechtlichen Verpflichtungen nicht nach-
kam, den Aufenthaltsort über weitere behördliche Aus-
künfte zu ermitteln . Dadurch wurde die Durchführung
der Zwangsvollstreckung für diese Gläubiger von For-
derungen in geringerer Höhe erheblich erschwert . Mit
dem Wegfall der 500 Euro Grenze tragen wir somit dafür
Sorge, dass diese Ungleichbehandlung von Gläubigern
nicht mehr weiterbesteht .
Zweitens haben wir klargestellt, dass die Anordnung
der Eintragung des Schuldners in das Schuldnerverzeich-
nis Teil des Vollstreckungsverfahrens ist . Damit wird vor
allem klargestellt, dass Auslagen für die Zustellung der
Eintragungsanordnung auch gegenüber dem Gläubiger
als Auftraggeber nach § 13 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1
des Gerichtsvollzieherkostengesetzes geltend gemacht
werden können . Diese Verteilung ist nur recht und billig
und minimiert das Kostenrisiko für die Länder ungemein .
Drittens haben wir einer reduzierten Gebühr von
8 Euro für den Versuch einer gütlichen Erledigung der Sa-
che durch die Gerichtsvollzieher in den Fällen, in denen
gleichzeitig ein Auftrag zur Pfändung oder zur Abnahme
der Vermögensauskunft erteilt wurde, eingeführt . Denn
nach geltendem Recht fällt eine Gebühr für den Versuch
einer gütlichen Erledigung der Sache nur an, wenn der
Gerichtsvollzieher nicht gleichzeitig mit einer Maßnah-
me nach § 802a Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 oder Num-
mer 4 ZPO beauftragt ist . Hier wird jedoch nicht berück-
sichtigt, dass der Versuch einer gütlichen Erledigung der
Sache zum Teil mit einem erheblichen Arbeitsaufwand
des Gerichtsvollziehers verbunden ist . Und es macht hier
auch vom Arbeitsaufwand keinen Unterschied für den
Gerichtsvollzieher, ob er ausschließlich mit dem Versuch
einer gütlichen Erledigung beauftragt wurde oder ob der
Auftrag etwa gleichzeitig noch auf die Vornahme einer
Pfändung gerichtet ist . Daher ist es nur recht und billig,
dass der Versuch einer gütlichen Erledigung stets eine
Gebühr auslöst .
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Der Ge-
schäftsführer einer in Deutschland ansässigen mittelstän-
dischen GmbH wird von seiner Hausbank darüber be-
nachrichtigt, dass dort der Beschluss eines rumänischen
(oder griechischen etc .) Gerichts über die Anordnung ei-
ner vorläufigen Kontenpfändung vorliege; die Bank habe
aus diesem Grund alle geführten Geschäftskonten und
sämtliche Guthaben „eingefroren“ . Überweisungen, wie
Miete, Löhne etc ., würden fortan nicht mehr ausgeführt .
Der Unternehmer, der seinen gesamten Zahlungsverkehr
über die Bank abwickelt, ist sofort zahlungsunfähig im
Sinne des § 17 Absatz 2 InsO . Tags darauf wird dem Ge-
schäftsführer der Beschluss nebst Antrag über die vorläu-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618992
(A) (C)
(B) (D)
fige Kontenpfändung zugestellt. Beschluss und Antrag
sind in deutscher Sprache beigefügt und nehmen zum
Zweck der Anspruchsbegründung auf einen in rumäni-
scher Sprache gehaltenen Vertrag Bezug, der als Anlage
zwar beigefügt ist, für den aber – zulässig (vergleiche Ar-
tikel 49 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 28 Absatz 5 c)
der Verordnung (EU) Nummer 655/2014) – eine deutsche
Übersetzung fehlt . Aus der unter Hochdruck bis zum
nächsten Tag durchgeführten Vertragsübersetzung er-
fährt der Unternehmer den vermeintlichen Schuldgrund .
Dem Beschluss kann er entnehmen, dass ihm gegenüber
bislang kein Urteil oder sonstiger Titel in Rumänien er-
gangen sei, sondern ein Antragsteller einem rumänischen
Gericht „hinreichende Beweismittel“ vorgelegt habe, aus
denen sich „voraussichtlich“ ein Obsiegen des Antrag-
stellers in einem zukünftigen Hauptsacheverfahren sowie
eine tatsächliche Gefahr der Vollstreckungserschwerung
für den Fall der unterbleibenden Anordnung der vorläu-
figen Kontenpfändung ergebe. Zudem erfährt er den zu
vollstreckenden Betrag in Höhe von 500 000 Euro . Si-
cherheitsleistungen in dieser Größenordnung (vergleiche
Artikel 38 der Verordnung [EU] Nummer 655/2014) sind
der GmbH kurzfristig nicht möglich .
Der noch am selben Tag vom Unternehmer konsultierte
deutsche Anwalt erklärt, er könne nicht helfen, vielmehr
müsse ein rumänischer Anwalt gesucht und mandatiert
werden . Der Unternehmer kontaktiert daraufhin – nach
intensiver Suche nach einer rumänischen Anwaltskanz-
lei – am darauf folgenden Tag einen rumänischen Anwalt,
der angesichts der Eilbedürftigkeit ausnahmsweise ohne
Gebührenvorschuss tätig wird . Der rumänische Anwalt
fordert die Gerichtsakte an und bereitet in den kommen-
den Tagen – nach vielfacher, aufgrund der Sprachbarrie-
ren schwieriger Korrespondenz – den Antrag auf Wider-
ruf der vorläufigen Kontenpfändung gemäß Artikel 33
Absatz 1 a) der Verordnung (EU) Nummer 655/2014 vor .
Dem Widerruf wird vonseiten des rumänischen Gerichts
fünf Tage nach Antragstellung stattgegeben . In der Zeit
bis zur Antragsstattgabe ist die GmbH schutzlos vom
Zahlungsverkehr abgeschnitten, insolvenzantragspflich-
tig und akut existenzbedroht . Die GmbH ist nach § 15a
InsO insolvenzantragspflichtig; der Geschäftsführer ist
nicht erst nach Ablauf der Drei-Wochen-Frist, sondern
„unverzüglich“ zum Antrag verpflichtet. Sofern er für
die GmbH weitere Zahlungen vornimmt, beispielswei-
se aus Barmitteln, setzt er sich dem Haftungsrisiko nach
§ 64 GmbHG aus . Die eingetretene Zahlungsunfähigkeit
birgt zudem das hohe Risiko der Kündigung der Bank-
verbindung, insbesondere aber der Kündigung sonstiger
Vertragsbeziehungen wegen Zahlungsverzugs . Gegebe-
nenfalls können Sozialversicherungsabgaben auf bereits
ausgekehrte Löhne nicht an die Sozialversicherungsträ-
ger gezahlt werden .
Ein Horrorszenario – nicht in meiner Fantasie erdacht,
sondern in der Stellungnahme des Deutschen Anwalts-
vereins als Beispiel für das Wirken des heute hier zur
zweiten und dritten Lesung vorliegenden Gesetzent-
wurfes zur Durchführung der EU-Verordnung Num-
mer 655/2014 sowie zur Änderung sonstiger zivilprozes-
sualer Vorschriften dargestellt und zitiert .
Der Gesetzentwurf geht auf die am 15 . Mai 2014 er-
lassene EU-Verordnung zur Einführung eines Verfahrens
für einen Europäischen Beschluss zur vorläufigen Kon-
tenpfändung im Hinblick auf die Erleichterung der gren-
züberschreitenden Eintreibung von Forderungen in Zi-
vil- und Handelssachen (Amtsblatt L 189 vom 27 .6 .2014,
S . 59; im Folgenden: Europäische Kontenpfändungsver-
ordnung, EuKoPfVO) zurück. Diese Verordnung findet
ab dem 18 . Januar 2017 in allen EU-Mitgliedstaaten
außer dem Vereinigten Königreich und Dänemark An-
wendung . Ziel der Verordnung ist es, die Eintreibung
grenzüberschreitender Forderungen für Bürgerinnen und
Bürger und Unternehmen zu erleichtern und die Vollstre-
ckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Han-
delssachen in Streitfällen mit grenzüberschreitendem
Bezug zu vereinfachen . Gläubiger sollen in die Lage
versetzt werden, in allen EU-Mitgliedstaaten unter den-
selben Bedingungen Beschlüsse zur vorläufigen Konten-
pfändung zu erwirken . Zwar gilt die EuKoPfVO in der
Bundesrepublik Deutschland unmittelbar, jedoch bedarf
sie einiger ergänzender Durchführungsvorschriften .
Der Gesetzentwurf ist aus gleich mehreren Gründen
abzulehnen . So fehlt es bereits an einer klaren Rege-
lungskompetenz . Es ist nicht erkennbar, aus welchem
Grund das Instrumentarium der grenzüberschreitenden
Kontenpfändung für das reibungslose Funktionieren des
Binnenmarkts erforderlich sein soll .
Weiterhin weichen die tatbestandlichen Voraussetzun-
gen der grenzüberschreitenden vorläufigen Kontenpfän-
dung in ihren Grundzügen erheblich von vergleichbaren
Regelungen des deutschen Prozessrechts, insbesondere
von den zweistufigen Regelungen des Arrests, ab, zum
Beispiel:
Nach Artikel 5 a) der Verordnung (EU) Num-
mer 655/2014 kann der Antrag auf vorläufige Konten-
pfändung ohne vorhergehenden Titel gestellt werden;
für den Erlass eines Beschlusses zur vorläufigen Kon-
topfändung sind nach Artikel 6 a der Verordnung (EU)
Nummer 655/2014, sofern noch kein Titel vorliegt, „die
Gerichte des Mitgliedstaats, die gemäß den einschlä-
gigen anzuwendenden Zuständigkeitsvorschriften für
die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind“,
zuständig . Damit ist das zuständige Gericht oftmals in
einem anderen EU-Mitgliedstaat und nicht am Wohnort
des Schuldners . Ferner: Bei Pfändung muss der Schuld-
ner nach Artikel 14 Absatz 5 c der Verordnung (EU)
Nummer 655/2014 seine sämtlichen Bankdaten gegen-
über dem Gläubiger offenlegen; den Rechtsbehelf auf
Widerruf oder Abänderung des Beschlusses muss der
Schuldner grundsätzlich beim Gericht des Ursprungs-
lands geltend machen, Artikel 33 der Verordnung (EU)
Nummer 655/2014
Aus Schuldnersicht gewährleistet die Verordnung
(EU) Nummer 655/2014 weder nach verfassungsrecht-
lichen noch nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen
einen effektiven Rechtsschutz . Verfassungsrechtlicher
Justizgewährungsanspruch und Rechtsstaatsprinzip
fordern daher gerade im Arrestverfahren einen Rechts-
schutz, der im Zweifelsfall binnen weniger Stunden
umsetzbar sein muss . Entsprechend kurze Verfahrens-
dauern im einstweiligen Rechtsschutzverfahren werden
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18993
(A) (C)
(B) (D)
beispielsweise bei familienrechtlichen, sorgerechtlichen
oder kollektivarbeitsrechtlichen Verfahren im nationalen
Verfahren gewährleistet . Einen vergleichbaren Standard
effektiven Rechtsschutzes fordert auch das Gemein-
schaftsrecht über Artikel 47 der Charta der europäischen
Grundrechte in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 3 EUV
und über Artikel 6 EMRK .
Ausgehend von der zitierten Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts gebieten Artikel 19 Ab-
satz 4 Grundgesetz und Artikel 103 Grundgesetz, dass
gegen den Beschluss über eine vorläufige Kontenpfän-
dung nicht bloß theoretisch, sondern ganz praktisch ein
Rechtsschutz des Schuldners binnen weniger Stunden
gewährleistet sein muss . Gerade einen solchen effektiven
Rechtsschutz gewährleistet die Verordnung (EU) Num-
mer 655/2014 nicht, wie der eingangs dargestellte Bei-
spielsfall leicht veranschaulicht .
Schließlich führt die Verordnung zu einer Zersplitte-
rung und insbesondere Intransparenz des Zivilprozess-
rechts .
Der Deutsche Anwaltsverein, aus dessen Stellungnah-
me ich hier wiedergegeben habe, äußert sich zu der vor-
liegenden VO abschließend wie folgt:
„Auf Grundlage eines deutschen Verfassungsver-
ständnisses ist es dem DAV unverständlich, dass von
deutscher Seite der Erlass der Verordnung (EU) Num-
mer 655/2014 widerspruchslos akzeptiert wurde, insbe-
sondere, dass sämtliche Rechtsbehelfe gegen die vorläu-
fige Kontenpfändung – vorbehaltlich Artikel 6 Absatz 2
der Verordnung (EU) Nummer 655/2014 (Gerichtsstand
für Verbraucher) und Artikel 34 der Verordnung (EU)
Nummer 655/2014 – im Ursprungsstaat verfolgt werden
müssen . Nach Dafürhalten des DAV ist es auf europäi-
scher Ebene dringend geboten, von deutscher Seite ju-
ristisch wie politisch auf eine grundlegende Neukonzep-
tionierung der vorläufigen Kontenpfändung zu drängen
und bis dahin von Umsetzungsakten in deutsches Recht
Abstand zu nehmen .“
Daher sind nach Auffassung meiner Fraktion sowohl
der vorliegende Gesetzentwurf als auch die ihn begrün-
dende Verordnung abzulehnen .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der vor-
liegende Gesetzentwurf dient der Umsetzung der Europä-
ischen Kontenpfändungsverordnung vom 15 . Mai 2014 .
Diese Verordnung dient wiederum dazu, die Eintreibung
grenzüberschreitender Forderungen für Bürgerinnen und
Bürger und Unternehmen zu erleichtern und die Vollstre-
ckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Han-
delssachen in Streitfällen mit grenzüberschreitendem
Bezug zu vereinfachen . Gläubiger können dann in allen
EU-Mitgliedstaaten unter denselben Bedingungen Be-
schlüsse zur vorläufigen Kontenpfändung erwirken. Ein
Konto vorläufig zu pfänden heißt, es „einzufrieren“.
Es ist gut, dass Gläubiger ihre Forderungen inner-
halb der EU nun besser grenzüberschreitend durchsetzen
können . Aber es bleibt doch die Frage, warum die Bun-
desregierung sich in der EU nicht für einen effektiver-
en Schuldnerschutz eingesetzt hat, insbesondere bei den
Rechtsbehelfen gegen die vorläufige Kontopfändung.
Für ein kleines Unternehmen kann die Pfändung eines
Bankkontos die Existenzvernichtung bedeuten . Schnel-
ler und effektiver Rechtsschutz ist also bitter nötig, und
das noch viel mehr bei grenzüberschreitender Pfändung
in einem anderen europäischen Land . Die Anregung des
Deutschen Richterbundes, eine klarstellende Regelung in
§ 574 ZPO im Umsetzungsgesetz aufzunehmen, hat die
Bundesregierung in ihrem GE leider nicht aufgegriffen .
Die Europäische Kontopfändungsverordnung gilt in
Deutschland ab dem 18 . Januar 2017 unmittelbar und
bietet, abgesehen vom Erlass von Durchführungsvor-
schriften, wenig Umsetzungsspielraum .
Der Gesetzentwurf enthält aber auch Regelungen, die
über die Umsetzung der europäischen Verordnung hi-
nausgehen . Das BMJV hat die Gelegenheit genutzt, die
Umsetzung der EU-Verordnung mit einem „Reparaturge-
setz“ zu verbinden, um Klarstellungen und Ergänzungen
vorzunehmen, die nach Inkrafttreten des Gesetzes zur
Reform der Sachaufklärung am 1 . Januar 2013 erforder-
lich geworden sind . Die Halbwertzeit Ihrer Gesetze ist
wirklich nicht sehr lang .
Zu den Punkten, die in der Rechtspraxis sehr unter-
schiedlich angewendet und von den Gerichten uneinheit-
lich interpretiert wurden, zählt beispielsweise der Um-
fang der Aufenthaltsermittlung durch Drittabfragen nach
§ 755 und § 802l ZPO und der Umfang der zu vollstre-
ckenden Forderung .
Hier soll der Gesetzentwurf nun klarstellen, dass nicht
nur der Aufenthaltsort von natürlichen Personen ermit-
telt werden darf, sondern auch der Sitz eines Unterneh-
mens oder Gewerbetreibenden . Auch der Umfang der
Forderungen wird präzisiert . Allerdings schütten Sie das
Kind mit dem Bade aus, wenn Sie zugleich und in letzter
Minute die Bagatellgrenze von 500 Euro streichen und
außerdem regeln, dass der Gerichtsvollzieher in Zukunft
die Daten eines Schuldners, die er in einem Verfahren
erhoben hat, in einem weiteren Verfahren weiterverwen-
den darf .
Auch wenn Sie hier eine Grenze von drei Monaten
vorsehen, wird das weder dem Datenschutz noch dem
Schuldnerschutz gerecht . Auch der Deutsche Gerichts-
vollzieherbund, DGVB, kritisiert diese Vermischung
verschiedener Verfahren, vor allem deswegen, weil die
Gefahr einer Verzögerung und höherer Kosten bestehe .
Allerdings ist diese Regelung nicht nur aus prozessöko-
nomischer Sicht zu kritisieren, sondern auch aus da-
tenschutzrechtlichen Gründen . Denn auch im Zwangs-
vollstreckungsverfahren gilt der datenschutzrechtliche
Grundsatz der Erforderlichkeit, das heißt, dass nur die-
jenigen personenbezogenen Daten verarbeitet werden
dürfen, die für die Erfüllung der jeweiligen Aufgabe
benötigt werden . Es ist zwar richtig, dass Zwangsvoll-
streckung effektiv und aus Sicht des Gläubigers kosten-
günstig sein muss . Zwangsvollstreckung geschieht aber
nicht um jeden Preis, und die datenschutzrechtlichen Be-
lange des Schuldners müssen ausreichend berücksichtigt
werden . Im Vollstreckungsverfahren ist Schuldnerschutz
auch Datenschutz .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618994
(A) (C)
(B) (D)
Eine weitere Klarstellung des Gesetzentwurfs betrifft
die Eintragung des Schuldners in das Schuldnerverzeich-
nis durch das Amtsgericht . Diese Eintragung, die immer
dann erfolgt, wenn der Schuldner eine Versicherung an
Eides statt über seine Vermögensverhältnisse abgegeben
hat oder wenn gegen ihn ein Haftbefehl zur Erzwingung
der Abgabe dieser Versicherung erlassen worden ist, soll
nun Teil des Vollstreckungsverfahrens werden: § 882c
Abs . 1 ZPO-E . Diese Änderung wird an der Praxis der
Eintragung nichts ändern . Sie hat ihren Grund im Kos-
tenrecht, genauer: dem Gerichtsvollzieherkostengesetz .
Es wird nun klargestellt, welche Gebühren der Ge-
richtsvollzieher in Rechnung stellen darf, und das dient
dazu, für eine einheitliche Rechtsanwendung zu sorgen .
Das ist zu begrüßen, denn es fördert die Rechtssicher-
heit, wenn der Gläubiger weiß, mit welchen Kosten er im
Vollstreckungsverfahren zu rechnen hat, und diese Frage
nicht von Gerichten in jedem Einzelfall geklärt werden
muss .
Warum allerdings das zentrale Vollstreckungsgericht
nicht mehr von der Aufhebung der Eintragung unterrich-
tet werden muss und damit auch hier der Schuldnerschutz
eingeschränkt wird, erschließt sich nicht .
Auch mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf soll
die elektronische Kommunikation zwischen den Verfah-
rensbeteiligten vorangetrieben werden . Vollstreckungs-
auftrag und vollstreckbare Ausfertigung können zukünf-
tig unter den in § 754a ZPO-E genannten Bedingungen
elektronisch übermittelt werden . Hier, wie auch bei der
Einführung des besonderen elektronischen Anwalts-
postfachs, sind neben technischen und praktischen Be-
denken auch noch eine Reihe rechtlicher Fragen offen,
beispielsweise zu berufsrechtlichen Pflichten und zum
Datenschutz .
Wir finden es richtig, dass das Zwangsvollstreckungs-
verfahren effektiv und kostengünstig ausgestaltet sein
soll . Positiv ist auch zu bewerten, dass einige der gesetzli-
chen Klarstellungen und Ergänzungen zu mehr Rechtssi-
cherheit für die Gläubiger führen . Allerdings werden wir
dem Gesetz nicht zustimmen . Die viel zu weitgehenden
Regelungen zur Drittabfrage und Datenverwendung hal-
ten wir für datenschutzrechtlich nicht haltbar . Außerdem
haben wir Zweifel, dass dem Schuldnerschutz durch die
vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten ausreichend
Rechnung getragen wird .
Anlage 25
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
Bundesregierung: Verordnung zur Änderung der
Chemikalien-Klimaschutzverordnung (Tagesord-
nungspunkt 31)
Karsten Möring (CDU/CSU): Für die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion und für mich persönlich ist der
Klimaschutz ein zentrales Anliegen zur Bewahrung der
Schöpfung auch für künftige Generationen . Ein nachhal-
tiger, ressourcenschonender Umgang mit Natur, Umwelt
und Klima bildet dabei eine der wichtigsten Eckpfeiler .
Die heute vorgelegte Verordnung der Bundesregierung
trägt diesem Ziel Rechnung .
Um was geht es? Für einen aktiven Klimaschutz bei
der Verwendung von klimarelevanten fluorierten Gasen in
technischen Anwendungen hat die EU bereits 2006 eine
Verordnung über bestimmte fluorierte Treibhausgase so-
wie weiterführende Verordnungen mit Anforderungen an
Personal und Betriebe erlassen . Warum? Weil Treibhaus-
gase wie Kohlendioxid, Methan und die voll- und teil-
halogenierten Fluorkohlenwasserstoffe (FKW, H-FKW)
die kurzwelligen Sonnenstrahlen ungehindert durch die
Atmosphäre auf die Erdoberfläche treffen lassen, die
sich dadurch erwärmt . Die von der Erde zurückgestrahlte
Wärmeenergie (sogenannte terrestrische Strahlung) wird
aber von den Treibhausgasen absorbiert . Es kommt zu
einer zusätzlichen Erwärmung der Erdatmosphäre, dem
sogenannten Treibhauseffekt, wenn die Konzentration
dieser Treibhausgase in der Atmosphäre zu hoch ist bzw .
steigt . Gerade die Fluorkohlenwasserstoffe verursachen
je nach Substanz einen 100- bis 22 000-mal höheren
Treibhauseffekt als Kohlendioxid . Sie spielen deshalb im
Kyoto-Protokoll eine besondere Rolle .
2008 war es daher Ziel der nationalen Chemikali-
en-Klimaschutzverordnung, durch Konkretisierungen
der EU-Vorgaben und auf Basis des Kyoto-Protokolls
die Emissionen dieser klimarelevanten fluorierten Treib-
hausgase zu verringern. Sie regelt den Umgang mit fluo-
rierten Treibhausgasen zum Beispiel bei bestimmten Tä-
tigkeiten an Kälte- und Klimaanlagen, Wärmepumpen,
Brandschutzsystemen, Hochspannungsschaltanlagen,
Klimaanlagen in Kfz . Sie schreibt für diese Tätigkeiten
einen Sachkundenachweis für das Personal und eine Zer-
tifizierung für die Betriebe vor.
Die Bundesregierung hat nun die Anforderungen
für den Umgang mit und die Vermarktung von klima-
schädlichen fluorierten Treibhausgasen mittels der heute
vorliegenden Verordnung ergänzt, um die Chemikali-
en-Klimaschutzverordnung an das geänderte EU-Recht
anzupassen und darin enthaltene Regelungsaufträge zu
erfüllen .
Mir ist dabei wichtig festzuhalten: Bei den Änderun-
gen handelt es sich um 1 : 1-Umsetzungen des EU-Rechts,
die keinen über die Vorgaben der EU-Verordnung hinaus-
gehenden Erfüllungsaufwand erzeugen! Für mich ist die
ausgewogene Interessenabwägung zwischen Umweltbe-
langen und Bürokratiekosten und damit der Praxisbezug
unabdingbar: Dies erleichtert den notwendigen Vollzug
der Vorschriften in Verwaltung und Wirtschaft und trägt
zur Entbürokratisierung bei . Denn vergessen wir nicht:
diese Chemikalien-Klimaschutzverordnung betrifft eine
Vielzahl an Berufen der Kälte- und Klimahandwerke so-
wie der Elektro- und Kfz-Handwerke .
Bereits seit 2015 gilt als Bestandteil des europäischen
Fahrplans für eine kohlenstoffarme Wirtschaft die neue
EU-F-Gase-Verordnung. F steht für fluorierte Treibhaus-
gase . Diese ersetzte die bisherige Verordnung von 2006
und enthält als wesentlich neues Element eine Reduk-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18995
(A) (C)
(B) (D)
tionsregelung für treibhausrelevante teilfluorierte Koh-
lenwasserstoffe, kurz HFKW . Ziel ist unter anderem der
Anreiz zur Verwendung von Alternativen anstelle von
F-Gasen . Seither erteilt die Kommission jährlich Quo-
ten für das Inverkehrbringen von HFKW, die bis 2030
stufenweise auf rund 20 Prozent der Ausgangsmenge
gesenkt werden . Die Reduktionsregelung wird beglei-
tet durch zeitlich gestaffelte Vermarktungsverbote für
HFKW-basierte Einrichtungen, also zum Beispiel Kühl-
und Gefriergeräte oder technische Aerosole . Gleichzei-
tig erweitert die neue EU-Verordnung insbesondere das
bestehende System der Dichtheitsanforderungen für HF-
KW-haltige Einrichtungen sowie die Zertifizierungsan-
forderungen für Personen und Betriebe, die mit solchen
Stoffen umgehen . Die F-Gase-Verordnung erfasst nun
weitere Sektoren, nämlich Transportkälte und Schaltan-
lagen . Außerdem unterliegt ein erweitertes Tätigkeits-
spektrum der Zertifizierungspflicht.
Das zeigt: Die bisherigen Regelungen der Chemika-
lien-Klimaschutzverordnung müssen im Wege der vor-
liegenden Änderungsverordnung angepasst und konkre-
tisiert werden, dafür aus Zeitgründen nur wenige kurze
Beispiele:
Mit der Verordnung werden unter anderem die nationa-
len Verfahrensvorschriften zur Zertifizierung von Perso-
nen um neu zertifizierungspflichtige Tätigkeiten ergänzt.
Auch werden vor allem im EU-Recht geregelte Betrei-
berpflichten sowie Kauf, Verkaufs- und Inverkehrbrin-
gensverbote, die auf Zertifizierungsanforderungen Bezug
nehmen, durch die Bundesregierung präzisiert . Die wei-
tergehenden Regelungsinhalte des geltenden deutschen
Rechts, insbesondere die Dichtheitsgrenzwerte für orts-
feste Kälteanlagen und die Rücknahmeverpflichtung für
Hersteller und Vertreiber, bleiben bestehen .
Die Sachkundeanforderungen für Personen und Un-
ternehmen werden gemäß den Änderungen des Uni-
onsrechts erweitert . Da nunmehr der Kreis der von der
EU-F-Gase-Verordnung erfassten Tätigkeiten gewachsen
ist, fallen dementsprechend künftig Dichtheitskontrollen
und die Installation, Wartung, Reparatur und Stilllegung
von Kühllastkraftfahrzeugen und -anhängern sowie die
entsprechenden Tätigkeiten an allen stationären elektri-
schen Schaltanlagen unter die Chemikalien-Klimaschutz-
verordnung . Die Strukturen zum Erwerb und Nachweis
der Sachkunde bleiben dabei unverändert; zuständig für
die Prüfung und die Bescheinigung der Sachkunde wer-
den weiterhin die bewährten Kammern, Innungen sowie
behördlich anerkannte Stellen sein, denen ich an dieser
Stelle doch einmal herzlich für ihre wichtige Arbeit dan-
ken möchte .
Hervorzuheben ist die Einführung von Quoten, ohne
die keine teilfluorierten Kohlenwasserstoffe auf dem
Unionsmarkt in Verkehr gebracht werden können . Indem
die EU-Kommission den einzelnen Herstellern und Ein-
führern Quoten für das Inverkehrbringen von teilfluorier-
ten Kohlenwasserstoffen zuweist, soll die Menge dieser
Gase allmählich verringert werden . Die Verordnungs-
begründung stellt fest, dass einige der entsprechenden
Regelungen der EU-F-Gase-Verordnung „nicht aus sich
heraus vollziehbar“ und damit auch nicht sanktionierbar
sind . Um dem abzuhelfen, enthält der Verordnungsent-
wurf folgerichtig das Verbot, teilfluorierte Kohlenwasser-
stoffe – wenn es keine nach der EU-F-Gase-Verordnung
zugewiesene oder erworbene Quote gibt – in Verkehr zu
bringen . Ein Verstoß soll als Straftat geahndet werden .
Die heute vorliegende Änderung der Chemikali-
en-Klimaschutzverordnung ist der letzte Schritt zur er-
folgreichen Realisierung der Ziele der EU-Verordnung
über fluorierte Treibhausgase in Deutschland. Ohne
Bezugnahmen auf die nationalen Verfahren und Voraus-
setzungen zum Erwerb solcher Zertifikate wären diese
Verbote nicht implementierbar und damit nicht über die
Blankettnormen des Chemikaliengesetzes sanktionier-
bar . In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung für diese
Verordnung .
Frank Schwabe (SPD): Schon vor ein paar Stunden
haben wir hier im Hohen Haus über den Schutz des Kli-
mas debattiert – über die Ratifikation des Paris-Abkom-
mens . Beim Klimaschutz denkt man zuallererst an die
Reduktion von Kohlendioxid . Man darf aber die anderen
klimawirksamen Gase nicht vergessen . Deshalb sind im
Kioto-Protokoll neben Kohlendioxid auch andere Gase
erwähnt, unter anderem auch die F-Gase, die fluorierten
Treibhausgase . F-Gase haben eine viel höhere Klima-
wirksamkeit als CO2 . Sie können 100- bis 24 000-mal
klimaschädlicher sein als CO2 . Deshalb gibt es seit dem
Jahr 2007 die Verordnung zum Schutz des Klimas vor
Veränderungen durch den Eintrag bestimmter fluorierter
Treibhausgase, kurz die Chemikalien-Klimaschutzver-
ordnung . Sie regelt beispielsweise Maßnahmen zur Kon-
trolle der Dichtheit an Kälteanlagen, bei der Wartung und
Stilllegung einer Kälteanlage, sie regelt die Rückgewin-
nung des Kältemittels und dessen Rücknahme durch den
Hersteller . Zudem trifft die Verordnung Regelungen für
die Qualifizierung des Wartungspersonals.
Da sich EU-Recht geändert hat, müssen wir diese Ver-
ordnung nun anpassen . Die neue F-Gas-Verordnung der
EU gilt schon seit Januar 2015, sie ersetzte die bisherige
Verordnung . Es war somit erforderlich, dass das deut-
sche Recht an das geänderte EU-Recht angepasst wird .
Bei den Änderungen handelt es sich um eine Eins-zu-
eins-Umsetzung des EU-Rechts, die keinen Erfüllungs-
aufwand erzeugen, der über die Vorgaben der EU-Ver-
ordnung hinausgeht .
Das Bundeskabinett hat diese Änderungen am
28 . Juni beschlossen, gestern haben wir schon im Um-
weltausschuss darüber diskutiert . Diese Änderungen
sind notwendig und sinnvoll und finden deswegen unsere
Unterstützung . Änderungen erfolgen insbesondere bei
den Anforderungen für den Erwerb von Sachkundebe-
scheinigungen für Kälteanlagen, aber auch bei Regelun-
gen für elektrische Schaltanlagen sowie im Bereich der
Kühltransporte . Transportkälte und Schaltanlagen waren
nicht in der alten EU-Verordnung aufgeführt und wurden
nun neu aufgenommen. Auch die Zertifizierungspflicht
wurde auf weitere Tätigkeiten ausgeweitet . Die Sach-
kundebescheinigungen für Personen und Unternehmen
wurden erweitert . Anforderungen an den sachkundigen
Umgang mit diesen Stoffen sind wichtig, denn nur sehr
gut geschulte Mitarbeiter können verhindern, dass diese
hochklimawirksamen Treibhausgase entweichen . Und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618996
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natürlich steht die Dichtheit technischer Anlagen im Vor-
dergrund, um ein Entweichen der Gase zu verhindern .
Als wesentliche Neuerung enthält die EU-Verordnung
eine Reduktionsregelung für treibhausrelevante teilfluo-
rierte Kohlenwasserstoffe . Seither erteilt die Kommissi-
on jährlich Quoten für das Inverkehrbringen von HFKW,
die bis 2030 stufenweise auf rund 20 Prozent der Aus-
gangsmenge gesenkt werden . Die Reduktionsregelung
wird begleitet durch zeitlich gestaffelte Vermarktungs-
verbote für HFKW-basierte Einrichtungen . Um diese
Ziele der EU zu erreichen, wird es notwendig sein, dass
neue Technologien entwickelt werden, die ohne diese
Stoffe auskommen .
Da diese Verordnung im Umweltausschuss nicht strit-
tig war, halte ich mich kurz . In der Klimapolitik gibt es
gerade andere Schwerpunkte . Das ist vor allem die Er-
reichung der in Paris beschlossenen Klimaziele . Hierfür
brauchen wir einen klaren Fahrplan, der alle Sektoren
umfasst . Nur so erreichen wir bis zum Jahr 2050 eine
Wirtschaftsweise, die praktisch ohne den Ausstoß von
Treibhausgasen auskommt . Hierfür müssen wir nicht
nur – wie in der Chemikalienpolitik – ein paar Stoffe
verbieten, sondern die ganze Wirtschaft klimafreundlich
umbauen . Das dient nicht nur dem Klimaschutz, sondern
bringt auch ganz neue Chancen für neue Arbeitsplätze .
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Die Durchsetzung des
europäischen Umweltrechts ist teilweise mit gewissen
Defiziten behaftet. Manche Verantwortlichkeit ist nicht
klar geregelt, die ausführende Ebene unklar, oder die Be-
hörden sind schlicht personell und materiell nicht in der
Lage, geltendes Recht zu überprüfen und durchzusetzen .
Derartiges erleben wir derzeit Tag für Tag mit neuen Fa-
cetten und Beteiligten beim Pkw-Abgasskandal . Zuerst
wurden beim Kraftfahrtbundesamt die Gelder für eigene
Überprüfungen eingespart, dann wurde auf Empfehlung
der Autokonzerne die reale Abgasprüfung am Auspuff
durch eine Überprüfung über Elektronik und in den Mo-
toren verbaute Sensoren eingeführt, und damit war der
Weg für Betrugssoftware frei . Jetzt streitet man, wer
Schuld hat, und ändert Grenzwerte, statt durchzugreifen .
Auch die Neuregelungen dieser Chemikalien-Klima-
schutzverordnung zum Ersatz von stark klimaschädli-
chen Fluorkohlenwasserstoffen in Kälteanlagen schaf-
fen neue Kompetenzprobleme zwischen deutscher und
EU-Ebene . So fallen im nationalen Recht beispielsweise
die Durchführung der jährlichen Dichtheitskontrollen für
Kälteanlagen in Kühllastkraftfahrzeugen und die entspre-
chenden Aufzeichnungspflichten weg. Die Regelung im
nationalen Recht sei mit Verweis auf die EU-Ebene näm-
lich nicht mehr nötig, behauptet die Bundesregierung .
Die EU-Verordnung verändert zwar nichts Wesentliches
an Prüfungen, zu prüfenden Fahrzeugen und Anlagen;
aber jetzt wird unklar, welche Behörde die Einhaltung
der Verordnung überprüft und Verstöße ahndet . Die EU
hat keine durchführenden Behörden in Deutschland, aber
gemäß der Begründung der Verordnung wird der Erfül-
lungsaufwand von Bundes- auf EU-Ebene verschoben .
Die bisher tätigen Behörden erhalten somit keine Mittel
mehr für diese Aufgabe; damit wird diese Aufgabe dort
auch nicht mehr erledigt .
Ob die Länderbehörden die Durchführung garantie-
ren müssen, ist in der EU-Verordnung nicht eindeutig
beschrieben. Wir befürchten, die Kontrollen finden dann
nach Kassenlage, also eher nicht, statt . Es ist nur eine
Frage der Zeit, bis windige Firmen diese Vollzugslücke
erkennen und sich die Kosten für Wartung und Überprü-
fung sparen .
Das ist für die normalen Bürgerinnen und Bürger, die
beim kleinsten Verstoß zur Kasse gebeten werden, nicht
nachvollziehbar .
Neben diesem Behördenkompetenzproblem gibt es
weitere Defizite, nämlich bei der Bewertung derjenigen
Stoffe, die als vermeintlich klimafreundliche Kältemittel
die alten Fluorkohlenwasserstoffe ablösen sollen .
Die Verordnung sieht zwar vor, dass zukünftig ad-
äquate Berufsausbildungen Voraussetzungen sind, um
mit den Anlagen, die Fluorkohlenwasserstoffe enthalten,
zu arbeiten, und das finden wir richtig und wichtig. Aber
die Linke fordert darüber hinausgehend, dass die Qualifi-
kationsvorschriften für alle Kältemittel in allen Anlagen,
auch in Pkw, gelten .
Weiterhin ist zweifelhaft, ob die Risiken und Gefah-
ren, die von einigen der neuen Kältemittel ausgehen,
überhaupt beachtet werden und teilweise überhaupt aus-
reichend bekannt sind . Klimaverträglichkeit ist nicht das
einzige Umweltkriterium .
Ich erinnere an das Kältemittel R1234yf, das ab kom-
mendem Jahr verpflichtend in alle Pkw-Klimaanlagen
von Neuwagen eingefüllt werden muss . Für dieses Käl-
temittel existiert bis heute keine abschließende Risiko-
bewertung nach REACH-Chemikalienverordnung – ei-
gentlich dürfte es nicht verwendet werden, aber die EU
drückt alle Hühneraugen zu . Es nützt nichts, Menschen
zu schulen und für mehr Expertise beim Umgang mit
Kühlaggregaten zu sorgen, wenn den Anwendern und
den europäischen und deutschen Behörden das notwen-
dige Wissen über die Gefahren der eingesetzten Stoffe,
wie R1234yf fehlt .
Dass beim Verbrennen von R1234yf außer ätzender
Flusssäure auch Carbonyldifluorid, ein wie das Giftgas
Phosgen wirkendes Gas, entsteht, wurde in offiziel-
len Bewertungen nie ernsthaft diskutiert . Das Problem
brachte erst eine unabhängige Forschung aus der Wissen-
schaft ans Licht . Gleichwohl wissen wir aber, dass den
Herstellern des Kältemittels dieser Sachverhalt durchaus
bekannt war, denn sie erwähnten es im rechtlich ver-
bindlichen Sicherheitsdatenblatt – aber verharmlosten in
rechtlich nicht bindenden Erklärungen . Der Einsatz von
R1234yf in Pkw und anderen Klimaanlagen hat das Po-
tenzial zum nächsten großen Pkw-Skandal .
Wenn das Recht im Umgang mit fluorierten Chlor-
kohlenwasserstoffen also schon überarbeitet wird, dann
gründlich . Und die Linke fordert eine bessere Umsetzung
des EU-Chemikalienrechts . Aus unserer Sicht ist es not-
wendig, unabhängige Risikobewertungen zu finanzie-
ren und im Übrigen dafür zu sorgen, dass entsprechend
dem europäischen Vorsorgeprinzip kein Stoff zugelassen
wird, von dem neue Gefahren für Mensch und Natur aus-
gehen können .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18997
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R1234yf muss wieder aus den Pkws raus . Die Linke
fordert, dass so schnell wie möglich die Alternative CO2
genutzt wird .
Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): An-
gesichts des eingedampften Klimaschutzplans des Um-
weltministeriums können wir ja froh sein, wenn der
Begriff „Klima“ überhaupt noch im Regierungshandeln
auftaucht. Wie wir alle wissen, finden fluorierte Treib-
hausgase aufgrund ihrer schweren Entflammbarkeit als
Kältemittel und in Brandschutzsystemen vielfach An-
wendung. Zur Hybris gehört aber auch, dass fluorierte
Treibhausgase wegen ihres hohen Treibhauspotenzials
vom Kioto-Protokoll erfasst sind und somit dem globalen
Regime zur Emissionsreduktion unterliegen . Offensicht-
lich besteht Überarbeitungsbedarf hinsichtlich der beste-
henden Chemikalien-Klimaschutzverordnung, der sich
in erster Linie aus Änderungen der unionsrechtlichen
Rahmenbedingungen ergibt, nämlich der Ablösung der
bisherigen EG-F-Gas-Verordnung (EG) Nr . 842/2006
durch die Verordnung (EU) Nr . 517/2014 sowie der
Novellierung entsprechender unionsrechtlicher Durch-
führungsregelungen . Diese Änderungen erfordern zahl-
reiche Anpassungen des nationalen Rechts, da einerseits
nationale Regelungen nun EU-rechtlich getroffen wur-
den, andererseits erweiterte EU-rechtliche Anforderun-
gen zu berücksichtigen sind .
Die so jetzt hier festgeschriebene Anpassung der
Sachkundeanforderungen für Dichtheitskontrollen so-
wie Installation, Wartung, Instandhaltung, Reparatur und
Stilllegung von Kühllastkraftfahrzeugen und -anhängern
sowie von allen elektrischen Schaltanlagen bzw . die
Rückgewinnung der Treibhausgase aus allen stationären
elektrischen Schaltanlagen ist somit sachgerecht und not-
wendig . Hinzu kommen noch redaktionelle Anpassungen
und Streichungen von nicht mehr nötigen Regelungen
sowie einige sinnvolle Klarstellungen des Gesetzgebers .
Klare gesetzliche Regelungen sind nur zu begrüßen . Da-
her stimmen wir dem Verordnungsentwurf zu .
Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl . Staatssekretärin
bei der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit: Hinter der eher unscheinbaren
Überschrift „Verordnung zur Änderung der Chemikali-
en-Klimaschutzverordnung“ verbirgt sich mehr als auf
den ersten Blick erkennbar . Es geht dabei nicht etwa um
den Schutz von Chemikalien vor dem Klimawandel, son-
dern um einen Beitrag dazu, den Einsatz besonders kli-
maschädlicher Chemikalien – der fluorierten Treibhaus-
gase, auch F-Gase genannt – drastisch zu beschränken .
Das Fundament für die Regelung der F-Gase wurde
mit der Klimarahmenkonvention und dem Kioto-Proto-
koll gelegt . Die EU hat hierzu 2006 eine Verordnung er-
lassen, die insbesondere zum Ziel hatte, die Dichtigkeit
von Anlagen, zum Beispiel Kälte- und Klimaanlagen, in
denen diese Stoffe eingesetzt werden, sicherzustellen .
Zur Flankierung wurde in Deutschland die Chemikali-
en-Klimaschutzverordnung erlassen, die auch einige da-
rüber hinausgehende Regelungen, insbesondere konkrete
Leckagegrenzwerte, enthält . Die EU-Verordnung ist nun
2014 grundlegend verschärft worden . Unter anderem
sieht sie jetzt ein Quotensytem für das Inverkehrbringen
der besonders relevanten teilfluorierten Kohlenwasser-
stoffe – HFKW – vor, das den Einsatz dieser Stoffe bis
2030 europaweit auf rund 1/5 reduzieren wird . Die Ände-
rungen dieser Verordnung machen zugleich Änderungen
unserer nationalen Verordnung erforderlich, die mit der
heute zur Beschlussfassung anstehenden Änderungsver-
ordnung rechtzeitig vor Ablauf der Übergangsfristen der
EU-Verordnung ins Werk gesetzt werden sollen . Dabei
war es uns auch wichtig, weitergehende Aspekte unserer
Regelung beizubehalten, insbesondere die Leckagegren-
zwerte, den Betreibern und Vollzugsbehörden konkrete
Vorgaben für die zulässigen Emissionen beim Betrieb der
Anlagen an die Hand geben, Regelungen, die sich dieser
Funktion bewährt haben .
Mit der EU- und der nationalen Verordnung ist der
letzte Schritt hin zu einem weitestgehenden Verzicht auf
den Einsatz fluorierter Treibhausgase noch nicht getan.
Während zum Beispiel bei den Kältemitteln nichthalo-
genierte, insbesondere auch die seit langem bekannten
sogenannten natürlichen Kältemittel als nachhaltige
Alternativen zur Verfügung stehen, gibt es Bereiche, in
denen der Ersatz wesentlich schwieriger ist . Ich nenne
hier nur den Einsatz von SF6 (Schwefelhexafluorid) in
elektrischen Schaltanlagen . Hier lässt das USA in einem
Forschungsprojekt Alternativen untersuchen . Auch das
Aktionsprogramm „Klimaschutz 2020“ enthält Maßnah-
men zur Verringerung der Emissionen der F-Gase . Nur
zwei Stichworte: Verstetigung des Förderprogramms
Kälte- und Klimaanlagen, Förderung der Aus- und Fort-
bildung im Umgang mit nichthalogenierten Kältemitteln .
Beide Maßnahmen sind auf den Weg gebracht .
Lassen Sie mich noch kurz auf den internationalen
Aspekt der F-Gas-Problematik eingehen . Im Novem-
ber 2015 haben die Vertragsparteien des Montrealer
Protokolls den „Dubai Pathway on HFCs“ mit dem
Ziel beschlossen, in diesem Jahr einen Beschluss über
die Aufnahme der bedeutendsten F-Gase, der schon er-
wähnten HFKW – englisch: HFC – , in das Montrealer
Protokoll zu erreichen . Verschiedene Veröffentlichungen
sprechen davon, dass mit einer konsequenten Beschrän-
kung der HFKW-Verwendung bis Ende des Jahrhunderts
ein 0,4 bis 0,5°C entsprechender Beitrag zum Global
Warming vermieden werden könnte . Gerade vor weni-
gen Stunden hat in New York am Rande der UN-Voll-
versammlung eine Koalition ambitionierter Staaten die
„New York Declaration of the Coalition for an Ambiti-
ous HFC Amendment“ abgegeben und damit den Willen
bekräftigt, beim Treffen des Montrealer Protokolls im
nächsten Monat in Kigali einen bedeutenden Beitrag zum
Paris-Abkommen zu leisten .
Wir sind uns sicher alle darin einig, dass wir den Ver-
handelnden in Kigali viel Erfolg wünschen .
Anlage 26
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag der Fraktionen CDU/
CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201618998
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(B) (D)
Deutsch-indische Bildungs- und Wissenschafts-
kooperation ausbauen (Tagesordnungspunkt 32)
Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Die Bundesrepublik
Deutschland und die Republik Indien sind – wer Berich-
te verfolgt oder schon einmal dort war, kann das sicher
unterstreichen – zwei Länder, wie sie unterschiedlicher
nicht sein könnten .
Auf der einen Seite Deutschland, ein Staat im soge-
nannten „alten Europa“ mit langer industrieller Tradition,
einer in der christlichen Soziallehre verwurzelten Arbeits-
ethik, sozialer Marktwirtschaft, einer steten Entwicklung
hin zur technologischen Weltspitze, sowohl in Forschung
und Entwicklung als auch im Export, und wirtschaftlich
führendes Mitglied der Europäischen Union .
Auf der anderen Seite Indien, noch bis Ende der
1940er-Jahre unter britischer Kolonialherrschaft, ein
Land so groß wie ein Kontinent mit über 1,2 Milliarden
Einwohnern, einem in vielen Teilen der Gesellschaft
noch fortbestehenden Kastensystem, einem alten und
unschätzbar reichen kulturellen Erbe, einer vom Hindu-
ismus und vom Islam geprägten Bevölkerung mit teils
tiefen ethnisch-religiösen Konflikten und einem Anteil
von 44 Prozent der Inder, die von weniger als 1 Dollar
am Tag leben müssen .
Unterhalb dieser augenfälligen Differenzen verbirgt
sich jedoch, dass beide Staaten auch sehr vieles mit-
einander verbindet: ein rasanter wirtschaftlicher und
technologischer Aufstieg – in Deutschland nach den
Schrecken des Zweiten Weltkrieges, in Indien nach einer
langen Phase politischer Unselbstständigkeit und kolo-
nialer Ausbeutung –, die Entwicklung vom politischen
Leichtgewicht zu verantwortungsvollen und verantwor-
tungsbewussten führenden Akteuren im internationalen
politischen Geschehen, der Struktur- und Bewusstseins-
wandel weg von einer durch Schwerindustrie und den
Abbau von Bodenschätzen geprägten Wirtschaft hin zu
einer hochtechnisierten Wissensgesellschaft und den da-
mit einhergehenden Veränderungsprozessen in puncto
nachgefragter Qualifikationen und vorherrschender Bil-
dungswege .
Mit den beiden Initiativen „Make it in Germany“ und
„Make in India“ kommt diese Vergleichbarkeit der deut-
schen und der indischen Position sehr offensichtlich zum
Tragen . Beide Staaten haben erkannt, dass Wissen, eine
Höherqualifizierung der Bevölkerung, technologieinten-
sive Arbeitsplätze in Produktion und Dienstleistung und
eine Entwicklung hin zur Digitalisierung fast sämtlicher
Lebensbereiche nicht nur ein Trend sind, dem man fol-
gen kann oder sollte, sondern eine Notwendigkeit, deren
Bedingungen man aktiv politisch mitgestalten muss, um
nicht von ihnen überrollt zu werden und später einer Ent-
wicklung hinterherzulaufen .
Während die deutsche Kampagne allerdings darauf
abzielt, qualifizierten jungen Menschen aus aller Welt
die Möglichkeiten und Vorzüge des deutschen Ausbil-
dungs- und Studiensystems näherzubringen und sie als
Fachkräfte für deutsche Unternehmen an den Standort
Deutschland zu holen, zielt die indische Kampagne viel
stärker darauf ab, die eigenen reichen Potenziale zu för-
dern . Es sollen Investitionen und Innovationen gefördert,
Qualifikationen verbessert, der Schutz geistigen Eigen-
tums durchgesetzt und eine erstklassige Produktionsinf-
rastruktur bereitgestellt werden – kurz: all das, was es in
Deutschland schon gibt .
Daher ist es nur richtig und sinnvoll, wenn unsere bei-
den Staaten zusammenarbeiten, gemeinsam forschen, un-
sere Unternehmen miteinander in Kontakt bringen, wenn
wir unsere Erfahrung im Bereich dualer Ausbildung ex-
portieren und anders herum von den großen Fähigkeiten
der indischen Fachkräfte im Bereich der IKT lernen .
Damit stoßen wir Kooperation in der Spitze und in der
Breite an . Grundlagenforschung hilft, Krankheiten zu be-
kämpfen, die Ernährungsgrundlagen zu verbessern, die
Umwelt zu schützen und die Entwicklung neuer Produk-
tionstechniken in Indien wie hierzulande voranzutreiben .
Eine Verbreiterung der Fachkräftebasis durch den Auf-
bau einer beruflichen Bildungsstruktur hilft, die Einkom-
menschancen der großen Mehrheit der Bevölkerung in
Indien zu verbessern und die technischen Neuerungen
in die Praxis umzusetzen . Denn hier wie dort kann der
Kopf ohne die Hand nicht viel bewegen . Indien hat viele
Hände – mit dem vorliegenden Antrag ergreifen wir sie,
um sie gemeinsam zum Besseren zu benutzen . Ich bitte
Sie daher auch um Ihre Hände und ein Signal der Zustim-
mung zu unserem Antrag .
Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): Indien macht bei
uns in jüngster Zeit im Zusammenhang mit Wissenschaft
und Technik verstärkt von sich reden . Erst vor wenigen
Tagen, am 8 . September 2016, hat die indische Raum-
fahrtbehörde ISRO eine neue Trägerrakete samt Wetter-
satellit erfolgreich ins All geschickt . Die dabei eingesetz-
te Technologie, für die zwei Jahrzehnte Entwicklungszeit
benötigt wurden, soll im kommenden Jahr auch bei der
geplanten Mondmission zum Einsatz kommen . Und hät-
ten Sie es gewusst? Der beste ausländische Student in
Deutschland kommt in diesem Jahr – richtig – aus In-
dien . Die Auszeichnung des Deutschen Akademischen
Austauschdienstes ging am 27 . August 2016 an den aus
Kalkutta stammenden Sayantan Chattopadhyay . Kein
Chinese, kein US-Amerikaner, nein, ein Inder wurde
also in diesem Jahr für seine hervorragenden Studienleis-
tungen und sein gesellschaftliches bzw . interkulturelles
Engagement geehrt . Ganz nebenbei: Sein MBA-Studium
in Leipzig wurde erfreulicherweise durch das Deutsch-
landstipendium unterstützt .
Zugegeben, auf den ersten Blick wird das Ansinnen
des vorliegenden Antrags zum Ausbau der deutsch-in-
dischen Bildungs- und Wissenschaftskooperation den
einen oder anderen überraschen, spielte doch Indien auf
der internationalen Wissenschaftsbühne bisher eher eine
unbedeutende Rolle . Aber das wird sich in den kommen-
den zehn Jahren wohl grundlegend ändern . Indien wird
dann, so die einhellige Expertenmeinung, zu den fünf
erfolgreichsten Wissenschaftsnationen gehören . Erstes
Anzeichen für diese Entwicklung dürfte die – nach Jah-
ren eher schwachen Wirtschaftswachstums – seit 2014
an Fahrt aufnehmende wirtschaftliche Entwicklung in
Indien sein . Parallel dazu startete die indische Regierung
eine große Wissenschafts- und Bildungsoffensive, um
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 18999
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den Herausforderungen der Zukunft – sei es im Bereich
der Armutsbekämpfung oder zur Lösung des Energie-
und Ernährungsproblems – zu begegnen . Indien hat sich
als künftige Supermacht des Wissens für uns utopisch
klingende Ziele gesetzt . Die Zahl der Universitäten bei-
spielsweise soll von knapp 400 auf 1 500 steigen . Schon
heute gibt es mehr als 14 Millionen Studierende in die-
sem Land . Und bis zum Jahr 2025 wird sich die Zahl
der jährlichen Schulabgänger von heute 13 Millionen auf
etwa 30 Millionen steigern . Da ist es dann doch nahe-
liegend, dass die deutsche Bundesregierung seit Jahren
als zuverlässiger Partner an der Seite Indiens steht und
insbesondere im Bereich von Bildung und Wissenschaft
eine Intensivierung der Kooperation verfolgt . So wurden
einige wichtige Vereinbarungen getroffen, zum Beispiel
zur Intensivierung der Kooperation zwischen Hochschu-
len aus beiden Ländern oder zu Verlängerung und Aus-
bau des Indo-German Science and Technology Centre,
IGSTC, in Gurgaon . Und es ist nur folgerichtig, dass sich
auch der Deutsche Bundestag mit dem heute zur Abstim-
mung stehenden Antrag „Deutsch-indische Bildungs-
und Wissenschaftskooperation ausbauen“ befasst und die
Bundesregierung ermutigt, auf dem bereits eingeschlage-
nen Weg weiter voranzuschreiten .
Als ich im vergangenen Jahr im Rahmen unserer De-
legationsreise nach fast zwei Jahrzehnten wieder in Indi-
en war, habe ich ein Land der Extreme vorgefunden . Auf
der einen Seite Hightech auf Weltniveau in einer Stadt
wie Bangalore, auf der anderen Seite Armut und Dritte
Welt . Wir mussten erfahren, dass Indien – mit Abstand –
die absolut größte Zahl armer Menschen weltweit hat .
800 Millionen Menschen leben von unter zwei US-Dol-
lar und 450 Millionen von weniger als 1,25 US-Dollar
pro Tag – mehr Menschen als in Gesamt-Subsahara-Afri-
ka . Andererseits beheimatet Indien weltweit die meisten
Millionäre und Milliardäre .
Gleichzeitig wurde uns Delegationsteilnehmern ein-
drucksvoll vergegenwärtigt, welch großes Potenzial,
aber auch welch gigantische Herausforderungen in die-
sem Land stecken . Weniger als 5 Prozent aller dem Ar-
beitsmarkt zur Verfügung stehenden Personen verfügen
nach Regierungsangaben über eine berufliche Qualifika-
tion . Für die jährlich fast 13 Millionen jungen Menschen,
die neu auf den Arbeitsmarkt kommen, gibt es bisher
lediglich rund 4,5 Millionen Ausbildungsangebote, zu-
meist von äußerst geringer Qualität . Es gibt bis heute kei-
ne Schulpflicht in Indien, was die extrem hohe Zahl von
Analphabeten erklärt . Etwa ein Drittel der erwachsenen
Inder kann nicht lesen und schreiben .
Auch vor diesem Hintergrund bieten sich für den
Ausbau der Zusammenarbeit zahlreiche Ansatzpunkte,
die in unserem Antrag sehr umfassend beschrieben wer-
den . Insbesondere im Bereich der Forschung sind die
Beziehungen zu Indien bereits heute besonders eng .
Für Indien ist Deutschland weltweit der zweitwichtigste
Forschungspartner hinter den USA . Die indische Wissen-
schaft genießt auch in Deutschland einen sehr guten Ruf,
vor allem in der bereits erwähnten Raumfahrt, aber auch
in der Informations- und in der Biotechnologie . Und ge-
rade in diesem Bereich spürt auch Indien den weltweiten
Wettbewerb um die klügsten Köpfe . Hier nur eine beein-
druckende, aber in gewisser Weise auch erschreckende
Zahl: Jeder vierte Cheftechnologe im kalifornischen Si-
licon Valley ist ein Inder . Das Thema Brain Drain ist für
Indien also besonders real . Hier kann das Land ja viel-
leicht auch unsere Erfahrungen – beispielsweise mit der
GAIN-Jahrestagung, die erst vor kurzem in Washington
stattfand – nutzen .
Ich bin mir sicher: Das Themengebiet ist beinahe un-
erschöpflich und vor allem im beiderseitigen Nutzen –
für Indien ebenso wie für Deutschland . Das soll unser
gemeinsamer Antrag verdeutlichen .
Dr. Simone Raatz (SPD): Ich freue mich sehr,
dass wir uns heute noch einmal mit dem Ausbau der
Deutsch-indischen Bildungs- und Wissenschaftskoope-
ration beschäftigen . Aus zwei Gründen ist dies sehr zu
begrüßen: zum einen, weil es sich dabei um einen ge-
meinsamen Antrag aus drei Fraktionen handelt . Dies
zeigt doch, wie konstruktiv im Bundestag an Sachthemen
gearbeitet wird! Allen Beteiligten möchte ich daher noch
einmal herzlich für die wertvollen von Ihnen geleisteten
Beiträge danken .
Begrüßenswert ist aber zum anderen auch die Auf-
merksamkeit, die wir mit unserem Antrag der internatio-
nalen Zusammenarbeit in Zukunftsfragen widmen . Denn
ein Antrag zu Kooperationen im Bildungs- und Wissen-
schaftsbereich ist immer eine stark auf die Zukunft aus-
gerichtete Angelegenheit .
Lassen Sie uns aber zunächst noch einmal über die
Gegenwart sprechen . Indien ist, wie Sie alle wissen, das
zweitbevölkerungsreichste Land und die größte Demo-
kratie, und es ist einer unserer wichtigsten Partner in
Asien . Auf der Delegationsreise, aus der dieser Antrag
erwachsen ist, konnten wir uns selbst davon überzeugen,
wie viel das Land unternimmt, um die Herausforderung
seiner Bevölkerungsentwicklung zu meistern . Wie Sie
sich sicherlich vorstellen können, sind diese gerade im
Bildungsbereich sehr groß . Gleichzeitig bieten Bildung
und Forschung dem Land enorme Chancen .
Deutschland unterstützt Indien daher bereits heute
sehr bei seinen Bemühungen um Bildungsexpansion .
Auch davon konnten wir uns selbst überzeugen, und in
unserem Antrag nennen wir ja auch Beispiele dafür: Das
Indo-German Science and Technology Centre etwa oder
die vom Auswärtigen Amt unterstützten Sprachinitiativen
PASCH und „Deutsch an 1 000 Schulen“ . Auch das Bun-
desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung sowie das Bundesministerium für Bildung
und Forschung unterstützen das Land mit umfangreichen
Projekten und gemeinsamen Partnerschaftsprogrammen .
Eine zentrale Rolle spielt dabei unter anderem die Wei-
terentwicklung des Bildungswesens gerade im Bereich
der beruflichen Bildung. Hier ist Deutschland enorm er-
folgreich – dazu hat die OECD erst jüngst Zahlen veröf-
fentlicht – und hat dementsprechend eine wichtige Vor-
bildwirkung . All diese Projekte müssen, wie in unserem
Antrag in den Punkten 7 bis 11 gefordert, fortgeführt und
wo nötig auf sichere finanzielle Beine gestellt werden.
Aber auch im Wissenschaftsbereich ist Deutschland
ein sehr wichtiger Partner für Indien; um genau zu sein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619000
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(B) (D)
inzwischen sogar der zweitwichtigste direkt nach den
USA . Es lernen heute fast 12 000 indische Studierende
an deutschen Hochschulen . Seit letztem Jahr ist Indien
damit auf Platz zwei der Herkunftsländer ausländischer
Studierender in Deutschland, nach China, aber vor lang-
jährigen Austauschpartnern und Nachbarländern wie
Russland, Österreich oder Frankreich . Und das ist wirk-
lich eine jüngere Entwicklung: Vor zehn Jahren war Indi-
en noch auf Platz 14 der Statistik!
Viel zu oft sprechen wir im Kontext von Schwellen-
ländern wie Indien lediglich von Entwicklungshilfe . Bei
allen Herausforderungen, die unser Partner zu meistern
hat, ruft unser Antrag nun zu einer Zusammenarbeit auf
Augenhöhe und zum gegenseitigen Vorteil auf .
An dieser Stelle gilt es, festzuhalten, dass wir es sind,
die beim Austausch von Studierenden und Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftlern hinterherhinken, und das
ordentlich .
Wenn Sie sich die regelmäßig vom Statistischen Bun-
desamt herausgegebene Statistik der Zielländer deut-
scher Studierender einmal ansehen, werden Sie feststel-
len, dass Indien darin überhaupt nicht vorkommt . Laut
Zahlen des DAAD waren im letzten Jahr nicht mehr als
800 deutsche Studierende und Forscher in Indien, und
davon nur eine Handvoll länger als sechs Monate . Sie
sehen also, wie wichtig es ist, wie in den Punkten 1 bis
3 formuliert, den deutsch-indischen Studierenden- und
Wissenschaftleraustausch zu intensivieren .
Aber auch inhaltlich gibt es große Unterschiede:
Während wir in erster Linie Geistes- und Sozialwissen-
schaftler nach Indien schicken, konzentrieren sich unsere
Gäste auf den MINT-Bereich . Indien ist im Masterbe-
reich durchgängig unter den Top 2 der Auslandsstudie-
renden in den Fächern Elektrotechnik, Maschinenbau,
Ingenieurwesen und Informatik . Und auch die indischen
Doktorandinnen und Doktoranden promovieren bei uns
vorzugsweise in Biologie, Chemie oder eben Informatik .
Wir wollen diese Tatsachen positiv nutzen . Denn in
diesen Fächern haben wir ja nicht nur ein hohes Renom-
mee, sondern auch einen sehr hohen Bedarf an Fachkräf-
ten .
Bereits bei der ersten Aussprache zum vorliegenden
Antrag habe ich Ihnen von den über 200 deutschen Un-
ternehmen berichtet, die in Indien Niederlassungen mit
Tausenden Mitarbeitern im IT-Bereich haben . Der Bran-
chenverband der Informationswirtschaft hat vor etwa
einem Jahr vermeldet, dass aktuell allein in Deutsch-
land etwa 43 000 IT-Spezialisten gesucht werden . Wahr-
scheinlich wird bald ein neuer Negativrekord aufgestellt,
denn in den vergangenen Jahren ist diese Zahl immer
weiter gestiegen . Es ist doch klar, dass im Rahmen der
zunehmenden Digitalisierung auch der Bedarf an Fach-
kräften in diesem Bereich zunimmt .
Den in Deutschland gesuchten Spezialisten stehen ei-
nerseits 85 000 Informatikstudierende gegenüber . Jähr-
lich beenden jedoch nur etwas mehr als 8 500 davon ihr
Studium. Selbst wenn man spezifische Fächergruppen
wie die Ingenieurinformatik, die Wirtschaftsinformatik
und ähnliche dazu nimmt, kommen wir auf weit unter
20 000 Absolventinnen und Absolventen, und dabei sind
dann auch schon die Bachelorabsolventen mitgezählt, die
sich teilweise im Anschluss an ihr Studium noch mit dem
Master weiterbilden werden . Auch ein wichtiges Ziel ist
daher die Senkung der zu hohen Studienabbrecherquoten
genau in dieser Gruppe .
Lassen Sie uns also auch vor diesem Hintergrund mit
unserem Antrag die Bildungs- und Forschungszusam-
menarbeit mit Indien ausbauen . Es geht dabei um ge-
genseitigen interkulturellen Austausch . Es geht um eine
Erweiterung der Horizonte . Es geht aber genauso um ge-
meinsame Anstrengungen für eine gute Zukunft . Beide
Seiten werden davon gesellschaftlich, sozial und auch
wirtschaftlich profitieren!
Azize Tank (DIE LINKE): Die Linke unterstützt eine
Vertiefung des internationalen Austauschs in Wissen-
schaft, Forschung und dem schulischen Bereich . Dies
stärkt die Demokratisierung der Wissenschaft, fördert
innovatives Denken und Fortschritt, ermöglicht die zwi-
schenmenschliche Begegnung und den Abbau von Vor-
urteilen . Bildung schafft Räume für kritisches Denken .
Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass Maßnahmen
zur Berufsbildung in Indien gefördert werden sollen .
Die im Antrag enthaltene unverhohlene Zweckdienlich-
keit lehnen wir jedoch ab . Dem vorliegenden Antrag der
Regierungskoalition zum Ausbau der deutsch-indischen
Bildungs- und Wissenschaftskooperation können wir aus
diesen Gründen nicht zustimmen, und deswegen enthält
sich die Linke bei diesem Antrag . Wir fordern die Bun-
desregierung zu Korrekturen und einem Umdenken im
Bereich der Förderung von internationalen Bildungs-
maßnahmen insbesondere in Indien auf, damit eine so-
ziale Teilhabe für alle ermöglicht wird . Jede Diskussion
über die Förderung des Austausches von Hochqualifi-
zierten muss vor dem Hintergrund der sozioökonomi-
schen Verhältnisse des Herkunftslandes und der Rolle,
welche diesen Menschen in der globalen Arbeitsteilung
zugeschrieben wird, geführt werden .
Natürlich können Auswanderer und Auswanderinnen
auch einen positiven Beitrag zur Entwicklung ihrer Her-
kunftsländer leisten . Die Linke unterstützt grundsätzlich
das Recht aller Menschen auf Bewegungsfreiheit . In die-
sem Zusammenhang ist es aber notwendig, dass auch In-
dien tatsächlich von einem solchen Austausch profitiert.
Die Bundesregierung folgt jedoch bislang einer sehr ein-
seitigen Logik . Alles, was gut für deutsche Investitionen
in Indien ist, sei gut, alles, was zur Ausbildung von Fach-
kräften in Indien führt, die der deutschen Industrie dienen
könnten, ebenfalls . Doch wo ist die Perspektive Indiens
bei diesen Investitionen und diesen Bildungsmaßnah-
men? Entspricht dies den Erwartungen der von Bildung
ausgeschlossenen Menschen in Indien? Wer in die Bil-
dung in Indien investieren will, der muss die dortigen so-
zialen Kämpfe und Debatten der Studierenden und vieler
Lehrkräfte zur Kenntnis nehmen, wie sie auch zuletzt am
St . Stephen’s College in Delhi insbesondere von den Da-
lit geführt und entschieden vorangebracht wurden .
Es geht dabei nicht um neue Bildungsmethoden oder
ein duales Bildungssystem, sondern immer um eines:
Inklusion in das Bildungssystem . Wer die deutsch-indi-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19001
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(B) (D)
sche Bildungs- und Wissenschaftskooperation wirklich
voranbringen will, der kann dies nicht ignorieren . Inklu-
sion, die Möglichkeit einer beruflichen Ausbildung, be-
deutet für Millionen von Menschen in Indien vor allem
gesellschaftliche Teilhabe, sozialer Aufstieg und wirt-
schaftliche Mobilität . Wer in diesen Prozess mit eigenen
Maßnahmen eingreifen will, der muss mögliche soziale
Auswirkungen mitbedenken . Wir können solange nicht
über Qualität in der Bildung sprechen, solange diese Bil-
dung nicht auch mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht .
Soziale Gerechtigkeit darf dabei nicht für eine bestimmte
Elite, soziale Klasse, Kaste oder ein Geschlecht reser-
viert sein . Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf,
ihre bisherigen Fördermaßnahmen in diesem Bereich zu
evaluieren und auf die sozialen Auswirkungen hin zu
hinterfragen, wo gegebenenfalls gegenzusteuern ist . Das
Gleiche gilt für die im vorliegenden Antrag vorgeschla-
genen Maßnahmen . Wissenschaftlicher Austausch ist
gut – soziale Gerechtigkeit ist besser .
Das Abwandern hochqualifizierter Menschen ist
oft die Folge einer ungerechten Entwicklung, die wei-
te Teile der Gesellschaft verurteilt, in Armut zu leben,
ohne Zugang zur Arbeit und sozialen Menschenrechten,
ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe . In die-
ser Perspektive erscheint die Freiheit der einen oft nur
als auf einen bestimmten gesellschaftlichen Schichten
auferlegter Zwang zur Migration, da im Herkunftsland
keine alternativen Möglichkeiten bereitgestellt werden,
um ihre persönlichen Lebensentwürfe zu verwirklichen .
Vergessen wir auch nicht, dass menschliche Ressourcen
eines Herkunftslandes begrenzt sind . Das gilt nicht nur
für Indien, sondern auch für viele Gesellschaften der
EU-Mitgliedstaaten in Ost- und Südeuropa . Wer die so-
zioökonomischen Bedingungen in einem Land wie Indi-
en ignoriert und Bildungscurricula aus anderen Ländern
importiert und zu universalisieren versucht, der muss
sich der inhärenten gesellschaftlichen Gewalt, die dieser
Uniformierung inne ist, bewusst sein .
Die weitgehende Verschulung der universitären Bil-
dung, Patriarchalismus und autoritäres Erziehen, das im-
mer noch weit verbreitete Auswendiglernen, welche als
Altlast zwischen kolonialer Bildung und postkolonialen
Formen der Wissensvermittlung weit verankert ist, muss
sich auch in den Ansätzen widerspiegeln, welche Maß-
nahmen der Berufsbildung zugrunde liegen . Unlängst
wird von Forschern kritisiert, dass sich eine nationalis-
tisch gesinnte hinduistische Mittelschicht auf der einen
und Unterklassen und Minderheiten auf der anderen
Seite gespalten haben . Dieser Prozess darf durch Brain
Drain und Body Shopping nicht weiter verstärkt wer-
den . Deshalb kann die deutsch-indische Bildungs- und
Wissenschaftskooperation nicht auf die Nutzbarkeit von
Arbeitskräften in der globalen Arbeitsteilung reduziert
werden, sondern muss Maßnahmen zur Stärkung der ge-
sellschaftlichen Diversität enthalten, die den Zugang zu
einer Förderung durch Inklusion von Ausgeschlossenen
demokratisiert . Es muss eine Förderung inklusiver Bil-
dungsprojekte in Indien geben .
Natürlich ist die Entwicklung Indiens als Schwellen-
land mit der am zweitschnellsten wachsenden Wirtschaft
beachtlich . Doch es muss die Frage erlaubt sein, wel-
chen Einfluss dieser Wirtschaftsaufschwung tatsächlich
auf die Hebung der Lebensqualität für alle Menschen in
Indien hat? Es muss danach gefragt werden, inwiefern
das globale Body Shopping, wie es ausgewiesene Wis-
senschaftlerinnen längst in Indien festgestellt haben,
weit mehr als zur Entwicklung des Landes auch zu der
Verfestigung der sozialen Spaltung in Indien beiträgt,
in dem bestimmte gesellschaftliche Schichten als Eliten
gefördert und andere wiederum ausgegrenzt und an der
Fortentwicklung ihrer menschlichen Fähigkeiten ge-
hindert werden . Der globale wirtschaftliche Austausch
und die Produktion werden durch konkrete menschliche
Beziehung der Arbeitswelt hergestellt . Dieser globalen
Arbeitsteilung liegen Strukturen zugrunde, welche den
Menschen in bestimmten Regionen bestimmte Funkti-
onen und Rollen in diesem Prozess zuschreiben . Aber
warum sind es gerade die indischen Facharbeiter, die für
diese Arbeitsteilung so entscheidend sind? Hinter dem
indischen IT-Wunder steht auch die Tatsache, dass es um
hohe Qualifikationen geht, niedrige Löhne und ein großes
Reservoir an Arbeitskräften . Dies ist das Rezept des ho-
hen Mehrwerts für die kapitalistische Wirtschaft, die die
indische Gesellschaft bezahlt . Die große Disparität lässt
sich in dem Nutzen der indischen Arbeitskräfte für die
IT-Branche und dem üblichen Lohn der globalen Märk-
te messen . Ethnisierung, soziale Spaltung, Geschlecht
und Hautfarbe sind Faktoren dieser Arbeitsteilung und
zugleich das Fundament der Spezialisierung Indiens auf
die Ausbildung hochqualifizierter und zugleich billiger
Arbeitskräfte für den Weltmarkt .
Betrachtet man die Liste mit den zu fördernden Projek-
ten, findet sich dort keines wieder, welches sich mit dem
großen Entwicklungsbedarf in Indien selbst beschäftigt .
Stattdessen findet eine Eliteförderung statt. Ein Beispiel
dafür ist die unter Ziffer 15 des Antrags angedachte För-
derung der Partnerschulinitiative PASCH, die eben nur
ausgewählte Schulen teilhaben lässt . Eine Auswahl ist
eine Selektion und spricht gegen die Möglichkeit, dass
alle von diesem Bildungsprojekt profitieren können. Ins-
besondere finden wir hier keine Gedanken zu der Teilha-
be an Bildung als Sozialem Menschenrecht, welches in
Indien gestärkt werden sollte .
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
internationale Austausch in der Wissenschaft ist eine
wichtige Triebfeder für gesellschaftlichen Fortschritt .
Deutschland unterhält mit vielen Ländern gute wissen-
schaftliche Beziehungen – diejenigen mit Indien liegen
uns besonders am Herzen; denn die Voraussetzungen, mit
der größten Demokratie weltweit in der Wissenschafts-
und Bildungspolitik auf Augenhöhe zu kooperieren, sind
deutlich besser als mit Staaten, in denen Wissenschafts-
freiheit sowie Meinungs- und Pressefreiheit unter Druck
stehen oder unterdrückt werden .
Das Interesse an mehr Kooperation in Bildung und
Forschung ist riesengroß . Das machen uns unsere indi-
schen Gesprächspartner der letzten Monate und Jahre
immer wieder deutlich – und das beruht auf Gegenseitig-
keit . Wir wollen diesen vertrauensvollen Austausch auf
Augenhöhe fortsetzen und weiter intensivieren . Es war
gut, dass wir als grüne Bundestagsfraktion gemeinsam
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619002
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mit Union und SPD diesen Antrag und konkrete Schritte
für mehr Kooperation in Bildung, Wissenschaft und For-
schung auf den Weg gebracht haben .
Deutschland möchte ein verlässlicher Partner Indiens
sein . Unsere gemeinsamen Forderungen müssen nun im
Haushalt 2017 ihren Niederschlag finden. Das ist bisher
nicht der Fall, und das macht mir Sorgen . Ich erwarte von
Union und SPD, dass wir den gemeinsamen interfraktio-
nellen Antrag auch umsetzen: angefangen von der besse-
ren räumlichen Ausstattung der Deutschen Schule New
Delhi, der nachhaltigen Finanzierung des Deutschen
Innovationshauses in Neu Delhi bis hin zu einem inten-
siveren Austausch von deutschen und indischen Studie-
renden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern .
Unseren Worten müssen jetzt Taten im Haushaltsverfah-
ren folgen .
Nicht vergessen sollten wir die Unterstützung
der Geisteswissenschaften . Der weitere Ausbau des
deutsch-indischen „Maria Sibylla Merian – R . Tagore In-
ternational Centre for Advanced Studies in the Humani-
ties and Social Sciences“ ist sinnvoll und muss erfolgen .
Dieses Zentrum ermöglicht interdisziplinären Austausch
und bringt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
aus unterschiedlichen Ländern zusammen . Wir brauchen
nicht nur Austausch und Zusammenarbeit für Hightech-
und Spitzenforschung, sondern müssen auch soziale
Innovationen und geisteswissenschaftliche Diskurse vo-
ranbringen .
Innovation ist keine reine Frage der Technik oder na-
turwissenschaftlicher Gesetze . Die großen Herausfor-
derungen kennen keine Grenzen zwischen den Wissen-
schaftsdisziplinen, sondern erfordern interdisziplinäre
Brückenschläge . Die Menschen wollen mitgenommen
werden in die „neue Welt“ . Darum sind geisteswissen-
schaftliche Perspektiven so wichtig, um Innovations- und
Wandlungsprozesse zu gestalten . Das sollte in Zukunft
ein Punkt sein, der noch stärker in der deutschen Außen-
wissenschaftspolitik beachtet werden muss .
Wir wollen Indien bei seinen großen Herausforderun-
gen unterstützen, wie zum Beispiel im Bereich der er-
neuerbaren Energien und der Energiewende heraus aus
fossilen und nuklearen Techniken . Über 300 Millionen
Menschen in Indien haben keinen zuverlässigen Zugang
zu Strom . Das wäre so, als wenn in den gesamten USA
das Licht ausginge . Gegen die Energiearmut setzt Indi-
en leider vor allem auf Kohle- und Atomkraft – obwohl
das mehr Smog und Treibhausgase sowie Sicherheitsri-
siken und ungelöste Endlagerung nach sich zieht . Umso
erfreulicher ist, dass die indische Regierung zunehmend
auf erneuerbare Energien setzt . Deutschland hat bereits
einen bedeutenden Anteil an erneuerbaren . Unsere Erfah-
rungen mit der Energiewende und mit verantwortlicher
Energieforschung teilen wir gerne .
Eine weitere Herausforderung sind neue Jobs . Pro
Jahr kommen 12 bis 13 Millionen Jugendliche zusätzlich
auf den indischen Arbeitsmarkt . Um sie unterzubringen,
kann das duale System unserer Berufsausbildung mit sei-
ner Verknüpfung aus Theorie und Praxis einen Beitrag
leisten – zumal es in Indien viele kleinste, kleine und
mittlere Unternehmen gibt . Hierbei bringen wir, dem
Wunsch der indischen Seite folgend, unsere Erfahrungen
gerne weiter ein .
Erfreulich ist, dass sich der deutsch-indische Aus-
tausch von Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern deutlich erweitert hat . Unter den
internationalen Studierenden in Deutschland stellen In-
derinnen und Inder die drittgrößte Gruppe . Wir sollten
uns aber auch dafür einsetzen, dass mehr deutsche Stu-
dierende den Weg nach Indien gehen .
Schon jetzt sind zahlreiche Hochschulen sowie außer-
universitäre Forschungseinrichtungen in Indien aktiv .
Das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus in
Neu-Delhi, in dem alle großen deutschen Wissenschafts-
organisationen vertreten sind, ist eine sehr wichtige Ad-
resse für den Austausch, dessen Finanzierung wir auch
künftig sicherstellen wollen . Danke für diese Arbeit und
auch an das Wirken der politischen Stiftungen! Sie zu-
sammen machen eine hervorragende Arbeit als Flagg-
schiffe deutscher Außenwissenschaftspolitik und Wis-
senschaftsdiplomatie . Sie prägen zwischen Bengaluru
und Delhi das Bild von Deutschland als Wissensnation .
Indien ist ein dynamisches und quirliges Land . Soziale
Spaltung und Good Governance sind Probleme, die es
zu bewältigen gilt . Es gibt aber Grund zum Optimismus:
Das Land ist aufstrebend, bildungsaffin, wissbegierig,
innovativ und mit immensen Potenzialen bei Technolo-
gie, Talenten und Kreativität . Sie bilden den fruchtbaren
Boden für eine lebendige Zivilgesellschaft . Vielfalt und
Mehrsprachigkeit in Indien fördern kreatives Denken und
selbstbewusste Bürgerschaft . Dieser Weg wird sich lang-
fristig als erfolgreich erweisen und macht den Austausch
auch in der Außenwissenschaftspolitik umso wertvoller .
Wir wollen die deutsch-indischen Kooperationen in
Bildung und Forschung ausbauen . Gemeinsam sind unse-
re beiden Demokratien stärker, Lösungen für die soziale
und ökologische Modernisierung unserer Welt zu finden
und zu etablieren . Auf die weitere vertiefte Zusammenar-
beit freut sich die übergroße Mehrheit des Bundestages .
Anlage 27
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
des Mikrozensus und zur Änderung weiterer Sta-
tistikgesetze
(Tagesordnungspunkt 33)
Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Der Mikrozensus
wurde 1957 auf Empfehlung der OEEC, einer Vorgänge-
rorganisation der OECD, geschaffen . Fast 60 Jahre be-
steht die Institution des Mikrozensus nun, und ich finde,
sie ist eine Erfolgsgeschichte . Zwar wurden in den ver-
gangenen Jahrzehnten immer wieder Veränderungen an
den Erhebungsmethoden vorgenommen . Aber im Gro-
ßen und Ganzen entsprechen viele Erhebungsmerkmale
noch heute den Vorgaben des ursprünglichen Gesetzes
aus 1957 . Ich denke, das spricht für sich .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19003
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Im Zuge der europäischen Integration musste der Mik-
rozensus in den vergangenen Jahren immer weiter an die
Vorgaben der europäischen Statistik angepasst werden .
Bereits seit 1968 werden gemeinsam mit dem Mikro-
zensus Daten zur Erwerbstätigkeit und Beschäftigung
nicht nur von den befragten Personen in Deutschland,
sondern auch gleichzeitig in anderen EU-Staaten erho-
ben . Die Daten dieser Befragungen stellen die Grundlage
für EU-weite Programme für mehr Beschäftigung, eine
bessere Ausbildung und die Bekämpfung der Arbeitslo-
sigkeit dar .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf reagiert die
Bundesregierung nun auf eine Entwicklung, die sich
schon in den letzten Jahren abgezeichnet hat: Die Ar-
beitskräfteerhebung der Europäischen Union wird immer
stärker harmonisiert und ausdifferenziert . Darüber hinaus
wird sie langfristig erhoben . Die in diesem Zusammen-
hang erhobenen Daten werden für die Bundesregierung
immer wichtiger . Die Reaktion der Bundesregierung ist
daher zunächst, die Institution Mikrozensus mit diesem
Gesetzentwurf zu entfristen . Bisher wurde der Mikro-
zensus in der Regel für einen Zeitraum von vier bis sie-
ben Jahren geregelt, woraufhin ein erneutes Gesetz nö-
tig wurde . Das derzeit geltende Mikrozensusgesetz aus
dem Jahr 2012 läuft in diesem Jahr aus . Anstatt ein neues
Mikrozensusgesetz für nur wenige Jahre auf den Weg zu
bringen, soll der Mikrozensus nun unbefristet fortgeführt
werden. Es ist aus gesetzgeberischer Sicht nicht effizi-
ent, alle paar Jahre ein neues Gesetz zu erlassen, wenn
die Datenlieferungsverpflichtungen Deutschlands an die
Europäische Union unbefristet gelten . Hier lässt sich na-
türlich einwenden, dass der Gesetzgeber dadurch schein-
bar die Gestaltungsmacht über den Mikrozensus aufgibt .
Dies ist natürlich nicht der Fall; denn auch auf eine un-
befristet angelegte Regelung hat der Deutsche Bundestag
gesetzgeberischen Gestaltungszugriff . Denjenigen, die
im Mikrozensus einen übermäßigen Eingriff in die Frei-
heitsrechte der Bürger sehen, sei an dieser Stelle gesagt,
dass die Befristung der bisherigen Gesetze bei jeder er-
neuten gesetzlichen Verlängerung eher zu einer Erweite-
rung der Erhebungsmerkmale geführt hat . Insofern dürfte
eine Entfristung auch dazu beitragen, Anpassungen nur
bei offensichtlichen Problemen vorzunehmen .
Die zweite Reaktion auf die Entwicklungen auf eu-
ropäischer Ebene ist die Integration der Erhebungsteile
über Gemeinschaftsstatistiken über Einkommen und Le-
bensbedingungen, EU-SILC, sowie zur Informationsge-
sellschaft, IKT, in den Mikrozensus . Diese wurden bisher
separat bei den Bürgern erhoben . Mit der Zusammenle-
gung wird der Aufwand für die Bürger nun reduziert .
Natürlich bringt diese Integration auch organisatorischen
Aufwand und Kosten bei der Umstellung der IT-Systeme
mit sich . Daher wird die vollständige Integration auch
erst ab 2020 gänzlich umgesetzt werden . Die Synergie-
effekte sowie die deutlich reduzierte Eingriffsintensität
durch die Befragungen lassen diese Kosten aus meiner
Sicht jedoch mehr als angemessen erscheinen .
Dies sind aus meiner Sicht die wesentlichen Punkte
dieses Gesetzentwurfs, den ich sehr begrüße . Hier wird
eine gute Neuregelung vorgeschlagen, der die Zeit unse-
rer Bürger bei der Inanspruchnahme für die Erhebungen
schont und gleichzeitig die Informationsmöglichkeiten
für die Bundesregierung und den Gesetzgeber verbes-
sert . Ich freue mich auf das anstehende parlamentarische
Verfahren .
Matthias Schmidt (Berlin) (SPD): Schon mehrfach
habe ich in diesem hohen Hause zu Statistikgesetzen ge-
sprochen und auch heute tue ich das gerne . Das ist ein
Thema, das nicht nur an meinen beruflichen Werdegang
anknüpft, sondern etwas in den Blick nimmt, was ge-
meinhin wenig Schlagzeilen verursacht: die Erhebung
von statistischen Daten .
Verglichen mit zurückliegenden Jahrzehnten ist die
Entwicklung der Datenerhebung in den letzten Jahren
deutlich vorangeschritten . Die Verfahren sind ausgereif-
ter, die Daten komplexer und das Datenvolumen hat deut-
lich zugenommen . In unserer Informationsgesellschaft
haben alle Lebensbereiche an Komplexität zugenommen,
Lebensstile haben sich verändert, sind variabler gewor-
den, Informationen fließen schneller und die Reichweite
hat sich deutlich erhöht . Längst erhebt das Statistische
Bundesamt Daten nicht mehr nur für eigene nationale
Zwecke, sondern ist an EU-Recht gebunden und muss
auch hierfür Daten liefern . Die hohe Dynamik, mit der
Gesellschaften sich national und international verändern,
bringt die Erhebungsverfahren unter Zugzwang . Und das
ist auch der Anlass für unsere heutige Beratung .
Das Mikrozensusgesetz ist Grundlage der repräsenta-
tiven Haushaltserhebung, die seit 1957 in Deutschland
durchgeführt wird . Letztmalig haben wir dieses Gesetz
im Jahr 2014 geändert . Auch hier war unter anderem die
Anpassung an EU-Vorgaben ein Anlass . Wir haben Op-
timierungen bei der Bevölkerungsstatistik vorgenommen
und mithilfe einer Experimentierklausel ermöglicht, dass
neue Erhebungsverfahren erprobt werden können .
Die heute mit dem Gesetzentwurf vorliegenden Än-
derungen gehen deutlich weiter . Sie sind grundlegender
und stellen gewissermaßen einen weiteren Schub in der
Entwicklung der Datenerhebung in Deutschland dar . Wo-
rum geht es?
Zunächst einmal ist es die sich ankündigende Ablauf-
frist, die uns zum Handeln veranlasst . Denn: Das Mikro-
zensusgesetz ist bis zum Ende des Jahres 2016 befristet .
Die Befristungen wurden in der Vergangenheit immer
wieder per Gesetz verlängert, so letztmalig 2012 um vier
Jahre . Im vorliegenden Gesetzentwurf sollen diese Ket-
tenverlängerungen nun beendet werden . Das ist die ers-
te grundlegende Änderung des Gesetzentwurfs . Künftig
soll das Mikrozensusgesetz unbefristet gelten und damit
den Vorgaben der EU folgen, denn auch die Pflicht zur
Datenlieferung gilt unbefristet . Diese Änderung ist sinn-
voll und zeitgemäß .
Kommen wir zu einem weiteren zentralen Punkt des
Gesetzes . Bislang fanden einige Erhebungen nebenein-
ander statt, so auch der Mikrozensus und die Erhebung
über Arbeitskräfte, Einkommen und Lebensbedingungen
für die EU . Während der Mikrozensus für die Befrag-
ten verpflichtend ist, erfolgte die sogenannte SILC-Er-
hebung auf freiwilliger Basis . Damit verbunden waren
immer wieder Datenverzerrungen, da bei der Stichpro-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619004
(A) (C)
(B) (D)
benerhebung nicht immer alle Haushalte gleichmäßig zu
erreichen waren . Das wollen wir jetzt ändern . Die Erhe-
bung soll künftig in den Mikrozensus integriert und da-
mit verpflichtend werden. Damit reduziert sich der Stich-
probenumfang, und die Validität der Daten wird zugleich
erhöht . Dieser Aspekt ist sehr wichtig, denn damit lassen
sich genauere Erkenntnisse zur Entwicklung von Er-
werbstätigkeit und Ungleichheit in unserer Gesellschaft
ziehen . Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass durch die
Nutzung der gemeinsamen organisatorischen und tech-
nischen Infrastruktur der Aufwand der Erhebung sinkt .
Auch für die Befragten ist das natürlich von Vorteil, da
sie nur einmal befragt werden müssen .
Diese positiven Effekte sind auch maßgebend für
die Integration einer weiteren Erhebung in den Mik-
rozensus – die Statistik zur Informationsgesellschaft .
Damit kommen wir zu einem weiteren Aspekt des Ge-
setzentwurfs . Die Nutzung von Informations- und Kom-
munikationstechnologien hat in den letzten zwei Jahr-
zehnten enorm an Fahrt aufgenommen . Die Anzahl der
Haushalte, die diese Technologien nutzen, hat sich ver-
vielfacht, und die Tendenz geht weiter nach oben . Mit der
Einbeziehung dieser Datenerhebung in den Mikrozensus
wird die Aussagekraft der Statistik weiter erhöht . Und
auch hier wird die Auskunft für die Befragten verpflich-
tend mit allen Vorteilen für die Qualität der Erhebung .
Der Mikrozensus liefert damit künftig auch zentrale In-
formationen zum Stand und den weiteren Anforderungen
des Breitbandausbaus .
Zu den Kernänderungen kommen noch einige weitere
kleinere Maßnahmen hinzu, die das Verfahren der statis-
tischen Erhebungen zum Mikrozensus weiter verbessern
sollen .
Die Umsetzung der erheblichen Änderungen wird in
zwei Stufen vorgenommen, die insgesamt bis 2021 dau-
ern . Im Zeitraum von 2017 bis 2020 werden zunächst
einige Anpassungen bei den Erhebungsmethoden und
den Erhebungsmerkmalen vorgenommen, bevor dann ab
2020 die Integration der EU-Statistiken erfolgen wird .
Der Zeitaufwand rührt dabei vor allen Dingen daher,
dass das gesamte IT-System umgestellt werden muss .
Das Vorhaben nimmt somit einige Zeit in Anspruch und
stellt dabei grundlegende Weichen der Datenerhebung
zum Mikrozensus neu . Und diese Weichenstellung wer-
den wir in den Ausschussberatungen sicher noch einmal
eingehend beleuchten . Auch eine Anhörung ist geplant .
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine letzte Facette
betrachten, die bei dem Gesetzentwurf selber keine Er-
wähnung findet. Mit Verbesserungen der statistischen
Erhebungsverfahren tragen wir auch zur Erleichterung
der Arbeit der Menschen bei, die tagtäglich damit befasst
sind – der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Statisti-
schen Bundesamtes und der statistischen Ämter der Län-
der . Auch das ist ein wichtiger Impuls für die anstehen-
den Beratungen . Ich freue mich darauf .
Jan Korte (DIE LINKE): In regelmäßigen Abständen
debattieren wir hier über die kleine Volkszählung, wie
der Mikrozensus ja von vielen zu Recht genannt wird .
Nun hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur
generellen Neuregelung des Mikrozensus und zur Än-
derung weiterer Statistikgesetze vorgelegt, der das zum
Ende dieses Jahres auslaufende Gesetz ersetzen soll . Er
sieht im Unterschied zu den bisherigen Mikrozensusge-
setzen, in deren Rahmen seit 1957 bisher jeweils rund 1
Prozent der Bevölkerung, aktuell also 830 000 Personen
in 390 000 privaten Haushalten und Gemeinschaftsun-
terkünften, in vier aufeinanderfolgenden Jahren stellver-
tretend für die ganze Bevölkerung mit endlosen Frage-
bögen und sehr differenzierten Fragen zu nahezu allen
Lebensbereichen interviewt wurden, eine unbefristete
Fortführung des Mikrozensus vor . Bisher wurde der Mi-
krozensus stets zeitlich befristet, um in regelmäßigen
Abständen den Erhebungsbedarf überprüfen und das Ge-
setz gegebenenfalls anpassen oder gar auslaufen lassen
zu können .
Von einer generellen Infragestellung oder der Mög-
lichkeit einer Evaluation will die Bundesregierung nun
nichts mehr wissen . Sie begründet dies einerseits mit
unbefristeten Datenlieferverpflichtungen der EU. Denn
„durch die Integration der Stichprobenerhebung über Ar-
beitskräfte, der Gemeinschaftsstatistik über Einkommen
und Lebensbedingungen und der Gemeinschaftsstatistik
zur Informationsgesellschaft in den Mikrozensus werden
europäische Verpflichtungen zur Lieferung statistischer
Angaben erfüllt“ . Andererseits hätte sich die Befristung
„in der Vergangenheit nicht bewährt“ . Das kann man so
sehen, muss man aber ganz sicher nicht . Aus unserer
Sicht steht eine Zwangserhebung wie der Mikrozensus
im Widerspruch zum Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung . Natürlich ist auch meine Fraktion nicht prin-
zipiell gegen die Grundidee, durch Befragung einer klei-
nen, repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung nach
mathematisch-statistischen Verfahren ein annähernd
wirklichkeitsgetreues Abbild der sozioökonomischen
Verhältnisse in diesem Land zu bekommen . Allerdings
setzen wir uns dafür ein, dass das Erfassungsverfahren so
grundrechtsschonend und realitätsgerecht wie nur irgend
möglich erfolgt . Und da müsste dann zumindest erst ein-
mal nachgewiesen werden, dass das Ziel repräsentativer
Daten über die Bevölkerung nur mit zwangsweiser Ver-
pflichtung zu erreichen ist. 17 von 28 EU-Staaten füh-
ren ihre Erhebungen auf freiwilliger Basis durch . Von
mangelhafter Datenqualität hört man außer hierzulande
nichts .
Viel gravierender als die Entfristung erscheint mir da-
her, dass Sie mit dem neuen Konzept des Mikrozensus
gleichzeitig auch die Teilnahmepflicht auf die EU-Er-
hebungen ausweiten, an denen die Teilnahme bislang
freiwillig war . Dies ist überhaupt nicht hinnehmbar . In
diesem Zusammenhang fand ich die Stellungnahme des
Bundesrates sehr bemerkenswert, der diesen Punkt völlig
zu Recht ebenfalls kritisiert . Dort heißt es:
Nach den Vorgaben der Verordnung (EG)
Nr . 1177/2003 sind die Angaben zu Einkommen
und Lebensbedingungen für die zu Befragenden
freiwillig. Die Einführung einer Auskunftspflicht
in der Bundesrepublik Deutschland geht insoweit
weit über die EU-Vorgaben hinaus . Aufgrund der
hohen Sensibilität der EU-rechtlich vorgegebenen
Erhebungsmerkmale in Bezug auf Einkommen und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19005
(A) (C)
(B) (D)
Lebensbedingungen ist mit einer Zunahme von
Auskunftsverweigerungen und erheblicher Verärge-
rung seitens auskunftspflichtiger Privatpersonen zu
rechnen .
An anderer Stelle stellt der Bundesrat richtigerweise
fest, dass „eine auskunftspflichtige Erhebung sehr priva-
ter, sehr sensibler und vielfach subjektiv geprägter Fra-
gen einen Paradigmenwechsel in der amtlichen Statistik
darstellt“ . Der Bundesrat befürchtet einen Imageschaden,
„der negative Auswirkungen für die Durchführung und
den Zielverwirklichungsgrad auch anderer Statistiken
haben und entsprechende Erhebungen erschweren könn-
te“ . Dass Sie diese Befürchtungen nicht ernst nehmen,
ist höchst bedauerlich . Sie halten stattdessen weiter an
Ihrem Mantra fest, wonach Befragungen auf Zwang
basieren müssten, weil sie ansonsten nicht zu verwert-
baren Daten führen würden . So schreiben Sie in Ihrer
Begründung einmal mehr, dass „bei freiwilligen Erhe-
bungen, wie derzeit zum Beispiel EU-SILC, … in der
Regel systematische Verzerrungen vor[liegen] . Personen
im unteren und oberen Einkommensbereich weisen nach
bisherigen Untersuchungen geringere Teilnahmequoten
auf, sodass die Indikatoren mit keiner hinreichenden Prä-
zision für die anvisierte Evaluation bereitgestellt werden
können“ . Dies ist einigermaßen gewagt, da in der Bun-
desrepublik Deutschland bislang keine einzige Machbar-
keitsstudie durchgeführt worden ist und auch in nahezu
allen anderen EU-Mitgliedstaaten EU-SILC als freiwilli-
ge Erhebung durchgeführt wird . Und man kann auch mal
fragen, was denn die präzise Erfassung von Armut und
Reichtum bringen soll, solange ohnehin systematisch
eine Politik betrieben wird, die die Reichen reicher und
die Armen noch ärmer macht .
Auch die im Gesetz vorgesehenen Möglichkeiten, die
Anonymisierung der Daten zumindest zeitweise wieder
aufzuheben, trifft auf datenschutzrechtliche Bedenken .
Der Gefahr der Erstellung weitgehender Profile der be-
troffenen Bürgerinnen und Bürger muss aus unserer Sicht
durch eine strenge Zweckbindung und absolute Anony-
misierung der Daten Rechnung getragen werden .
Schon am 16 . Juli 1969 hat sich das Bundesverfas-
sungsgericht in seinem Beschluss zu einer Klage gegen
den Mikrozensus intensiv mit der Frage beschäftigt,
inwieweit es dem Staat gestattet sein darf, seine Bürge-
rinnen und Bürger zu erfassen, zu kategorisieren oder
in ihre innersten Rückzugsräume einzudringen . Dabei
spricht das Gericht vom „Recht auf Einsamkeit“ . Ge-
meint ist damit ein „Recht, alleine gelassen zu werden“ .
Das Gericht führt dazu Folgendes, wie ich meine, auch
heute noch hoch Aktuelles, aus:
Es widerspricht der menschlichen Würde, den Men-
schen zum bloßen Objekt im Staat zu machen . Mit
der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren,
wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch neh-
men könnte, den Menschen zwangsweise in seiner
ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu kata-
logisieren, sei es auch in der Anonymität einer sta-
tistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache
zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder
Beziehung zugänglich ist . Ein solches Eindringen in
den Persönlichkeitsbereich durch eine umfassende
Einsichtnahme in die persönlichen Verhältnisse sei-
ner Bürger ist dem Staat auch deshalb versagt, weil
dem Einzelnen um der freien und selbstverantwort-
lichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen ein
‚Innenraum‘ verbleiben muß, in dem er ‚sich selbst
besitzt‘ und ‚in den er sich zurückziehen kann, zu
dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in
Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit
genießt‘ .
Es wäre schön, wenn auch Sie sich künftig im Gesetz-
gebungsverfahren an diesen Worten orientieren würden .
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die vorgelegte Reform des Mikrozensus und wei-
terer Statistikgesetze bedeutet, wie auch in den Jahren
zuvor, eine weitere Vertiefung der Belastung der vom
Mikrozensus betroffenen Bürgerinnen und Bürger . Un-
ter den Schlagworten von Effizienz und Synergieeffekten
findet eine nochmalige Erweiterung der Fragenkataloge
statt, ohne dass diese zumindest in Teilen noch freiwillig
gestellt werden . Das ist buchstäblich „liberty dying by
inches“, und wir sollten uns schon fragen, wie lange das
mit der Statistik noch auch und gerade mit Blick auf die
Entwicklung der letzten Jahre so weitergehen kann . Nie-
mand, lassen Sie mich das noch einmal in aller Deutlich-
keit sagen, bestreitet ernsthaft den Zweck des Statistik-
wesens und seine Bedeutung für eine effektiv arbeitende
Verwaltung . Unsere Verantwortung als Gesetzgeber liegt
aber im Allgemeinen und bezüglich des Statistikwesens
im Speziellen vor allem darin, den Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit zum Maßstab zu nehmen und die Bür-
gerinnen und Bürger vor einer übermäßigen und sachlich
nicht mehr vertretbaren Inanspruchnahme zu bewahren .
Durch die rein statistisch-wissenschaftliche Brille be-
trachtet, wird es immer gute Gründe geben, warum diese
oder jene bestehenden Statistiken inhaltlich noch einmal
erweitert gehören, eine nochmals größere Gruppe be-
treffen sollten und/oder zwangsweise zu erfolgen haben .
Wie weit wir dabei gehen sollten, ist unsere gemeinsame
politische Entscheidung, die wir verantwortungsvoll fäl-
len müssen . Der Mikrozensus ist keine Volkszählung in
dem Sinne, dass die Bevölkerung, ähnlich etwa wie es
bei der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung der Fall ist,
in ihrer Gesamtheit erfasst würde . Doch sie ist auch kei-
nesfalls eine Petitesse . Denn sie betrifft alljährlich rund
1 Million Mitbürgerinnen und Mitbürger .
Neben dem Mikrozensus laufen zudem weitere Haus-
haltsbefragungen durch Statistikbehörden, die de fac-
to den Kreis der in der Bevölkerung Betroffenen noch
einmal erweitern . Der Mikrozensus stellt für diese Be-
troffenen, die nach einem statistischen Zufallsverfahren
ausgewählt werden, einen erheblichen Eingriff in ihre
Grundrechte dar . Denn zunächst einmal gilt es festzu-
halten, dass sie per Gesetz und ordnungsgeldbewehrt
auskunftspflichtig sind. Sie sind verpflichtet, sich durch
einen 70-seitigen Fragenkatalog zu quälen, der sie zu na-
hezu jeder Lebenslage befragt und – im wahrsten Sinne
des Wortes – ausforscht . Und sie müssen wiederholte,
erneut der Auskunftspflicht unterfallende unterjährige
Nachfragen –bis zu viermal – hinnehmen, das heißt, das
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619006
(A) (C)
(B) (D)
ohnehin extrem aufwändige Verfahren ist demnach kei-
nesfalls mit der einmaligen Beantwortung beendet .
Dieser Mikrozensus, Sie erinnern sich sicher an die
Debatten, die wir darum in der Vergangenheit bereits ge-
führt haben, war von Beginn an umstritten . Er führte zu
einem der ersten und bis heute bedeutsamen Urteile des
Bundesverfassungsgerichts zu Umfang und Reichweite
des Grundrechts auf Privatsphäre, Mikrozensus-Urteil .
Und der Mikrozensus ist bis heute umstritten, darüber
könnte uns eine Umfrage bei den Datenschutzbehörden
des Bundes und der Länder sicherlich Auskunft geben,
die alljährlich viele Eingaben und Nachfragen der von
den Statistikämtern ausgewählten Betroffenen zu be-
arbeiten haben . Doch die in diesen Fragen oft wankel-
mütige Akzeptanz in der Bevölkerung bleibt nicht der
alleinige Prüfungspunkt, wenn wir uns als legislatives
Kontrollorgan Gesetze des Bundesinnenministers mit
Berührung zum Datenschutz anschauen . Es liegt viel-
mehr in unserer Verantwortung, die Gewährleistung ganz
wesentlicher Gesichtspunkte der Verfassungsmäßigkeit
wie auch der Wahrung der Grund- und Bürgerrechte ins-
gesamt kritisch und vor allem hinsichtlich ihrer Verhält-
nismäßigkeit zu prüfen .
Bislang war der seit Jahrzehnten etablierte Mikro-
zensus befristet geregelt . Diese Befristung hat sich in
meinen Augen durchaus bewährt, eröffnet sie doch die
Chance, immer auch andere, zusätzliche Belastungen
für die informationelle Selbstbestimmung der Bürge-
rinnen und Bürger bei der durch uns vorzunehmenden
Verhältnismäßigkeitsprüfung in den Blick zu nehmen .
Nun soll der Mikrozensus also nach ihrem Willen in eine
unbefristete gesetzliche Regelung überführt werden . In-
tegriert in den aus Sicht der Betroffenen ohnehin endlos
langen Fragenkatalog, werden zusätzlich noch die nach
EU-Recht erforderlichen Statistiken zu Einkommen und
Lebensbedingungen, EU-SILC, sowie zur Informations-
gesellschaft, IKT, erhoben .
Das informatorische Sonderopfer, das die vom Mikro-
zensus Betroffenen zu erbringen haben, ist somit aus
unserer Sicht alles andere als unerheblich . Wir begrüßen
deshalb ausdrücklich, dass die Bundesregierung sich of-
fenbar darum bemüht hat, Belastungen der Betroffenen
zumindest zum Teil zu vermeiden . Danach soll der Merk-
malskatalog des Kernprogramms nur noch die Hälfte des
heutigen Katalogs umfassen . Und thematisch abgrenzba-
re Erhebungsteile sollen auf die Betroffenen derart ver-
teilt werden, dass nicht alle Ausgewählten alle – nunmehr
aus anderen Haushaltsstatistiken integrierte – Fragenteile
zu beantworten haben .
Gleichwohl bedeutet die Integration von vormals ge-
trennt ablaufenden und damit andere Bürgerinnen und
Bürger betreffenden Fragenkataloge natürlich eine Er-
höhung des Gesamtumfangs der Befragung, auch wenn
offenbar nicht alle Ausgewählten im gleichen Maße be-
troffen sein werden .
Noch gravierender erscheint uns, dass die nunmehr
integrierten Teile EU-SILC und EI-IKT zukünftig eben-
falls unter die Auskunftspflicht fallen. Der Wechsel von
Freiwilligkeit auf Zwang erfolgt wenige Jahre nach der
letzten Debatte zum Mikrozensus doch ziemlich überra-
schend und aus unserer Sicht nicht ausreichend begrün-
det . Das bloße Argument der Vermeidung inhaltlicher
Unschärfen wirkt angesichts des damit verbundenen
Grundrechtseingriffes bislang, lassen Sie mich das deut-
lich sagen, wenig überzeugend .
Auffällig ist, dass die Bundesregierung bei der Ab-
wägung der möglichen Alternativen das bestehende In-
strument des Zensus, der nächste ist ja bereits in Vorbe-
reitung, gänzlich unterschlägt . Der Mikrozensus ist auch
keineswegs ein Naturgesetz oder in der Gestalt, wie wir
ihn praktizieren, aus Brüssel vorgegeben . Beim Bundes-
tag also eine in der Werbesprache sogenannte Verlusta-
version dadurch zu produzieren, dass hier der Eindruck
des Going dark bei Verlust des Mikrozensus entsteht, er-
scheint ungerechtfertigt .
Interessanterweise hatte unter anderem die BILD-Zei-
tung den vorliegenden Gesetzentwurf, vermutlich erst-
malig in seiner langen Geschichte, thematisch aufge-
griffen . Thematisiert wurde, dass der Entwurf auch
Erweiterungen bei den Fragen zum möglichen Migrati-
onshintergrund der Betroffenen enthält . Über die Weite
dieses Begriffes ist aber inzwischen eine Debatte entstan-
den, die im Rahmen der Diskussion über diesen Entwurf
nicht ignoriert werden sollte . Grundsätzlich befürworten
wir aussagekräftige Antworten, mit denen etwa gezielte
Förderungen im Bereich der Schul- oder Arbeitsmarkt-
politik gesteuert werden können . Doch wir wollen mit
Fragen in diesem Bereich Menschen auch nicht auf eine
bestimmte Identität festschreiben, Umfang und Tiefe
sind daher stets diskussionswürdig .
Wir regen deshalb in der Gesamtschau der aufgewor-
fenen Fragen zum Für und Wider des Mikrozensus an,
zumindest in einem erweiterten Berichterstattergespräch
die für die Bewertung möglicher Alternativen zum Mik-
rozensus notwendigen Fragen gemeinsam ergebnisoffen
zu diskutieren .
Dr. Ole Schröder, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Der vorliegende Gesetzentwurf
regelt den Mikrozensus ab dem Jahr 2017 . Der Mikro-
zensus wird seit 1957 als Haushaltsstichprobe über die
Bevölkerung und den Arbeitsmarkt sowie die Wohnsi-
tuation der Haushalte durchgeführt . Dabei wird 1 Pro-
zent der Bevölkerung befragt . Der Mikrozensus ist die
zentrale Informationsquelle nicht nur für die Verwaltung
und die Regierung, sondern insbesondere auch für die
Parlamente in Bund und Ländern . Er stellt umfassende,
aktuelle und zuverlässige Daten vor allem über die Be-
völkerungsstruktur, die wirtschaftliche und soziale Lage
der Familien und der Haushalte, die Erwerbstätigkeit,
den Arbeitsmarkt, die berufliche Gliederung und die Aus-
bildung der Erwerbsbevölkerung sowie die Wohnverhält-
nisse bereit . Die Ergebnisse des Mikrozensus sind aber
ebenso für politische und gesellschaftliche Institutionen
sowie für Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung eine
wichtige Informationsquelle . Nicht zuletzt wird der Mi-
krozensus auch als Hochrechnungs-, Adjustierungs- und
Kontrollinstrument für eine Vielzahl anderer Erhebungen
gebraucht und ist für diese von erheblicher Bedeutung .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19007
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Das geltende Mikrozensusgesetz sieht nur bis
Ende 2016 Erhebungen vor . Ab dem 1 . Januar 2017 ist
ein neues Gesetz als Grundlage für weitere Mikrozensus-
erhebungen erforderlich . Der vorliegende Gesetzentwurf
ist im Unterschied zu den bisherigen Mikrozensusge-
setzen nicht mehr befristet . Aufgrund verschiedener
EU-Verordnungen müssen wir den überwiegenden Teil
der Daten aus dem Mikrozensus an die EU liefern . Diese
Datenlieferverpflichtungen sind unbefristet. Es ist daher
nicht sinnvoll, die nationale Rechtsgrundlage zu befris-
ten . Außerdem hat sich gezeigt, dass die Mikrozensus-
gesetze bei Bedarf geändert worden sind; auf den Frista-
blauf kann bei einem dringenden Bedarf nicht gewartet
werden . Die Überprüfung des Gesetzes allein aufgrund
der zeitlichen Befristung hat eher zu Zuwächsen von
Merkmalen im Gesetz als zum Abbau geführt .
Das neue Mikrozensusgesetz regelt aber nicht einfach
nur die Weiterführung des bisherigen Mikrozensus mit
kleinen Änderungen, sondern regelt auch die Umstellung
auf ein neues Konzept . Diese erfolgt in zwei Stufen: In
der ersten Stufe von 2017 bis 2019 wird der bisherige
Mikrozensus mit geringfügigen Anpassungen der Me-
thoden und Erhebungsmerkmale weitergeführt . Das ist
mit der bestehenden IT umsetzbar und verursacht keine
Mehrkosten .
In der zweiten Stufe ab 2020 wird der Mikrozensus
aufgrund zusätzlicher europäischer Anforderungen um-
gestellt . Die Arbeitskräftestichprobe, die schon bislang
gemeinsam mit dem Mikrozensus erhoben wird, wird in
den Mikrozensus als Modul integriert . Zusätzlich werden
zwei weitere – bislang vom Mikrozensus separat erfolg-
te – Erhebungen als Module integriert . Es handelt sich
dabei zum einen um die Erhebung zu Einkommen und
Lebensbedingungen – EU-SILC –, und zum anderen um
den Teil der Erhebung zur Informationsgesellschaft, IKT,
der bei Privathaushalten erhoben wird . Diese Umstellung
setzt neben tiefgreifenden methodischen und organisato-
rischen Änderungen auch eine vollständige Neugestal-
tung der IT voraus .
Durch die Integration der genannten Erhebungen in
den Mikrozensus sollen Synergieeffekte durch die Nut-
zung einer gemeinsamen organisatorischen und techni-
schen Infrastruktur in den statistischen Ämtern genutzt
werden . Damit wird der Mehraufwand, der aufgrund der
Änderungen der entsprechenden EU-Verordnungen zu
erwarten ist, reduziert werden . Auch die Belastung für
die Befragten wird im Gesetzentwurf berücksichtigt . Der
Stichprobenumfang des Mikrozensus bleibt bei 1 Prozent
der Bevölkerung . Er erhöht sich trotz der Integration der
Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen –
EU-SILC – und der Erhebung zur Informationsgesell-
schaft – IKT – in den Mikrozensus nicht. Demografische
und sozioökonomische Angaben, die bislang in jeder der
bisher separat durchgeführten Erhebung erfragt wurden,
werden nur noch einmal erhoben .
Das schon beim bisherigen Mikrozensus bewährte
Prinzip der Auskunftspflicht wird ebenfalls grundsätzlich
beibehalten. Eine Auskunftspflicht – insbesondere auch
zu den Merkmalen der Erhebung zu Einkommen und
Lebensbedingungen – ist erforderlich . Die Bereitschaft
in Deutschland, an freiwilligen Erhebungen teilzuneh-
men, ist im Gegensatz zu vielen anderen Ländern leider
sehr gering . Daher ist zu erwarten, dass ein Großteil der
Befragten freiwillig keine Angaben machen würde . Das
würde nicht nur zusätzliche Erhebungskosten verursa-
chen . Es würde auch die Synergieeffekte, die mit der
Integration in den Mikrozensus beabsichtigt sind, rela-
tivieren .
Die Inanspruchnahme von EU-Förderprogrammen
hängt von Indikatoren ab, die sich unter anderem aus
den Merkmalen der Erhebung zu Einkommen und Le-
bensbedingungen ergeben . Um valide Zahlen an die
EU liefern zu können, ist die Auskunftspflicht auch aus
methodischen Gründen erforderlich . Bei freiwilligen
Befragungen weisen Personen im unteren und oberen
Einkommensbereich erfahrungsgemäß eine geringe Teil-
nahmebereitschaft auf, was zu einer Verzerrung der Er-
gebnisse zur Mitte hin führt .
Frühere Mikrozensus-Testerhebungen, Untersuchun-
gen des Statistischen Bundesamtes sowie Untersuchun-
gen der empirischen Sozialforschung haben ergeben,
dass die erforderliche Qualität der Daten für die genann-
ten aber auch weitere Politikfelder und Datenlieferungs-
verpflichtungen nur mit einer Auskunftspflicht erreicht
werden kann . Der Gesetzentwurf sieht daher grundsätz-
lich eine Auskunftspflicht vor.
Anlage 28
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung
des Bundesarchivrechts
(Tagesordnungspunkt 34)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Vor knapp hundert
Jahren, im Jahr 1919, wurde in Deutschland das erste
Zentralarchiv der obersten Reichsbehörden und -organe
in Potsdam gegründet. Die Auflösung zahlreicher mili-
tärischer Behörden nach dem Versailler Vertrag war der
damalige Anlass zur Gründung . Seither übernimmt das
Archiv die systematische Erfassung, Erhaltung und Be-
treuung von Dokumenten des Bundes . Heute heißt es
Bundesarchiv und hat seinen Hauptsitz in Koblenz . Hier
arbeitet es nach dem Leitbild, Wissen bereitzustellen,
Quellen zu erschließen und das Geschichtsverständnis
zu fördern . So archiviert es Akten, Schriftstücke, Karten,
Bilder, Plakate, Filme und Tonaufzeichnungen deutscher
Bundesbehörden, aber auch Unterlagen nichtöffentlicher
Einrichtungen und natürlicher Personen . Ob diese Unter-
lagen einen bleibenden Wert für die Erforschung oder das
Verständnis der deutschen Geschichte haben, ob sie der
Sicherung berechtigter Belange der Bürger dienen oder
eine Informationsquelle für Gesetzgebung, Verwaltung
und Rechtsprechung seien können, das obliegt der fach-
kundigen Einschätzung des Bundesarchivs .
Bis in 80er-Jahre hinein wurde über die grundsätzliche
Notwendigkeit von Archivgesetzen lebhaft diskutiert .
Und so wurde tatsächlich erst 1987 ein Bundesarchivge-
setz im Deutschen Bundestag verabschiedet, um die Auf-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619008
(A) (C)
(B) (D)
gaben des Bundesarchivs gesetzlich zu verankern . Bis
dahin arbeitete es lediglich auf der Grundlage von Ver-
waltungsvorschriften . So sicherte das Gesetz erstmals in
der deutschen Geschichte ein Recht jedes Bürgers auf die
Nutzung von Archiven . Damals wie heute ist das Ziel,
die Informations- und Wissenschaftsfreiheit zu fördern
und rechtlich abzusichern .
Gegenwärtig stehen wir vor der Aufgabe, das Bundes-
archiv zukunftsfähig zu machen . Und so haben wir im
Koalitionsvertrag das wichtige kulturpolitische Vorhaben
vereinbart, das Bundesarchivgesetz neu zu regeln und es
den Anforderungen des digitalen Zeitalters entsprechend
anzupassen . So ist ein wesentlicher Bestandteil der Neu-
fassung die Einführung von elektronischen Akten anstel-
le von Papierakten bis zum Jahr 2020, also die Einfüh-
rung der sogenannten E-Verwaltung . Weiter werden wir
Regelungen zu einem – auch digitalen – Zwischenarchiv
und zur Übernahme solcher elektronischer Unterlagen
aufnehmen, die einer laufenden Aktualisierung, jedoch
keinem Löschungsgebot unterliegen .
Auch an der Ausgestaltung der Anbietungspflichten
soll sich einiges ändern . Mit der Einführung einer als
Sollvorschrift ausgestalteten Anbietungspflicht beispiels-
weise sollen Unterlagen zukünftig spätestens 30 Jahre
nach ihrer Entstehung dem Bundesarchiv zur Verfügung
angeboten werden .
Ein ganz besonderes Anliegen der Neufassung ist die
Verbesserung der Nutzer- und Wissenschaftsfreundlich-
keit des Bundesarchivs . So wird vorgesehen, die perso-
nenbezogene Schutzfrist von dreißig auf zehn Jahre nach
dem Tod der betroffenen Person zu verkürzen . So hat es
sich bereits in vielen Landesarchivgesetzen schon be-
währt . Die personenbezogene Schutzfrist für Amtsträger
in Ausübung ihrer Ämter und Personen der Zeitgeschich-
te soll zukünftig ganz entfallen, wenn ihr schutzwürdiger
privater Lebensbereich nicht betroffen ist . Weiter werden
wir über die Verkürzung der Schutzfrist von sechzig auf
dreißig Jahre für dasjenige Archivgut, welches Geheim-
haltungsvorschriften des Bundes unterliegt, sprechen .
Ich meine, dass wir mit dem nun vorliegenden Regie-
rungsentwurf eine solide Arbeitsgrundlage haben, die
wir nun im Spannungsverhältnis von Informationsfrei-
heit und Datenschutz ausloten müssen . Darum wird es
in den nächsten Wochen gehen . Ich freue mich auf eine
konstruktive Zusammenarbeit .
Hiltrud Lotze (SPD): In den Jahren 1942 und 1943
verteilt die Widerstandsbewegung Weiße Rose Flugblät-
ter in Nazideutschland und ermutigt die Leser zum Wi-
derstand gegen das Naziregime . Die Widerstandsgruppe
junger Menschen macht ihren Mitbürgerinnen und Mit-
bürgern deutlich, dass jeder etwas beitragen könne zum
Sturz dieses Systems .
Der Mut und die Aufrichtigkeit der jungen Studieren-
den rund um Hans und Sophie Scholl sind bis heute vie-
len Menschen ein Vorbild . Auch einige ihrer Flugblätter
haben die Zeit überdauert – im Bundesarchiv .
Dort, in der Hauptstelle in Koblenz und in den Au-
ßenstellen, wird das Archivgut des Bundes und seiner
Vorgängerinstitutionen aufbewahrt . Das Bundesarchiv
hat den Auftrag, dieses Archivgut auf Dauer zu sichern,
nutzbar zu machen und wissenschaftlich zu verwerten .
Das Bundesarchiv hat dabei eine nicht zu unterschät-
zende Bedeutung für die Geschichte unseres Landes und
seine Bürgerinnen und Bürger . Als „Gedächtnis unseres
Staates“ und als Ort, in dem Zeugnisse der historischen
Meinungsbildung für die Zukunft verwahrt werden,
nimmt es die Aufgaben eines Nationalarchives wahr .
Hier findet man Zeugnisse über die positiven und die ne-
gativen Momente unserer Geschichte . Im Bundesarchiv
werden Fotos und Zeichnungen verwahrt, Urkunden, Ak-
ten, Karten und Tonstücke, die bei zentralen Stellen des
Heiligen Römischen Reiches, des Deutschen Bundes,
des Deutschen Reiches, der Besatzungszonen, der Deut-
schen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik
Deutschland entstanden sind . Unter ihnen sind auch be-
sagte Flugblätter der Weißen Rose . Dass ich heute davon
berichten kann, habe ich der Tatsache zu verdanken, dass
sie bis heute im Bundesarchiv aufbewahrt werden .
Wie genau das Bundesarchiv beim Sammeln und Ar-
chivieren vorgeht, wird im Bundesarchivgesetz geregelt .
Die zentralen Regelungsinhalte des geltenden Bundesar-
chivgesetzes stammen aus dem Jahre 1988 und wurden –
im Gegensatz zur Archivgesetzgebung der Länder –
seitdem nicht aktualisiert . Das BArchG war seinerzeit
wegweisend, ist heute jedoch lückenhaft zum Beispiel
im Hinblick auf die Digitalisierung . Deswegen haben wir
im Koalitionsvertrag festgelegt, das Bundesarchivgesetz
zu novellieren .
Ziel der Novellierung ist daher nicht nur eine um-
fassende Neustrukturierung, Straffung und sprachliche
Überarbeitung des Gesetzes von 1988 . Es soll auch Neu-
erungen geben, die die Nutzer- und Wissenschaftsfreund-
lichkeit verbessern, die Arbeitsfähigkeit im digitalen
Zeitalter erhalten und das Gesetz an die Bedürfnisse der
Informationsgesellschaft anpassen .
Geplant sind zum Beispiel die Verkürzung der perso-
nenbezogenen Schutzfristen von 30 Jahren auf zehn Jah-
re nach dem Tod der betroffenen Person und der Wegfall
der personenbezogenen Schutzfristen für Amtsträger in
Ausübung ihrer Ämter und Personen der Zeitgeschichte .
Es soll auch möglich sein, Schutzfristen für Archivgut,
das Geheimhaltungsvorschriften des Bundes unterliegt,
von 60 Jahren auf höchstens 30 Jahre zu verkürzen .
Hier liegt ein guter Entwurf vor . Der Gesetzentwurf
dient dazu, die Bedürfnisse der Informationsgesellschaft
zu befriedigen und das Archiv auch im digitalen Zeitalter
gut nutzen zu können .
Ich möchte an dieser Stelle aber auch auf ein paar kri-
tische Punkte hinweisen:
Unter anderem vor dem Hintergrund einer möglichen
Überführung der Stasi-Unterlagen ins Bundesarchiv
müssen wir darauf achten, dass der Anspruch aller Bür-
gerinnen und Bürger gegenüber Behörden auf Zugang zu
amtlichen Informationen nicht mit den Schutzfristen des
BArchG in Konflikt kommt.
Auch die Zugriffsrechte des Bundesarchivs müssen
sorgfältig abgewogen werden . Das Bundesarchiv muss
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19009
(A) (C)
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weitreichende Rechte innehaben, keine Frage . Gleichzei-
tig ist auch sicherzustellen, dass durch die Neuregelung
dem Bundesarchiv keine zu weitreichenden Kompeten-
zen zugesprochen werden, die zulasten von Regional-
und beispielsweise Parteiarchiven gehen könnten .
Unklar ist auch noch der Umgang mit Akten von Per-
sonen mit mehreren Ämtern, zum Beispiel Ministern,
die gleichzeitig wichtige Parteipositionen innehaben .
Welches Amt zählt hier mehr, und wo werden die Akten
aufbewahrt? Es muss auf jeden Fall verhindert werden,
dass Bestände auseinandergerissen und infolgedessen
historische Zusammenhänge nicht mehr erkannt werden
können .
Wie Sie sehen, gibt es noch ein paar offene Punkte, die
wir klären müssen . Wir werden deswegen im Ausschuss
für Kultur und Medien eine Fachanhörung mit Expertin-
nen und Experten durchführen und den Gesetzentwurf an
der einen oder anderen Stelle noch überarbeiten .
Sigrid Hupach (DIE LINKE): Dass die Neuregelung
des Archivgesetzes zu so später Stunde aufgesetzt ist, be-
fördert leider das gängige Klischee der verstaubten Ak-
ten, die sich in stickigen Kellern stapeln und für die sich
bis auf ein paar wenige Archivare niemand interessiert .
Diese Sicht verkennt jedoch, welche Bedeutung Archive
haben und wie weitreichend das Bundesarchivrecht ist .
Archive tragen für die Überlieferung all dessen Verant-
wortung, worauf kommende Generationen ihre Interpre-
tationen unserer Zeit, unseres Tuns gründen . Und nicht
zuletzt ermöglichen Archive auch die Kontrolle von Re-
gierungs- und Verwaltungshandeln .
Welche Fragestellungen in 30, in 50, in 100 Jahren re-
levant sein werden, das kann heute niemand wissen . Da-
her ist es umso wichtiger, dass es qualifiziertes Personal
an einer unabhängigen Stelle gibt, das die Bewertung der
verschiedensten Unterlagen neutral vornehmen und ent-
scheiden kann, was im Archiv verbleibt und was kassiert
wird . Für diese verantwortungsvolle Arbeit braucht es
eine gute Ausbildung und es braucht vor allem Unabhän-
gigkeit, insbesondere von den Stellen, die die Unterlagen
produziert haben .
Dass die Novellierung des Archivgesetzes aus dem
Jahr 1988 nun endlich angegangen wird, ist überfällig,
erst recht im digitalen Zeitalter . Die Digitalisierung bietet
ja nicht nur eine größere Benutzerfreundlichkeit, da die
Bestände der Archive leichter zugänglich sind . Sie hat
vor allem auch die gesamte Kommunikation beeinflusst
und somit das Entstehen von Unterlagen, die in vielen
Fällen nur noch digital vorliegen . Der Anpassungsbedarf
ist hier also besonders groß und besonders vielfältig . Nur
zwei Aspekte sollen diese Breite umreißen:
Ins Bundesarchivgesetz gehört für uns ein expliziter
Auftrag zur Digitalisierung von Inhalten – und das gehört
eingebettet in eine gesamtstaatliche Digitalisierungsstra-
tegie, wie wir Linken sie seit langem fordern .
Aber auch für den Datenschutz stellen sich durch die
Digitalisierung neue Herausforderungen: Wir sind heute
selbst sehr darauf bedacht, mit unseren persönlichen Da-
ten zurückhaltend umzugehen . Das sollten wir auch im
Umgang mit personenbezogenen Daten aus vergangener
Zeit tun – erst recht, da sich durch die Digitalisierung
ganz andere Möglichkeiten bieten, Informationen mitei-
nander zu verknüpfen . Gerade in der pädagogischen Ar-
beit hat es sich bewährt, anhand einzelner Schicksale die
Dimension der NS-Verfolgung ganz konkret zu machen
und den Opfern ihren Namen zurückzugeben . Jedoch
heißt das nicht, dass man von der Person alles Private öf-
fentlich machen darf, was in den zugänglichen Akten zu
finden ist. Hier brauchen wir gerade auch für die vielen
ehrenamtlichen Engagierten eine fundierte Begleitung
durch ausreichend Personal in den Archiven .
Maßgeblich ist, dass das neue Gesetz den Zugang zu
den Akten erleichtert – im Sinne von mehr Transparenz
und erst recht für wissenschaftliche Zwecke . Jedoch
erweist sich der vorliegende Gesetzentwurf an so man-
cher Stelle eher als forschungshemmend . Problematisch
sind zum Beispiel die fehlende Definition der „Dritten“,
so schwammige Formulierungen wie „Entstehung der
Unterlagen“ oder „Menschenrechtsverletzung“ bei den
Schutzfristenregelungen oder aber auch die Tatsache,
dass die abgebende Stelle weiterhin mitreden darf, ob
eine Sperrfrist verkürzt wird oder nicht .
In den vergangenen 30 Jahren sind die Ansprüche an
Transparenz und Informationsfreiheit enorm gewachsen,
denen ein neues Bundesarchivgesetz genügen muss . Ge-
nau das aber tut es in der vorliegenden Fassung nicht .
Mit der Einführung des Informationsfreiheitsgesetzes
(IFG) wurde auch das Bundesarchivgesetz entsprechend
geändert, indem eine Ausnahme von der Schutzfrist for-
muliert wurde für Unterlagen, die bereits einem Infor-
mationszugang nach IFG offengestanden haben . Im Un-
terschied dazu bezieht sich der vorliegende Entwurf nun
nur auf diejenigen Unterlagen, für die die Einsicht auch
gewährt worden ist . Das heißt also, dass Unterlagen, für
die das Recht auf Informationsfreiheit noch nicht genutzt
wurde, nach Überführung ins Archiv 30 Jahre lang unzu-
gänglich bleiben . Das darf im Sinne von mehr Transpa-
renz auf keinen Fall so bleiben!
Auch sollten wir uns über die Aufgabenbestimmung
des Bundesarchivs noch genauer verständigen . Sicher,
das Bundesarchiv ist ein Archiv für die Unterlagen des
Bundes und seiner Behörden, und es ist gut, dass mit
dem Gesetzentwurf klarere Pflichten an die abgebenden
Stellen formuliert werden . Auch begrüßen wir, dass die
Akten des Auswärtigen Amtes dem Bundesarchivgesetz
unterstellt werden .
Abgesehen vom Verwaltungshandeln ist das Bundes-
archiv jedoch auch eine Gedächtnisinstitution der ge-
samten Gesellschaft . So ist es positiv, dass sich in der
Gesetzesbegründung auch der Bezug zur Sozial-, Kultur-
und Geistesgeschichte findet, also auch Privatpersonen
oder nichtstaatliche Organisationen ins Blickfeld rücken .
Hierbei brauchen wir aber klare Regeln, welche Stellen
ihre Unterlagen abgegeben müssen und welche es ledig-
lich können, wenn sie denn wollen .
Legt man dieses weite Verständnis zugrunde, sind
die Aufgaben im Gesetzentwurf jedoch an vielen Stel-
len zu eng gefasst, zum Beispiel beim filmischen Erbe.
Der Film ist ein dem Buch gleichwertiges Kulturgut und
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619010
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(B) (D)
das Filmerbe ein zentraler Teil unseres kulturellen Ge-
dächtnisses . Daher fordern wir Linke seit Jahren eine
Pflichtexemplarregelung ähnlich wie für Bücher bei der
Deutschen Nationalbibliothek . Schon in der letzten Le-
gislatur haben wir das thematisiert und auch in diesem
Jahr in unseren beiden Anträgen zur Filmförderung und
zur Sicherung des Filmerbes . Mit der Novellierung des
Bundesarchivgesetzes sollten wir die Chance nun end-
lich nutzen, den Film so wie das Buch zu schützen und
den Zugriff auf alle öffentlich aufgeführten Filme, seien
es nun Kurz- oder Spielfilme, Kultur- oder Dokumen-
tarfilme, Animations- oder Werbefilme, mit Hilfe einer
Hinterlegungspflicht zentral im Bundesarchiv zu ermög-
lichen .
Im vergangenen Jahr hatte sich auch die Experten-
kommission zur Zukunft der Stasiunterlagenbehörde
ausführlich mit den Anforderungen an ein neues Bundes-
archivgesetz beschäftigt . Es ist sehr bedauerlich, dass die
Koalition deren Empfehlungen sang- und klanglos in der
Schublade hat verschwinden lassen . Mit der Überfüh-
rung ins Bundesarchiv hätten sich die Akten gerade nicht
geschlossen, sondern wären vielmehr einer umfassenden
Analyse im Gesamtkontext der Überlieferung zur SBZ/
DDR erst geöffnet worden .
Zuletzt noch zu einer Neuregelung, die wir Linke
für unnötig und hoch problematisch halten und die das
eingangs beschriebene Gebot zur Unabhängigkeit kon-
terkariert, nämlich die Fachaufsicht der Beauftragten für
Kultur und Medien . Im Entwurf ist nämlich nicht eindeu-
tig geklärt, dass diese Fachaufsicht keinen Einfluss auf
die Bewertungsentscheidungen im Bundesarchiv haben
wird . Diese Neuregelung bekommt außerdem ein beson-
deres Geschmäckle, wenn man sie in Beziehung zu den
Ausnahmeregelungen für die Abgabe von Unterlagen
der Nachrichtendienste setzt . Nachdem die Unabhängi-
ge Historikerkommission zur Geschichte des BND ihre
Arbeit abgeschlossen hatte, sollten die Akten aus der
Frühzeit des BND eigentlich ins Bundesarchiv überführt
werden . Nun wird im Gesetz aber formuliert, dass die
Unterlagen der Nachrichtendienste dem Bundesarchiv
nur anzubieten sind, wenn dem keine schutzwürdigen In-
teressen der bei den Nachrichtendiensten beschäftigten
Personen entgegenstehen . Diese sehr dehnbare Formu-
lierung stellt einen verhängnisvollen Rückschritt dar und
leistet der schon viel zu lange währenden Geheimhal-
tungstaktik auch noch Vorschub . Gerade angesichts des
vielfältigen Versagens der Nachrichtendienste bei der
Aktenführung und Archivierung, wie es zuletzt auch im
Zusammenhang mit dem NSU-Komplex zutage getre-
ten ist, ist diese Ausnahmeregelung völlig inakzeptabel .
Wir brauchen endlich eine gesetzliche Regelung, die die
Akteneinsicht nach 30 Jahren auch bei Unterlagen der
Nachrichtendienste sicherstellt .
Im parlamentarischen Prozess sind also noch einige
hochspannende Fragen zu klären .
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „Leg
Dein Ohr auf die Schiene der Geschichte“ sang die deut-
sche Hip-Hop-Band Freundeskreis . Der Gesetzentwurf
für eine Neuregelung des Bundesarchivrechts soll theo-
retisch genau dies ermöglichen: dass wir unser Ohr auf
die Schiene der Geschichte legen . Dieser Gesetzentwurf
ist überfällig . Die zahlreichen Informationsfreiheitsge-
setze und die fortschreitende Digitalisierung in unserer
Gesellschaft bedingen ein Update des Bundesarchivge-
setzes .
Als Filmpolitikerin schaue ich natürlich auch auf die
Sicherung und Digitalisierung des nationalen Filmerbes .
Viele Experten befürchten, dass die aktuell brennenden
Fragen des Filmerbes im vorliegenden Gesetzesentwurf
nicht ausreichend berücksichtigt oder thematisiert wer-
den . Ich teile diese Befürchtung . So ist beispielsweise
die Definition „Kinofilm“ eine sehr enge. Was aber ist
mit dokumentarischem Filmmaterial, das oft gar nicht für
eine öffentliche Aufführung in einem Kino gedacht, aber
als Zeitdokument von besonderer Bedeutung ist? Gera-
de dieses sollte in einem Bundesarchiv für die Nachwelt
verwahrt werden. Wenn nicht Dokumentarfilme, was
denn dann? Und was ist mit DVD- oder Heimvideoma-
terial, das auch nicht unter die Kategorie Kinofilm fällt?
Bei meinem Besuch im Bundesarchiv in Koblenz Mit-
te August kam die Kassationspraxis, also die kontinuier-
liche Vernichtung von originalem Nitrofilmmaterial zur
Sprache . Danach wurden bereits digitalisierte Filme ver-
nichtet, ohne dass diese viele Jahre gängige Praxis infra-
ge gestellt wurde . Im Bundesarchiv glaubte man, sie sei-
en aufgrund der Explosionsgefahr von Nitrofilmen nach
dem Sprengstoffgesetz zur Vernichtung verpflichtet. Erst
aufgrund meiner Anfrage bei der Beauftragten für Kultur
und Medien wurde diese Praxis gestoppt . Die rechtlichen
Grundlagen für die Kassation werden jetzt geprüft .
Es wurden aber auch Filme, die vom Bundesarchiv
als nicht erhaltenswertes Filmerbe eingestuft, vernichtet .
Das macht deutlich, dass wir uns dringend darüber ver-
ständigen müssen: Welche Originale und wie viel Film-
material soll erhalten werden? Wer entscheidet eigentlich
darüber, welche Filme vernichtet werden und welche „ar-
chivwürdig“ und „kultur- und filmhistorisch besonders
bedeutsam“ sind? Ich teile die Haltung des deutschen Ki-
nemathekverbunds, dass auch eine analoge Archivierung
der Originale wünschenswert ist . Die Originale transpor-
tieren Informationen, die digital verloren gehen .
All diese drängenden Fragen werden in dem vorlie-
genden Gesetzentwurf überhaupt nicht angesprochen .
Hier besteht dringender Nachbesserungsbedarf .
Und mit Digitalisierung alleine ist es ja auch nicht
getan . In diesem Bereich lauern viele Probleme, auf die
der Entwurf nicht eingeht, zum Beispiel, in welchem
Format die Filme gespeichert werden sollen . Es gibt der-
zeit in Deutschland kein Standardarchivformat für Filme .
Nebenbei: Die Bundesregierung hat uns seit 2015 eine
umfassende Digitalisierungsstrategie im Filmbereich
versprochen . Auf die Umsetzung warten wir noch heute .
Und die Frage der Finanzierung für die Digitalisierung
ist auch immer noch ungeklärt . Das ist zu wenig .
Nun geht es im vorliegenden Entwurf ja nicht nur um
Filmerbe . In seinem Wesen ist das Bundesarchivrecht
ein Informationszugangsgesetz . Und durch genau diese
Brille müssen wir den Gesetzentwurf auch kritisch be-
trachten . Ein besonders wichtiger Punkt hierbei ist die
Schutzfrist für Archivgut . Unterlagen, die bereits mithil-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19011
(A) (C)
(B) (D)
fe des Informationsfreiheitsgesetzes für die Öffentlich-
keit zugänglich waren, dürfen bei der Übergabe an das
Bundesarchiv nicht wieder unzugänglich gemacht wer-
den . Die Erstreckung der Zugangsregelungen auch auf
das politische Archiv des Auswärtigen Amtes sollten wir
zum Anlass nehmen, den Zugang zu anderen politischen
Archiven und nachgeordneten Behörden von Bundesmi-
nisterien zu ermöglichen . Das schließt das Archiv des
BND ein . Wenn wir bedenken, wie viele Akten bereits
in den Behörden unserer Geheimdienste auf ungeklärte
Weise verschwunden oder vernichtet wurden, halte ich
das für dringend erforderlich .
Auch mit vielen weiteren Themen müssen wir uns
noch beschäftigen, wie unter anderem mit der Privati-
sierung von Akten und deren Auslagerung, Datenschutz-
und E-Government-Fragen, Anbietungspflicht von Mel-
deregistern und der Zugänglichmachung von Meldedaten
für Big Data und vielen anderen . Sie sehen, es liegt noch
einiges an Arbeit und Diskussion vor uns .
Wir müssen bei der Behandlung der Novelle zum Bun-
desarchivrecht große Sorgfalt walten lassen, damit am
Ende nicht nur wir, sondern auch unsere Nachkommen
ihr Ohr auf die Schiene der Geschichte legen können .
Monika Grütters, Staatsministerin bei der Bundes-
kanzlerin: Das Bundesarchiv, das in Deutschland die
Aufgaben eines Nationalarchivs wahrnimmt, ist so etwas
wie das Gedächtnis unseres Staates: Hier wird Schriftgut
der Bundesbehörden aufbewahrt – Dokumente, Vorla-
gen, Briefe und Akten –, und zwar nicht nur und nicht in
erster Linie zur Dokumentation administrativer Prozesse,
sondern auch und vor allem zum Zweck der Nachvoll-
ziehbarkeit politischer Entscheidungen .
Das Bundesarchiv stellt die Transparenz staatlichen
Verwaltungshandelns sicher und hilft uns, den Kontext,
die Motive und Gründe früherer politischer Entscheidun-
gen und historischer Ereignisse zu verstehen . Das ist eine
gewaltige Aufgabe – und eine große Verantwortung . Um
dieser Aufgabe und Verantwortung gerecht zu werden,
bedarf es einer soliden rechtlichen Grundlage, die auf der
Höhe der Zeit ist, und das heißt insbesondere: die der
fortschreitenden Digitalisierung Rechnung trägt . Das be-
stehende Gesetz aus dem Jahr 1988 ist dafür nicht länger
geeignet . Im Arbeitsalltag des Bundesarchivs erweisen
sich viele derzeit bestehende Regelungen als nicht mehr
zeitgemäß, gerade mit Blick auf die technischen und da-
tenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen . Union und
SPD haben deshalb – einem fraktionsübergreifenden Be-
schluss des Deutschen Bundestages in der vergangenen
Legislaturperiode entsprechend – im Koalitionsvertrag
vereinbart, das Bundesarchivgesetz zu novellieren und
das Bundesarchiv dabei auch in die Lage zu versetzen,
den Anforderungen gerecht zu werden, die sich aus der
elektronischen Verwaltung ergeben .
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, brin-
gen wir dieses wichtige kulturpolitische Vorhaben nun
auf den Weg . Ich freue mich und danke allen Beteiligten,
dass uns damit ein – wie ich meine – sachgerechter und
ausgewogener Interessenausgleich gelungen ist . Lassen
Sie mich die wesentlichen Neuerungen anhand einiger
Beispiele erläutern:
Erstens: das Bundesarchiv soll durch Überarbeitung
der Zugangsregelungen nutzer- und wissenschafts-
freundlicher werden .
Dazu sieht der Gesetzentwurf zum einen Änderungen
hinsichtlich der Schutzfristen vor . Personenbezogene
Schutzfristen werden von 30 auf 10 Jahre nach dem Tod
der betroffenen Person verkürzt . Sie sollen außerdem für
Amtsträger und Personen der Zeitgeschichte wegfallen,
soweit nicht ihr schutzwürdiger privater Lebensbereich
betroffen ist . Darüber hinaus soll es künftig die Möglich-
keit geben, die Schutzfrist für Archivgut, das Geheimhal-
tungsvorschriften des Bundes unterliegt, von 60 Jahren
auf höchstens 30 Jahre zu verkürzen . Die Ministerien und
Ressorts können künftig eine allgemeine Vereinbarung
mit dem Bundesarchiv schließen, in der sie auf die bis-
her erforderliche Beteiligung im Verfahren der Schutz-
fristverkürzung verzichten . Das wird die Bearbeitung der
Benutzeranträge im Bundesarchiv vor allem im Interesse
der wissenschaftlichen Forschung deutlich vereinfachen .
Zum anderen sollen im Sinne einer verbesserten Nut-
zerfreundlichkeit künftig nicht nur die Betroffenen selbst
Recht auf Auskunft über Unterlagen zu ihrer Person im
Archivgut des Bundes haben, sondern nach dem Tod
der Betroffenen auch die Angehörigen, wenn sie ein be-
rechtigtes Interesse nachweisen können . Das erleichtert
beispielsweise die Aufarbeitung individueller Familien-
geschichte .
Zweitens: Die Arbeitsweise des Bundesarchivs soll
zur Stärkung seiner Arbeitsfähigkeit an die Möglichkei-
ten und Erfordernisse des digitalen Zeitalters angepasst
werden . Dafür gibt es neue Regelungen zum Umgang mit
elektronischen Unterlagen . Die Einführung des E-Gov-
ernment-Gesetzes und der damit verbundene Übergang
von der Papierakte zur elektronischen Akte stellt ja nicht
nur die laufende Verwaltung in den Bundesbehörden vor
neue Herausforderungen . Auch das Bundesarchiv muss
sich mit Blick auf die Langzeitarchivierung originär di-
gitaler Daten auf die veränderten Rahmenbedingungen
einstellen . Die neuen Regelungen zum digitalen Zwi-
schenarchiv des Bundes sind dabei für alle Beteiligten
ein Gewinn: Die Bundesbehörden werden künftig bereits
im Stadium der Zwischenarchivierung von IT-techni-
schen Aufgaben entlastet, während das Bundesarchiv in
die Lage versetzt wird, frühzeitig, nachhaltig und fach-
gerecht für die digitale Langzeitarchivierung Sorge zu
tragen .
Mit diesen Neuregelungen machen wir das Bundes-
archiv fit für das digitale Zeitalter und erleichtern Wis-
senschaftlern und Journalisten, aber auch Privatperso-
nen den Zugang zu dem ungeheuren Schatz an Wissen,
der dort in Akten und Dokumenten gespeichert ist . „Je
weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man
vorausschauen“, hat Winston Churchill einmal gesagt . In
diesem Sinne hoffe ich, dass die Novellierung des Bun-
desarchivgesetzes uns dabei hilft, den Blick zurück wie
auch den Blick voraus zu schärfen, und bitte um Ihre Zu-
stimmung zu unserem Gesetzentwurf .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619012
(A) (C)
(B) (D)
Anlage 29
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung
der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des
öffentlichen Dienstes im Bereich des Bundes (Ta-
gesordnungspunkt 35)
Markus Koob (CDU/CSU): Wir haben in Deutsch-
land 16 Millionen Kinder, die Kindergeld beziehen, das
entspricht einem Auszahlungsvolumen von über 39 Mil-
liarden Euro im Jahr . Zurzeit bearbeiten über 8 000 klei-
ne und kleinste, dezentrale Familienkassen die Kinder-
geldanträge von öffentlichen Bediensteten, also nur rund
13 Prozent aller zu bearbeitenden Anträge in Deutsch-
land . Da keine gesetzliche Anmeldungs- und Registrie-
rungspflicht besteht, sind keiner Behörde alle Familien-
kassen bekannt . Die Bundesagentur für Arbeit verfügt
über 14 Familienkassen, die 87 Prozent der Kindergeld-
fälle bearbeiten, die restlichen 13 Prozent werden von
den übrigen über 8 000 einzelnen Familienkassen des öf-
fentlichen Dienstes bearbeitet . Hier besteht ein dringen-
der Reformbedarf, um einen modernen und wirtschaft-
lichen Verwaltungsvollzug zu schaffen, dem wir mit
diesem Gesetzentwurf nur zu gerne nachkommen . Er ist
als Maßnahme Teil des vom Bundeskabinett am 4 . Juni
2014 beschlossenen Arbeitsprogramms „Bessere Recht-
setzung 2014“ für eine bürgerfreundlichere Verwaltung .
Das uns heute vorliegende Gesetz zur Beendigung der
Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen
Dienstes ist hauptsächlich eine Strukturreform der Zu-
ständigkeiten . So wird durch dieses Gesetz zum Beispiel
die Zuständigkeit für das Bundesamt für Zentrale Diens-
te und offene Vermögensfragen vom Bundesministerium
des Innern auf das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales übertragen . Hauptziel des Gesetzes ist es aller-
dings, die 100 Familienkassen des öffentlichen Dienstes
bis 2022 an die Bundesagentur für Arbeit oder das Bun-
desverwaltungsamt zu überführen . Im Zuge dessen wird
den Ländern und Kommunen die Möglichkeit gegeben,
die Zuständigkeiten ebenfalls abzugeben . Im Bereich der
Länder kommt es zu keiner automatischen Übertragung,
die Sonderzuständigkeit bleibt dort erhalten, und es liegt
im Ermessen der Länder, wem sie die Aufgabe übertra-
gen . Damit kann sichergestellt werden, dass Familienkas-
sen ihre Zuständigkeiten und Aufgaben behalten können,
jedoch die kleineren Familienkassen mit sehr geringen
Fallzahlen die Zuständigkeit an die Bundesagentur für
Arbeit oder das Bundesverwaltungsamt übertragen kön-
nen . Durch die geringen Fallzahlen bei den Familienkas-
sen des öffentlichen Dienstes sind keine standardisierten
Arbeitsabläufe oder Erreichung von Mindeststandards
möglich . Zudem muss ein bundesweites, einheitliches
Datennetzwerk geschaffen werden, damit Kindergeldda-
ten zentral gespeichert werden können und ein Abgleich
zwischen den Familienkassen ermöglicht wird .
Es wurden Bedenken an mich herangetragen, dass
durch dieses Gesetz die Kindergeldbearbeitung von den
Bürgerinnen und Bürgern weiter entfernt werde und es
die Kontaktaufnahme mit den Ansprechpartnerinnen und
Ansprechpartnern erschweren würde . Dazu kann ich nur
sagen, dass die Agentur für Arbeit bereits jetzt schon da-
für sorgt, dass von 8 bis 18 Uhr kompetente Sachbearbei-
terinnen und Sachbearbeiter für Fragen und Auskünfte
kostenlos zur Verfügung stehen . Durch den bundeswei-
ten Zugriff auf die elektronischen Kindergeldakten müs-
sen die Kindergeldberechtigten außerdem nicht mehr
lange auf umfassende Auskunft über ihren Fall warten .
Dadurch kann die Wartezeit pro Fall durchschnittlich auf
elf Tage reduziert werden . Diese Bedenken muss ich da-
her vehement als unbegründet zurückweisen .
Der Bundesrechnungshof hat in seinem Jahresbericht
von 2015 veröffentlicht, dass alleine in den Jahren von
2007 bis 2009 1 306 Fälle ermittelt wurden, in denen
Kindergeld für dasselbe Kind doppelt ausgezahlt wur-
de . Dies entspricht einem Schaden von über 9 Millionen
Euro . Diese Fälle werden künftig gerade durch die Zu-
sammenlegung der Familienkassen verhindert werden .
Es ist klar, dass durch die Überführung kurzfristig er-
höhte Kosten entstehen können . Bei der Bundesagentur
für Arbeit kommt es zu einem einmaligen Aufwand von
rund 22,25 Millionen Euro, bei dem Bundesverwaltungs-
amt werden die zusätzlichen Kosten 1,95 Millionen Euro
betragen . Mittelfristig wird es jedoch zu Einsparungen
von mindestens 8,5 Millionen Euro jährlich kommen –
bei jedem Kindergeldfall, der übertragen wird, lassen
sich somit 20 Euro einsparen . Der Gesetzentwurf bein-
haltet somit nicht nur rein strukturelle Vorteile, sondern
bietet auch ganz konkrete Einsparmöglichkeiten im
Verwaltungsvollzug . Dies steht ganz im Zeichen einer
transparenter organisierten, nachhaltigeren und effizi-
enteren Verwaltungsstruktur in Deutschland und findet
daher ebenso meine vollste Unterstützung wie das An-
gebot webbasierter Antragsformulare, die sowohl dem
Anspruch einer modernen, digitalisierten Verwaltung
entsprechen als auch den Familien die Antragsstellung
um ein Vielfaches erleichtern .
Die Reform bietet nicht nur signifikante und zukunfts-
orientierte Effizienzvorteile, sondern auch ein nachhalti-
ges Einsparpotenzial und ist damit sowohl im Interesse
der Familien als auch des steuerzahlenden Bürgers und
der steuerzahlenden Bürgerin .
Ich bitte daher um Ihre Zustimmung zu diesem Ge-
setzentwurf .
Frank Junge (SPD): Was lange währt, wird endlich
gut . Dieses bekannte Sprichwort trifft sehr gut auf den
vorliegenden Gesetzentwurf zur Beendigung der Son-
derzuständigkeit der Familienkassen des öffentlichen
Dienstes im Bereich des Bundes zu . An diesem Gesetz
haben Bund und Länder fast fünf Jahre gearbeitet . Das
Resultat beraten wir heute in erster Lesung im Deutschen
Bundestag . Am 4 . Juni beschloss das Bundeskabinett das
Arbeitsprogramm „Bessere Rechtssetzung 2014“ . Ziel
dieser Maßgaben ist eine effiziente und wirtschaftliche
sowie bürgerfreundliche Verwaltung . Das vorliegende
Gesetz lässt sich unter diesen Gesichtspunkten nahtlos in
dieses Programm einordnen .
Wie stellt sich der gegenwärtige Stand dar? In Deutsch-
land wird derzeit für mehr als 16 Millionen Kinder ein
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19013
(A) (C)
(B) (D)
Kindergeld gezahlt . Hierfür gibt es zwei Strukturebenen
in den Verwaltungen, die parallel dafür verantwortlich
sind, Kindergeld an die berechtigten Eltern auszuzahlen .
Auf der einen Seite sind da 14 Familienkassen der
Bundesagentur für Arbeit, welche die Auszahlung für
etwa 87 Prozent der Kinder veranlassen . Die übrigen
13 Prozent der Kindergeldfälle betreffen Kinder von
Bediensteten des öffentlichen Dienstes . Und die werden
von derzeit circa 8 000 einzelnen Familienkassen verwal-
tet . Etwa 7 000 dieser Familienkassen bearbeiten weni-
ger als 200 Kindergeldfälle, zum Teil sogar lediglich 20
oder 30 . Ein so aufgeblähter Apparat entspricht in keiner
Weise einer zeitgemäßen und modernen Verwaltung . Un-
tersuchungen zeigen, dass es 80 Prozent der Familien-
kassen des öffentlichen Dienstes nicht möglich ist, die
Kindergeldzahlungen in einer insgesamt zufriedenstel-
lenden Qualität zu bearbeiten . Die Fallzahlen sind hierzu
einfach zu gering . Diesen Missstand wollen wir mit dem
vorliegenden Gesetz beheben, damit die Kindergeldzah-
lungen zukünftig einfacher, effizienter und unbürokrati-
scher vonstattengehen können .
Erreichen wollen wir das dadurch, indem wir die
Familienkassen, die für Angestellte des öffentlichen
Dienstes im Bereich des Bundes verantwortlich sind, in
die Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit und des
Bundesverwaltungsamtes überführen . Zusätzlich wollen
wir den öffentlichen Arbeitgebern der Länder und Kom-
munen ebenfalls die Möglichkeit geben, ihre Kindergeld-
zahlungen an die Bundesagentur für Arbeit auszuglie-
dern . Als Ziel haben wir uns das Jahr 2022 gesetzt – bis
dahin soll die Überführung vollzogen sein .
Drei wichtige Gründe sprechen für dieses Gesetz . Ers-
tens entbürokratisieren wir unsere Verwaltung, machen
sie effizienter und wirtschaftlicher.
Zum Zweiten ist nach einer Zusammenlegung der
Familienkassen mit deutlichen Kostenersparnissen zu
rechnen . Sicher ist der bis dahin zu leistende Aufwand
zum Teil immens . Insgesamt entstehen zum Beispiel für
die Konzentration der Familienkassen zunächst Kosten
von etwa 25 Millionen Euro, wovon circa 22 Millionen
Euro auf die Bundesagentur für Arbeit entfallen . Auch
steigen die Ausgaben der BA ab 2022 um insgesamt circa
7,5 Millionen Euro jährlich durch den Anstieg und den
erhöhten Arbeitsaufwand in der Bearbeitung der Kinder-
geldzahlungen . Dem gegenüber stehen mittelfristige Ein-
sparungen bei den öffentlichen Arbeitgebern des Bundes
von mindestens 8,5 Millionen Euro jährlich . Perspekti-
visch wird die Bearbeitung des einzelnen Kindergeldfalls
für die Verwaltung durchschnittlich um 20 Euro pro Jahr
günstiger .
Zum Dritten wollen wir damit die Betrugsanfälligkeit
des aktuellen Systems bekämpfen . In den letzten Mona-
ten sind mehrfach Enthüllungen von doppelten Kinder-
geldzahlungen ans Licht der Öffentlichkeit gekommen .
Heute ist es so, dass eine Familie, bei der der eine Ehe-
partner öffentlich Bediensteter und der andere Ehepart-
ner in der Privatwirtschaft tätig ist, zweimal Kindergeld
für das gleiche Kind beantragen kann . Ob hier Vorsatz
zugrunde liegt oder nicht, das ist unzulässig . Allerdings
fällt dieser Betrug nicht auf, weil die zuständigen Fami-
lienkassen ihre Datenbestände untereinander entweder
gar nicht oder nur unzureichend abgleichen . Vor diesem
Hintergrund können unrechtmäßige Doppelzahlungen
auch immer wegen Systemfehlern passieren . Das geht so
nicht .
Das alles sind in meinen Augen wichtige Gründe, um
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf in vernünftiger Art
und Weise Hand anzulegen und die Situation zu verbes-
sern . Insofern lade ich Sie alle herzlich ein, dies im par-
lamentarischen Verfahren gemeinsam tun . Ich bin mir
sicher, dass wir das vorliegende Gesetz über diesen Weg
zu einem erfolgreichen Abschluss bringen werden .
Susanna Karawanskij (DIE LINKE): In Deutsch-
land erhalten Eltern von mehr als 16 Millionen Kindern
Kindergeld . Dazu, ob das Kindergeld hoch genug ist oder
nicht, kommen wir später noch . Im Jahr 2015 wurden über
39 Milliarden Euro von den Familienkassen ausgezahlt .
Es gibt dabei 14 Familienkassen der Bundesagentur für
Arbeit, die das Kindergeld für rund 87 Prozent aller Kin-
der hier in Deutschland bearbeiten . Daneben gibt es über
8 000 einzelne Familienkassen des öffentlichen Dienstes
für die übrigen 13 Prozent . Sie bearbeiten das Kindergeld
primär für Kinder von öffentlich Bediensteten .
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll eine Struk-
turreform bei den Familienkassen des öffentlichen
Dienstes eingeleitet werden . Die Kindergeldbearbeitung
in diesen Familienkassen soll zukünftig auf die Bundes-
agentur für Arbeit übergehen . Es ist folglich eine Zusam-
menführung der Kindergeldbearbeitung bei der Bundes-
agentur für Arbeit geplant . Das klingt erst einmal sehr
vernünftig . Obwohl man froh sein muss, hier im Hohen
Haus kein Dauerschreien der FDP nach Bürokratieabbau
hören zu müssen, ist zu konstatieren, dass die angestrebte
Verwaltungsvereinfachung sicherlich wünschenswert ist .
Zum einen ist eine gleichmäßigere Rechtsanwendung ist
durch die Leistung aus einer Hand . Wir hoffen, dass es so
zukünftig weniger fehlerhafte Kindergeldfestsetzungen
geben wird . Zum anderen kann auf mittlere Sicht auch
einiges an Geld eingespart werden . Der Gesetzentwurf
sieht aber eine recht lange Übergangsphase vor . Ob der
finanzielle Aufwand und die Einsparungen letzten Endes
so sein werden, wie im Gesetzentwurf angegeben, wird
sich noch zeigen .
Doch wann immer von Bürokratieabbau und Kosten-
senkungen die Rede ist, muss man auch die andere Seite
der Medaille betrachten . Im Gesetz ist zu lesen, dass die
Zahl der zuständigen Stellen reduziert wird . Es ist also
nicht geplant, jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter
auf eine andere Planstelle zu setzen . Schon in der Über-
gangsphase drohen erste Entlassungen, getarnt als Um-
strukturierungsmaßnahme . Kurzum: Bei Umsetzung die-
ses Gesetzentwurfs fallen Arbeitsplätze weg . Dies ist ein
sehr harter Preis für die gerade beschriebenen Einsparun-
gen . Dies bereitet uns böse Bauchschmerzen und kann
die Linke nicht dem Gesetzentwurf zustimmen lassen .
Nun ging vor kurzem durch die Medien, dass Finanz-
minister Schäuble das Kindergeld um 2 Euro monatlich
erhöhen möchte . Das ist doch der blanke Hohn . Für
Geringverdiener oder Alleinerziehende verpufft doch
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619014
(A) (C)
(B) (D)
diese winzige Erhöhung geradezu . Hier verstärkt sich
mein Eindruck, dass der Bundesregierung die aktuellen
Zahlen zur Kinderarmut in Ost- wie in Westdeutschland
überhaupt nicht geläufig zu sein scheinen. Im Osten
Deutschlands kommen beispielsweise 21,6 Prozent der
Kinder aus Hartz-IV-Haushalten, also rund jedes fünfte
Kind . 2 Millionen Kinder leben in einem reichen Land
wie Deutschland in Armut – Tendenz steigend . Setzen
Sie doch auch dafür ihre gestern im Finanzausschuss so
hoch gelobten „sprudelnden Steuereinnahmen“ ein . Aber
das tun Sie gerade nicht . Ihre Politik folgt der Prämisse:
„Arm bleibt arm. Basta.“ Doch damit finden wir als Lin-
ke uns nicht ab . Aus diesem Grund haben wir nun einen
Aktionsplan gegen Kinderarmut, Bundestagsdrucksa-
che 18/9666, ganz frisch in den Bundestag eingebracht .
Denn uns ist jedes Kind gleich viel wert . Lesen Sie sich
einfach diesen Aktionsplan durch; es lohnt sich . Wir
sprechen uns nicht nur für eine eigenständige Kinder-
grundsicherung aus, sondern fordern auch flankierende
Maßnahmen, die Eltern aus der Armut führen – denn
Kinderarmut ist meist Einkommensarmut der Eltern –:
einen höheren Mindestlohn, eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf, eine sanktionsfreie Mindestsi-
cherung und eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes,
das dann die Familienkassen aus einer Hand auszahlen
sollen . Dies ist ein kleiner Ansatzpunkt, den Reichtum
unserer Gesellschaft gerechter zu verteilen . Und der tut
dringend not .
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am
1 . September 2016 titelte die Bild-Zeitung: Staatsdiener
kassierte 15,5 Jahre doppelt . Worum ging es dabei? Um
Kindergeldbetrug . Elternpaare, bei denen einer von bei-
den verbeamtet ist, hatten sich jahrelang das Kindergeld
doppelt auszahlen lassen: einmal von der Familienkasse
des öffentlichen Dienstes, zum anderen von der Bun-
desagentur für Arbeit . Möglich war das, weil eben zwei
Familienkassen für die Familie zuständig waren und sie
nicht miteinander kommunizierten .
Der eigentliche Skandal ist aber: Diese Betrugsfälle
sind seit dem Jahr 2009 bekannt . Da hat der Bundesrech-
nungshof darauf hingewiesen . Auch ich habe mehrmals
danach darauf aufmerksam gemacht, aber die Bundesre-
gierung hat nicht reagiert . Scheinheilig hat sie zwar dann
2014 das Gesetz zum Kindergeld geändert – aber das we-
gen angeblichen Missbrauchs durch Ausländer, von Be-
amten war keine Rede! Es wurde beschlossen, die Identi-
fikationsnummer des Kindes abzugleichen, aber das erst
ab 2016 – warum, ist völlig unverständlich! Es ist ein
Skandal, dass der Kindergeld-Betrug noch so lange nach
Bekanntwerden möglich war, nicht nur, weil das Gesetz
so spät greift, sondern weil zwischen den verschiedenen
Familienkassen nicht schon seit 2009 ein Datenabgleich
erfolgte, um Missbrauch zu vermeiden . Die Bekämpfung
des Betrugs durch die eigenen Beamten scheint bei der
Regierung keine Priorität zu haben .
Der nun vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Been-
digung der Sonderzuständigkeit der Familienkassen des
öffentlichen Dienstes steht offensichtlich im Zusammen-
hang mit dem Kindergeldbetrug . Denn er wurde durch
den Wildwuchs bei den Familienkassen erst möglich .
Während 14 Familienkassen der Bundesagentur für
Arbeit den Löwenanteil aller Kindergeldfälle bearbeiten,
sind für die Kinder von öffentlich Bediensteten tatsäch-
lich 8 000 einzelne Familienkassen zuständig . Ich wie-
derhole: 8 000 Kassen nur für Kinder von Beamten . Sie
bearbeiten gerade einmal 13 Prozent der Kindergeldbe-
rechtigten im Land . Das steht in einem grotesken Miss-
verhältnis . Auch das monierte der Bundesrechnungshof
im Hinblick auf die Effizienz bereits schon vor vielen
Jahren .
Deshalb halte ich die Richtung des Gesetzentwurfes –
so spät er kommt – für unumgänglich . Die Vielzahl an
Kassen ist nicht zu rechtfertigen . Die Auszahlung von
Kindergeld ist keine besondere Dienstleistung . Das Ne-
beneinander der Familienkassen ist nicht nur bürokra-
tisch und ineffizient, es ist auch missbrauchsanfällig.
Deshalb sollten die 8 000 Familienkassen für Beamte
schließen . Natürlich geht das nicht von heute auf mor-
gen – es braucht Zeit, das Personal in sinnvoller und so-
zialer Weise umzuschichten .
Aber tun Sie uns den Gefallen und vergeuden Sie nicht
weitere sieben Jahre! Wenn ein Staat den Betrug seiner
Staatsdiener nicht entschieden bekämpft, dann schadet er
damit am meisten seinem eigenen Ruf .
Dr. Michael Meister, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister der Finanzen: Das Bundeskabinett hat am
18 . Mai 2016 den Gesetzentwurf zur Beendigung der
Sonderzuständigkeit der Familienkassen des öffentli-
chen Dienstes im Bereich des Bundes beschlossen . Mit
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen die rund
100 Familienkassen im Bereich des Bundes bei der Bun-
desagentur für Arbeit oder dem Bundesverwaltungsamt
konzentriert werden . Der Bund geht damit den ersten
Schritt zur Reduzierung der vielen in Deutschland tätigen
Familienkassen . Dieser soll im Jahre 2021 abgeschlossen
sein .
Auch die Länder und Kommunen erhalten die Mög-
lichkeit, die Kindergeldbearbeitung an die Bundesagen-
tur für Arbeit abzugeben . Dazu wird gesetzlich eine
Option aufgenommen, mit der Familienkassen der Kom-
munen und der Länder auf ihre Zuständigkeit zugunsten
der Bundesagentur für Arbeit verzichten können . Die
Option gilt über das Jahr 2021 hinaus . Mit dem Zustän-
digkeitswechsel wird die Bundesagentur für Arbeit mit
ihrem Personal die Kindergeldbearbeitung für den öf-
fentlichen Dienst der jeweiligen öffentlichen Einrichtung
der Kommune oder des Landes übernehmen . Der Bund
erstattet der Bundesagentur für Arbeit hierfür die Verwal-
tungskosten .
In Deutschland wird für mehr als 16 Millionen Kinder
Kindergeld ausgezahlt . 87 Prozent aller Kindergeldfälle
werden von den 14 Familienkassen der Bundesagentur für
Arbeit bearbeitet . Daneben gibt es mehr als 8 000 Fami-
lienkassen für die Beschäftigten des öffentlichen Diens-
tes . Diese Sonderzuständigkeit wurde 1975 zunächst nur
als Übergangslösung bis Ende 1976 eingeführt, hat sich
jedoch bis heute als ausgesprochen „langlebig“ erwiesen .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19015
(A) (C)
(B) (D)
In vielen kleinen Familienkassen ist wegen der gerin-
gen Fallzahlen eine Standardisierung der Arbeitsabläufe
und damit die Erreichung von Mindeststandards bei der
Bearbeitungsqualität schwer . Daher besteht Reformbe-
darf .
Im Bereich des Bundes wollen wir deshalb mit gutem
Beispiel vorangehen und die Sonderzuständigkeit des öf-
fentlichen Dienstes beim Kindergeld beenden . Ab 2022
soll es dann nur noch die Bundesagentur für Arbeit und
das Bundesverwaltungsamt geben .
Die Länder und Kommunen werden eingeladen, sich
an dieser Reform zu beteiligen . Das heißt, die Familien-
kassen des öffentlichen Dienstes können auf ihre Zustän-
digkeit verzichten und die Kindergeldbearbeitung auf die
Bundesagentur für Arbeit übertragen . Um einen Anreiz
hierfür zu setzen, übernimmt der Bund die durch die
Übertragung entstehenden laufenden Verwaltungskosten
für die Kindergeldbearbeitung bei der Bundesagentur für
Arbeit . Länder und Kommunen werden also ganz erheb-
lich von Verwaltungskosten entlastet .
Neben der Einsparung von Verwaltungskosten ist es
das Ziel des Gesetzentwurfs, die Kindergeldbearbeitung
in Deutschland insgesamt zu vereinheitlichen sowie mo-
derne und effiziente Strukturen der Familienkassen zu
schaffen .
Anlage 30
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung
der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Ände-
rung weiterer Vorschriften im Bereich der rechts-
beratenden Berufe
(Tagesordnungspunkt 36)
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Im Bereich der
Rechtsberatung setzen wir in Deutschland auf hohe Stan-
dards:
Angefangen bei der Ausbildung bis hin zu den Rege-
lungen des Berufszugangs und der Berufsausübung kön-
nen wir mit Fug und Recht behaupten, dass wir die Mess-
latte hoch gesetzt haben . Nicht umsonst gilt insbesondere
unsere juristische Ausbildung als eine der schwersten
weltweit, und nicht umsonst können wir von einem ver-
gleichsweise überdurchschnittlichen Qualitätsniveau in
der rechtsberatenden Branche sprechen .
Diese Standards gilt es aufrechtzuerhalten und für die
Zukunft zu sichern . Gleichermaßen muss es aber auch
unser Anspruch sein, unsere Regelungen weiterzuentwi-
ckeln und anzupassen . Insbesondere müssen wir zum Ziel
haben, die Potentiale des Europäischen Binnenmarkts
und die Mobilität der EU-Bürger, die zweifelsohne im-
mer mehr auf Bedeutung gewinnt, voll auszuschöpfen .
Der vorliegende 248 Seiten umfassende Gesetzent-
wurf wird diesen Ansprüchen gerecht . Ausweislich
seiner Bezeichnung setzt er europäische Vorgaben der
Berufsanerkennungsrichtlinie um und reformiert damit
die berufsrechtlichen Vorschriften im Fall der grenzüber-
schreitenden Rechtsberatung . Daneben modernisiert er
„weitere Vorschriften“ betreffend das Anwaltsrecht und
den Rechtsdienstleistungsmarkt, was tatsächlich die grö-
ßeren Auswirkungen haben wird .
Kurzum: Mit einem ganzen Bündel an Maßnahmen
sorgt er für die Zukunftsfähigkeit der rechtsberatenden
Berufe in Deutschland .
Neu geregelt auf Grundlage der Richtlinie wird un-
ter anderem die Zulassung zur deutschen Rechtsanwalt-
schaft:
Wurde bisher zwingend die Ablegung einer Eignungs-
prüfung verlangt, prüft das zuständige Landesjustizprü-
fungsamt bei EU-Rechtsanwälten künftig, ob es dieser
Prüfung tatsächlich bedarf oder ob gegebenenfalls die
Qualifikation des Anwalts nicht bereits eine unmittelbare
Feststellung der Gleichwertigkeit zulässt .
Analog dazu wird auch die Zulassung zur deutschen
Patentanwaltschaft künftig geregelt . Auch hier wird also
nicht mehr zwangsläufig die Ablegung einer Eignungs-
prüfung nötig sein, sondern kann eine gleichwertige
Qualifikation vorab festgestellt werden.
Ebenfalls auf die Richtlinie zurückzuführen ist die
Einführung eines sogenannten „Vorwarnmechanismus“ .
Dieser greift bei Berufsverboten und auch dann, wenn
ein Gericht festgestellt hat, dass ein Berufsangehöriger
zum Zwecke der Anerkennung seiner Berufsqualifikati-
on einen gefälschten Berufsqualifikationsnachweis ver-
wendet hat . In beiden Fällen sind die Mitgliedstaaten
verpflichtet, innerhalb von drei Tagen die anderen Mit-
gliedstaaten darüber zu informieren .
Unter die „weiteren Vorschriften“, die neu geregelt
werden, fällt insbesondere auch eine gesetzliche Klar-
stellung in Sachen elektronisches Anwaltspostfach .
War es bislang umstritten, inwieweit die Nutzung
des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs für die
Rechtsanwälte verpflichtend ist, steht nun fest, dass es ab
dem 1 . Januar 2018 so ist .
Der Gesetzentwurf bietet auch eine Lösung für solche
Fälle, in denen ein Rechtsanwalt seine Tätigkeit in un-
terschiedlichen rechtlichen Organisationsformen ausübt .
Bislang waren die Angaben darüber bei der Rechtsan-
waltskammer beschränkt auf die Begriffe „Kanzlei“ und
„Zweigniederlassung“ . Fortan wird es daneben auch den
Begriff der „weiteren Kanzlei“ geben, sodass sämtliche
Formen anwaltlicher Berufsausübung sachgerecht er-
fasst werden können .
Erfreulich ist auch, dass man bei den Wahlen zum Vor-
stand der Berufskammern das Briefwahlrecht einführt .
Diese soll auch elektronisch durchgeführt werden kön-
nen . Bisher war die Wahl nur über die Kammerversamm-
lung möglich, was regelmäßig zu geringen Beteiligungen
führte und damit zu einem Mangel an demokratischer
Legitimation .
Kritisch sehe ich hingegen die Einführung einer Fort-
bildungspflicht für junge Anwältinnen und Anwälte. Sie
sollen innerhalb des ersten Jahres nach ihrer Zulassung
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619016
(A) (C)
(B) (D)
hinreichende Kenntnisse über das anwaltliche Berufs-
recht nachweisen . Vorgesehen ist dafür der Besuch einer
Lehrveranstaltung von zehn Stunden . Kann sie oder er
dies nicht nachweisen, droht ihr bzw . ihm eine berufs-
rechtliche Sanktion .
Wie ich bereits eingangs erwähnt habe, ist die juristi-
sche Ausbildung in Deutschland eine der anspruchsvolls-
ten überhaupt . Wir investieren Jahre für das Studium und
für den erfolgreichen Abschluss von zwei Staatsexami-
na . Ehrlich gesagt, frage ich mich, warum man uns dann
noch eine weitere Fortbildung abverlangen muss, damit
wir endlich unseren Beruf ausüben dürfen . In anderen
reglementierten Berufen ist dies nicht erforderlich .
Außerdem erwirbt man mit Absolvierung der zweiten
juristischen Staatsprüfung die Befähigung für alle regle-
mentierten juristischen Berufe . Wenn man nun weitere
Anforderungen an die Ausübung speziell der Anwaltstä-
tigkeit stellt – auch wenn diese keine Bedingung für die
Zulässigkeit darstellt – bricht man dieses bewährte Sys-
tem unnötigerweise auf .
Insgesamt handelt es sich bei diesem Gesetzentwurf
um ein sehr umfassendes Paket, das eine gute Grundlage
bildet, um das anwaltliche Berufsrecht zu modernisieren .
Im weiteren Gesetzgebungsverfahren, das noch in die-
sem Jahr abgeschlossen werden soll, kommt es jetzt da-
rauf an, noch einmal genau hinzuschauen, wo wir den
Entwurf noch nachzubessern haben .
Detlef Seif (CDU/CSU): Wir befassen uns heute in
erster Lesung mit einem Gesetzentwurf, mit dem Richt-
linienvorgaben der Europäischen Union im Bereich
der rechtsberatenden Berufe, also der Tätigkeiten der
Rechtsanwälte, Patentanwälte und der unter das Rechts-
dienstleistungsgesetz fallenden Berufe, in deutsches
Recht umgesetzt werden sollen .
Die sogenannte EU-Berufsanerkennungsrichtlinie, um
die es hier geht, regelt seit dem Jahr 2005 die Anerken-
nung von Berufsqualifikationen, die in anderen Mitglied-
staaten der Europäischen Union erworben wurden . Diese
Richtlinie wurde vor drei Jahren noch einmal wesentlich
überarbeitet . Die darin enthaltenen Vorgaben sollten von
den Mitgliedstaaten eigentlich bereits bis zum 18 . Ja-
nuar 2016 in nationales Recht umgesetzt werden, was
Deutschland bislang versäumt hat . Das Gesetzgebungs-
verfahren soll vor diesem Hintergrund nun mit der gebo-
tenen Zügigkeit durchgeführt werden .
Der Gesetzentwurf selbst sieht eine ganze Reihe von
Neuregelungen im Berufsrecht vor, die sich aus der Um-
setzung der Berufsanerkennungsrichtlinie ergeben . Er
enthält darüber hinaus aber auch berufsrechtliche Rege-
lungsvorschläge, die nicht durch EU-Recht vorgegeben
sind . Folgende zentrale Änderungen sind hervorzuheben:
Neuerungen ergeben sich zunächst im Bereich der Zu-
lassung zur Rechtsanwaltschaft und Patentanwaltschaft .
Nach geltendem Recht müssen Rechtsanwälte und Pa-
tentanwälte aus anderen Mitgliedschaften, die unmittel-
bar zur deutschen Rechtsanwaltschaft bzw . deutschen
Patentanwaltschaft zugelassen werden möchten, zur
Wahrung eines hohen Niveaus der anwaltlichen Tätigkeit
in Deutschland eine Eignungsprüfung ablegen . Zukünf-
tig muss vor der Auferlegung einer Eignungsprüfung von
den deutschen Zulassungsbehörden geprüft werden, ob
eine solche erforderlich ist . Der Zulassungsantrag des eu-
ropäischen Rechtsanwalts bzw . des europäischen Paten-
tanwalts bezieht sich dann nicht mehr unmittelbar auf die
Ablegung einer Eignungsprüfung, sondern zunächst auf
die Feststellung der Gleichwertigkeit seiner Berufsquali-
fikation mit derjenigen, die für die Ausübung der anwalt-
lichen Tätigkeit in Deutschland erforderlich ist . Die zu-
ständige Behörde – im Fall der Zulassung zur deutschen
Rechtsanwaltschaft ist dies das jeweilige Landesjustiz-
prüfungsamt, im Fall der Zulassung zur deutschen Paten-
tanwaltschaft ist das Deutsche Patent- und Markenamt
zuständig – hat dann zu prüfen, ob die Qualifikationen
tatsächlich gleichwertig sind . Konkret bedeutet dies, dass
das Landesjustizprüfungsamt bzw . das Deutsche Patent-
und Markenamt prüfen muss, ob bestehende Defizite in
der Berufsqualifikation durch Berufspraxis oder Weiter-
bildungsmaßnahmen vollständig ausgeglichen wurden .
Da dies allerdings in der Praxis selten der Fall sein wird,
soll die Auferlegung einer Eignungsprüfung für die Zu-
lassung zur deutschen Anwaltschaft auch in Zukunft fast
immer erforderlich sein .
Im Bereich der Dienstleistungsfreiheit ist eine voll-
ständig neue Umsetzung der Richtlinienvorgaben für
Patentanwälte notwendig . Erstmals sollen die Vorausset-
zungen für eine vorübergehende Tätigkeit europäischer
Patentanwälte in Deutschland ausdrücklich geregelt wer-
den . Die Vorschriften zur Dienstleistungsfreiheit und zur
Niederlassungsfreiheit für Patentanwälte sollen in einem
neuen Gesetz, dem Gesetz über die Tätigkeit europäi-
scher Patentanwälte in Deutschland, zusammengeführt
werden . Als Vorbild dient insoweit das Gesetz über die
Tätigkeit europäischer Rechtsanwälte in Deutschland .
Hierzu sollen die Inhalte des Gesetzes über die Eig-
nungsprüfung für die Zulassung zur Patentanwaltschaft
in Teil 1 des neuen Gesetzes überführt werden . Die neuen
Vorschriften über die vorübergehende und gelegentliche
Erbringung von Dienstleistungen durch europäische Pa-
tentanwälte in Deutschland sind dann in Teil 2 des neuen
EuPAG enthalten . Bevor europäische Patentanwälte ihre
Tätigkeit in Deutschland aufnehmen, müssen sie eine
Meldung an die Patentanwaltskammer abgeben .
Darüber hinaus erhalten Patentanwälte sowie rechts-
beratende Inkassodienstleister, Rentenberater und
Rechtsdienstleister im Zusammenhang mit der Richtlini-
enumsetzung einen beschränkten Berufszugang . Dies be-
trifft die Fälle, in denen aus deutscher Sicht vorliegende
Teilbereiche der genannten Berufe in anderen Mitglied-
staaten als eigenständige Berufe ausgeübt werden . Unter
bestimmten Voraussetzungen soll der Berufsangehörige
seine im EU-Ausland zulässige Tätigkeit zukünftig auch
in Deutschland ausüben dürfen, allerdings auch nur die-
se .
Im Anwendungsbereich der Berufsanerkennungsricht-
linie wird schließlich erstmals ein sogenannter Vorwarn-
mechanismus geschaffen . Danach sind innerhalb einer
Frist von nur drei Tagen alle Mitgliedstaaten vor solchen
Rechtsanwälten, Patentanwälten und Berufsträgern nach
dem Rechtsdienstleistungsgesetz zu warnen, gegen die
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19017
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ein vorläufiges oder endgültiges Berufsverbot verhängt
wurde oder bei denen eine gerichtliche Feststellung darü-
ber vorliegt, dass sie im Zulassungsverfahren gefälschte
Berufsqualifikationsnachweise vorgelegt haben – eine
sinnvolle und wichtige Regelung, wie ich finde.
Daneben sollen auch verschiedene Bereiche des Be-
rufsrechts der Rechts- und Patentanwälte neu geregelt
bzw . angepasst werden, ohne dass EU-Recht dies zwin-
gend vorschreibt . Zu erwähnen sind in diesem Zusam-
menhang vor allem folgende Regelungsvorschläge:
Unterschiedlich beurteilt wird bislang die Frage, ob
auch ohne eine gesetzliche Vorgabe in der Bundesrechts-
anwaltsordnung eine Nutzungspflicht für das besondere
elektronische Anwaltspostfach seitens der Anwaltschaft
besteht, insbesondere, ob die Inhaber dieses Postfaches
zumindest verpflichtet sind, die für die Nutzung notwen-
digen technischen Einrichtungen bereitzustellen und den
Empfang von Mitteilungen über das Postfach zu ermög-
lichen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll für alle
Beteiligten auch diesbezüglich Klarheit geschaffen wer-
den: Ab dem 1 . Januar 2018 soll nun für jeden Postfachin-
haber eine ausdrückliche berufsrechtliche Verpflichtung
zur passiven Nutzung des besonderen elektronischen An-
waltspostfaches bestehen . Die Bundesrechtsanwaltskam-
mer hatte vergangene Woche mitgeteilt, dass jedenfalls
die technischen Voraussetzungen für die Inbetriebnahme
des Systems vorliegen und der Erprobungsbetrieb eigent-
lich in wenigen Tagen beginnen könnte, wenn nicht zwei
einstweilige Anordnungen des Anwaltsgerichtshofes
Berlin die Inbetriebnahme zum jetzigen Zeitpunkt unter-
sagen würden .
Die nun vorgesehene Einführung einer gesetzlichen
Nutzungsverpflichtung ab dem Jahr 2018 dürfte gerade
für diejenigen Anwälte von Bedeutung sein, die sich bis-
her insbesondere wegen der haftungsrechtlichen Risiken
mit Nachdruck gegen die Einführung eines solchen elek-
tronischen Postfaches ausgesprochen bzw . sich sogar ju-
ristisch gegen die Freischaltung des Postfaches zur Wehr
gesetzt haben .
Neu zugelassene Rechtsanwälte sollen zukünftig be-
rufsrechtlich verpflichtet werden, an einer Lehrveranstal-
tung von zehn Wochenstunden zum anwaltlichen Berufs-
recht teilzunehmen . In diesem Zusammenhang erhalten
die Satzungsversammlungen der Bundesrechtsanwalts-
kammer und der Patentanwaltskammer die Befugnis, die
Fortbildungspflichten in ihrer jeweiligen Berufsordnung
näher auszugestalten .
Der Gesetzentwurf schafft zudem die rechtlichen Vo-
raussetzungen dafür, dass die Kammermitglieder die
Vorstände der Rechtsanwaltskammern und Patentan-
waltskammern in Zukunft mittels Briefwahl wählen kön-
nen . Zudem soll die Option der elektronischen Briefwahl
eingeführt werden . Bislang ist die Wahl des Kammervor-
standes nur durch die Kammerversammlung selbst mög-
lich . Mit der Briefwahl soll die demokratische Legitima-
tion des gewählten Vorstandes gesteigert werden .
Schließlich sollen auch einzelne Vorschriften der Bun-
desnotarordnung überarbeitet werden . Die Änderungen
sind teilweise klarstellend, teilweise aber auch substan-
ziell neu . So sollen unter anderem die Vorgaben für An-
waltsnotare, die sich mit nicht am Amtssitz tätigen Per-
sonen verbunden haben, zur Angabe und zum Führen der
notariellen Amtsbezeichnung in Geschäftspapieren und
auf Amts- oder Namensschildern neu gefasst werden .
Einige Berufsverbände und auch der federführende
Rechtsausschuss und der Ausschuss für Agrarpolitik und
Verbraucherschutz des Bundesrates haben sich zu den
vorgeschlagenen Regelungen bereits zu Wort gemeldet .
Ihre Anliegen, vor allem im Hinblick auf die Aspekte, die
über den Umsetzungsauftrag der Europäischen Union hi-
nausgehen, gilt es im nun anstehenden parlamentarischen
Gesetzgebungsverfahren eingehend zu prüfen . Hierfür
werden wir uns trotz der Eilbedürftigkeit der Umsetzung
die notwendige Zeit und Sorgfalt nehmen .
Christian Flisek (SPD): Mit dem Umsetzungsge-
setz zur Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung
weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden
Berufe behandeln wir heute ein Gesetz, das zahlreiche
unterschiedliche Themenfelder umfasst . Das Fehlen des
einen bestimmenden Themas in diesem umfassenden
Gesetz darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das
Umsetzungsgesetz – und dies sage ich auch als praktizie-
render Rechtsanwalt – zahlreiche in der Praxis wichtige
Fragen der Berufsanerkennung und des Berufsrechts um-
fasst . Zunächst einmal setzen wir mit dem Umsetzungs-
gesetz eine EU-Richtlinie zur Berufsanerkennung um,
deren Umsetzungsfrist leider schon im Januar dieses Jahr
abgelaufen ist . Es besteht also ein gewisser Zeitdruck,
dem wir uns stellen müssen . Das Ziel der Berufsanerken-
nungsrichtlinie ist es, die Regeln für eine Anerkennung
insbesondere als Rechtsanwalt in einem anderen Mit-
gliedstaat der EU klarer und rechtssicherer zu gestalten,
letztlich aber auch die Hürden für eine Anerkennung zu
senken . Im Umsetzungsgesetz übernehmen wir dieses
Ziel und tragen damit zur Verwirklichung der Grund-
freiheiten der Niederlassungs- und Dienstleistungsfrei-
heit bei . Der taxifahrende Rechtsanwalt sollte damit der
Vergangenheit angehören. Davon profitiert einerseits der
anerkannte Rechtsanwalt aus dem EU-Ausland, der sei-
ne Fähigkeiten voll nutzen kann, andererseits aber auch
Deutschland als Dienstleistungsstandort und attrakti-
ves Ziel für hochqualifizierte EU-Ausländer. Nebenbei
wird damit natürlich auch das Zusammenwachsen des
EU-Wirtschaftsraums gefördert .
Die Bundesregierung hat sich dazu entschlossen, die
Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie mit zahl-
reichen Änderungen weiterer Vorschriften im Bereich
der rechtsberatenden Berufe zu verknüpfen, um diese zu
modernisieren . Dies ist teilweise auf Kritik gestoßen; von
einem überhasteten Vorgehen war und ist teilweise die
Rede . Ein zeitlicher Druck lässt sich sicher nicht leugnen,
ich halte die Verknüpfung aber dennoch für sinnvoll und
angemessen . Denn auch im berufsrechtlichen Bereich
stehen wir unter Zeitdruck . Insbesondere zwei Entschei-
dungen des Anwaltsgerichtshofs Berlin – die Anwälte
in Deutschland haben das aufmerksam verfolgt – ha-
ben dafür gesorgt, dass das System des elektronischen
Anwaltspostfaches derzeit in ganz Deutschland nicht
aktiviert werden kann . Das wäre aber dringend erforder-
lich, um die Kommunikationsmethoden von Anwälten
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619018
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mit Gerichten, Behörden und untereinander endlich ins
21 . Jahrhundert zu befördern . Insofern ist es dann auch
richtig, diese Materie zusammen mit anderen Aspekten
im Rahmen des Umsetzungsgesetzes anzugehen . Gleich-
wohl möchte ich natürlich darauf aufmerksam machen –
und auch dies sage ich als Rechtsanwalt, der die Sorgen
seiner Kolleginnen und Kollegen ernst nimmt und teilt –,
dass wir die Neuerungen im weiteren parlamentarischen
Verfahren genau prüfen und evaluieren werden . Eile soll
nicht zulasten von Qualität und Sorgfalt gehen .
Dies vorweggeschickt, möchte ich heute nur auf ei-
nige wenige Einzelaspekte der geplanten Regelungen
zum Berufsrecht eingehen, die bisher für besonders viel
Gesprächsstoff und Diskussionen gesorgt haben . Dies
schließt die Prüfung anderer Punkte im kommenden par-
lamentarischen Verfahren natürlich nicht aus . Zunächst
sollen Kurse zum Berufsrecht verpflichtend werden. Ich
halte dies für sinnvoll . Das Berufsrecht ist bei rechtsbera-
tenden stärker als bei anderen Berufen mit der beratenden
Tätigkeit selbst verknüpft . Man kann ein guter Arzt sein,
ohne sich im Arztrecht auszukennen; gute Anwälte ohne
Kenntnisse vom anwaltlichen Berufsrecht sind hingegen
kaum vorstellbar. Insofern glaube ich, dass verpflichten-
de Kurse zum Berufsrecht essenziell sind für die Qualität
der Rechtsberatung in Deutschland insgesamt . Nur am
Rande sei bemerkt, dass ich – anders als der Bundesrat –
nicht der Auffassung bin, diese Kenntnisse müssten be-
reits vor dem zweiten Staatsexamen vermittelt werden,
das schon jetzt extrem breit gefächert ist . Mit anwaltli-
chem Berufsrecht sollten sich nur Anwälte beschäftigen
müssen .
Ferner soll der Umfang der verpflichtenden Fortbil-
dung erweitert werden auf 40 Stunden pro Jahr, wobei
eine Nachweispflicht nur für zehn Stunden pro Jahr be-
stehen soll; bei fehlender Fortbildung sollen unter ande-
rem Bußgelder drohen . Auch dies halte ich im Grunde für
angemessen. Wenn man sich die Fortbildungsverpflich-
tungen für Ärzte anschaut, wird man feststellen, dass die
geplanten Regelungen moderat sind . Und eine Fortbil-
dungspflicht ohne entsprechenden Druck zur tatsächli-
chen Durchsetzung der Verpflichtung ist inkonsequent.
Das Umsetzungsgesetz enthält darüber hinaus Klärun-
gen zur Rentenbefreiung für Syndikusanwälte . Ihnen sol-
len mit Blick auf ihre Rentenversicherungspflicht keine
Nachteile darauf erwachsen, dass sich ihre Zulassungs-
verfahren verzögern . Der Gesetzgeber hat Syndikus-
rechtsanwälten vor nicht allzu langer Zeit die Versiche-
rung in den anwaltlichen Versorgungswerken ermöglicht .
Syndizi müssen bei Tätigkeitswechseln anders als nor-
male Rechtsanwälte öfter ein kammerrechtliches Zulas-
sungsverfahren durchlaufen; es ergibt keinen Sinn, sie
während der Zulassungsverfahren zur Leistung von Ren-
tenversicherungsbeiträgen zu zwingen, aus denen für sie
aufgrund der Kürze der Leistungszeit keine Ansprüche
erwachsen . Niemand wird von Syndikusrechtsanwälten
verlangen können, Rentenversicherungsbeiträge gewis-
sermaßen aus dem Fenster zu schmeißen . Gleichwohl ist
es natürlich richtig, dass wir genau prüfen, welche Fol-
gen sich aus der geplanten Rückwirkung der Mitglied-
schaft in den Rechtsanwaltskammern für die sonstigen
Rechten und Pflichten des Kammermitglieds ergeben.
Lassen Sie mich schließlich auf die Nutzungspflicht
für das elektronische Anwaltspostfach ab 2018 eingehen .
Ich weiß, dass dieses Thema viele Anwälte umtreibt . Es
handelt sich ja auch um einen äußerst sensiblen Bereich .
Trotz der deswegen gebotenen Vorsicht unterstütze ich
die Nutzungspflicht ab 2018. Andere Länder sind bei Di-
gitalisierung der Kommunikation im Rechtswesen schon
viel weiter als Deutschland . Wir haben hier erheblichen
Nachholbedarf und sollten uns weitere Verzögerungen
nicht erlauben . Und ich glaube, dass die Vorgaben mit
gutem Willen auch umsetzbar sind .
Insgesamt meine ich, dass wir zwar noch einige As-
pekte in diesem Gesetz genauer prüfen müssen . Es han-
delt es sich wie um einen hochsensiblen Bereich, und
nicht umsonst sieht das Bundesverfassungsgericht ein
funktionierendes Rechtswesen, zu dem auch ein sorg-
fältig gestaltetes Berufsrecht gehört, als ein überragend
wichtiges Gemeinschaftsgut an . Mit dem Regierungsent-
wurf sind wir aber auf einem sehr guten Weg, und ich
glaube, dass wir hieran in den kommenden Wochen bei
den noch anzupackenden, eher rechtstechnischen Proble-
men gut anknüpfen können .
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Und wieder mal
eine Protokollrede . Zugegeben, diese Rede sollte ich ei-
gentlich in der Nacht zum Freitag bzw . Freitag früh um
4 .55 Uhr halten . Da sich erfahrungsgemäß dann kaum
ein Zuschauer oder Hörer live informiert und die Anwe-
senheit im Plenarsaal stark zu wünschen übrig lässt, habe
ich mich dazu durchgerungen, noch einmal eine Proto-
kollrede abzugeben . Ich hoffe, dass meine nachstehend
angeführten Kritikpunkte in die Beratungen einfließen.
Und die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt .
In erster Linie handelt es sich hier um ein begrüßens-
wertes Vorhaben, das an vielen Stellen lange geforderte
und auch sinnvolle Änderungen mit sich bringt . Auch
können die vorgenommene sprachliche Straffung und
verbesserte Gliederung positiv hervorgehoben werden .
Bei den geplanten Änderungen in der Bundesrechts-
anwaltsordnung, BRAO, ist insbesondere die neu ein-
geführte Pflicht, im Zusammenhang mit der Zulassung
Kenntnisse im anwaltlichen Berufsrecht nachzuweisen,
erfreulich . Die Regelung wird dem Verbraucher qualita-
tiv hochwertige Rechtsberatung durch Anwälte sichern .
Um den Start in die Anwaltstätigkeit nicht zu sehr zu er-
schweren, kann die Teilnahme an den Lehrveranstaltun-
gen auch noch nach der Zulassung im ersten Jahr mög-
lich sein . Dies scheint eine sinnvolle Regelung zu sein .
Auch die geplante Einführung des Begriffes der weiteren
Kanzleien neben den Begriffen der Kanzleien und der
Zweigstelle ist begrüßenswert . Dies schärft die Möglich-
keiten der Differenzierung .
Genauer betrachtet wird man jedoch feststellen, dass
der Gesetzentwurf noch zu viele Schwachpunkte auf-
weist . Die vorgeschlagenen Änderungen des anwaltli-
chen Berufsrechts verlangen eine intensivere Befassung
mit den aktuellen und zukünftigen Regelungen und de-
ren Umsetzung in der anwaltlichen Berufspraxis sowie
durch die regionalen Rechtsanwaltskammern . So sollte
das Verhältnis von dem Zeugnisverweigerungsrecht der
Berufsgeheimnisträger nach § 53a StPO-E zu der Verlet-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19019
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zung des Privatgeheimnisses nach § 203 StGB konkreti-
siert werden . Am 26 . Oktober 2015 entschied der Bun-
desgerichtshof, dass ein Anwalt nicht verpflichtet ist, ein
Schreiben des gegnerischen Anwalts entgegenzunehmen,
wenn dies dem Interesse seines Mandanten zuwiderläuft .
Begründet wurde dies mit der mangelhaften Kompetenz
in der Satzungsversammlung . Mit dem Gesetzentwurf
wird dieser nun die Kompetenz zur Regelung zugewie-
sen . Jedoch sollte es dabei der Satzungsversammlung
auch gerade möglich sein, zu regeln, dass eine Annahme-
pflicht nicht besteht. Dies sollte im Gesetzentwurf klar-
gestellt werden .
Bezüglich der Änderungen des Gesetzes über die Tä-
tigkeit der europäischen Rechtsanwälte, EuRAG, will
ich insbesondere auf zwei Regelungen, neue Regelungen
eingehen . Der Gesetzentwurf sieht hier vor, dass euro-
päische Rechtsanwälte zukünftig nicht zwangsläufig eine
Prüfung ablegen müssen, um zugelassen zu werden . Dies
sollte jedoch nicht dazu führen, dass die deutschen Ex-
amina umgangen werden, indem über ein anderes Land
der Zugang gesucht werden kann . Die hohen Standards
hier könnten so zum Nachteil der Verbraucher umgan-
gen werden . Daneben sieht der Entwurf vor, für europä-
ische Rechtsanwälte Postfächer auf Antrag einzurichten .
Dies ist jedoch systemfremd und sollte daher abgelehnt
werden . Nach der Konzeption ist die Einrichtung eines
Postfaches allein aufgrund der Datenübertragung aus
dem von Rechtsanwaltskammern geführten Verzeichnis-
ses sinnvoll . Bei europäischen Anwälten ist keine Rück-
kopplung mit der Heimatkammer möglich, sodass nicht
nachvollzogen werden kann, ob der Inhaber des Postfa-
ches auch tatsächlich noch als Anwalt zugelassen ist . Die
bisher bestehende Sicherheit würde damit also verloren
gehen . Es sollte bei der Errichtung über die Kammern
bleiben, um die guten Standards zu erhalten .
Alles in allem wird sich meine Fraktion daher zu einer
Zustimmung nicht durchringen können .
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem
Gesetzentwurf zur Umsetzung der Berufsanerkennungs-
richtlinie und zur Änderung weiterer berufsrechtlicher
Vorschriften soll das Berufsrecht von Rechtsanwälten,
Patentanwälten und der unter das Rechtsdienstleistungs-
gesetz fallenden Berufe an die Berufswirklichkeit ange-
passt und zukunftsfähig gemacht werden . Dabei wird
nicht nur der deutsche Rechtsdienstleistungsmarkt ins
Auge gefasst, sondern auch die grenzüberschreitende Er-
bringung von Rechtsdienstleistungen . Alles soll vernetz-
ter und moderner werden .
Das ist im Großen und Ganzen zu begrüßen . Aller-
dings möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen,
dass es nicht sein kann, dass komplexe Gesetzentwürfe
wie dieser im parlamentarischen Eilverfahren durchge-
paukt werden, nur weil die Bundesregierung zuvor bei
der Richtlinienumsetzung getrödelt hat . Schließlich um-
fasst dieser Entwurf auch zahlreiche und gewichtige Än-
derungen des anwaltlichen Berufsrechts .
Bei dem Gesetzesvorhaben geht es darum, das Berufs-
recht zukunftsfähig und praxisnah zu gestalten und die
Selbstverwaltung der Anwaltschaft zu stärken . Es geht
aber auch darum, den Verbraucherschutz zu gewährleis-
ten und die hohe Qualität der Rechtsdienstleistungen zu
sichern .
Die diversen Neuregelungen sind komplex, daher will
ich mich auf einige ausgewählte Aspekte beschränken .
Künftig soll es eine allgemeine, kontinuierliche Fort-
bildungspflicht für Anwälte geben, um die Qualität der
anwaltlichen Beratung systemisch zu sichern .
Die Kompetenz zur Regelung der fortlaufenden Wei-
terbildungspflicht von Anwälten nach § 43a Absatz 6
BRAO liegt bei der Satzungsversammlung .
Als Selbstverwaltungsorgan der Anwaltschaft obliegt
es ihr, für die Fortbildung der Anwältinnen und Anwälte
Sorge zu tragen und somit sowohl den Verbraucherschutz
als auch einen bestimmten Qualitätsstandard von Rechts-
dienstleistungen zu sichern .
Die Zulassung zur Anwaltschaft soll außerdem künftig
mit der sanktionsbewehrten Pflicht verbunden werden,
eine Art Grundausbildung im anwaltlichen Berufsrecht
zu absolvieren . Das ist in der Tat auch sehr sinnvoll, denn
das anwaltliche Berufsrecht spielt in der juristischen Aus-
bildung an deutschen Universitäten und im Referendariat
bislang eine sehr untergeordnete Rolle .
Zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang auch, dass
diese Verpflichtung nun auch für in Deutschland nieder-
gelassene ausländische bzw . europäische Rechtsanwälte
gelten soll . So bleibt der Gleichbehandlungsgrundsatz
gewahrt, und es wird noch einmal klargestellt, dass jede
in Deutschland praktizierende Anwältin bzw . jeder An-
walt auch mit dem deutschen Berufsrecht vertraut sein
muss .
Andere vorgesehene Punkte sind erfreulich und un-
kompliziert, wie etwa die Aufnahme des Begriffs der
„weiteren Kanzlei“ in Abgrenzung zur „Zweigstelle“ in
die Bundesrechtsanwaltsordnung und die Einführung der
Möglichkeit, die Vorstände der Rechtsanwaltskammern
elektronisch oder per Briefwahl zu wählen . Der letztge-
nannten Änderung spricht der Gesetzgeber kurioserwei-
se übrigens eine gleichstellungspolitische Bedeutung zu:
Es sei zu erwarten, dass die Einführung der Briefwahl
insbesondere Rechtsanwältinnen die Teilhabe an der
Selbstverwaltung der Anwaltschaft erleichtert . Inwiefern
Anwältinnen einen besonderen Hang zum Briefverkehr
haben sollen, oder warum es ihnen im Gegensatz zu ihren
männlichen Kollegen weniger möglich sein soll, persön-
lich zur Kammerversammlung zu erscheinen, erschließt
sich mir auf den ersten Blick nicht . Vielleicht sorgt die
Bundesregierung ja in der geplanten Anhörung noch ein-
mal für Erhellung .
Es gibt aber auch Punkte, die – zumindest was ihre
Umsetzung betrifft – nicht ganz unumstritten sind . Die
Einrichtung der besonderen elektronischen Anwaltspost-
fächer etwa wird die mit dieser Aufgabe betraute Bun-
desrechtsanwaltskammer sicherlich noch vor einige He-
rausforderungen stellen . Außerdem bleibt abzuwarten,
wie sehr die neugeschaffenen gesetzlichen Grundlagen
tatsächlich mit der beruflichen Wirklichkeit und Notwen-
digkeit korrespondieren – und wie das Postfach von der
Anwalt- und Mandantschaft angenommen wird .
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619020
(A) (C)
(B) (D)
Nachdem die Einrichtung eines solchen Postfaches
ursprünglich nur „für jedes eingetragene Mitglied einer
Rechtsanwaltskammer“ geplant war, soll es nun auch
zwingend für „jede weitere Kanzlei“, in der das Kam-
mermitglied tätig ist, ein besonderes elektronisches An-
waltspostfach geben .
Vor einer solch inflationären Einrichtung von elekt-
ronischen Postfächern sollte man sich aber noch einmal
ernsthaft Gedanken um die damit verbundenen Kom-
plikationen und vor allem Haftungsrisiken machen .
Schließlich trifft alle Postfachinhaber die Pflicht, dieses
empfangsbereit zu halten und regelmäßig zu kontrollie-
ren . Das kann für Inhaber mehrerer Postfächer zu einem
echten Problem werden – denn je mehr Postfächer, desto
höher auch das Haftungsrisiko .
Vor allem bei Syndikusanwälten stellt sich die Frage
nach dem Haftungsrisiko: Schließlich sind sie für ihre
Tätigkeit als Syndikus von der Pflicht zum Abschluss ei-
ner eigenen Berufshaftpflichtversicherung befreit.
Nach allgemeinen Grundsätzen haften sie jedoch ge-
genüber Dritten – genau wie ihre niedergelassenen Kol-
leginnen und Kollegen – für ihr elektronisches Postfach .
Es kann wohl kaum verhindert werden, dass Rechtsu-
chende eine Fristsache in das Postfach eines Syndikus-
anwaltes einwerfen . Wer haftet dann, wenn das Mandat
nicht rechtzeitig abgelehnt wird? Der Arbeitgeber etwa?
Wohl kaum .
Der Gesetzentwurf lässt also noch einige praktische
und bedeutsame Fragen offen . Ich bin gespannt, ob diese
dann durch die Anhörung beantwortet werden können .
Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bun-
desminister der Justiz und für Verbraucherschutz: Wir
befassen uns heute in erster Lesung mit dem Entwurf
eines Gesetzes zur Umsetzung der Berufsanerkennungs-
richtlinie und zur Änderung weiterer Vorschriften im
Bereich der rechtsberatenden Berufe . Mit dem Gesetz-
entwurf soll das Berufsrecht der rechtsberatenden Berufe
in zahlreichen Einzelfragen an die aktuellen Erforder-
nisse angepasst werden . Ausgangspunkt des Gesetzge-
bungsvorhabens war die Erforderlichkeit, die durch die
Richtlinie 2013/55/EU erfolgten Änderungen der Be-
rufsanerkennungsrichtlinie 2005/36/EG im deutschen
Recht umzusetzen . Diese Vorgaben werden insbesondere
im Gesetz über die Tätigkeit der europäischen Rechts-
anwälte in Deutschland, dem EuRAG, und im Rechts-
dienstleistungsgesetz umgesetzt . Zudem wird bei den
Patentanwälten anstelle des bisherigen Gesetzes über die
Eignungsprüfung zur Patentanwaltschaft das Gesetz über
die Tätigkeit europäischer Patentanwälte in Deutsch-
land, das EuPAG, neu eingeführt . Das EuPAG lehnt sich
an das für die Rechtsanwälte geltende EuRAG an und
führt so auch in diesem Teilbereich zu einem möglichst
weitgehenden Gleichklang des Berufsrechts der Rechts-
und Patentanwälte, der sich auch schon bei der Bundes-
rechtsanwalts- und der Patentanwaltsordnung bewährt
hat . Die durch die Richtlinie 2013/55/EU erforderlichen
inhaltlichen Änderungen betreffen neben der Prüfung
der ausländischen Berufsqualifikation insbesondere den
partiellen Zugang zu einem Beruf und den sogenannten
Vorwarnmechanismus . Letzterer wird durch den Gesetz-
entwurf auch im strafprozessualen Bereich umgesetzt .
Neben der Umsetzung der Berufsanerkennungsricht-
linie widmet sich der Gesetzentwurf zahlreichen Einzel-
fragen aus dem Berufsrecht der rechtsberatenden Berufe .
Anlass hierfür waren verschiedene Initiativen der Be-
rufsverbände sowie höchstrichterliche Entscheidungen,
aber auch aus fachlicher Sicht erforderlicher Modernisie-
rungsbedarf . Abgesehen von wenigen Einzelpunkten, bei
denen die Auffassungen der Beteiligten auseinanderge-
hen, wird der Gesetzentwurf von den Berufsverbänden
und den Ländern einhellig begrüßt und unterstützt .
Auf einige Punkte des Gesetzentwurfs möchte ich
beispielhaft hinweisen . Ab dem 1 . Januar 2018 soll je-
der Rechtsanwalt das besondere elektronische Anwalts-
postfach, das beA, nutzen müssen . Ist ein Rechtsanwalt
nicht nur in einer Kanzlei tätig, soll dies künftig mit
dem Begriff der weiteren Kanzlei umschrieben werden .
Für diese soll der Rechtsanwalt dann auch ein weiteres
beA erhalten . Zudem sollen dienstleistende europäische
Rechtsanwälte ein beA erhalten können . Diese Maßnah-
men sowie weitere Anpassungen in der Zivilprozessord-
nung sollen die Einführung des elektronischen Rechts-
verkehrs stärken .
Darüber hinaus sollen die Fortbildungspflichten der
Rechts- und Patentanwälte zukünftig durch die Anwalts-
kammern näher geregelt werden können . Zudem soll
sichergestellt werden, dass Rechtsanwälte über hinrei-
chende Kenntnisse im Berufsrecht verfügen . Mit diesen
Maßnahmen soll die hohe Qualität der Rechtsberatung
nachhaltig und systemisch gesichert werden .
Zudem soll bei Syndikusanwälten verhindert werden,
dass sie für kurze Zeiten, in denen noch nicht über ihre
Zulassung entschieden wurde, Beiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung zahlen müssen . Hierzu soll eine
Rückwirkung ihrer Mitgliedschaft in den Anwaltskam-
mern vorgesehen werden .
Darüber hinaus soll für die Wahlen zu den Vorständen
der Anwaltskammern zukünftig grundsätzlich eine Brief-
wahl vorgesehen werden . Damit soll die demokratische
Legitimation der gewählten Vertreter gesteigert werden .
Der Anwendungsbereich des Rechtsdienstleistungs-
gesetzes soll gesetzlich definiert werden, um in dieser
Frage für Klarheit zu sorgen .
Und schließlich soll im Bereich der strafprozessualen
Zeugnisverweigerungsrechte der Kreis der berechtigten
Personen passgenauer definiert werden. Dies betrifft zum
einen ausländische Rechtsanwälte und zum anderen die
an der Tätigkeit des Rechtsanwalts mitwirkenden Perso-
nen .
Diese Liste ließe sich noch lange fortsetzen, aber dies
würde den Rahmen dieser Rede sprengen .
Die Bundesregierung hat mit diesem Gesetzentwurf
den ersten Schritt gemacht, damit, wie bereits gesagt,
insbesondere die EU-Richtlinie 2013/55/EU umgesetzt
werden kann . Ich würde mich freuen, wenn dieser Ge-
setzentwurf noch im Dezember 2016 verabschiedet wer-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19021
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den kann – die EU-Richtlinie hätte bereits am 18 . Januar
2016 umgesetzt werden sollen .
Anlage 31
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen vom 15. Oktober
2008 zwischen den CARIFORUM-Staaten einer-
seits und der Europäischen Gemeinschaft und ih-
ren Mitgliedstaaten andererseits
(Tagesordnungspunkt 37)
Waldemar Westermayer (CDU/CSU): Heute geht
es darum, über den Gesetzentwurf der Regierung für
das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen der EU mit den
Mitgliedstaaten der karibischen Gemeinschaft CARIFO-
RUM zu beraten und damit eine Wegmarke für fairen
Handel als einem wichtigen Instrument der Entwick-
lungszusammenarbeit zu setzen . Dieser Debatte heute
liegt die grundsätzliche Frage zugrunde: Kann die Libe-
ralisierung des Handels ein Motor für nachhaltige Ent-
wicklung sein, ohne dabei ausschließlich ökonomische
Interessen zu verfolgen?
Die zunehmende Verzahnung der Weltwirtschaft führt
zu einer Steigerung des Güter- und Dienstleistungshan-
dels . Handelsschranken werden immer weiter abgebaut,
und Handelsbeziehungen werden intensiviert . Daraus
entstehen Chancen für ein verstärktes Wirtschaftswachs-
tum, zunehmenden Wohlstand und eine verbesserte Le-
benssituation der Menschen . So lautet die klassische
Theorie der Handelsliberalisierung .
Aber Theorie und Praxis sind bekanntlich nicht immer
deckungsgleich . In vielen Fällen führt die zunehmende
Liberalisierung des Handels genau zum Gegenteil: Sie
kann auch Existenzen bedrohen und macht nicht alle zu
Gewinnern . Sie ist kein Allheilmittel und erst recht kein
Automatismus .
Um nachhaltige Synergieeffekte für fairen Handel zu
erzeugen, bedarf es bei Handelsliberalisierung und Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen guter und nachhaltiger
Rahmenbedingungen . Es geht um die faire Ausgestal-
tung, damit alle Handel treiben können und dabei auch
alle angemessen profitieren.
Aus diesem Grund stellt das Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen der EU mit den 15 Staaten des CARI-
FORUM seit 2008 ein Novum dar und gleichzeitig eine
große Chance für die Entwicklungszusammenarbeit, da
durch dieses ein neues Modell von Abkommen etabliert
wird, das Faktoren der Nachhaltigkeit mit ökonomischen
Interessen verbindet . Ziel ist es, nachhaltige Entwicklung
und regionale Integration zu fördern und die Handelsbe-
ziehungen auf eine WTO-konforme Grundlage zu stellen .
Dieser Anspruch wird in dem Entwurf der Bundesregie-
rung für die Umsetzung einer Wirtschaftspartnerschaft
mit den karibischen Partnern anhand verschiedener Re-
gelungen deutlich, und aus diesem Grund begrüßen wir
den vorgelegten Entwurf zum Wirtschaftspartnerschafts-
abkommen mit den CARIFORUM-Staaten .
Gleich zu Beginn unterstreicht Artikel 1 die nachhal-
tige Zielsetzung als Grundgedanken des Vertrags, indem
die Eindämmung und Beseitigung von Armut zur obers-
ten Priorität erklärt wird . Armutsbekämpfung steht vor
dem Ziel der regionalen Integration und der wirtschaft-
lichen Liberalisierung . Hierbei wird deutlich: Es bedarf
vor allem politischer Reformen und Entscheidungen und
nicht alleine handelspolitischer Maßnahmen .
Ein wichtiges Instrument zur Armutsbekämpfung ist
die in Artikel 7 festgehaltene Regelung der Entwick-
lungszusammenarbeit . Dass Entwicklungszusammenar-
beit in einem Freihandelsabkommen festgeschrieben ist,
kann durchaus als ein wegweisender Ansatz bezeichnet
werden. Diese kann finanzieller und nichtfinanzieller Art
sein und so die CARIFORUM-Staaten bei der Durchfüh-
rung des Abkommens unterstützen . Für eine tatkräftige
Unterstützung hat die EU im 10 . Europäischen Entwick-
lungsfonds bereits bedeutende Mittel zur Verfügung ge-
stellt .
Zusätzliche bilaterale Unterstützung für die Umset-
zung des Abkommens und einen besseren Marktzugang
zur EU erfolgte durch die Deutsche Gesellschaft für In-
ternationale Zusammenarbeit von 2007 bis Dezember
2015 . Dabei ging es darum, die Koordinierungsprozesse
nationaler und regionaler Institutionen zu stärken und
das Bewusstsein für die Umsetzung des Wirtschaftspart-
nerschaftsabkommen zu schärfen . Das eindeutige ver-
tragliche Bekenntnis und die konkrete Projektarbeit im
Bereich der Entwicklungszusammenarbeit sind ein deut-
liches Zeichen für den nachhaltigen und fairen Anspruch,
der mit diesem Abkommen verfolgt wird .
Die CARIFORUM-Staaten sollen einen zoll- und quo-
tenfreien Marktzugang erhalten, wodurch sie eine deut-
lich bessere Chance haben, ihre Produkte zu exportieren .
Ein verbesserter Zugang heimischer Güter und Dienst-
leistungen zu bedeutenden Wirtschaftsräumen gehört mit
zu den wichtigsten Zielen unserer karibischen Partner .
Im Gegenzug müssen die karibischen Staaten nur ei-
nen Marktzugang einräumen, wie er für eine WTO-Kon-
formität erforderlich ist . Dieser Marktzugang wird nicht
sofort erfolgen, sondern schrittweise über eine Frist von
25 Jahren mit dem Ziel, über 80 Prozent der Importe von
Beschränkungen zu befreien . Durch dieses etappenweise
Öffnen des Marktes sollen die karibischen Staaten mit
Augenmaß an das internationale Wirtschaftssystem her-
angeführt werden, um so in die globale Wertschöpfungs-
kette integriert zu werden .
Hinzu kommt, dass es für die CARIFORUM-Staa-
ten verschiedene „Schutzklauseln“ gibt, um sensible
und weniger wettbewerbsfähige Wirtschaftszweige der
heimischen Wirtschaft zu schützen . Beispielsweise wer-
den landwirtschaftliche und Fischereiprodukte mit dem
Ziel der Ernährungssicherung von einer Handelslibera-
lisierung ausgeschlossen . Ein Indikator dafür, dass die
Schutzklauseln funktionieren, ist die Tatsache, dass in
den letzten neun Jahren, in denen das Abkommen bereits
vorläufig angewendet wird, es nicht zur befürchteten
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619022
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Verdrängung der karibischen Produkte durch europäi-
sche Produkte gekommen ist .
Ebenfalls ein wichtiges Anliegen, das im Vertrag ver-
ankert ist, betrifft die Umwelt- und Sozialstandards, wel-
che in einem ausführlichen Kapitel im Vertrag definiert
werden . Sie tauchen allerdings an verschiedenen Stellen
im Vertragstext wieder auf . Beispielsweise werden in
mehreren Artikeln Investitionsregelungen veranlasst, die
zu einem explizit nachhaltigen Verhalten verpflichten.
Dies macht deutlich, dass sie ein Querschnittsthema in
allen Regelungsbereichen sind und so ebenfalls zu den
nachhaltigen Rahmenbedingungen gehören .
Das Kernanliegen des Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommens ist es, einen integrierten regionalen Markt in
der Karibikregion zu schaffen . Dieser Prozess ist ein
ambitioniertes, primär politisches Vorhaben, das Zeit
verlangt und nicht von heute auf morgen Früchte trägt .
Bereits durch die Verhandlungen dieses Wirtschaftspart-
nerschaftsabkommens waren die karibischen Vertrags-
partner intraregional gezwungen, sich über gemeinsame
Handelsmaximen Gedanken zu machen . Allein dieser
Dialog hat die Staaten einander nähergebracht .
Das Abkommen will nicht nur Ziele postulieren, son-
dern auch aktiv dessen Umsetzung überprüfen . In Arti-
kel 5 ist ein regelmäßiges Überprüfen des Umsetzungs-
prozesses in Form eines Monitorings festgeschrieben,
um Entwicklungen, die in eine falsche Richtung laufen,
rechtzeitig zu erkennen . In einem solchen Fall bietet die
Revisionsklausel in Artikel 264 die Möglichkeit einer
Anpassung der Zusammenarbeit . Durch diesen instituti-
onellen und neuen Mechanismus in einem Freihandels-
abkommen ist es möglich, auf Schwierigkeiten, die in der
Praxis der schrittweisen Marktöffnung auftreten können,
flexibel zu reagieren.
Es sollte uns ein wichtiges Anliegen bleiben, im Dia-
log mit unseren Partnern an ihren politischen Willen zu
appellieren, Reformen durchzusetzen, ihre politisch-ad-
ministrativen Strukturen zu stärken und private Akteure
zu fördern, damit die im Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen formulierten Ziele der Nachhaltigkeit konse-
quent durchgesetzt werden und so soziale und Umwelt-
standards bei der regionalen Integration der Karibik auch
in der Praxis maßgeblich sind . Letztendlich sind die
Entscheidungen für eine Ausgestaltung guter Rahmenbe-
dingungen für fairen Handel politischer Natur . Dennoch
setzt das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit seinen
ausführlichen und ambitionierten Rahmenbedingungen
zur Förderung von Nachhaltigkeit hier einen entschei-
denden vertraglichen Ausgangspunkt und zeigt neue
Wege auf, Nachhaltigkeit in einem Freihandelsabkom-
men festzuschreiben .
Das Wirtschaftsabkommen der EU mit den Mitglied-
staaten der karibischen Gemeinschaft CARIFORUM
macht in seiner jetzigen Form deutlich, dass Wirtschaft,
Soziales und Umwelt Hand in Hand gehen können . Mit
der Zustimmung zu dem Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen wäre ein wichtiger und ambitionierter Schritt
hin zu fairem Handel getan .
Dr. Sascha Raabe (SPD): Wir beraten heute in ers-
ter Lesung über das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
zwischen der Europäischen Union und den CARIFO-
RUM-Staaten . Das Abkommen ist bereits seit 2008 vor-
läufig in Kraft und wird dem Deutschen Bundestag nun
erst acht Jahre später zur Ratifizierung vorgelegt. Das ist
ein bedenklicher Vorgang . Künftig müssen wir darauf
achten, dass die Bundesregierung uns derartige Abkom-
men früher zur Ratifizierung vorlegt. Oder wir müssen
als Deutscher Bundestag selbst den Ratifizierungspro-
zess in Gang setzen, was natürlich auch bedeuten kann,
dass wir die Nicht-Ratifizierung ausdrücklich beschlie-
ßen, um ein solches Abkommen wieder außer Kraft set-
zen zu können . Mit Blick auf die aktuelle Debatte zu dem
Handelsabkommen mit Kanada – CETA – beweist das
Verfahren mit dem CARIFORUM-Abkommen, dass ge-
mischte Handelsabkommen der EU sehr lange vorläufig
in Kraft sein können, bevor sie endgültig demokratisch
legitimiert vom Deutschen Bundestag ratifiziert werden.
Die jetzige Situation ist aus demokratischer und parla-
mentarischer Sicht sehr unbefriedigend . Denn natürlich
wäre es nun deutlich schwieriger, ein derartiges Abkom-
men wieder insgesamt außer Kraft zu setzen, nachdem
es bereits acht Jahre lang vorläufig angewendet wurde.
Trotzdem sollte es für uns keine Denkverbote in dieser
Hinsicht geben, denn es ist nicht das Verschulden des
Deutschen Bundestages, dass uns dieser Vertrag erst jetzt
zur Ratifizierung vorgelegt wird. Und wir müssen als Ge-
setzgeber nach bestem Wissen und Gewissen entschei-
den, ob wir dieses Abkommen verantworten können .
Ich finde, wir sollten uns mit dem Abkommen des-
halb sehr ausführlich beschäftigen . Denn das CARI-
FORUM-Abkommen ist ja nur das erste von mehreren
Handelsabkommen mit den sogenannten AKP-Staaten
im Rahmen der neuen Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men . Früher hatten diese Länder ja einseitigen zollfreien
Zugang in die EU, und jetzt sollen es WTO-konforme
reziproke Handelsabkommen werden . Ich mache keinen
Hehl daraus, dass mir als Entwicklungspolitiker lieber
gewesen wäre, die großteils sehr armen AKP-Staaten
hätten auch weiterhin einseitig zollfreien Zugang zu den
EU-Märkten haben können . An dieser Stelle verzichte
ich aber auf weitere Ausführungen dazu, ob die EU wirk-
lich seitens der WTO gezwungen war, solche neuen, ge-
genseitigen Freihandelsabkommen abzuschließen . Fakt
ist, dass uns jetzt ein Vertragstext vorliegt . Da das Ab-
kommen schon acht Jahre in Kraft ist, eignet es sich sehr
gut, nun genau zu prüfen, welche Auswirkungen sich
auf die Partnerländer ergeben haben . Das erklärte ers-
te Ziel dieses Wirtschaftspartnerschaftsabkommens ist
es ja, „durch den Aufbau einer Handelspartnerschaft . . .
zur Eindämmung und schließlich zur Beseitigung der
Armut beizutragen .“ Ich habe deshalb dem federführen-
den Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung vorgeschlagen, dass wir ein Fachgespräch
mit Experten durchführen sollten, um die bisherigen
Auswirkungen des Abkommens mit speziellem Blick
auf dieses Ziel der Armutsreduzierung zu evaluieren . Ich
freue mich, dass alle Fraktionen dem zugestimmt haben .
Wir sollten uns ausreichend Zeit für diese Beratungen
nehmen, denn schließlich ist das Abkommen jetzt schon
so lange vorläufig in Kraft, dass es auf ein paar Wochen
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 2016 19023
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mehr oder weniger bis zur Ratifizierung oder Nicht-Ra-
tifizierung auch nicht mehr ankommt. Gründlichkeit
sollte hier vor Schnelligkeit gehen, schließlich haben wir
eine sehr wichtige Entscheidung zu treffen . Ich möch-
te mich deshalb hier an dieser Stelle nicht länger über
inhaltliche Aspekte auslassen . Das werde ich ausführ-
lich in den Fachgesprächen, Ausschussberatungen und
dann in der abschließenden Debatte zur zweiten/dritten
Lesung machen . Ich möchte allerdings bereits jetzt da-
rauf hinweisen, dass der Vertragstext für mich in einem
sehr wichtigen Punkt Mängel aufweist . Ausgerechnet die
Kapitel, in denen es um Umweltschutz und soziale As-
pekte wie Arbeitnehmerrechte geht, sind nicht mit einem
wirkungsvollen Sanktionsmechanismus versehen, so wie
er für andere Kapitel des Abkommens gilt . Im Gegenteil
wird selbst bei schwersten Verstößen gegen international
vereinbarte ökologische und soziale Mindeststandards
wie beispielsweise die acht ILO-Kernarbeitsnormen in
Artikel 213 ausdrücklich ausgeschlossen, dass dies zur
Aussetzung von Handelszugeständnissen führen darf .
Meiner Meinung nach kann aber nur mit der Drohung ei-
ner harten Sanktion bei Nichteinhaltung von grundlegen-
den Arbeitnehmerrechten durchgesetzt werden, dass die
Regierungen konsequent ihren Verpflichtungen aus den
acht ILO-Kernarbeitsnormen nachkommen, um Kinder-
arbeit und ausbeuterische, sklavenähnliche Arbeitsbedin-
gungen zu beenden . Nur mit menschenwürdiger Arbeit
zu fairen Löhnen lässt sich Armut beseitigen . Deshalb
müssen wir den Vertragstext an dieser Stelle genau un-
tersuchen und Nachbesserungen vor einer Ratifizierung
einfordern .
Ich danke für die Aufmerksamkeit und sehe den wei-
teren Beratungen gespannt entgegen .
Heike Hänsel (DIE LINKE): Heute, nach acht Jah-
ren bereits vorläufig angewendetem Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen mit den karibischen Staaten, außer
Haiti, will die Bundesregierung das Abkommen ratifizie-
ren . Der Anlass erschließt sich nicht, warum jetzt? Wir
waren damals, als es um den Abschluss des CARIFO-
RUM-Abkommens ging, als ein regionales Abkommen
der EPAs, der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit
den AKP-Staaten, gegen alle Abkommen, die Freihan-
delsabkommen sind . Bis heute wehren sich ja einige
afrikanische Länder, wie zum Beispiel Tansania, gegen
den Abschluss und die Erpressungsmethoden der EU im
Rahmen dieses langjährigen Verhandlungsprozesses . Es
sind noch nicht alle EPAs unter Dach und Fach, und das
aus gutem Grund . Die Hauptkritikpunkte sind: unverant-
wortliche Öffnung der afrikanischen Staaten für europä-
ische Produkte, vor allem im Lebensmittelbereich, durch
massive Zollsenkungen, Streichung von Exportsteuern,
die den Export von Rohstoffen in die EU erleichtern
werden, gleichzeitig aber eine eigene industrielle Ent-
wicklung in Afrika behindern, Rendezvousklauseln in
den jetzt ausgehandelten Abkommen, um nach bestimm-
ten Fristen wieder verhandeln zu müssen über sensible
Bereiche wie öffentliche Beschaffung, Dienstleistungen,
nichttarifäre Handelshemmnisse, Schutz privaten Eigen-
tums, Wettbewerb und Investitionsschutz . Wir kennen
diese Begriffe ja von den Auseinandersetzungen um
CETA und TTIP, nichts anderes bedeuten die EPAs für
die Länder des Südens . Deshalb haben wir uns dagegen
ausgesprochen . Wir setzen uns für einen gerechten, ent-
wicklungsförderlichen Handel mit dem Süden ein . Das
CARIFORUM-Abkommen, das nun seit acht Jahren
existiert, bietet ja eigentlich die Chance, bevor es nun
von der Bundesregierung ratifiziert wird, dass man sich
erst mal genauer anschauen kann, was sich dadurch in
den karibischen Staaten positiv oder negativ verändert
hat . Es wäre doch wichtig, dass solch eine Initiative das
Entwicklungsministerium ergreift; schließlich wurden
den Staaten damals ja versprochen: Wir setzen das Gan-
ze vorläufig in Kraft und prüfen dann regelmäßig, ob die
Menschen im Süden davon profitieren. – Das wäre doch
Ihre Aufgabe als Entwicklungsminister, sich dafür ein-
zusetzen .
Davon ist nun nichts mehr zu hören, und das ist ty-
pisch im Bereich der Handelspolitik . Erst mal vorläu-
fig in Kraft setzen und dann, wenn Gras über die Sache
beziehungsweise Aufregung gewachsen ist, dann das
Ganze zu ratifizieren. Dies können Sie vielleicht bei den
karibischen Staaten machen, da diese leider wenig Auf-
merksamkeit haben, aber ganz bestimmt nicht bei CETA
und TTIP!
Das CARIFORUM-Abkommen hat bisher die
Dienstleistungen, Visabestimmungen und kulturel-
le Zusammenarbeit von der vorläufigen Anwendung
ausgenommen, da hier die nationalen Parlamente ge-
fragt sind . Binnen zehn Jahren ab Anwendung (das
wäre Ende 2018) sollen 61 Prozent der EU-Exporte bei
CARIFORUM zollfrei sein, in 25 Jahren 87 Prozent .
Das EU-CARIFORUM-EPA geht in vielen Bereichen
weit über WTO-Standards hinaus . Viele dieser Aspekte
haben dazu geführt, dass sich die afrikanischen EPAs
so lange verzögert haben . Im CARIFORUM-EPA ist es
der EU gelungen, umfassende Regeln zu Investitionen in
grundsätzlich allen Wirtschaftsbereichen zu verankern,
insbesondere bei Direktinvestitionen und im Dienstleis-
tungssektor . Der wirtschaftspolitische Spielraum, heimi-
sche Unternehmen in den karibischen Staaten gezielt im
Wettbewerb mit überlegener ausländischer Konkurrenz
zu fördern, wird weitgehend eingeschränkt . Das ist ja
auch ein Ziel bei CETA und TTIP .
Die bisherige Bilanz zeigt eher geringe zusätzliche
Exportchancen für CARIFORUM-Staaten durch einen
freien EU-Marktzugang . Das CARIFORUM-EPA geht
besonders weit, und die Linke lehnt es deshalb ab .
Die Praxis der vorläufigen Anwendung ist ein Unding
und muss gestoppt werden!
Es muss ein Moratorium und ein Fenster für Neuver-
handlungen für die weitere Anwendung des EU-CARI-
FORUM-EPA geben, zumindest für die Rendezvous-
klausel und weitere Liberalisierungsschritte .
Wir fordern, dass sich die Bundesregierung dafür ein-
setzt, dass die Europäische Union ihre Handelspolitik so
ausrichtet, dass sie eine nachhaltige und eigenständige
wirtschaftliche Entwicklung in der Karibikregion unter-
stützt . Dabei muss sie insbesondere darauf hinwirken,
dass von späteren Verhandlungen über die Liberalisie-
rung der Investitions- und Wettbewerbsregeln, des öf-
Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 190 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 22 . September 201619024
(A) (C)
(B) (D)
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fentlichen Beschaffungswesens sowie von öffentlichen
Dienstleistungen abgesehen wird .
Die Länder des Südens brauchen Spielraum für den
Aufbau eigener Wertschöpfung in den Bereichen Land-
wirtschaft, Industrie und Dienstleistungen . Dagegen ste-
hen genau die EPAs und das CARIFORUM-EPA!
Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
acht Jahren ist nun das Wirtschaftspartnerschaftsabkom-
men zwischen der EU und den Karibik-Staaten in Kraft
getreten, allerdings nur vorläufig. Die eigentliche Ratifi-
zierung soll erst jetzt durch das vorgelegte Gesetz durch-
geführt werden . Immerhin legt die Bundesregierung dem
Parlament überhaupt ein Ratifizierungsgesetz vor. Das
ist bei dieser Bundesregierung ja leider keine Selbst-
verständigkeit . Sie erinnern sich: das Abkommen zwi-
schen der EU und den westafrikanischen Staaten sollte
ursprünglich am Parlament vorbei und nur vom Kabinett
ratifiziert werden. Aber der Druck aus der Opposition
zeigte Wirkung, und das EPA, sollte es irgendwann von
allen Vertragsparteien unterzeichnet sein, kommt zur Ab-
stimmung in dieses Hohe Haus . Alles andere wäre auch
verfassungswidrig gewesen, dafür wären wir auch nach
Karlsruhe gezogen .
Nun aber zum eigentlichen Abkommen . Es hat bis-
her nicht Wort gehalten . Die versprochene nachhalti-
ge Entwicklung durch das Handelsabkommen für die
Karibik-Staaten ist nicht mal in den Ansätzen zu er-
kennen . Die Handelsströme haben sich zwischen den
beiden Regionen so gut wie nicht verändert, weder ha-
ben sich die Exporte der EU noch die Importe aus der
Karibik verändert . Ein ernsthaftes Resümee ist deshalb
auch schwer zu ziehen . Die Karibik-Staaten können auf-
grund der Übergangsfristen ihren Markt derzeit noch
schützen . Selbst die EU hatte sich noch bis 2015 etwa
vor Zuckerimporten aus Übersee geschützt . Was bleibt,
sind aber Vereinbarungen, die drohen eine nachhaltige
Entwicklung zu verhindern . Und sie kommen erst in den
nächsten Jahren zum Tragen . Am Ende werden die Kari-
bik-Staaten fast 90 Prozent ihres Marktes liberalisieren .
Das ist angesichts eines solch divergierenden Kräftever-
hältnisses zwischen den europäischen und karibischen
Staaten wenig nachhaltig noch angemessen . Klassische
Schutzinstrumente wie die Exportsteuern sind verboten .
Dabei könnten gerade diese dazu beitragen, die festge-
fahrene Exportstruktur aufzubrechen . Zwar gibt es eini-
ge Schutzmechanismen, die negative Effekte verhindern
oder korrigieren sollen . Der Schutz junger Industrien soll
allerdings auf zehn Jahre beschränkt bleiben, das ist mehr
als realitätsfern und industriepolitischer Wahnsinn . Der
Aufbau einer robusten Industrie bedarf weit mehr Zeit .
Seit einem Jahr wird gebetsmühlenartig die Bekämp-
fung von Fluchtursachen vorgetragen . Nur hat diese
Bundesregierung ein falsches Verständnis von Flucht-
ursachen . Die Bundesregierung bekämpft lieber Flücht-
linge statt die Ursachen . Wer ernsthaft Fluchtursachen
bekämpfen will, muss sich für eine gerechte Handelsord-
nung einsetzen und nicht für EPAs, wie sie derzeit ausge-
handelt sind . Wir müssen gewaltig umdenken, wenn wir
der knapp einen Milliarde an Hungernden, den Millionen
von Menschen auf der Flucht, den Hunderttausenden
in den Textilfabriken ernsthaft begegnen wollen . Dafür
müssen wir die globalen Strukturen verändern . Gerade
ungerechter Handel ist die treibende Kraft für Ungleich-
heit innerhalb und zwischen den Staaten und der Kol-
benfresser für eine nachhaltige Entwicklung . Mit solchen
Verträgen erhöht die EU und damit auch Deutschland
den Fluchtdruck in vielen Ländern . Es fällt mir schwer
zu glauben, dass diese Erkenntnis der Regierung und der
Kommission nicht vorliegt . Nur fairer Handel ist freier
Handel, nur dieser trägt dazu bei, die Fluchtursachen zu
bekämpfen .
190. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Bundesverkehrswegeplan 2030
TOP 5, ZP 2 Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes
TOP 6, CETA-Abkommen
ZP 3 CETA-Abkommen
TOP 39 a und c CETA-Abkommen
TOP 43, ZP 4 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 44, ZP 5 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
TOP 7 Bundesteilhabegesetz
ZP 6 Aktuelle Stunde zur Situation in Syrien nach dem Angriff auf den VN-Hilfskonvoi
TOP 8, ZP 7 Gesetz zu dem Übereinkommen von Paris
TOP 13 Menschenrechtsverteidiger in Russland
TOP 10 Gewinnkürzungen und -verlagerungen
TOP 11 Kinderarmut
TOP 12 Bundeswehreinsatz SEA GUARDIAN im Mittelmeer
TOP 17 Förderung des Schienenverkehrs – Deutschland-Takt
TOP 14 Bundesbesoldungs- und versorgungsanpassungsgesetz
TOP 15 Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft
TOP 16 Manipulationen an digitalen Grundaufzeichnungen
ZP 8 Auskunftsrecht der Presse gegenüber Bundesbehörden
TOP 18 Änderung bewachungsrechtlicher Vorschriften
TOP 19 Verwendung des Solidaritätszuschlages
TOP 20 Elektronische Akte in Strafsachen
TOP 21 Steuerliche Förderung von Elektromobilität
TOP 22 Psychiatrische und psychosomatische Versorgung
TOP 23 Verfahrensrechte von Beschuldigten imStrafverfahren
TOP 25 Änderung des Bundesfernstraßenmautgesetzes
TOP 26 Bundesanstalt für Finanzmarktstabilisierung
TOP 27 Schulprogramm für Obst, Gemüse und Milch
TOP 28 Bekämpfung neuer psychoaktiver Stoffe
TOP 29 Abfallverbringungsrechtliche Vorschriften
TOP 30 Gesetz zur Europäischen Kontopfändungsverordnung
TOP 31 Änderung der Chemikalien-Klimaschutzverordnung
TOP 32 Deutsch-indische Wissenschaftskooperation
TOP 33 Neuregelung des Mikrozensus
TOP 34 Neuregelung des Bundesarchivrechts
TOP 35 Familienkassen des öffentlichen Dienstes
TOP 36 Umsetzung der Berufsanerkennungsrichtlinie
TOP 37 Partnerschaftsabkommenmit denCARIFORUM-Staaten
Anlagen
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7
Anlage 8
Anlage 9
Anlage 10
Anlage 11
Anlage 12
Anlage 13
Anlage 14
Anlage 15
Anlage 16
Anlage 17
Anlage 18
Anlage 19
Anlage 20
Anlage 21
Anlage 22
Anlage 23
Anlage 24
Anlage 25
Anlage 26
Anlage 27
Anlage 28
Anlage 29
Anlage 30
Anlage 31