(D)
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7029
(A) (C)
(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
(D)
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Alpers, Agnes DIE LINKE 4.12.2014
Bleser, Peter CDU/CSU 4.12.2014
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 4.12.2014
Freese, Ulrich SPD 4.12.2014
Freitag, Dagmar SPD 4.12.2014
Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 4.12.2014
Gabriel, Sigmar SPD 4.12.2014
Jung, Xaver CDU/CSU 4.12.2014
Kermer, Marina SPD 4.12.2014
Dr. Launert, Silke CDU/CSU 4.12.2014
Lenkert, Ralph DIE LINKE 4.12.2014
Liebich, Stefan DIE LINKE 4.12.2014
Lutze, Thomas DIE LINKE 4.12.2014
Dr. de Maizière,
Thomas
CDU/CSU 4.12.2014
Mortler, Marlene CDU/CSU 4.12.2014
Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 4.12.2014
Müntefering, Michelle SPD 4.12.2014
Roth (Heringen),
Michael
SPD 4.12.2014
Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
4.12.2014
Schlecht, Michael DIE LINKE 4.12.2014
Schön (St. Wendel),
Nadine
CDU/CSU 4.12.2014
Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 4.12.2014
Dr. Steinmeier, Frank-
Walter
SPD 4.12.2014
Tillmann, Antje CDU/CSU 4.12.2014
Walter-Rosenheimer,
Beate
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
4.12.2014
Wunderlich, Jörn DIE LINKE 4.12.2014
Zollner, Gudrun CDU/CSU 4.12.2014
Anlage 2
Erklärung nach § 31 GO
des Abgeordneten Hubertus Heil (Peine) (SPD)
zu den Abstimmungen über
– den von den Fraktionen der CDU/CSU und
SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Erneuerbare-Energien-
Gesetzes
– den von den Abgeordneten Oliver Krischer,
Dr. Julia Verlinden, Annalena Baerbock,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur zweiten Ände-
rung des Gesetzes für den Ausbau erneuer-
barer Energien
(Tagesordnungspunkt 11)
Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zur
Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, EEG,
greift ein tatsächliches Problem auf. Auch weil Messan-
lagen teuer sind und in der Vergangenheit bei anteiliger
Direktvermarktung nicht die Notwendigkeit einer ge-
trennten Messung gesehen wurde, wird in manchen Fäl-
len die Stromerzeugung von mehreren Anlagen – zum
Beispiel mehrerer Windräder in einem Windpark – über
ein- und dieselbe Messeinrichtung gemessen. Dies ent-
sprach der gängigen Praxis unter dem EEG 2012.
Im EEG 2014 gibt es hierzu widersprüchliche Aussa-
gen, die im Ergebnis dazu führen, dass eine anteilige Di-
rektvermarktung nicht mehr zulässig ist, wenn der von
einer Messeinrichtung gemessene Strom aus mehreren
Anlagen stammt, von denen einige direkt vermarkten
und andere die Einspeisevergütung erhalten. Der Anla-
genbetreiber wird sanktioniert, indem er Vergütungsan-
sprüche verliert. Dieses Ergebnis widerspricht der Geset-
zesbegründung des EEG 2014. Daher sollte die bisherige
Praxis wieder ermöglicht und eine anteilige Direktver-
marktung über einen Zähler zugelassen werden.
Dass ich dem Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die
Grünen nicht zustimme, liegt zum einen an dem Um-
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Anlagen
7030 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
stand, dass der Gesetzentwurf rechtlich nicht ausgereift
ist und zu Folgeproblemen führen könnte, und zum an-
deren daran, dass es bei unserem Koalitionspartner, der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, noch Klärungsbedarf
hinsichtlich der Frage der Rückwirkung gibt.
Ich gehe davon aus, dass wir gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner den Fehler korrigieren und zeitnah
eine rechtssichere Lösung finden.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Richard Pitterle und Halina
Wawzyniak (beide DIE LINKE) zur Abstim-
mung über den von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Än-
derung der Abgabenordnung und des Einfüh-
rungsgesetzes zur Abgabenordnung (Tagesord-
nungspunkt 20 a)
Wir haben uns bei dem Antrag der Fraktion Die Linke
„Straffreiheit bei Steuerhinterziehung durch Selbstan-
zeige abschaffen“ enthalten.
Ziel des Antrages ist es, die Möglichkeit der Abgabe
einer strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterzie-
hung gemäß § 371 AO abzuschaffen und Bagatelldelikte
künftig als Ordnungswidrigkeiten zu behandeln.
Wir halten Steuerhinterziehung für ein nicht zu ent-
schuldigendes Delikt. Wer Steuern hinterzieht, entzieht
sich der Verantwortung für die Gemeinschaft. Es ist des-
halb richtig, die Regelungen zur strafbefreienden Selbst-
anzeige bei Steuerhinterziehung zu verschärfen. Es ist
deshalb auch richtig, den zu zahlenden Geldbetrag beim
Absehen von Strafe und dessen Staffelung nach § 398 a AO
deutlich anzuheben sowie den Hinterziehungsbetrag, ab
dem eine Straffreiheit nicht mehr möglich ist, von
50 000 Euro auf 25 000 Euro zu senken. Das findet un-
sere Zustimmung.
Die ersatzlose Abschaffung der strafbefreienden
Selbstanzeige halten wir allerdings nicht für sinnvoll.
Wir enthalten uns bei dem Antrag der Linken deshalb,
weil wir der Meinung sind, dass eine Ausweitung der
strafbefreienden Anzeige auf andere Bereiche ausge-
dehnt werden sollte. Es könnte dann ein Mensch, der
zum Beispiel einen Diebstahl, eine Sachbeschädigung
begangen hat, oder jemand, der sich unerlaubt vom Un-
fallort entfernt hat, soweit er noch nicht als Täter ent-
deckt wurde, sich durch eine Selbstanzeige von der
Strafbarkeit befreien. Dies würde zur Entkriminalisie-
rung beitragen und die Gerichte entlasten.
Außerdem kennt das Strafrecht in einigen Bereichen
die sogenannte tätige Reue. Der Abschaffung der Straf-
freiheit bei Steuerhinterziehung durch Selbstanzeige hät-
ten wir dann zustimmen können, wenn zumindest die
Möglichkeit der tätigen Reue an ihre Stelle getreten
wäre. Dies würde keine zwingende Straffreiheit bedeu-
ten, sondern hätte lediglich dem Gericht im Rahmen ei-
ner Ermessensentscheidung die Möglichkeit gegeben,
die Strafe im konkreten Einzelfall zu mildern oder von
der Strafe abzusehen. Die tätige Reue gibt es beispiels-
weise über den § 314 a Absatz 2 Nummer 2 d StGB auch
für das Freisetzen ionisierender Strahlen (§ 311 StGB).
Dieser Straftatbestand stellt unter Strafe, wenn jemand
unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten ioni-
sierende Strahlen freisetzt oder Kernspaltungsvorgänge
bewirkt, die unter anderem geeignet sind, Leib oder Le-
ben eines anderen Menschen zu schädigen. Wir halten es
für unverhältnismäßig, bei Gefährdung von Leib und Le-
ben die tätige Reue zu ermöglichen, bei der Hinterzie-
hung von Steuern hingegen nicht.
Sinnvoll ist es aus unserer Sicht, dafür zu sorgen, dass
tatsächlich Steuern gezahlt werden. Die Linke hat des-
halb in der 17. Wahlperiode die Einrichtung einer Bun-
desfinanzpolizei als Wirtschafts- und Finanzermittlungs-
behörde (vergleiche http://dip21.bundestag.de/dip21/
btd/17/127/1712708.pdf) gefordert.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Schutzes gegen Diskriminie-
rungen aufgrund des Gesundheitszustandes
(Tagesordnungspunkt 16)
Dr. Hendrik Hoppenstedt (CDU/CSU): Um den
Schutz vor Diskriminierungen im Sinne des Artikels 3
des Grundgesetzes zu verbessern, hatte die Große Koali-
tion in der 16. Wahlperiode das Allgemeine Gleichbe-
handlungsgesetz beschlossen. Dank des AGG wurden
und werden Diskriminierungen erfolgreich beseitigt und
verringert. Dies erkennt auch die Linksfraktion an, die
dem Gesetz damals nicht zugestimmt hatte.
Der Gesetzentwurf, den wir heute in erster Lesung be-
raten, ist ein modifizierter Antrag der Linksfraktion aus
der letzten Wahlperiode. Sein Ziel ist die Aufnahme
chronischer Erkrankungen als Diskriminierungsmerkmal
ins AGG. Damit soll „klargestellt“ werden, dass auch
chronisch kranke Menschen durch das AGG geschützt
werden.
Begründet wird die angestrebte Änderung des Geset-
zes im Wesentlichen mit der Kündigungsschutzklage ei-
nes an einer symptomlosen HIV-Infektion erkrankten
Klägers gegen ein Pharmaunternehmen. Diese sei in den
ersten beiden Instanzen erfolglos und erst vor dem Bun-
desarbeitsgericht erfolgreich gewesen.
Was war der Sachverhalt? Ein Pharmaunternehmen,
das intravenös zu verabreichende Arzneimittel herstellt,
hatte den Kläger für eine Tätigkeit in einem Reinraum
eingestellt. Wenige Tage nach Arbeitsbeginn hatte der
Kläger den Betriebsarzt auf seine HIV-Infektion hinge-
wiesen. Der Betriebsarzt hatte Bedenken gegen den Ein-
satz des Klägers im Reinraum. Daraufhin kündigte das
Pharmaunternehmen den Arbeitsvertrag unter Berufung
auf seine Standard Operating Procedures. Nach diesen
betriebsinternen Regeln sei die Beschäftigung von Mit-
arbeitern mit ansteckenden Krankheiten im Reinraum
verboten. Das Bundesarbeitsgericht hat das Berufungs-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7031
(A) (C)
(D)(B)
urteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Landes-
arbeitsgericht zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts
zurückverwiesen, denn das Instanzgericht habe insbe-
sondere nicht geprüft, ob das beklagte Pharmaunterneh-
men durch angemessene Vorkehrungen einen Einsatz
des Klägers im Reinraum hätte ermöglichen können.
Tatsächlich wäre eine unterschiedliche Behandlung
aufgrund beruflicher Anforderungen unter den Voraus-
setzungen des § 8 Absatz 1 AGG zulässig. Dies ist dann
der Fall, wenn der Diskriminierungsgrund gerade wegen
der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingun-
gen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende
berufliche Anforderung darstellt und sowohl der Zweck
rechtmäßig als auch die Anforderungen angemessen
sind.
Vom Bundesarbeitsgericht wurde entschieden, dass
eine symptomlose HIV-Infektion eine Behinderung im
Sinne des AGG zur Folge hat. Eine Behinderung im
Sinne des § 1 AGG liegt nach BAG vor, wenn die kör-
perliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Ge-
sundheit eines Menschen langfristig eingeschränkt ist
und dadurch – in Wechselwirkung mit verschiedenen so-
zialen Kontextfaktoren – die Teilhabe an der Gesellschaft,
einschließlich der Teilhabe am Berufsleben, substanziell
beeinträchtigt sein kann (sogenannter bio-psycho-sozia-
ler Behindertenbegriff). Eine symptomlose HIV-Infek-
tion sei eine Behinderung in diesem Sinne, denn eine
solche Infektion führe zu einer chronischen Erkrankung,
die sich auf die Teilhabe des Arbeitnehmers an der Ge-
sellschaft auswirke. Das gelte so lange, wie das gegen-
wärtig auf eine solche Infektion zurückzuführende
soziale Vermeidungsverhalten sowie die darauf beruhen-
den Stigmatisierungen andauern.
Aus den Ausführungen des BAG kann man den
Schluss ziehen, dass künftig grundsätzlich jedwede
chronische Erkrankung eine Behinderung im Sinne des
Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sein kann.
Dies gilt grundsätzlich sogar für weitverbreitete Volks-
krankheiten wie Diabetes mellitus, Arthrose, Rheuma
oder Depressionen, an denen laut BAG etwa 40 Prozent
der Deutschen leiden.
Im Zeitpunkt, als die Linke in der letzten WP den
Vorgängerantrag gestellt hatte, lag das BAG-Urteil noch
nicht vor. Insofern war der Vorschlag grundsätzlich
nachvollziehbar.
Vor dem Hintergrund des jetzt vorliegenden BAG-
Urteils werden wir uns im Ausschuss mit der Frage be-
fassen müssen, ob die ausdrückliche Aufnahme von
chronischen Krankheiten in den Katalog der in § 1 AGG
aufgezählten Gründe zur Klarstellung grundsätzlich
sinnvoll und erforderlich ist.
Unabhängig davon ist der Gesetzentwurf der Linken
– ebenso wie der damalige Antrag – unzureichend, denn
er definiert den Begriff der chronischen Erkrankung
nicht. Diese Abgrenzungsfrage, welche Krankheiten
„chronische Erkrankungen“ im Sinne des Gesetzes sind,
muss für den Anwendungsbereich aber klar beantwortet
werden, zumal es eine Vielzahl von chronischen Erkran-
kungen und unterschiedliche Definitionen hierfür gibt.
Die in Artikel 2 des Gesetzentwurfs vorgeschlagene
Änderung des Gesetzes über die Gleichbehandlung der
Soldatinnen und Soldaten und ihre Begründung über-
zeugt nicht. Die Behauptung, behinderte Soldatinnen
und Soldaten seien „gänzlich schutzlos“ gestellt, ist
schlicht falsch. Es liegt auch keine sachlich ungerecht-
fertigte Ungleichbehandlung vor. Sowohl mit dem AGG
als auch mit dem SoldGG wurden EU-Richtlinien zur
Verwirklichung des Gleichbehandlungsgrundsatzes um-
gesetzt. Ebenso wie andere Staaten auch haben wir in
Deutschland aus militärischen Gründen von der Mög-
lichkeit Gebrauch gemacht, die Richtlinie hinsichtlich
von Diskriminierungen wegen einer Behinderung nicht
für die Streitkräfte der Bundeswehr umzusetzen. Auf-
grund des Erfordernisses der Einsatzbereitschaft und der
Schlagkraft der Streitkräfte ist es gerechtfertigt, dass die
Streitkräfte keine Personen einstellen oder weiterbe-
schäftigen müssen, die hinsichtlich ihrer körperlichen
oder geistigen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, die je-
weiligen Anforderungen an sämtliche ihnen zu stellende
militärische Aufgaben zu erfüllen.
Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Mit der Verabschie-
dung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist
Deutschland seiner Verpflichtung nachgekommen, vier
Richtlinien der Europäischen Union umzusetzen, die den
Schutz vor Diskriminierung regeln. Daraufhin trat das
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, am 14. Au-
gust 2006 in Kraft.
Mit dem Gesetzentwurf „Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung des Schutzes gegen Diskriminierungen
aufgrund des Gesundheitszustands“ fordert die Opposi-
tion nun, das Tatbestandsmerkmal „Gesundheitszustand“
in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufzuneh-
men, da andernfalls eine Schutzlücke für chronisch
kranke Menschen und Menschen mit Pflegebedarf be-
stünde. So heißt es in § 1 AGG:
Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Grün-
den der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft,
des Geschlechts, der Religion oder Weltanschau-
ung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuel-
len Identität zu verhindern oder zu beseitigen.
Bereits in der letzten Wahlperiode ist ein gleichlau-
tender Antrag von der Fraktion Die Linke – Drucksache
17/9563,17/13765 – mit gleicher Forderung eingebracht
worden. Dieser wurde mit guten Argumenten abgelehnt.
Seit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts,
BAG, mit Urteil vom 19. Dezember 2013 – Az. 6 AZR
190/12 – ist der vorgelegte Gesetzentwurf darüber hi-
naus obsolet. Denn chronische Erkrankungen können
seither unter das Tatbestandsmerkmal „Behinderung“
subsumiert werden.
Gegenstand der Entscheidung des 6. Senats war die
Wirksamkeit einer sogenannten Wartezeitkündigung. Der
an einer symptomlosen HIV-Infektion erkrankte Arbeit-
nehmer wurde von der Beklagten, einem Pharmaunter-
nehmen, das intravenös zu verabreichende Arzneimittel
zur Krebsbehandlung herstellt, als chemisch-techni-
scher Assistent für eine Tätigkeit im sogenannten Rein-
7032 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
raumbereich eingestellt. Bei einer Einstellungsuntersu-
chung wenige Tage nach Arbeitsbeginn wies der
Arbeitnehmer den Betriebsarzt auf seine Infektion hin.
Dieser äußerte Bedenken gegen einen Einsatz des Ar-
beitnehmers im Reinraum und informierte die Arbeitge-
berin, nach Entbindung von seiner Schweigepflicht, über
die Infektion des Arbeitnehmers. Die Arbeitgeberin kün-
digte noch am selben Tag ordentlich und berief sich auf
ihr internes Regelwerk, das eine Beschäftigung von Mit-
arbeitern mit ansteckenden Krankheiten im Reinraum
verbiete. Dieses Regelwerk geht auf Leitlinien der EU-
Kommission über eine „gute Herstellungspraxis“ zurück
und sieht unter anderem vor, dass Vorkehrungen getroffen
werden sollten, „die, soweit es praktisch möglich ist, si-
cherstellen, dass in der Arzneimittelherstellung niemand
beschäftigt wird, der an einer ansteckenden Krankheit lei-
det oder offene Verletzungen an unbedeckten Körper-
stellen aufweist“. Der Arbeitnehmer erhob Kündigungs-
schutzklage und machte eine Entschädigung geltend. Da
seine HIV-Infektion alleiniger Kündigungsgrund sei, sah
er sich durch die Kündigung wegen seiner Behinderung
diskriminiert. Auch unter Berücksichtigung seiner indi-
viduellen Krankheitsmerkmale sei ein risiko- und ge-
fahrloser Einsatz des Arbeitnehmers im Reinraumbe-
reich möglich gewesen.
Das BAG führt dazu aus, dass die Kündigung des Ar-
beitnehmers unmittelbar am Maßstab des AGG zu mes-
sen sei. § 2 Absatz 4 AGG stehe dem nicht entgegen, da
diese Vorschrift nur das Verhältnis zwischen dem AGG
und speziell auf Kündigungen zugeschnittener Vor-
schriften wie insbesondere dem KSchG regele. Die
symptomlose HIV-Infektion des Arbeitnehmers stelle als
chronische Krankheit eine Behinderung im Sinne des
AGG dar. Dies gelte jedenfalls, wenn und soweit das auf
solche Infektionen zurückzuführende soziale Vermei-
dungsverhalten und die darauf beruhenden Stigmatisie-
rungen andauerten und eine gesellschaftliche Partizipa-
tion der HIV-Infizierten damit unmöglich gemacht
würde.
Der Gesetzentwurf ist demnach folgerichtig abzuleh-
nen. Denn im Ergebnis steht fest, dass Behinderungen
im Sinne des AGG grundsätzlich auch chronische
Krankheiten sind, sofern die erforderliche Beeinträchti-
gung der Teilhabe vorliegt. Es besteht keine Regelungs-
lücke und für die von der Opposition genannte Personen-
gruppe ein gesetzlicher Diskriminierungsschutz. Das
begrüßen wir ausdrücklich, denn mehr als ein Drittel der
Bevölkerung in Deutschland – also rund 27 Millionen
Menschen – leiden an einer oder an mehreren chroni-
schen Erkrankungen, und die Zahl der Betroffenen
nimmt immer weiter zu.
Dr. Matthias Bartke (SPD): Am Montag dieser Wo-
che war Welt-Aids-Tag. Seit 1988 wird er jedes Jahr am
1. Dezember begangen. Die rote Schleife ist eines der
sichtbarsten Zeichen an diesem Tag. Sie ist ein Zeichen
für Toleranz und Solidarität mit den Menschen, die von
HIV oder Aids betroffen sind. In diesem Jahr gibt es au-
ßerdem eine Schwerpunktkampagne unter dem Motto
„Positiv zusammen leben“. Es geht dabei um Gewis-
sensfragen. Was würdest du zu einem HIV-positiven Bä-
cker sagen? Dürfte dein Kind mit HIV-positiven Kindern
spielen? Würdest du mit einem HIV-positiven Kollegen
in die Kantine gehen? Vertrauen wir auf unser Wissen
um HIV und Aids, wenn es darauf ankommt? Oder ist
die Angst größer?
Im Sommer veröffentlichte die Deutsche Aids-Hilfe
eine Studie zur Diskriminierung von Menschen mit HIV.
Mehr als drei Viertel aller Befragten gaben an, solche
Erfahrungen im letzten Jahr gemacht zu haben. Das ging
von Gerede über Beleidigungen bis hin zu tätlichen An-
griffen. Bei diesem Ergebnis verwundert es nicht, dass
Berater und Experten einen neuen Trend zum Verschwei-
gen und Verstecken von HIV-Infektionen beobachten.
Umso wichtiger ist die Aufklärung!
Meine Damen und Herren von der Linken, ich gehe
hier deshalb so umfänglich auf HIV und Aids ein, weil
Sie in Ihrem Antrag einen HIV-infizierten Chemielabo-
ranten zum Beispielfall machen. Diesem Laboranten
wurde gekündigt, als der Arbeitgeber von der Infektion
erfuhr. In der letzten Legislaturperiode haben Sie einen
ähnlichen Gesetzentwurf wie den heutigen vorgelegt.
Schon in diesem war der Chemielaborant Ausgangs-
punkt Ihrer Forderungen. Zum Zeitpunkt Ihres damali-
gen Antrags lagen nur die Gerichtsurteile des Berliner
Arbeitsgerichts und des Berliner Landesarbeitsgerichts
vor. Diese bestätigten beide die Kündigung. Das ist unter
den gegebenen Umständen ein Unding. Das Bundes-
arbeitsgericht aber hat die Kündigung bereits vor etwa
einem Jahr für rechtswidrig erklärt. Ich frage mich wirk-
lich, ob Sie das Urteil gelesen haben. Das Urteil nämlich
nimmt der Kündigung zwar definitiv nichts an Brisanz.
Es begründet aber auch sicher nicht die Aufnahme des
Diskriminierungsmerkmals Gesundheitszustand.
Das Landesarbeitsgericht hat eben nicht festgestellt,
ob der Kläger behindert ist, sondern dies ausdrücklich
offen gelassen. Dem Chemielaborant war durch das zu-
ständige Versorgungsamt aber ein GdB von 10 zuerkannt
worden. Das ist der geringste GdB, den es gibt. Doch das
spielt keine Rolle: Auch mit diesem geringen GdB war
der Chemielaborant selbstverständlich behindert und fiel
unter das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG.
Bei der Kündigung handelte es sich also klar um eine
Ungleichbehandlung, auch wenn nach einem scheinbar
objektiven Kriterium entschieden wurde.
Kurz und gut: Das Landesarbeitsgericht hat die Kün-
digung bestätigt, obwohl ein Diskriminierungsmerkmal
des AGG vorlag. Das Bundesarbeitsgericht hat dieses
Urteil daher zu Recht aufgehoben.
An diesem Beispielfall soll aber nicht entschieden
werden, ob die Aufnahme des Diskriminierungsmerk-
mals Gesundheitszustand unsere Ablehnung oder Zu-
stimmung erfährt. Zumal es bei chronischen Krankhei-
ten nicht nur um HIV und Aids geht. Es geht auch um
Diabetes, Krebs und Adipositas, es geht um Hautkrank-
heiten oder psychische Erkrankungen. Dennoch wirft
der Fall eine sehr wichtige Frage auf. Das ist die Frage:
Wird chronische Erkrankung von Behinderung erfasst?
Nicht jeder chronisch kranke Mensch gilt heute als
behindert. Schon gar nicht gilt der Umkehrschluss, dass
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7033
(A) (C)
(D)(B)
jeder Behinderte chronisch krank ist. Und es ist auch
nicht so, dass jede chronische Erkrankung einen beson-
deren, besseren Schutz nötig macht.
Ob Menschen mit chronischen Krankheiten unter den
Schutz des AGG fallen, hängt heute davon ab, ob ihre
Erkrankung als Behinderung gilt. Sie sind also nicht
grundsätzlich vom AGG ausgeschlossen
Im AGG sind chronische Erkrankungen erfasst, wenn
sie zu Behinderungen werden. Das ist keineswegs erst
dann der Fall, wenn eine Schwerbehinderung mit einem
GdB von mindestens 50 vorliegt. Eine Behinderung liegt
dann vor, wenn die körperliche Funktion, die geistige
Fähigkeit oder die seelische Gesundheit eines Menschen
mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate
von dem für das Lebensalter typischen Zustand abwei-
chen und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesell-
schaft beeinträchtigt ist. So steht es im SGB IX. Und von
diesem Behinderungsbegriff sind die allermeisten chro-
nisch kranken Menschen erfasst. Ich habe einige Zeit das
Hamburger Versorgungsamt geleitet und weiß, wovon
ich spreche.
Es gibt jedoch auch Fälle, in denen dieser Behinde-
rungsbegriff in Bezug auf chronische Erkrankungen an
seine Grenzen stößt. Das ist dann der Fall, wenn mit der
chronischen Erkrankung eine relativ geringe Funktions-
beeinträchtigung einhergeht, die Erkrankung selbst aber
in der Gesellschaft besonders stark stigmatisiert wird.
Auch diese Betroffenen müssen vor Diskriminierung ge-
schützt werden. Diesen Schutz gilt es zu verankern, und
der Weg dafür ist schon vorgegeben: Es geht uns um
eine Weiterentwicklung des Behinderungsbegriffs im
Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Danach
folgt das AGG einem sozialen Modell und erfasst chro-
nische Krankheiten immer dann, wenn sie zu elementa-
ren Teilhabestörungen führen. In diesen Fällen fallen sie
grundsätzlich unter den Behinderungsbegriff und wer-
den damit durch das jetzige AGG voll erfasst.
Das AGG ist die Grundlage, um allen Menschen in
Deutschland Schutz vor Diskriminierung zu bieten. Für
eine echte Kultur der Nichtdiskriminierung – im Alltag
und in unseren Köpfen – ist Aufklärung notwendig. Un-
ser Ziel muss am Ende sein: Gewissensfragen sollen von
allen in der Gesellschaft im Sinne von Solidarität und
Toleranz beantwortet werden. Ohne Unterscheidung zwi-
schen Behinderung und chronischer Erkrankung!
Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Meine
Fraktion hat Ihnen den Entwurf eines Gesetzes zur Ver-
besserung des Schutzes gegen Diskriminierungen vorge-
legt. Der letzte Auslöser dafür war ein Urteil des Bundes-
arbeitsgerichts im Zusammenhang mit der Kündigung
gegen einen HIV-infizierten Chemielaboranten. Diesem
jungen Mann war aufgrund seiner HIV-Infektion gekün-
digt worden, nachdem sein Arbeitgeber von der Infek-
tion erfahren hatte. Als er gegen diese Kündigung klagte,
verlor er sowohl in der ersten Instanz vor dem Berliner
Arbeitsgericht als auch in der zweiten Instanz vor dem
Berliner Landesarbeitsgericht. Erst das Bundesarbeitsge-
richt erklärte die Kündigung für rechtswidrig.
Schicksale wie dieses könnte ich Ihnen ohne Unter-
brechung darlegen. In meiner ehrenamtlichen Tätigkeit
bei einer der Brandenburger Aids-Hilfen ist mir bei-
spielsweise ein Mann – ich nenne ihn hier einmal R. –
begegnet, der in einem sehr großen, ehemals öffentlichen
Unternehmen arbeitet. Auf einer Betriebsfeier rutschte
ihm im leicht angeheiterten Zustand vor den Kollegen
heraus, dass er HIV-positiv sei. Er selbst hatte sein dies-
bezügliches Test-Ergebnis erst wenige Tage vorher er-
fahren. Deshalb war er noch in einer Art seelischen Aus-
nahmezustands. Von diesem Moment an war plötzlich
nichts mehr wie vorher. Seine Kollegen – und ich be-
nutze bewusst die männliche Form – behandelten ihn
von einer Sekunde auf die andere, als ob er plötzlich ein
Monster geworden wäre. Sie weigerten sich beispiels-
weise, gemeinsam mit ihm noch dasselbe Diensttelefon
zu benutzen. Andere Kollegen lehnten es ab, von ihm
gefahren zu werden. Die absurdesten Dinge passierten.
Die Wochen nach diesem eher unfreiwilligen Coming-
out waren für R. die Hölle. Er wurde schwer depressiv
und war lange krankgeschrieben. Es drohte eine Kündi-
gung aufgrund dieser langen gesundheitsbedingten Aus-
fallzeiten und Krankschreibungen. Glücklicherweise ge-
lang es uns seitens der Aids-Hilfe, im Unternehmen
Personalräte zu finden, die sich für den Kollegen ein-
setzten. So konnten wir gemeinsam eine Kündigung ver-
hindern. R. wurde versetzt und in einem anderen
Betriebsteil eingesetzt. Das war in dem großen Unter-
nehmen glücklicherweise möglich. In einem kleinen Un-
ternehmen hätte es mit Sicherheit keine derartige Chance
der Konfliktdämpfung gegeben. Sein altes Team weigert
sich bis heute trotz Aufklärung und Gespräch strikt, wei-
ter mit R. zu arbeiten.
Nun ist mir natürlich bewusst, dass sich durch ein Ge-
setz an dieser Haltung der Kollegen gar nichts ändern
würde. Und die aktuelle Kampagne der Deutschen Aids-
Hilfe und der Bundeszentrale für Gesundheitliche Auf-
klärung machen deutlich, wie wichtig es ist, Verhalten
und Einstellung zu hinterfragen. Denn genau darum geht
es: Würde ich mit einem HIV-positiven Kollegen mit-
fahren? Na klar, warum denn nicht? Wenn er pünktlich
ist?
Aber rechtlich wäre R. erheblich besser vor Diskrimi-
nierung und Mobbing geschützt als zum gegenwärtigen
Zeitpunkt. Und dies müssen wir erreichen und sicher-
stellen, auch ohne dass ein Bundesarbeitsgericht erst
durch entsprechende Rechtsprechung dafür sorgt, dass
vorherige Kündigungen oder andere Diskriminierungen
für rechtswidrig erklärt werden. Wenn eine Kündigung
oder Diskriminierung aufgrund einer gesundheitlichen
Beeinträchtigung oder einer chronischen Krankheit
rechtswidrig ist, dann kann und sollte dies auch in dem
Gesetz klar und deutlich benannt und geregelt werden,
das dieser Bundestag zum Schutz vor Diskriminierungen
beschlossen hat – dem Allgemeinen Gleichbehandlungs-
gesetz, AGG. Nicht mehr, aber auch nicht weniger schla-
gen wir Ihnen heute vor und werben um Ihre Zustim-
mung dafür.
Im Übrigen haben wir damit auch eine Forderung der
Antidiskriminierungsstelle des Bundes aufgegriffen, die
seit ihrem Bestehen darauf hinweist, dass chronische Er-
7034 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
krankungen ebenso wie Behinderung ausdrücklich im
AGG benannt werden sollten. Und wenn die Bundesre-
publik es ernst meint mit der Anerkennung der UN-Be-
hindertenrechtskonvention, wie sie es mit ihrer Unter-
schrift bekundet hat, dann muss sie sich auch von ihrem
bisher eingeschränkten Behindertenbegriff verabschie-
den. Denn in dieser UN-Behindertenkonvention heißt es:
„Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Men-
schen, die langfristige körperliche, seelische, geistige
oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in
Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der
vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an
der Gesellschaft hindern können.“ Dieser Begriff hätte
im AGG benutzt werden müssen.
Am vergangenen Montag war Welt-Aids-Tag. Eine
Gruppe Abgeordneter aus allen Fraktionen dieses Hau-
ses hat gemeinsam mit der Berliner Aids-Hilfe Spenden-
gelder gesammelt und Rote Schleifen als Zeichen der
Solidarität mit den Betroffenen verteilt. Das ist ein star-
kes politisches Signal: Menschen mit HIV und Aids sind
uns hier nicht egal. Und es gibt in allen Fraktionen Ver-
bündete in Sachen Solidarität. Das ist gut so!
Es wäre zu wünschen, dass diese Gemeinsamkeit in
der tätigen Solidarität auch zu einer Gemeinsamkeit in
der konkreten politischen Unterstützung für Menschen
mit chronischer Krankheit oder gesundheitlicher Beein-
trächtigung – für Menschen mit HIV und Aids – führen
könnte.
Angesichts der Tatsache, dass es in anderen Mit-
gliedsländern der EU – in Belgien, Finnland, Frankreich,
Lettland, Slowenien, Tschechien und Ungarn – einen ge-
setzlichen Diskriminierungsschutz gibt, der auch den
Schutz vor Diskriminierungen aufgrund des Gesund-
heitszustandes ausdrücklich benennt, sollten wir sofort
aktiv werden und handeln. Auch die Internationale Ar-
beitsorganisation ILO empfiehlt dies ausdrücklich. Groß-
britannien benennt HIV als chronische Krankheit. Und
Rumänien und Holland benennen chronische Krankhei-
ten als eigenes Diskriminierungsmerkmal. Wie man es
also dreht und wendet, eine Verbesserung des gesetzli-
chen Diskriminierungsschutzes ist für chronisch Kranke
und Menschen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung
mehr als überfällig.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zum Wochenanfang warnte Manuel Izdebski von der
Deutschen Aids-Hilfe, dass Diskriminierung heute das
wichtigste Thema sei, wenn wir von HIV und Aids spre-
chen. Ihm sei es wichtig, deutlich zu machen, dass man
heute auch mit HIV ein langes und erfülltes Leben füh-
ren kann. Diskriminierung mache dagegen das Leben
schwer und könne tödlich sein.
Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion ha-
ben mit ihrem Gesetzentwurf zur Verbesserung des
Schutzes gegen Diskriminierungen aufgrund des Ge-
sundheitszustands ein richtiges Problem erkannt, da es
auch HIV-positive Menschen einschließt. Der Diskrimi-
nierungsschutz für chronisch erkrankte Menschen muss
verbessert werden; das sehen Bündnis 90/Die Grünen
genauso. Leider ist der vorliegende Gesetzentwurf aber
dringend überarbeitungsbedürftig.
Nachdem die EU dem Übereinkommen der Vereinten
Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinde-
rungen beigetreten war, hatte der Europäische Gerichts-
hof in Luxemburg im April 2013 den Begriff der Behin-
derung im Sinne des AGG neu definiert. Dem hat sich
das Bundesarbeitsgericht Ende 2013 angeschlossen. Da-
nach stellt eine heilbare oder unheilbare Krankheit eine
Behinderung dar, wenn sie die Betroffenen an der vollen
und wirksamen Teilhabe am Berufsleben hindert und
wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist. Mit
Blick auf die Werbekampagnen für mehr Akzeptanz von
HIV-positiven Menschen in dieser Woche, die mit dem
Welt-Aids-Tag begann, ein richtiger Punkt.
Das AGG enthält Lücken, die geschlossen werden
müssen. Das haben die Kolleginnen und Kollegen der
Linksfraktion erkannt. Ihr Gesetzentwurf ist zweifels-
ohne gut gemeint. Leider aber ist er schlecht gemacht. Er
führt in das Antidiskriminierungsrecht drei unterschied-
liche Begriffe ein. Während im Zivilrecht Benachteili-
gung wegen „des Gesundheitszustands“ unzulässig sein
sollte, schlagen die Linken vor, im Arbeitsrecht die Be-
nachteiligung wegen einer „chronischen Erkrankung“ zu
verbieten, und im Gesetz über Gleichbehandlung der
Soldatinnen und Soldaten wird zusätzlich der Begriff der
„gesundheitlichen Beeinträchtigung“ benutzt. Ob das ein
Versehen war oder nicht und welche Absicht dahinter-
steckt, kann man leider der Begründung nicht entneh-
men, die fälschlicherweise stets von „Folgeänderungen“
spricht. Eine Linie in einheitlichen Begrifflichkeiten
fehlt völlig.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist ein Er-
folg der langjährigen Arbeit der grünen Bundestagsfrak-
tion, die unter Rot-Grün die Einführung und Umsetzung
der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien vorangetrieben
hat. Wegen der vorgezogenen Wahlen 2005 ist das Ge-
setz erst unter Schwarz-Rot und in einer leider verwäs-
serten Version verabschiedet worden.
Das AGG hat nicht nur die Rechte der Betroffenen,
die Benachteiligungen aus Gründen der ethnischen Her-
kunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschau-
ung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen
Identität erfahren haben, gestärkt. Vielmehr hat das Ge-
setz eine Antidiskriminierungskultur in deutschen Unter-
nehmen etabliert.
Dennoch bleibt noch einiges zu tun. Außer der Ver-
besserung des Diskriminierungsschutzes müssen fol-
gende Punkte noch umgesetzt werden:
Wir fordern die Einführung des Klagerechts für Anti-
diskriminierungsverbände.
Wir müssen Sanktionen verschärfen, damit sie – wie
in der europäischen Vorgabe vorgesehen – „wirksam,
verhältnismäßig und abschreckend“ sind, und wir müs-
sen die Fristen für Geltendmachung der Ansprüche aus
dem AGG verlängern.
Außerdem sollten wir die Chance nutzen und über die
Aufnahme weiterer Diskriminierungsmerkmale nachden-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7035
(A) (C)
(D)(B)
ken, beispielsweise beim Familienstand und der Kinder-
zahl, was beides jeweils zum Nachteil im Bewerbungsver-
fahren ausgelegt werden kann und zweifelsohne dann
eine Diskriminierung darstellen würde.
Last, not least muss die Ausnahmeklausel der Kirchen
explizit nur auf den Kernbereich der Glaubensverkün-
dung beschränkt werden.
Wir sind beim Antidiskriminierungsschutz auf halber
Strecke stehen geblieben. Es ist Zeit für einen neuen
Schwung. Für ein Berichterstattergespräch stehen wir
gerne zur Verfügung.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Aufhebung des Achten Gesetzes zur Änderung
des Urheberrechtsgesetzes (Leistungsschutz-
rechtsaufhebungsgesetz – LSR-AufhG) (Tages-
ordnungspunkt 18)
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Derzeit ist einer der
meistdiskutierten Beiträge zum breiten Themenkomplex
Google der Gastbeitrag von Jeff Jarvis in der Zeit. Las-
sen Sie mich daraus ein Zitat herausgreifen: „So sehr
Dr. Döpfner Google auch fürchten mag: Erstaunlicher-
weise verhält sich gerade Google oft wie ein scheues,
verschrecktes Tier.“
Erstaunlich, dass Google, dessen Suchmaschine allein
in Deutschland bereits einen Marktanteil von rund
96 Prozent erreicht, von Herrn Jarvis hier als „scheu“
und „verschreckt“ charakterisiert wird. Vor zwei Jahren,
als die Einführung eines Leistungsschutzrechts für die
Presseverlage heiß diskutiert und vom Bundestag be-
schlossen wurde, war ich mitten im Geschehen, und ich
muss sagen, dass mir in dieser Debatte keiner der Betei-
ligten als verhalten, scheu oder vorsichtig begegnet ist –
nicht die Verlage, am allerwenigsten jedoch Google
selbst.
Um noch eine Bemerkung zu dem zitierten Beitrag
von Jeff Jarvis anzufügen: Es ist erstaunlich, wie wenig
er Politikern und ihrem Einfluss offenbar zutraut. Die
Resolution des Europäischen Parlaments, die in der ver-
gangenen Woche verabschiedet wurde, hat zwar keine
bindende Funktion, wie mehrfach betont wurde. Den-
noch zeigt die Debatte um und über diese Resolution,
dass Parlamentarier als demokratisch legitimierte Ent-
scheider Akzente setzen, Debatten anstoßen und Ent-
scheidungslinien für ihre jeweilige Exekutive vorzeich-
nen können.
Die Debatte über die Marktmacht von Google ist je-
doch nur die eine Seite. Die andere Seite betrifft das Ur-
heberrecht und damit den Schutz geistigen Eigentums
allgemein.
Bei der Einführung des Leistungsschutzrechts für
Presseverlage, das im August vergangenen Jahres in
Kraft getreten ist, ging es eben gerade nicht um ein Ge-
setz zur Regulierung eines einzelnen Unternehmens.
Vielmehr ging es uns darum, für den Bereich der Presse
einen ordnungspolitischen Rahmen im Internet herzu-
stellen. Mit diesem Gesetz haben wir eine seinerzeit be-
stehende Schutzlücke im Urheberrecht geschlossen und
die technisch-organisatorischen Leistungen der Presse-
verleger auch für den digitalen Markt anerkannt. Leis-
tungsschutzrechte sind dabei keineswegs eine Neuerfin-
dung, sondern fast so alt wie das Urheberrecht selbst.
Die ordnungspolitische Rahmensetzung haben wir
also mit der Einführung des Leistungsschutzrechts für
Presseverlage begonnen. Vor allem war auch Kern des
Gesetzes, was derzeit Gegenstand der eher kartellrechtli-
chen Debatten ist: ein Gleichgewicht zwischen Beteilig-
ten eines Marktes herzustellen, der bislang weitestge-
hend unreguliert ist.
Die parlamentarische Opposition schlägt im vorlie-
genden Gesetzentwurf nunmehr die Aufhebung des ge-
nannten Gesetzes vor. Detailliert wird in der Problembe-
schreibung der bisherige Verlauf der Entwicklungen seit
dem Inkrafttreten des Gesetzes beschrieben. Genau darin
liegt das Problem des Gesetzentwurfs: Nicht nur das Ur-
heberrecht, sondern jedwede abstrakt-generelle gesetzli-
che Regelung besteht seit jeher auch aus unbestimmten
Rechtsbegriffen, die üblicherweise durch die Rechtspre-
chung ausgelegt und konturiert werden. Insofern läuft
derzeit das vollkommen übliche Verfahren: dass die
Wahrnehmung und Durchsetzung der Leistungsschutz-
rechte einer Verwertungsgesellschaft übertragen wurden
und diese dem Deutschen Patent- und Markenamt einen
aufgestellten Tarif zur Prüfung vorgelegt hat. Auch das
zivilrechtliche Vorgehen der VG Media bei der Schieds-
stelle des Patent- und Markenamts ist daher nicht unüb-
lich. Und wahrscheinlich wird nach der Schiedsstellen-
entscheidung auch der gesamte weitere zivilrechtliche
Instanzenweg ausgeschöpft werden. Insofern hat die
Wahrnehmung des Leistungsschutzrechts für Pressever-
lage gerade erst begonnen. Da das Recht bisher nicht
durchgesetzt werden konnte, können weder zulässige
Snippetlängen benannt noch Urheber an zu erwartenden
Einnahmen beteiligt werden.
Schließen möchte ich ebenfalls mit einem Zitat, und
zwar aus dem vorliegenden Gesetzentwurf: Es sei „nach
wie vor nicht nachvollziehbar, was genau geschützt wer-
den soll und weshalb“.
Zu diesen Fragen ist zu empfehlen, den Text des Ur-
heberrechtsgesetzes, namentlich den § 87 f, nachzulesen.
Im Übrigen füllen sich die Ergebnislisten von Suchma-
schinen, anders als es der Gesetzentwurf annimmt, nicht
von selbst. Hinter griffigen Überschriften sowie Inte-
resse weckenden Textanreißern stecken die geistigen
Leistungen von Redakteurinnen und Redakteuren
ebenso wie die technisch-organisatorischen Leistungen
der Verlage, die die Inhalte auf ihren Internetseiten ent-
sprechend aufbereiten.
Daher stehen wir nach wie vor zur Einführung des
Leistungsschutzrechts für Presseverlage und werden die
weiteren Entwicklungen der Wahrnehmung und Durch-
setzung des Gesetzes mit großem Interesse verfolgen.
7036 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
Michael Frieser (CDU/CSU): Das Leistungsschutz-
recht für Presseverleger hat uns bereits intensiv in der
vergangenen Legislaturperiode beschäftigt, und offen-
sichtlich können die Kolleginnen und Kollegen aus den
Oppositionsfraktionen gar nicht genug davon bekom-
men. Schließlich haben sie seit Beginn der neuen Legis-
laturperiode schon wieder mehrere Anfragen zu diesem
Thema an die Bundesregierung gestellt. Ein weiterer Be-
weis für ihre Ungeduld ist der heute zu debattierende
Antrag, der eine Abschaffung des Leistungsschutzrechts
für Presseverleger beinhaltet. Dabei sind seit dem In-
krafttreten gerade einmal 16 Monate vergangen.
Nach der intensiven Diskussion vor der Verabschie-
dung des Leistungsschutzrechts in der vergangenen Le-
gislaturperiode war zudem allen Beteiligten klar, dass es
nicht bereits mit dem oder unmittelbar nach dem Inkraft-
treten des Gesetzes zu schnellen Lizenzverträgen zwi-
schen den Presseverlegern und den Nutzern ihrer Ange-
bote kommen würde. Schließlich mussten sich beide
Seiten zunächst auf den neu geschaffenen Rechtsrahmen
einstellen und orientieren.
Dies haben sie – im Gegensatz zu der Darstellung in
Ihrem Antrag – auch gemacht. Mehrere große Verlage
haben sich in der VG Media zusammengeschlossen, um
zukünftig ihr vom Gesetzgeber zugewiesenes Recht ge-
genüber Nutzern ihrer Erzeugnisse geltend machen zu
können.
In der Folge hat die VG Media im Juni 2014 nach den
Vorgaben des Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes ei-
nen Tarif über die Vergütung für die öffentliche Zugäng-
lichmachung von Ausschnitten aus Onlinepresseerzeug-
nissen zu gewerblichen Zwecken gemäß § 87 f Absatz 1
Satz 1 UrhG veröffentlicht und diesem dem Deutschen
Patent- und Markenamt zur Prüfung vorgelegt. So wie
dies in der Vergangenheit übrigens auch andere Verwer-
tungsgesellschaften – wie beispielsweise die VG Wort
oder die GEMA – in vergleichbaren Situationen bereits
gemacht haben.
Der Tarif liegt seitdem der Staatsaufsicht über die
Verwertungsgesellschaften beim Deutschen Patent- und
Markenamt vor und wird dort derzeit am Maßstab des
Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes überprüft. Die zwi-
schenzeitlich von einigen Verlagen unter Widerruf er-
teilte Nutzungserlaubnis für einige Suchmaschinen, un-
entgeltlich auf veröffentlichte Texte zuzugreifen, berührt
das laufende Verfahren eben gerade nicht.
Mit einer Entscheidung durch das Deutsche Patent-
und Markenamt ist im kommenden Jahr zu rechnen.
Dies mag zwar Ihren Bogen der Geduld überspannen, ist
aber angesichts der rechtlichen Vorgaben und der derzei-
tigen personellen Ausstattung beim Deutschen Patent-
und Markenamt zumindest derzeit noch die Realität.
Ich sage bewusst „derzeit“, denn wir beabsichtigen,
das Verfahren vor dem Deutschen Patent- und Marken-
amt zu beschleunigen. Eine entsprechende Initiative
werden wir im nächsten Jahr vorstellen. Ich würde mich
freuen, wenn diese dann auch mit der Unterstützung der
Opposition vom Deutschen Bundestag beschlossen wer-
den könnte. Schließlich scheint die Ungeduld bei Ihnen
– gerade in Fragen der angemessenen urheberrechtlichen
Vergütung – oftmals überhandzunehmen.
Wie Sie angesichts des von mir geschilderten Sach-
verhalts erkennen können, besteht derzeit kein Grund,
als Gesetzgeber erneut tätig zu werden.
Angesichts dessen, dass es noch keine rechtsverbind-
liche Entscheidung durch das Deutsche Patent- und Mar-
kenamt gibt, kann es selbstverständlich auch noch keine
abschließenden Regelungen dazu geben, wie, und vor al-
lem in welcher Höhe, die Urheberinnen und Urheber von
den möglichen Einnahmen aus dem Leistungsschutz-
recht profitieren werden. Auch die immer wieder zitierte
„Verwirrung“ bei den betroffenen Unternehmen vermag
ich angesichts des eingeschlagenen Weges durch die VG
Media nicht nachzuvollziehen. Da es sich bei dem Leis-
tungsschutzrecht für Presseverleger um eine neue
Rechtsmaterie handelt, ist es keinesfalls ungewöhnlich,
dass im Rahmen der Regelung auch auf unbestimmte
Rechtsbegriffe zurückgegriffen wurde. Falls diese in der
Praxis tatsächlich in der Auslegung zwischen den betrof-
fenen Marktteilnehmern streitig werden sollten, was der-
zeit meines Erachtens noch nicht erkennbar ist, ist in die-
sen Fällen die Rechtsprechung gefordert. Auch dies ist
weder etwas Besonderes noch gar etwas Verwerfliches.
Nach alledem, auch nach der gestrigen Sachverständi-
genanhörung im Ausschuss Digitale Agenda, scheint mir
der wahre Grund für Ihren Antrag nicht die Entwicklung
in den vergangenen Monaten zu sein, sondern die bereits
in der letzten Legislaturperiode vertretene Auffassung,
dass es eines Leistungsschutzrechts für Presseverleger
nicht bedarf.
Mit dieser Meinung stehen Sie sicher nicht allein,
aber Sie müssen eben auch akzeptieren, dass die Mehr-
heit des Deutschen Bundestages dies bereits in der ver-
gangenen Legislaturperiode aus anderen Gründen anders
gesehen hat und ein vollständiger Meinungsumschwung
angesichts der derzeitigen tatsächlichen Entwicklung
auch nicht erkennbar ist. Im Gegenteil, die jüngsten Ent-
wicklungen auf europäischer Ebene bestätigen sogar un-
sere damalige Entscheidung.
Spanien hat Ende Oktober 2014 ebenfalls eine gesetz-
liche Regelung zum Schutz der Presseverleger erlassen,
und der neue EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und
Gesellschaft, Günther Oettinger, hat in einem Interview
gegenüber dem Handelsblatt am 28. Oktober ausgeführt,
dass er nicht nur eine Modernisierung des Urheberrechts
beabsichtige, sondern dass Teil dieser Modernisierung
auch die Einführung einer Abgabe für intellektuelle
Werte sein müsse, wenn diese bezogen und weiterverar-
beitet würden.
Wir sollten daher am bisherigen Plan festhalten und
zunächst die im Koalitionsvertrag vereinbarte Evaluie-
rung des Leistungsschutzrechts abwarten, bevor wir er-
neut als Gesetzgeber tätig werden.
Christian Flisek (SPD): Im gestrigen Fachgespräch
des Ausschusses Digitale Agenda zum Urheberrecht
wurde eines sehr deutlich und die Bewertungen der
Sachverständigen dazu waren einstimmig: Alle plädier-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7037
(A) (C)
(D)(B)
ten für eine Überprüfung, gar für eine Abschaffung des
Leistungsschutzrechtes für Presseverleger, und zwar in
der Form, wie es in der letzten Legislatur verabschiedet
wurde. Nach gerade einem Jahr kommen die Wissen-
schaftler zu dem klaren Urteil, diese Gesetzesänderung
sei „kurzatmig und lobbygetrieben“. Das bestärkt mich
als Berichterstatter meiner Fraktion für das Urheber-
recht, hier zukünftig tätig zu werden. Ich sage es ganz
klar: Wir benötigen eine zeitnahe Evaluierung, um zu ei-
ner Lösung der offensichtlichen Probleme zu kommen.
Und dies ist ganz im Sinne unseres Koalitionsvertrages.
Bereits zu Beginn gab es an der Idee, einen gesonder-
ten Schutz für presseverlegerische Leistungen auch für
„kleine“ und „kleinste“ Textausschnitte zu gewähren,
viel Kritik aus den verschiedenen Fachrichtungen. Wis-
senschaftler wie Rechtsgelehrte waren sich bereits wei-
testgehend darin einig, dass die nun bestehende Norm
des Leistungsschutzrechtes bezüglich ihres Wirkungs-
grades und ihrer rechtlichen Durchsetzbarkeit höchst kri-
tisch zu betrachten sei.
Das aktuell bestehende Leistungsschutzrecht für Pres-
severleger schützt weder die journalistische Qualität
noch kleine Verlage vor deren Sterben. So ist die damals
eingebrachte Begründung auch heute noch dahin gehend
fragwürdig, welche Elemente des bestehenden Leis-
tungsschutzrechts tatsächlich zu einer qualitativ hoch-
wertigeren Arbeit im redaktionellen Bereich beitragen
könnten.
An dieser Stelle möchte ich gerne anfügen, dass die
von uns, der SPD-Fraktion, zur Einführung dieses Geset-
zes geforderten Bestimmungen, was „Teile“, „kleine
Teile“ und „kleinste“ Teile von Presserzeugnissen seien,
nach wie vor fehlen. Auch diese Pflichtvergessenheit ist
einer positiven Bewertung dieses Gesetzes nicht zuträg-
lich.
Jedoch möchte ich ein bestehendes Gesetz nicht gänz-
lich verurteilen, ohne dessen Wirksamkeit tatsächlich
geprüft zu haben. Deshalb kommt zuvorderst die Geset-
zesevaluierung, um dann daraus die notwendigen
Schlüsse zu ziehen.
Es kann jedoch angenommen werden, dass die An-
wendbarkeit des Leistungsschutzrechtes für Presseverle-
ger durch die aktuell erteilten Sondergenehmigungen
eines Großteiles der Verleger an Google, Kurzdarstellun-
gen ihrer Texterzeugnisse kostenlos zu nutzen und on-
line zur Verfügung zu stellen, ausgehebelt wurde. Es gibt
nicht wenige Menschen, die sprechen hier von einem
Offenbarungseid.
Nicht nur als Mitglied im Rechtsausschuss, sondern
auch als Existenzgründungsbeauftragter meiner Frak-
tion, beschäftigt mich die Frage der Sinnhaftigkeit dieses
Gesetzes. So ist beispielsweise in Bezug auf Start-up-
Unternehmen und innovative Internetfirmen auch zu
prüfen, ob dieses Gesetz gar ein Innovationshemmnis
darstellt und damit der wirtschaftlichen Entwicklung un-
seres Landes schadet.
Gleichwohl leugne ich nicht, dass Verwerter geeig-
nete Gesetzesinstrumente zur Durchsetzung der urheber-
rechtlichen Schutzrechte für ihre Mitglieder benötigen,
um sich besser gegen die unstrittig vorkommenden Ur-
heberrechtsverletzungen wehren zu können.
Es muss jedoch in einer Demokratie das Interesse be-
stehen, eine freie Verbreitung von Nachrichten und Be-
richten zu ermöglichen. Deshalb muss kritisch hinter-
fragt werden, inwieweit, „kleine“ bis „kleinste“ Teile
– gar einzelne Wörter – eines Presseerzeugnisses unter
den urheberechtlich schutzwürdigen Bereich fallen.
Die in den Begründungen erwähnten Ziele des im Fe-
bruar 2013 verabschiedeten Gesetzes zum urheberrecht-
lichen Schutz der Presseverleger, nicht den Informa-
tionsfluss im Internet behindern zu wollen, wurden
durch die aktuellen Entwicklungen gar ausgehöhlt.
Es scheint, dass durch die Auslistung der VG Media
angehöriger Verlage auf Plattformen von Telekom und
Anbietern wie 1&1, zu welchen beispielsweise beliebte
kostenlose E-Mail-Plattformen wie GMX und web.de
gehören, diese Presseverleger einen erheblichen Scha-
den erleiden; denn die Zugriffe, der sogenannte „traffic“,
sind seitdem auf diesen Seiten bis zu 80 Prozent rückläu-
fig. Somit könnte man schlussfolgern, dass sowohl das
eingeführte Leistungsschutzrecht als auch die Klage der
VG Media ihren Mitgliedern bisher mehr Schaden als
Nutzen eingebracht hat.
Deshalb sage ich hier nochmals: Lassen Sie uns das
Leistungsschutzrecht für Presseverleger zuerst zeitnah
evaluieren und dann gemeinsam eine vernünftige Lö-
sung finden; dies entspricht auch den Vereinbarungen
unseres Koalitionsvertrages. Der Antrag von den Linken
und Bündnis 90/Die Grünen kommt dabei etwas zu früh
in die Diskussion und in die sich anschließenden Aus-
schussberatungen.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Das in der vergan-
genen Wahlperiode von der damaligen schwarz-gelben
Koalition eingeführte Leistungsschutzrecht für Pressever-
leger war, ist und bleibt falsch. Es schafft Rechtsunsi-
cherheit, es ist innovationsfeindlich, und es verbessert
die Lage von Urheberinnen und Urhebern an keiner
Stelle. Weil das so ist, kann eine im Koalitionsvertrag
vorgesehene Evaluierung nicht abgewartet werden. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf schlagen die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen vor, das Leistungsschutzrecht
für Presseverleger aufzuheben.
Worum geht es eigentlich? Sie alle nutzen Suchma-
schinen. Wenn Sie nicht nach etwas Bestimmtem su-
chen, sondern sich einen Überblick über aktuelle Ereig-
nisse verschaffen wollen, dann nutzen Sie sogenannte
Newsaggregatoren, Internetseiten also, die Artikel von
Nachrichtenseiten sammeln und sortieren. Im Regelfall
– Sie kennen das alle – sehen Sie auf diesen Seiten Über-
schriften und Anrisse von Texten. Vermutlich wählen
Sie danach aus, was Sie lesen.
Mit dem Leistungsschutzrecht für Presseverleger
sollte es nun so sein, dass die Newsaggregatoren und
Anbieter von Suchmaschinen für die Darstellung der
Überschriften und Textanrisse Gebühren an die Verlage
zahlen. Wenn nicht gezahlt wird, dann ist eben weniger
zu lesen, zum Beispiel nur Überschriften oder gar nur
7038 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
Links oder gar nichts, weil die Artikel von den Verlagen
komplett aus der Suchmaschine genommen wurden. Für
den Nutzer oder die Nutzerin wird dadurch der Wert der
Suchergebnisse eingeschränkt, da anhand von Über-
schriften deutlich schwerer bewertet werden kann, ob
ein Artikel relevant ist oder nicht. Darum sollen laut dem
Leistungsschutzrecht kleinste Textausschnitte ausge-
nommen sein. Doch wie lang ein solcher Textausschnitt
sein darf, ist nicht geklärt und Gegenstand langer Debat-
ten.
Davon profitiert ironischerweise genau der Anbieter
einer Suchmaschine, dessentwegen das Leistungsschutz-
recht überhaupt erst eingeführt wurde. Ausgerechnet
Google bekam von den Verlagen, die auf eine Durchset-
zung des Leistungsschutzrechts bestehen – das sind
längst nicht alle; viele namhafte Verlage verzichten aus
guten Gründen komplett darauf –, einen Freifahrtschein,
ihre Artikel mit Überschrift und kleinen Textausschnit-
ten anzuzeigen – ohne irgendetwas dafür zu bezahlen.
Offensichtlich hat sich auch hier die Erkenntnis durchge-
setzt, dass Google so viele Nutzerinnen und Nutzer auf
die Seiten der Verlage bringt – und damit bares Geld –,
dass ein Verzicht auf Textanreißer finanzielle Einbußen
bedeuten würde. Das könnte damit zusammenhängen,
dass die Zahlen der Nutzer, die Google News auf Seiten
des Springer-Verlages führte, um 80 Prozent eingebro-
chen sind, nachdem nur noch Überschriften angezeigt
wurden. So jammerte zumindest Mathias Döpfner. Das
hätte ich ihm auch früher sagen können. Leider scheint
diese Erkenntnis nur für Google zu gelten. Kleinere An-
bieter von Suchmaschinen oder Newsaggregatoren sol-
len auch weiterhin die Gebühren bezahlen. Das Anti-
Google-Gesetz wird zum Google-Stärkungs-Gesetz.
Kleinere Anbieter werden geschwächt. Google wird sich
bedanken. Innovationen bleiben auf der Strecke. Das
Ganze klingt zu absurd, um wahr zu sein.
Nun wird oft argumentiert, dass das Leistungsschutz-
recht verlegerische Leistungen schützen soll. Aber bei
den Suchmaschinenanbietern und Newsaggregatoren
werden kleine Ausschnitte einzelner Artikel angezeigt,
weder ganze Artikel noch ganze Publikationen. Um
diese lesen zu können, muss man immer noch auf die
Seiten der Verlage. Verlage müssen daher nicht ge-
schützt werden. Geschützt werden muss der unabhän-
gige Journalismus. Es sollte daher vielmehr um den
Schutz der Journalistinnen und Journalisten gehen. De-
ren Rechte gegenüber den Nutzerinnen und Nutzern sind
aber über das Urheberrecht gewahrt. Dazu bedarf es kei-
nes zusätzlichen Leistungsschutzrechts. Wenn etwas ei-
ner Stärkung bedarf, dann die Rechte der Journalistinnen
und Journalisten gegenüber den Verlagen. Zum Beispiel,
indem Total-Buy-out-Verträge deutlich eingeschränkt
werden. Total-Buy-out-Verträge bedeuten, dass der Ur-
heber bzw. die Urheberin seine bzw. ihre Rechte an Ver-
werter oder Verlage komplett abtritt, welche das journa-
listische Werk dann so oft veröffentlichen können, wie
sie wollen – ohne den Urheber oder die Urheberin für
jede einzelne Veröffentlichung zu bezahlen. Eine ange-
messene Vergütung wird so mit Sicherheit nicht erreicht.
Hier gibt es also wirklich etwas zu tun. Das Leis-
tungsschutzrecht ist dagegen verzichtbar. Also lassen Sie
uns ein unsinniges Gesetz abschaffen und uns Gedanken
über ein sinnvolles Urhebervertragsrecht machen. Ein
innovationsfeindliches Gesetz, das Rechtsunsicherheit
schafft, ist ein unsinniges Gesetz. Deshalb kann es auch
aufgehoben werden.
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
Vorbereitung auf diese Debatte habe ich noch einmal die
Protokolle der früheren Leistungsschutzrechtsdebatten
gelesen. Da findet man manch Spannendes. Zum Bei-
spiel dieses Zitat von Montesquieu: „Wenn es nicht not-
wendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig,
kein Gesetz zu machen.“ Zitiert hat dies Brigitte Zypries
von der SPD bei der abschließenden Lesung. Heute ist
die geschätzte Kollegin Staatssekretärin im Wirt-
schaftsministerium, und mit dem vorliegenden Aufhe-
bungsgesetz verlangen wir von ihr und ihren Kollegen
der schwarz-roten Koalition genau das, was Montes-
quieu sagt: dass ein unnötiges Gesetz wieder rückgän-
gig gemacht wird.
Wie unsinnig das Leistungsschutzrecht ist, hat die
Posse rund um Google und die VG Media bewiesen.
Zuletzt haben die meisten der in der VG Media zusam-
mengeschlossenen Verlage, darunter auch Springer als
Leistungsschutzrechtvorantreiber, entschieden, dass sie
auf Google weiterhin auch mit den Snippets ihrer Texte
gefunden werden wollen. Warum? Weil sie sonst erheb-
liche Rückgänge ihrer Klickzahlen zu verbuchen hätten.
Darum haben diese Verlage eine widerrufliche Einwilli-
gung an Google erteilt, dass ihre Verlagsinhalte in Snip-
pets weiterhin wie üblich angezeigt werden dürfen – und
zwar gratis.
Erinnern wir uns doch noch mal kurz an die Begrün-
dung des Leistungsschutzrechts. Damals sagte Günter
Krings von der CDU: „Das Leistungsschutzrecht allein
wird die Pressevielfalt in Deutschland nicht sicherstel-
len. Aber es ist ein wichtiger Beitrag für den Erhalt einer
lebendigen Presselandschaft in unserem Land.“ – De-
batte zum Leistungsschutzrecht, erste Lesung am
29. November 2012. Ich konstatiere: Das Leistungs-
schutzrecht hat exakt null zum Erhalt der Presseland-
schaft beigetragen. Bisher flossen unseres Wissens nach
keine Lizenzgebühren von Suchmaschinen an die
Verlage. Die Aggregatoren wie bei web.de oder Rivva
haben etliche Verlagsangebote vorsorglich aussortiert.
Andere stellen Google ihre Snippets wieder gratis zur
Verfügung. Verdient haben bisher nur Anwälte. Und war
das überraschend? Nein, denn wie Kollegin Zypries in
der selben Rede sagte: „Denn ich garantiere Ihnen: Vor
allem Gerichte werden sich mit dem Leistungsschutz-
recht befassen, bevor auch nur irgendein Verlag Geld für
sein Angebot im Internet bekommt.“ Oder Thomas
Oppermann, heute Fraktionsvorsitzender der SPD: „Es
ist ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Rechtsanwälte,
und das dürfen wir als Bundestag nicht beschließen.“
Oder Kollege Lars Klingbeil, auch von der SPD: „Das
ist eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwalts-
kanzleien. Gerichte müssen nachher klären, wie es mit
diesem Leistungsschutzrecht weitergeht. Sie schaffen
Rechtsunsicherheit, und ich sage Ihnen: Sie verhindern
auch Innovationen.“ – Debatte am 1. März 2013. Recht
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7039
(A) (C)
(D)(B)
hatte und hat er. Es kam die Wahl, das Leistungsschutz-
recht blieb, trotz aller Mängel. Lediglich eine Evaluie-
rung versprach der Koalitionsvertrag. Wir aber geben
zusammen mit der Linken den Kolleginnen und Kolle-
gen der SPD die Möglichkeit, eine verpasste Chance
doch noch zu nutzen und das Leistungsschutzrecht auf-
zuheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie müs-
sen nicht die Suppe auslöffeln, die Ihnen maßgeblich
von der Union eingebrockt wurde. Denn die Union – das
muss man klar sagen – war bis auf wenige Abgeordnete
geschlossen für das Leistungsschutzrecht und hat es re-
gelrecht durchs Parlament geprügelt.
Gestern in der Anhörung zum Urheber- und zum
Leistungsschutzrecht haben ausnahmslos alle Experten,
auch die von der Koalition benannten, die Abschaffung
des Leistungsschutzrechts gefordert. Hören wir doch
mal auf die Fachleute!
Ich finde, als Mitglieder des Bundestages haben wir
die Pflicht, unsere Arbeit kritisch zu hinterfragen. Wenn
etwas so offensichtlich schiefläuft wie das Leistungs-
schutzrecht, ist es keine Schande, einen Fehler zuzuge-
ben und zu korrigieren. Es wäre aber eine Schande, trotz
besseren Wissens weiterzumachen wie bisher. Es ist
ganz einfach: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf von
Linken und uns zu – oder legen Sie einen eigenen zur
Abschaffung des Gesetzes vor. Sie haben über die Weih-
nachtspause Zeit, sich darüber Gedanken zu machen und
sich einen Ruck zu geben.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der
Abgabenordnung und des Einführungsge-
setzes zur Abgabenordnung
– Antrag: Straffreiheit bei Steuerhinterzie-
hung durch Selbstanzeige abschaffen
(Tagesordnungspunkt 20)
Bettina Kudla (CDU/CSU): Das vorliegende Gesetz
ist ein wichtiger Eckpfeiler in der Absicht der Koalition,
die Steuerhinterziehung wirksamer zu bekämpfen. Die
Grundaussage ist klar: Für Steuerunehrliche wird es
deutlich teurer, für Steuerehrliche schaffen wir mehr
Rechtssicherheit.
Für die CDU/CSU-Fraktion muss eine gute Finanz-
politik immer dreierlei beachten: Erstens gilt es, für ei-
nen ausgeglichenen Haushalt zu sorgen – dies verlangt
nicht die wirtschaftliche Vernunft, sondern allein schon
die Schuldenbremse des Grundgesetzes von uns. Zwei-
tens darf die Belastung für die Bürger nicht zu hoch sein.
Drittens ist dafür zu sorgen, dass die Steuergesetze auch
eingehalten werden, Steuerhinterziehung also wirksam
bekämpft wird.
Gerade die derzeitige Finanzpolitik von Bundes-
minister Wolfgang Schäuble zeigt, dass ein ausgegliche-
ner Haushalt auch ohne eine höhere Belastung der Bür-
ger möglich ist.
Die Zahlung der Steuern ist für viele Bürger, aber
auch mittelständische Betriebe eine große Last. Die Zah-
lung von Steuern wird häufig als ein notwendiges Übel
angesehen, damit der Staat hiermit viele wichtige Aufga-
ben finanzieren kann. Wie so oft ist es aber auch hier
eine Frage des Maßes. Deswegen muss gerade in einem
sich abkühlenden konjunkturellen Umfeld Rücksicht ge-
nommen werden. Zukunftsweisende Politik sollte folg-
lich keine Erhöhung der Steuerlast betreiben, sondern
muss perspektivisch die Entlastung von Steuern in den
Blick nehmen.
Die hohe Steuer- und Abgabenlast führt leider dazu, dass
manche versuchen, sich dem Zugriff des Staates zu entzie-
hen. Das kann durch Steuerhinterziehung – die natürlich
nicht entschuldigt werden darf –, aber auch beispielsweise
durch Wegzug geschehen. Durch Abwanderung fähiger
und zahlungskräftiger Einwohner und Unternehmen ent-
steht ein nicht zu unterschätzender kurz- und langfristi-
ger volkswirtschaftlicher Schaden. Das zeigt, dass wir,
die wir den Bürgern die Steuern auferlegen, bei aller
Notwendigkeit des wirksamen Eintreibens von Steuern
auch immer wieder hinterfragen sollten, ob die Belas-
tung angemessen ist.
Hier geht es bei weitem nicht nur um die Höhe der
Belastung, die – ich habe es erwähnt – perspektivisch
moderat sinken sollte. Es geht auch darum, dass der
Steuermoral der Bürger und Unternehmen eine Besteue-
rungsmoral des Staates gegenüberstehen muss. Das
heißt, der Staat muss ein verlässlicher Partner sein. Er
muss Rechtssicherheit, Kontinuität und Planbarkeit so
weit wie möglich sicherstellen.
Hier komme ich wieder zum vorliegenden Gesetzent-
wurf. Er kommt nämlich beidem zugute: Auf der einen
Seite hält er die Bürger zu mehr Steuermoral an. Auf der
anderen Seite soll er dazu dienen, dass der Fiskus ein
verlässlicherer Partner der Steuerbürger ist.
Mehr Steuermoral wird dadurch entstehen, dass
Selbstanzeigen nicht nur schwieriger, sondern auch deut-
lich teurer werden. Ein Taktieren mit dem Entdeckungs-
risiko wird es nicht mehr geben. Dies gilt umso mehr in
Verbindung mit dem hoffentlich bald reibungslos funktio-
nierenden automatischen Informationsaustausch zahlrei-
cher Staaten. Der Anreiz, mutwillig Steuern zu hinterzie-
hen, sinkt noch weiter. Damit wird auch die Akzeptanz
der Steuerlast bei den ehrlichen Steuerzahlern, die die
deutliche Mehrheit stellen, erhöht. Sie sehen: Unsoziales
Verhalten lohnt sich nicht.
Auf der anderen Seite bleibt aber die Selbstanzeige
als Instrument des Steuerstrafrechts bestehen. Die Hand
des Staates bleibt ausgestreckt. Wer Steuern hinterzogen
hat, kann nach wie vor in die Legalität zurückkehren und
damit Straffreiheit oder zumindest ein Absehen von
Strafverfolgung erreichen, wenn er den fälligen Preis
hierfür zahlt.
7040 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
Außerdem, mindestens ebenso wichtig, wird im un-
ternehmerischen Bereich Rechtssicherheit wiederherge-
stellt.
Zu weitgehende Wirkungen des Schwarzgeldbekämp-
fungsgesetzes von 2011, insbesondere im Bereich der
Umsatz- und Lohnsteueranmeldungen, werden korri-
giert. Fehler in der Buchhaltung sind keine kriminellen
Handlungen. Hier zeigen wir ganz klar: Wir haben die
Praxis im Blick. Wir sind bereit, uns auch zu korrigieren,
wenn sich bestimmte Regelungen als unpraktikabel er-
wiesen haben. Die Berichterstattergespräche habe ich als
sehr konstruktiv empfunden. Wichtig war, dass wir in
der abschließenden Ausschussberatung noch einmal ver-
deutlicht haben, dass wir seitens des Bundesfinanzminis-
teriums in Abstimmung mit den Finanzbehörden der
Länder eine Verwaltungsanweisung erbitten, die die Ab-
grenzung von einer reinen Berichtigung nach § 153 AO
zur Selbstanzeige klarstellt.
Uwe Feiler (CDU/CSU): Nach einer anfangs hefti-
gen und kontroversen Debatte beraten wir heute ab-
schließend über einen Entwurf, der es meines Erachtens
verdient hat, als gut und ausgewogen bezeichnet zu wer-
den.
In vielen gemeinsamen Gesprächen – sei es unter den
Berichterstattern oder auch im Nachgang zur öffentli-
chen Anhörung – ist es in guter und enger Zusammen-
arbeit mit dem BMF gelungen, einen Gesetzentwurf zu
erarbeiten, der das bewährte Mittel der strafbefreienden
Selbstanzeige sowie die Möglichkeit des Absehens von
Verfolgung in besonderen Fällen beibehält und gleich-
zeitig den deutlich geäußerten Wunsch nach Verschär-
fung aufnimmt.
Im politischen Raum gibt es Stimmen – leider auch
vom Finanzminister meines Heimatbundeslandes Bran-
denburg –, die in einem Reflex auf die öffentliche De-
batte zu bekannt gewordenen Einzelfällen die Abschaf-
fung dieses seit fast 100 Jahren bewährten Mittels der
Finanzbehörden fordern. Hierbei wird verkannt, dass wir
in keinem anderen Rechtsgebiet eine derart umfangrei-
che Mitwirkung verlangen. Gleichzeitig wird für die
Aufdeckung von Steuerstraftaten hochqualifiziertes Per-
sonal benötigt, das mit großem Ermittlungsaufwand tätig
ist, da im Unterschied zu Diebstählen oder Gewaltver-
brechen die Tat erst im Nachgang aufgedeckt werden
kann und nicht unmittelbar augenscheinlich ist.
Ich halte es auch für äußerst fragwürdig, wenn der
Staat sich dauerhaft sogenannter Steuer-CDs aus zwei-
felhaften Quellen bedienen soll. Genau deshalb ist es
richtig, dem Steuersünder den Weg zurück in die Ge-
meinschaft der ehrlichen Steuerzahler zu eröffnen, als
Staat die hinterzogenen Steuern nebst Zinsen und einem
angemessenen Zuschlag zu erhalten und im Umkehr-
schluss unter gewissen Voraussetzungen Straffreiheit zu
gewähren.
Für mich war es interessant, in den Gesprächen zu er-
fahren, dass nunmehr auch Italien und Frankreich zu die-
sem Instrument greifen wollen, anstatt im regelmäßigen
Abstand von Jahren Steueramnestien auszurufen, die
ohne jede Gegenleistung gewährt werden.
Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist vorgese-
hen, den Betrag bis zu dem eine Steuerhinterziehung
ohne Zahlung eines zusätzlichen Geldbetrages straffrei
bleibt, von 50 000 Euro auf 25 000 Euro zu reduzieren.
Ferner ist der Zuschlag zukünftig vom Volumen der ver-
kürzten Steuer abhängig. Auch die Zinsen müssen nun
nachgezahlt worden sein, wenn die strafbefreiende Wir-
kung eintreten soll. Der Zeitraum für nicht erklärte aus-
ländische Kapitalerträge wird erweitert und durch die
Anlaufhemmung sichergestellt, dass niemand mehr da-
rauf vertrauen kann, im Nachgang nicht mehr belangt zu
werden, wenn er sein Geld in Ländern „parkt“, die nicht
dem Informationsaustausch angeschlossen sind.
Dass wir hier mit Augenmaß vorgegangen sind, zeigt
der Umstand, dass wir Verwerfungen, die mit dem
Schwarzgeldbekämpfungsgesetz eingetreten sind, lösen
konnten. Durch die wieder eingeführte Möglichkeit der
Teilselbstanzeige für die Umsatzsteuervoranmeldung
und Lohnsteueranmeldung sind Korrekturen möglich,
ohne strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müs-
sen.
Mit dem Verzicht auf die Ausdehnung der strafrecht-
lichen Verjährung ist den Bedenken des Bundesjustizmi-
nisteriums Rechnung getragen worden, um die Fristen
mit ähnlich gelagerten Delikten zu synchronisieren.
Abschließend darf ich mich für die gute Zusammen-
arbeit mit dem BMF und den Kollegen und das Engage-
ment meiner Kollegin Kudla bedanken.
Andreas Schwarz (SPD): Heute schließen wir eine
monatelange Debatte ab, an deren Ende ein großer Er-
folg steht: die deutliche Verschärfung der strafbefreien-
den Selbstanzeige – ein großer Erfolg für all diejenigen,
denen das Gemeinwohl am Herzen liegt.
Von Beginn an haben Bund und Länder an einem
Strang gezogen: Steuerbetrug muss konsequenter und
härter bestraft werden. So ist es! Deshalb haben wir als
SPD-Bundestagsfraktion diesen Gesetzgebungsprozess
auch immer nach Kräften gefördert und unterstützt.
Wir danken allen Beteiligten aus Bund und Ländern,
auch parteiübergreifend, für das Zustandekommen die-
ses Gesetzes. Es spricht für den Gesetzentwurf, dass
über SPD und Union hinaus auch grüne Landesministe-
rinnen eine so konstruktive Rolle bei der Vorbereitung
des Beschlusses der Finanzministerkonferenz im Mai
2014 hatten, der ja die Grundlage für die Erarbeitung des
vorliegenden Gesetzentwurfs darstellt.
Dabei waren der AG Finanzen der SPD-Bundestags-
fraktion die nachfolgenden Punkte besonders wichtig:
Ausdehnung des Berichtigungszeitraums von fünf auf
zehn Jahre; Absenkung der Straffreiheitsgrenze von
50 000 auf 25 000 Euro; Erhöhung und Staffelung des
Strafzuschlags von bislang 5 Prozent bei 50 000 Euro
Hinterziehungsvolumen auf jetzt 15 Prozent bei
100 000 Euro und 20 Prozent ab einer Hinterziehungs-
summe von Millionen Euro; Zahlung der Hinterzie-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7041
(A) (C)
(D)(B)
hungszinsen ist Wirksamkeitsvoraussetzung der Selbst-
anzeige; Wiedereinführung der Teilselbstanzeige bei den
Anmeldesteuern für Unternehmen.
Wir haben eine gemeinsame Botschaft an all diejeni-
gen, die ihr Geld immer noch an der Steuer vorbei ins
Ausland schaffen und weiter mit Steuerhinterziehung ihr
Glück versuchen: Das Netz zum Durchschlüpfen wird
immer engmaschiger.
Deshalb offenbaren sich auch immer mehr Steuerbe-
trüger den Steuerbehörden. Damit ist dieses Gesetz be-
reits vor seiner Verabschiedung überaus erfolgreich, wo-
bei die Reue wohl eher der Aussicht auf deutlich höhere
Strafzinsen oder gar eine Haftstrafe geschuldet ist und
nicht der wiedergewonnenen Einsicht, dem Staat die
Finanzmittel zuzuführen, die ihm zustehen und die er für
die Erfüllung seiner Aufgaben braucht.
Mit der Verabschiedung dieses Gesetzes lehnen wir
uns keinesfalls selbstzufrieden zurück nach dem Motto:
Ein gutes nationales Gesetz reicht uns jetzt erst einmal. –
Nein, im Gegenteil! Unseren Kampf gegen Steuerhinter-
ziehung setzen wir auf allen Ebenen konsequent fort.
Die Steueroasen werden weiter ausgetrocknet. Beim Da-
tenaustausch kommen wir sowohl auf europäischer als
auch auf globaler Ebene immer weiter voran, und zwar
in einem Maße, wie es sich vor einem Jahr nur ganz we-
nige hätten vorstellen können.
Die Bundesregierung kann sich bei ihren Bemühungen
um weitere internationale Erfolge im Kampf gegen Steu-
erbetrug und -vermeidung weiterhin voll auf die SPD-
Bundestagsfraktion verlassen. Dieses Gesetzgebungsver-
fahren verlief so erfolgreich, dass wir sogar eine parla-
mentarische Regel verletzen mussten: Dieser Gesetzent-
wurf verlässt den Bundestag genauso, wie er hineinkam.
Das Struck’sche Gesetz kam hier also nicht zur Anwen-
dung. Der Gesetzentwurf war einfach zu überzeugend.
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt ihn einhellig.
Ich komme zum Schluss. Persönlich möchte ich mich
vor allem bei der zuständigen Berichterstatterin der
Unionsfraktion, Frau Kollegin Kudla, herzlich für die
gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit bedanken.
Wir senden heute gemeinsam von dieser Stelle aus ein
starkes Signal an alle Steuerbetrüger: Sie haben von
heute an noch knapp drei Wochen Zeit, reinen Tisch zu
machen und mit der aktuell noch gültigen Regelung
günstiger davonzukommen. Machen Sie davon Ge-
brauch!
Heute ist ein schwarzer Tag für alle Steuervermeider,
-betrüger und -hinterzieher und ein guter Tag für alle
ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Mit der
Verabschiedung sorgen wir wieder für ein Stück mehr
Gerechtigkeit in diesem Land.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Steuerhinterziehung
gilt für viele Leute immer noch als Kavaliersdelikt, aber
das ist es nicht. Im Gegenteil, Steuerhinterziehung ist
hochgradig gemeinschädlich. Sie hat nämlich nicht nur
in finanzieller Hinsicht negative Auswirkungen auf Staat
und Gesellschaft, wenn Geld in den Kassen fehlt, das
dringend zur Sanierung der öffentlichen Infrastruktur,
für Schulen, Straßen, Krankenhäuser, gebraucht würde.
Steuerhinterziehung hat auch erhebliche soziale Aus-
wirkungen. Bei ungleicher Verteilung des Wohlstandes
in einem Land und einer Gesellschaft, wie es in der Bun-
desrepublik mehr und mehr der Fall ist, verstärkt Steuer-
hinterziehung auch soziale Spannungen. Häufig ist es
nämlich eine finanziell ohnehin privilegierte Ober-
schicht, sind es die Reichen und Superreichen, die durch
Steuerhinterziehung ihre üppigen Pfründe dem Zugriff
der Allgemeinheit vorenthalten wollen.
Uns muss doch allen klar sein: An dieser Stelle fragt
sich der Großteil der Bevölkerung, die vielen ehrlichen
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, stets, warum sie ei-
gentlich die Hauptlast der Finanzierung unseres Landes
tragen müssen, während diejenigen, die in Reichtum
schwelgen, diesen auch noch mehr oder weniger unbe-
helligt am Fiskus vorbeischleusen können.
Deswegen ist es richtig und wichtig, dass in den letz-
ten Jahren über die Fälle eines bekannten Fußballvereins-
präsidenten und einer bekannten Frauenrechtlerin ein
Umdenken begonnen zu haben scheint, dessen Auswir-
kungen wir nun auch im vorliegenden Gesetzentwurf
und in einer nach 2011 erneuten Verschärfung der Rege-
lungen zur strafbefreienden Selbstanzeige sehen können.
Da es die Option der strafbefreienden Selbstanzeige
allerdings nur für den Bereich der Steuerhinterziehung
gibt, stellt sie letztlich immer noch eine strafrechtliche
Privilegierung von Steuerkriminellen dar. Einfache Be-
trüger, die nicht zuerst den Staat, sondern ihre Mitmen-
schen direkt schädigen, haben diese Option nicht. Die
Fraktion Die Linke stellt daher heute auch ihren Antrag
zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige zur
Abstimmung.
Zu diesem Schritt konnten Sie, meine Damen und
Herren von der Bundesregierung, sich nicht durchringen.
Meine Fraktion wird Ihrem Entwurf daher auch letztlich
nicht zustimmen, sondern sich der Stimme enthalten.
Aber ich will Ihnen trotzdem zugutehalten, dass mit der
geplanten Neuregelung wenigstens eine deutliche Ver-
schärfung der bisherigen Regelungen einhergeht.
Hervorzuheben ist hier die deutliche Anhebung und
Staffelung des zu zahlenden Geldbetrages beim Absehen
von der Strafverfolgung nach § 398 a der Abgabenord-
nung. Wer Steuern hinterzogen hat, muss hier künftig
tief in den Geldbeutel greifen, um eine strafbefreiende
Wirkung zu erzielen.
Darüber hinaus war es sinnvoll, die Problematik der
Umsatzsteuervoranmeldung und der Lohnsteueranmel-
dung gesondert zu berücksichtigen, indem nachträglich
korrigierte oder verspätete Umsatzsteuervoranmeldun-
gen und Lohnsteueranmeldungen zukünftig wieder als
wirksame Teilselbstanzeige gelten. Für die kleine Unter-
nehmerin oder den kleinen Unternehmer herrscht hier-
durch nun Rechtssicherheit. Sie müssen zum Beispiel
nicht mehr fürchten, bei versehentlich zu niedrig ange-
setzten Umsatzsteuervoranmeldungen gleich Gefahr zu
laufen, wegen Steuerhinterziehung verurteilt zu werden.
7042 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
Am Ende müssen wir aber trotz dieser Verschärfun-
gen und Verbesserungen nach wie vor immer noch eines
feststellen: Die Regelung der strafbefreienden Selbst-
anzeige ist letztlich auch Ausfluss einer Steuerhinterzie-
hungskultur, die sich in dieser Form überhaupt erst aus
ungleicher Verteilung und intransparenter, ineffizienter
und teils auch schlicht ungerechter Besteuerung ent-
wickeln konnte. Hier liegt der eigentliche Kern des Pro-
blems, und die Fraktion Die Linke wird diese Debatte
auch weiterhin vorantreiben.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich freue
mich über dieses Gesetz. Mit der Verschärfung der straf-
befreienden Selbstanzeige demonstrieren wir die Gestal-
tungskraft des Parlaments. Durch die nunmehr hohen
Kosten für Steuerhinterzieher begegnen wir dem weit
verbreiteten Schicksalsglauben, wonach eine sehr gut
verdienende Elite nach ihren eigenen Regeln spielt und
sich dem Zugriff des Gesetzgebers leichtfertig entzieht.
In diesem Jahr haben bereits über 32 000 Personen eine
strafbefreiende Selbstanzeige gestellt. Spätestens mit
den prominenten Fällen der letzten Zeit hat sich der
Wind gedreht. Steuerhinterziehung belastet zwar weiter
die öffentlichen Haushalte, aber sie wird zunehmend
auch zur finanziellen und psychischen Belastung für
diejenigen, die sich vor kurzem noch für besonders
trickreich und risikofreudig gehalten haben. Es ist ein
Ausrufezeichen der demokratischen Kultur, dass wir der
Globalisierung des Steuerbetrugs endlich mit der gebote-
nen Konsequenz begegnen.
Nach wie vor ist uns nicht jedes Auslandskonto deut-
scher Staatsbürger bekannt. Dennoch gibt es sehr kon-
krete Informationen über den Umfang der hinterzogenen
Gelder. Gabriel Zucman, ein Schüler des berühmten
Thomas Piketty, ist zu erstaunlichen Ergebnissen ge-
langt. Die Euro-Zone ist weltweit der zweitgrößte
Schuldner, aber nur solange man die Milliarden unbe-
rücksichtigt lässt, die in Steuersümpfen versunken sind.
Bezieht man dieses Geld in die Zahlungsbilanzen ein,
dreht sich das Bild. Vom Schuldner wird die Euro-Zone
auf diese Weise zu einem Gläubiger gegenüber dem Rest
der Welt. Im Kampf gegen Steuerhinterziehung steht
demnach der Wohlstand Europas auf dem Spiel – er
sollte deshalb auch mit dem nötigen Engagement geführt
werden. Um Peer Steinbrück einmal vom Kopf auf die
Füße zu stellen: Aus diesem verborgenen Nix müssen
Deutschland und die EU endlich eine gerechtes X ma-
chen. Das nun vorliegende Gesetz leistet einen Beitrag
zu diesem Vorhaben.
Wie wurde dabei vorgegangen? Die bisherige Syste-
matik der strafbefreienden Selbstanzeige ist im Kern
erhalten geblieben, aber die Voraussetzungen für die
strafbefreiende Wirkung sind verschärft worden. Unver-
zichtbar für den effektiven Kampf gegen Steuerhinter-
ziehung ist aber etwas, das nicht in diesem Gesetz steht:
Um Steuerhinterzieher überhaupt erst zum Geständnis
zu bewegen, muss es ein ernstzunehmendes Entde-
ckungsrisiko geben. Wer nicht den Atem des Gesetz-
gebers im Nacken spürt, wird kaum als Kronzeuge im ei-
genen Verfahren auftreten – deswegen ist das von uns
Grünen unerbittlich eingeforderte Abkommen für den
automatischen internationalen Informationsaustausch
ein wegweisender Durchbruch gewesen. Das vorlie-
gende Gesetz hat wiederum zum Ziel, die Kosten der
Selbstanzeige wohl zu dosieren. Sie müssen einerseits
den Steuerehrlichen finanziell eindeutig besser stellen,
andererseits müssen sie auch den Hinterziehern einen
Anreiz bieten, ihr Versteck aufzugeben. Die strafbefrei-
ende Selbstanzeige darf kein wohlkalkulierter Abschrei-
bungstrick sein, sie muss dem zweifelnden Steuerbetrü-
ger aber auch einen gangbaren Notausgang anbieten.
Was bedeutet das neue Gesetz im Detail für die
Selbstanzeige? Ich möchte ihnen kurz die einschneidens-
ten Maßnahmen darstellen:
Die Grenze zur Selbstanzeige ohne Strafzuschlag
sinkt von 50 000 auf 25 000 Euro. Damit wird die
Schwelle zur schweren Steuerhinterziehung gesenkt, die
ein heftiges Vergehen an der Finanzierung des Gemein-
wesens ist und zu Recht mit einer Geldstrafe geahndet
wird.
Der Erklärungszeitraum für eine wirksame Selbstan-
zeige verlängert sich von fünf auf zehn Jahre. Die Steu-
erverwaltung hat ein langes Gedächtnis, deswegen ist es
sinnvoll, den strafrechtlichen Erklärungszeitraum damit
zu harmonisieren.
Die Geldzuschläge auf hinterzogene Steuern werden
kräftig angehoben und deutlich gestaffelt. Wer über
25 000 Euro hinterzieht zahlt 10 Prozent zusätzlich, bei
über 100 000 Euro sind es schon 15 Prozent und bei über
1 Million Euro sogar 20 Prozent.
Das nunmehr größer gewordene Entdeckungsrisiko
macht neben einer Reform der Selbstanzeige weitere
Maßnahmen dringend erforderlich. Die Abgeltung-
steuer hat ihre Rechtfertigung endgültig verloren. Eine
Besserstellung von Kapitaleinkünften, die pauschal mit
25 Prozent besteuert werden, ist prinzipiell fragwürdig,
mit dem verbesserten Informationsaustausch haben ihre
Befürworter nun ihr zentrales Argument eingebüßt.
Nur durch den Widerstand von uns Grünen konnten
die ursprünglichen Pläne für ein Steuerabkommen mit
der Schweiz verhindert und Finanzminister Schäuble zu
wirkungsvolleren Maßnahmen gedrängt werden. Offen-
sichtlich hat sich aber noch nicht in der ganzen konser-
vativen Parteienfamilie rumgesprochen, wie wichtig der
Erhalt der staatlichen Einnahmebasis ist. Internationale
Zahlungsströme sind nicht nur anfällig für Steuerhinter-
ziehung, sondern auch für Steuervermeidung. Wie seit
kurzem gut dokumentiert ist, hat Luxemburg in der
Amtszeit von Jean-Claude Juncker großen Konzernen
dabei geholfen, ihre Steuerlast teilweise auf unter ein
Prozent zu drücken. Wir müssen diese Entdeckungen als
sehr präzisen Handlungsauftrag begreifen. Neben der
steuerlichen Strafgesetzgebung müssen wir auch die
Steuerverwaltung neu ordnen. Auf europäischer Ebene
sind momentan gerade einmal acht Mitarbeiter damit be-
fasst, tausende Deals, die neben Luxemburg auch die
Niederlande und Irland geschlossen haben, daraufhin zu
prüfen, inwieweit es sich um illegale Beihilfen handelt.
Die EU muss sich hier besser aufstellen und Deutschland
muss es auch. Wir brauchen eine Steuerverwaltung, die
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7043
(A) (C)
(D)(B)
auf Augenhöhe mit den Konzernen agieren kann. Es
geht hier um komplexe Geschäfte und weitverzweigte
Geldflüsse. Diese außerordentlichen Finanzbeziehun-
gen rechtfertigen auch besondere Fahndungsmethoden:
Eine Spezialeinheit auf Bundesebene muss sich der
Steuerfälle von international agierenden Konzernen und
extrem reichen Bürgern und Bürgerinnen annehmen. In
ihr kann die Steuerverwaltung besondere Kompetenzen
bündeln. Fachleute aus Steuerberatungsgesellschaften,
der Wissenschaft und der Wirtschaft selbst plus erfah-
rene Kräfte der bestehenden Verwaltung kommen zu-
sammen, um politische Empfehlungen zu entwickeln
und das geltende Steuerrecht international durchzuset-
zen. Nur eine solche Spezialeinheit wird den Anforde-
rungen des weltweiten Geldverkehrs auch gewachsen
sein.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zum Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Verbes-
serung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften
für Opfer der politischen Verfolgung in der ehe-
maligen DDR (Tagesordnungspunkt 21)
Dr. Stefan Heck (CDU/CSU): „Menschlich unzu-
mutbar und rechtsstaatlich unerträglich wäre es, über die
Stasiherrschaft einen Mantel des Vergessens zu breiten.
Recht und Gesetz nehmen ihren Lauf.“ Diese Worte
stammen aus der Ansprache des ehemaligen Bundesprä-
sidenten Richard von Weizsäcker anlässlich des Staats-
aktes zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober
1990 in Berlin. Im nächsten Jahr feiern wir den 25. Jah-
restag dieses Ereignisses.
Auch nach nun 24 Jahren Wiedervereinigung stellt
der Umgang mit den Opfern des SED-Regimes eine
wichtige Säule der Aufarbeitung dar. Aufarbeitung hat
die Pflicht, die Vergangenheit zu verstehen, geschehenes
Unrecht zu dokumentieren und den Opfern Gerechtig-
keit widerfahren zu lassen. Sie soll uns jederzeit das
Schicksal jener Menschen mahnend vor Augen halten,
die für das Eintreten ihrer elementaren Rechte und für
das Streben nach Freiheit verfolgt wurden.
Wenn sich alte DDR-Grenzer alljährlich in Branden-
burg treffen und dabei SED-Opfer vor laufender Kamera
des Magazins Spiegel TV verhöhnt und verspottet wer-
den, zeigt mir das, wie sehr wir die weitere Aufarbeitung
benötigen. Es zeigt mir insbesondere, wie systemtreue
Kader der SED jene Menschen betrachten, die sich nach
einem anderen Leben sehnten. Aus Gründen wie diesem
haben sich CDU und CSU stets für eine Aufarbeitung
eingesetzt, und sie werden es auch weiterhin tun. Denn
wir können und wir dürfen die Gräueltaten der SED nie-
mals als ein „bloßes Ereignis“ in der deutschen Ge-
schichte hinnehmen – insbesondere so lange nicht, wie
ewiggestrige Ideologen weiterhin ihre kruden Ansichten
verbreiten.
Aufgrund der geschichtlichen und rechtsstaatlichen
Verantwortung haben wir uns der im Koalitionsvertrag
geplanten Erhöhung der Beiträge im Strafrechtlichen
und Beruflichen Rehabilitierungsgesetz angenommen.
Um den Betroffenen pünktlich zum 1. Januar des kom-
menden Jahres einen erhöhten Betrag zu gewährleisten,
haben wir uns zu einer zügigen Umsetzung entschlossen.
Denn es ist für uns wichtig, dass unabhängig von ande-
ren Forderungen, die in diesem Haus vorgetragen wur-
den, die erhöhte „SED-Opferrente“ schnell und unbüro-
kratisch mit Beginn des nächsten Jahres auf die Konten
der Empfänger überwiesen wird.
Das heißt jedoch nicht, dass wir uns den Forderungen
der SED-Opfer verschließen. Im Gegenteil: Wir haben
uns die Zeit genommen, sowohl Vertreter der Opferver-
bände als auch weitere Experten zu diesem Thema in ei-
nem Berichterstattergespräch anzuhören. Dies war für
uns als CDU/CSU-Fraktion besonders wichtig.
Infolge des Berichterstattergesprächs haben wir
uns entschieden, eine Entschließung zum Gesetzent-
wurf einzubringen. Darin werden drei wesentliche
Punkte der Experten aufgegriffen und an die Bundes-
regierung herangetragen:
Zum einen möchten wir, dass die Bundesregierung im
Zusammenwirken mit den Ländern das Verfahren dahin
gehend erleichtert, dass die Opfer des SED-Regimes die
Möglichkeit haben, ihr Anliegen auch mündlich vorzu-
tragen.
Ferner sollen Behörden für die Erstellung von medizi-
nischen Gutachten auf einen Pool von Ärzten zurück-
greifen können, die im Umgang mit DDR-Häftlingen be-
sonders geschult sind.
Und schließlich konnte unsere Fraktion eine Überprü-
fung der Frist zu den Rehabilitierungsanträgen durchset-
zen, die nach der derzeitigen Rechtslage am 31. Dezem-
ber 2019 endet. Mit dieser Überprüfung können wir die
möglichen Auswirkungen auf die Praxis besser einschät-
zen. Das langfristige Ziel der Unionsfraktion ist es, diese
Frist endgültig zu streichen. SED-Opfer, die bislang
noch nicht in der Lage waren, einen Antrag für das Re-
habilitierungsverfahren zu stellen, möchten wir damit
den zeitlichen Druck nehmen. Sie sollen sich die not-
wendige Zeit nehmen, um ihr persönliches Schicksal
aufzuarbeiten.
In seiner Rede betonte Richard von Weizsäcker: „Wie
gut uns die Einheit menschlich gelingt, das entscheiden
kein Vertrag der Regierungen, keine Verfassung und
keine Beschlüsse des Gesetzgebers. Das richtet sich
nach dem Verhalten eines jeden von uns, nach unserer
eigenen Offenheit und Zuwendung untereinander.“
Ich stimme Herrn von Weizsäcker zu. Ich finde, un-
sere Aufgabe als Staat ist es, die notwendigen Rahmen-
bedingungen zu schaffen, um die Einheit unseres Landes
voranzutreiben. Das schließt auch die Aussöhnung mit
der Vergangenheit mit ein.
Mit dem Gesetzesvorhaben und unserer Entschlie-
ßung bewegen wir uns einen weiteren Schritt in die rich-
tige Richtung. Den Opfern des überwundenen Regimes
soll damit das Rehabilitierungsverfahren erleichtert wer-
den.
7044 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
Gemeinsam mit den Erhöhungen der „Opferrente“
bilden die aufgegriffenen Punkte ein sehr gutes Paket,
um die Rehabilitierung zu erleichtern und die Aus-
söhnung mit der DDR-Vergangenheit weiter voranzu-
treiben – das ist und bleibt das Ziel der Fraktion von
CDU und CSU.
Arnold Vaatz (CDU/CSU): Im 25. Jahr der friedli-
chen Revolution wollen wir an die Menschen erinnern,
die ihre persönliche Freiheit und ihre Unversehrtheit ge-
opfert haben, um dem DDR-Regime entgegenzutreten.
Es waren nicht materielle Beweggründe, sondern der
Drang nach Freiheit vor Bevormundung, nach Rechts-
staatlichkeit und persönlicher Selbstbestimmung, der die
Ostdeutschen in Massen gegen die allmächtige Partei
SED und ihr Unrechtsregime auf die Straße brachte.
Die materiellen Gewinner der deutschen Einheit fin-
den sich dann eher aufseiten der alten Nomenklatura: Di-
rektoren und Parteiseilschaften, die ihre materielle und
organisatorische Überlegenheit vielfach in die neue Zeit
retten konnten.
Mit der Erhöhung der SED-Opferrente wollen wir uns
heute den Tausenden von Menschen zuwenden, die unter
dem Unrecht der sowjetischen Besatzungsmacht oder
der SED-Herrschaft großes persönliches Leid erlitten ha-
ben.
Im Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz wird die
monatliche Zuwendung für ehemalige Haftopfer der
DDR von maximal 250 Euro auf maximal 300 Euro an-
gehoben. Im Beruflichen Rehabilitierungsgesetz wird
die monatliche Zuwendung für Verfolgte, die in der
DDR berufliche Nachteile erlitten haben, von 184 Euro
auf 214 Euro erhöht, sofern diese Personen in ihrer wirt-
schaftlichen Lage heute besonders beeinträchtigt sind.
Für Verfolgte, die bereits eine Altersrente beziehen, er-
höht sich die monatliche Zuwendung von 123 Euro auf
153 Euro. Die gesetzliche Regelung soll bereits ab dem
1. Januar 2015 in Kraft treten.
Mir ist wohl bewusst, dass die Opferverbände sich
mehr gewünscht hätten. Ich verstehe, dass die Erhöhung
der SED-Opferrente von 50 Euro auf 300 Euro viele als
zu niedrig bemessen ansehen. Gemessen an dem erlitte-
nen Unrecht ist gar kein Betrag hoch genug; das ist ganz
klar. Aber ich bin davon überzeugt, dass insbesondere
diejenigen, die mit einem geringen Einkommen auskom-
men müssen, diese Erhöhung im Portemonnaie sehr
wohl spüren. Bei der Erhöhung der SED-Opferrente ha-
ben wir uns an dem orientiert, was wir für Opfer anderer
Diktaturen getan haben. Daraus abgeleitet ergeben sich
die Mindesthaftzeit von 180 Tagen, die Bedürftigkeits-
prüfung sowie der Betrag in Höhe von bislang 250 Euro.
Als die Wiedergutmachung für NS-Opfer erhöht wurde,
haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Erhö-
hung der monatlichen Zuwendungen für SED-Opfer im
Koalitionsvertrag verankern können, woraus sich nun
ein Betrag von 300 Euro im Monat ab dem 1. Januar
2015 ergibt.
Der Antrag der Linksfraktion ist hingegen blanker
Hohn für die Opfer des SED-Unrechtsregimes. Die ehe-
maligen Täter und ihre heutigen Parteigänger fordern
unter anderem eine Beweislastumkehr sowie keine Fest-
legung einer Mindesthaftdauer. Die Forderung nach ei-
ner Senkung der Mindesthaftdauer auf null hält dem Ver-
gleich mit den Wiedergutmachungsleistungen gegenüber
NS-Opfern nicht stand. Sie sind auch – wie alle ihre Zu-
satzforderungen – aus dem Munde der Linkspartei wohl-
feil und klingen sehr nach „Haltet den Dieb“. Die Links-
partei ist die letzte politische Kraft in Deutschland, die
ein Recht hätte, zu verlangen, dass für das von ihr allein
verursachte Unrecht nun die ganze Gesellschaft aufzu-
kommen hätte, und dies in einer Höhe und unter Bedin-
gungen, die die Linkspartei selbst festlegt. Wenn Sie,
meine Damen und Herren von der Linken, eine Zusatz-
leistung aus Ihrem eigenen Vermögen und den Einkom-
men Ihrer Mitlieder für die SED-Opfer aufzubringen
wünschen, so steht dem nichts entgegen. Aber dies for-
dern Sie ja gerade nicht.
Der wirkliche Hintergrund Ihres Antrags scheint auch
nicht die Sorge um die SED-Opfer zu sein, weil sie die-
sen in allen Ihren Verlautbarungen genauso feindselig
gegenüberstehen wie zu SED-Zeiten. Nein: Ihr Antrag
ordnet sich ein in Ihr permanentes Bestreben, diesen
Staat, in den die DDR aufgegangen ist, durch Überforde-
rung zu zerstören, um die Genugtuung zu haben, dass
nicht nur Ihr Staatsgebilde, sondern auch die verhasste
BRD am Ende scheitert. Dem dient auch Ihre Forderung
nach einer Beweislastumkehr.
Die Kausalität zwischen schädigendem Ereignis,
Schädigung und Schädigungsfolge ist bereits jetzt in je-
dem Einzelfall gesondert zu prüfen und festzustellen.
Die Einführung einer Beweislastumkehr wäre ein Präze-
denzfall, der sich nach und nach auf alle möglichen Fälle
von Gemeinschaftshaftung ausdehnen ließe. Sie ist an-
gesichts dieser bestehenden Erleichterungen weder er-
forderlich noch vertretbar. Die Kausalität würde nicht
mehr im Einzelfall geprüft, sondern für einen bestimm-
ten Personenkreis automatisch unterstellt. Eine solche
Unterstellung widerspricht den Erkenntnissen der medi-
zinischen Wissenschaft, da jeder Mensch individuell auf
schädigende Ereignisse reagiert. Sie würde mit dem Ver-
zicht auf den Beweis der anspruchsbegründenden Tatsa-
chen zudem einen Systembruch innerhalb des Sozialen
Entschädigungsrechts darstellen und zu einer sachlich
nicht gerechtfertigten Besserstellung von SED-Opfern
gegenüber den anderen Personenkreisen der Sozialen
Entschädigung – zum Beispiel Kriegsopfer, geschädigte
Soldaten und Wehrdienstleistende, Gewaltopfer – füh-
ren. Außerdem würde dies dem Grundsatz der Rechts-
einheitlichkeit im Sozialen Entschädigungsrecht wider-
sprechen, da hier wie im gesamten Sozialrecht die
Grundsätze der objektiven Beweislast gelten.
Die materielle Verbesserung können wir heute be-
schließen. Aber damit ist es nicht getan. Die SED-Opfer
haben darüber hinaus ein Recht der moralischen Würdi-
gung ihres politischen Kampfes gegen das SED-Regime.
Meine Damen und Herren von der Linkspartei: Sie sol-
len sich wahrlich nicht einbilden, dass Sie sich mit Ihrer
wohlfeilen Forderung, mehr Geld auf die Konten der
SED-Opfer zu überweisen, das Recht erkaufen, mit Ihrer
Unrechtsstaatsdebatte, die Sie zur Reinwaschung der
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7045
(A) (C)
(D)(B)
DDR angezettelt haben, den SED-Opfern ins Gesicht
spucken zu dürfen. Diese Menschen sind nicht käuflich.
Dr. Matthias Bartke (SPD): 1989 waren es massen-
haft Menschen, die in den ostdeutschen Städten auf die
Straße gingen. Und es waren viele Menschen, die der
SED-Diktatur mutig die Stirn boten und den Fall der
Mauer herbeiführten – der Mauer, die die Welt in Ost
und West teilte.
Anlässlich des 25. Jahrestags des Mauerfalls sollten
wieder viele Menschen auf die Straße gehen. Das war
die Idee der Lichtgrenze hier in Berlin. Und es war auch
so. 8 000 weiße, leuchtende Ballons markierten den ehe-
maligen Mauerverlauf und stiegen am 9. November in
den Himmel auf. Hinter jedem der Ballons steckte auch
eine persönliche Geschichte. Was für eine großartige
Symbolkraft!
Anlässlich des 25. Jahrestags des Mauerfalls beschäf-
tigen wir uns heute mit den Zuwendungen für Opfer des
SED-Unrechts. Mehr als 45 000 ehemaligen politischen
Häftlingen kommt die SED-Opferrente zugute. Hinter
dieser Zahl an Menschen steckt jeweils eine ganz per-
sönliche Geschichte.
Das sind Geschichten von Behinderung im berufli-
chen Weiterkommen, Geschichten von Haft und Ernied-
rigungen aus politischen Gründen. Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf werden wir eine Erhöhung der
Opferrente für die Menschen einführen, die nach den
Stasidrangsalierungen wirtschaftlich nicht mehr auf die
Beine gekommen sind. Eine Erhöhung im 25. Jahr des
Mauerfalls – auch das hat immense Symbolkraft.
Die Sachverständigenanhörung in der vergangenen
Woche war sehr beeindruckend. Sie machte einmal mehr
deutlich, dass erfahrenes Unrecht mit Geld nicht wieder-
gutzumachen ist. Die Anhörung hat uns zu dem Ent-
schließungsantrag bewegt, der Ihnen vorliegt. Darin ma-
chen wir deutlich, was uns für die Opfer des SED-
Unrechts überdies noch wichtig ist.
Die Begutachtung in Rehabilitierungsverfahren führt
bei Opfern immer wieder auch zu Retraumatisierungen.
Das muss vermieden werden. Es darf nicht sein, dass
Opfern durch Gutachter vollkommen unsensible Fragen
gestellt werden. Es darf nicht sein, dass je weiter man
nach Westen kommt, desto weniger Verständnis bei den
Gutachtern vorhanden ist.
Opfer mit gesundheitlichen Folgeschäden müssen mit
Sachverstand und Einfühlungsvermögen der Gutachter
rechnen können. Deswegen verweisen wir im Entschlie-
ßungsantrag auf das Thüringer Modell eines Gutachter-
pools. In diesem Pool sind besonders geschulte und zer-
tifizierte Gutachter erfasst. Sie haben Erfahrungen im
Umgang mit traumatisierten SED-Opfern und wissen um
das Repressionssystem in der ehemaligen DDR.
Die emotionale Belastung, die mit einem Antrag auf
Rehabilitierung verbunden ist, wird jedoch nie gänzlich
zu vermeiden sein. Es gilt daher, den Opfern Zeit zu ge-
ben, Zeit, sich den eigenen Erfahrungen und dem erleb-
ten Leid zu stellen.
Die derzeitige Frist für Anträge endet 2019. Bis dahin
werden 30 Jahre seit dem Mauerfall vergangen sein.
Dennoch werden bis dahin noch längst nicht alle Stasi-
opfer einen Antrag gestellt haben. Deswegen fordern wir
die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag
auf, eine Streichung der Frist in Abstimmung mit den
Ländern zu prüfen.
Die Linke fordert, weitere Opfergruppen einzubezie-
hen und die Bedürftigkeitsprüfung abzuschaffen. Wir
stimmen Ihnen in diesen Punkten nicht zu. Die von Ih-
nen genannten Opfergruppen haben regelhaft die Mög-
lichkeit einer Einzelfallprüfung und des Rückgriffs auf
die Stiftung für ehemalige politische Häftlinge.
Hinsichtlich der Bedürftigkeit, kann ich nur immer
wieder betonen: Die Ausgleichsleistungen und Zuwen-
dungen, über die wir hier sprechen, sind nicht beliebig.
Sie sind für diejenigen gedacht, die die traumatischen
Erfahrungen der Haft und der Repression nicht verwun-
den haben und wirtschaftlich nicht mehr auf die Beine
gekommen sind.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf würdigen wir
die Menschen aus der ehemaligen DDR, die Vorkämpfer
waren für Freiheit, Demokratie und für ein vereinigtes
Deutschland. Dass wir hierzu einen interfraktionellen
Konsens haben, ist sehr gut. Und ich will offen gestehen:
Es freut mich besonders, dass die Linke angekündigt hat,
dem Gesetz und der Entschließung zuzustimmen.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Die LINKE wird
heute dreimal „Ja“ sagen. Sie sagt „Ja“ zum Gesetzent-
wurf der Bundesregierung, sie sagt „Ja“ zum Entschlie-
ßungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD
und sie sagt selbstverständlich „Ja“ zu ihrem eigenen
Gesetzentwurf.
Natürlich hätten wir uns gewünscht, die die Regie-
rung tragenden Fraktionen nehmen unseren Gesetzent-
wurf, setzen ihren Namen drauf und stimmen dann zu.
Wir hätten es auch getan. Der Gesetzentwurf, den wir
vorgelegt haben, ist derjenige, der den Opfern politischer
Verfolgung in der DDR am gerechtesten wird. Denn wir
heben unter anderem die Befristung der Antragstellung
auf, wir beziehen die Opfer von Zersetzungsmaßnahmen
in die Regelungen des strafrechtlichen Rehabilitierungs-
gesetzes ein und wir stellen klar: Die Leistungen nach
dem strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz werden nicht
mit dem Einkommen verrechnet.
Wir sehen in dem Entschließungsantrag der Fraktio-
nen von CDU/CSU und SPD Ansatzpunkte für eine wei-
tere Verbesserung der Lage der Opfer politischer Verfol-
gung in der ehemaligen DDR. Deshalb werden wir
zustimmen, denn jede Verbesserung wird unsere Zustim-
mung finden. Wir stellen aber fest, dass die Verbesserun-
gen vor allem das Verfahren der Prüfung der Ansprüche
betreffen. Es ist richtig, den Antragstellern und Antrag-
stellerinnen auf eigenen Wunsch eine mündliche Anhö-
rung einzuräumen. Es ist richtig, einen Gutachterpool
einzurichten, in welchem besonders geschulte und zerti-
fizierte Gutachter erfasst werden, und es ist richtig, zu
prüfen, ob die Befristung der Antragstellung gestrichen
werden kann.
7046 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
Es ist bedauerlich, dass Sie von den Koalitionsfraktio-
nen in Ihrem Entschließungsantrag nicht weiter gehen.
Ich habe bereits darauf verwiesen. Wenn Sie unserem
Gesetzentwurf nicht zustimmen wollen, weil er von uns
kommt, hätten Sie ihn einfach übernehmen können.
Wenn Sie auch das nicht wollen, hätten Sie aber auch in
dem von Ihnen vorgelegten Entschließungsantrag Forde-
rungen aus unserem Gesetzentwurf aufnehmen können.
Dies umso mehr, als sich unsere Forderungen mit denen
der Opferverbände decken.
Im erweiterten Berichterstattergespräch haben die
Opferverbände eine Rente ab dem ersten Tag der Haft
gefordert. Das steht in unserem Gesetzentwurf. Die Op-
ferverbände fordern eine Rente für Opfer von Zerset-
zungsmaßnahmen. Das steht in unserem Gesetzentwurf.
Die Opferverbände fordern eine Beweislastumkehr im
Hinblick auf den Grund der Gesundheitsschädigung. In
unserem Gesetzentwurf schaffen wir eine kleine Beweis-
erleichterung. Eine der wichtigsten Forderungen der Op-
ferverbände war die Streichung der Bedürftigkeitsprü-
fung bei der Auszahlung der Opferrente. Auch das steht
in unserem Gesetzentwurf.
Das Engagement und der Einsatz von Menschen in
der ehemaligen DDR für Bürgerrechte und Freiheit be-
dürfen größerer Anerkennung als bisher. Deshalb haben
wir unseren Gesetzentwurf eingebracht. Wir wissen um
die Verantwortung unserer Vorvorgängerpartei. Wir wer-
den diese Verantwortung nicht los, das ist uns bewusst.
Diese Geschichte gehört zu uns. Diese Geschichte hat
Auswirkungen bis heute. Ich habe bereits in der ersten
Lesung gesagt: Wir können Dinge nicht ungeschehen
machen. Wir können aus ihnen lernen und Schlussfolge-
rungen ziehen. Für uns bedeutet dies, uns dafür einzuset-
zen, dass die Betroffenen eine Anerkennung und eine
Entschädigung für ihr Engagement und ihren Einsatz er-
halten.
Wir Linke werden an dem Thema der Opferrente und
der Entschädigungen für Opfer politischer Verfolgung in
der DDR dranbleiben. Wir werden überlegen, wie syste-
matisch auch die verfolgten Schülerinnen und Schüler
sowie die Zwangsausgesiedelten, ein Anliegen der Op-
ferverbände, einbezogen werden können. Wir müssen
uns gemeinsam Gedanken machen, wie auch in diesen
Fällen Ausgleichsleistungen ohne die Zusatzvorausset-
zung weiterer Folgeschäden ermöglicht werden können.
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
gehört zu den beeindruckendsten zivilisatorischen und
gesellschaftlichen Leistungen in unserem Land, sich der
eigenen Geschichte, der Geschichte der Diktaturen auf
deutschem Boden zu stellen, sie aufzuarbeiten und dabei
die vielen Opfer staatlicher Willkür gegen kritisch Den-
kende nicht zu vergessen. Der demokratische Rechts-
staat sühnt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf vergan-
genes, systematisches, staatliches Unrecht, indem er für
Opfer der politischen Verfolgung in der DDR die Reha-
bilitierung auch materiell vorantreibt.
Das ist richtig, und deshalb kann man nur empfehlen,
dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wir sollten auch be-
sonders unseren Kolleginnen und Kollegen danken, die
sich in der Vergangenheit und heute für die straf- und
rentenrechtliche Rehabilitation eingesetzt haben; stell-
vertretend seien unsere bis heute aktiven Kollegen
Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion und Iris
Gleicke für die SPD-Fraktion genannt. Ich möchte aus-
drücklich anerkennen, dass sich in der Linksfraktion in
den letzten Jahren zunehmend eine differenzierte Sicht-
weise auf das DDR-Unrecht eingestellt hat und konkrete
weiterführende Vorschläge zur Rehabilitation unterstützt
bzw. unterbreitet wurden.
Für uns hat die Rehabilitierung nicht vornehmlich ei-
nen abstrakten symbolischen Wert, sondern ist in jedem
gewährten Fall eine Anerkennung der je eigenen Verfol-
gungs- und Leidensgeschichte. Und an diesem Punkt
möchte ich uns alle davon überzeugen, die Diskussion
mit dem Ziel weiterzuführen, bisher nicht berücksich-
tigte, vergleichbar politisch Verfolgte einzubeziehen.
Glauben Sie mir, es bedurfte nicht einer Haftstrafe
von 180 Tagen und mehr, um körperlich und seelisch zu
zerstören, die Menschenwürde zu rauben. Es gab viele
Formen der behördlichen und staatssicherheitsdienstli-
chen Zersetzung mit manchmal durchaus noch gravie-
renderen Folgen für den Einzelnen als die Haft. Auch
erzwungene stationäre psychiatrische Behandlungen ge-
hörten zu den schweren Menschenrechtsverletzungen.
Wir schlagen als Diskussionsgrundlage die Annahme
unseres Entschließungsantrages vor. Danach sollte der
Empfängerkreis um definierte Personengruppen erwei-
tert werden. Für die Betroffenen selbst sind besonders
die Bedürftigkeitsprüfung, die Beweislast für Gesund-
heitsschädigung und dass die mündliche Anhörung nicht
als Regel verankert ist, Hürden bei der Antragstellung
und Gewährung.
Auch sollten die Fristen nach § 7 und § 17 des Geset-
zes gestrichen werden.
Der Gesetzentwurf der Linken versucht, die darge-
stellten Probleme zu lösen. Er zeigt darüber hinaus, dass
es in der Fraktion offenbar konkrete Unrechtserfahrun-
gen in der DDR im Umfeld der Weltfestspiele 1973 gibt.
Allerdings gehörte eine Verurteilung wegen asozialen
Verhaltens auch ansonsten zum Repertoire staatlicher
Unterdrückung in der DDR. Deshalb sehen wir Verbes-
serungsbedarf und werden uns zum Entwurf enthalten.
Zustimmung also zum Gesetzentwurf der Koalition
und Einladung zur Fortsetzung der Diskussion auf
Grundlage unseres Entschließungsantrages, zu dem wir
ebenfalls um Zustimmung bitten.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Übereinkommen des Europarats vom
25. Oktober 2007 zum Schutz von Kindern vor
sexueller Ausbeutung und sexuellem Miss-
brauch (Tagesordnungspunkt 22)
Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Es kommt nicht
oft vor, dass sich Opposition und Regierungskoalition
bei einem Thema so einig waren wie wir bei der Aufar-
beitung der Edathy-Affäre.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7047
(A) (C)
(D)(B)
Wir alle waren damals erschrocken, als zutage geför-
dert wurde, dass sich mittlerweile ein ganzer Markt, eine
ganze Branche gebildet hatte, die mit dem Handel von
gerade noch legalen Kindernacktbildern Millionenum-
sätze macht.
Wir alle waren uns über eines einig und im Klaren:
Dieser Markt muss trockengelegt werden!
Insoweit passte es ganz gut, dass uns ohnehin über
das Übereinkommen des Europarates vom 25. Oktober
2007 zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung
und sexuellem Missbrauch eine erhebliche Handlungs-
verpflichtung traf.
Heute beraten wir nun über die Ratifizierung dieses
Gesetzes, und ich freue mich feststellen zu dürfen, dass
wir unserer gemeinsamen Zielsetzung gerecht geworden
sind.
So haben wir mit der Erweiterung des Begriffes „Kin-
derpornografie“ die bisherige obergerichtliche Recht-
sprechung aufgegriffen und den Begriff im Sinne der
Lanzarote-Konvention definiert.
Neben Abbildungen sexueller Handlungen an oder
von Kindern und Darstellungen von unbekleideten Kin-
dern in unnatürlicher geschlechtsbetonter Körperhaltung
ist nun auch die sexuell aufreizende Wiedergabe der un-
bekleideten Genitalien bzw. des Gesäßes eines Kindes
strafbar. Gerade mit der letzten Alternative schließen wir
eine nicht hinnehmbare Strafbarkeitslücke.
An dieser Stelle darf ich mich für den wichtigen Vor-
stoß des bayerischen Justizministers Professor
Dr. Winfried Bausback bedanken, der diesen Punkt auch
immer wieder gefordert hat. Ich denke, auch dieser Be-
harrlichkeit ist es zu verdanken, dass wir hier zu so ei-
nem guten Ergebnis gekommen sind.
Dennoch ist es uns aber gleichzeitig gelungen, den
Begriff der Jugendpornografie in § 184 c StGB von dem
der Kinderpornografie in § 184 b StGB trennscharf ab-
zugrenzen. Jugendliche verfügen eben bereits über eine
andere Sexualität. Hier wäre es falsch, unreflektiert die-
selben Maßstäbe anzulegen. Deshalb war es richtig, die
Einwilligungsfähigkeit bezüglich entsprechender Bilder
zum persönlichen Gebrauch zu etablieren.
Nach dem Übereinkommen des Europarates, das wir
heute hier in Gesetzesform gießen wollen, ist die Ziel-
richtung, sexuellen Missbrauch und Ausbeutung von
Kindern in jedweder Form zu unterbinden.
Dies wäre uns aber nach den traurigen Erkenntnissen
der Edathy-Affäre allein mit einer Novelle des § 184 b
StGB nicht gelungen. Denn eine der wichtigsten Er-
kenntnisse war, dass die Branche immer wieder Kunst-
griffe unternahm, um Bilder und Filme zu fertigen, die
sich gerade noch an der Grenze zur Illegalität befanden.
Hierzu haben sich die Produzenten solcher Filme zum
Beispiel das Vertrauen armer Familien und Kinder in
Osteuropa erschlichen. Mit Geschenken, Geld und
Süßigkeiten wurde hier Vertrauen aufgebaut, um dann
Kinder unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit
dazu zu bringen, nackt miteinander zu raufen, sich ge-
genseitig einzuölen oder zu baden. Diese Szenen wurden
dann aus allen möglichen Perspektiven gefilmt, um das
Material später gewinnbringend in Pädophilenkreisen zu
vermarkten. Alles gerade noch legal!
Mögliche Täter gaben sich dann als Kunst- bzw. Na-
turfreund aus. Alles sei unverfänglich, man habe nur
seine Freude „am Anblick von spielenden, unbeschwer-
ten Kindern“, waren da zum Beispiel Einlassungen im
Rahmen der Ermittlungen.
Deshalb war es richtig und wichtig, den Versuch zu
unternehmen, im Zuge der Reform des § 201 a StGB
hier jegliche Zweifel an der Illegalität solchen Handelns
zu beseitigen. Wer solche Bilder und Filme fertigt, bzw.
wer solche Bilder und Filme bezieht, der beutet Kinder
sexuell aus, und er missbraucht sie.
Deshalb kann ich die Kritik der Opposition an der
Neuformulierung des § 201 a StGB, wonach sich derje-
nige strafbar macht, der Nacktbilder einer Person unter
18 Jahren in der Absicht herstellt, diese einem Dritten
entgeltlich zu verschaffen, oder der sich solche entgelt-
lich verschafft, an dieser Stelle schlichtweg nicht nach-
vollziehen.
Wer ernstlich den oben dargestellten Markt trockenle-
gen will, der muss auch bereit sein, dafür etwas zu tun.
Und die hier bemühten Argumente taugen allesamt
nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken
und Grünen.
Denn auch hier gibt es weiterhin das Rechtsinstitut
der rechtfertigenden Einwilligung, weshalb das Nackt-
bild einer 17-Jährigen in einer Jugendzeitschrift unpro-
blematisch ist. Hierfür konnten die Eltern einwilligen,
denn im Gegensatz zu anzüglichen Nacktbildern raufen-
der Knaben ist in diesem Fall die Zustimmung vom Sor-
gerecht gedeckt.
Ich hätte mir aber von Ihnen, Herr Justizminister
Maas, an einer anderen Stelle einen genaueren Blick auf
die Zielsetzung des hier zu beratenden Übereinkommens
gewünscht, nämlich bei der Frage der Strafbarkeit des
untauglichen Versuchs beim sogenannten Cybergroo-
ming.
Cybergrooming ist ein Phänomen, was heutzutage
tausendfach im Internet geschieht: Hier nehmen Erwach-
sene – teilweise unter Vorspiegelung, selbst ein Kind zu
sein – in Chatrooms oder anderen Foren für Kinder Kon-
takt zu diesen mit dem Ziel auf, sexuellen Kontakt anzu-
bahnen. Diesbezüglich berichten Kriminalbeamte aus
der Praxis, dass es mittlerweile Foren gibt, in denen zum
Beispiel eine „Julia2004“ binnen Minuten zehn bis
20 Anbahnungsversuche erhält.
Nun ist die spannende Frage, wie man an solche Täter
herankommt:
In der Anhörung wurde uns verdeutlicht, dass das nur
über Ermittler möglich ist, die sich im Netz als Kind aus-
geben. Da dann aus juristischer Sicht ein sogenanntes
„untaugliches Tatobjekt“ vorliegt, ist dieser untaugliche
Versuch nicht strafbar.
7048 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
Genauso verhält es sich, wenn zum Beispiel die Mut-
ter das Treiben bemerkt, die Konversation mit dem Ge-
genüber weiterführt und sich als das Kind ausgibt. Selbst
wenn der Täter eindeutige Bilder schickt, eindeutige
Aufforderungen formuliert oder Ähnliches, die Tat bleibt
straflos.
Vertreter aus der Praxis haben deshalb in der Anhö-
rung ausdrücklich die Bitte formuliert, den untauglichen
Versuch unter Strafe zu stellen, da diese Konstellationen
quasi die einzige Möglichkeit darstellen, solcher Täter
habhaft zu werden. Denn das Anzeigeverhalten in diesen
Fällen geht gen null. Die Kinder vertrauen sich oftmals
den Eltern nicht an – sei es aus Scham oder mangels aus-
reichender Fähigkeit zur Bewertung des Vorgangs.
Leider konnten wir uns hier mit unserer Forderung,
den untauglichen Versuch unter Strafe zu stellen, weder
bei der SPD noch beim Justizminister durchsetzen. Auch
das Ministerium sieht hier keinen Handlungsbedarf.
Allerdings muss man feststellen: Wenn man den
Handlungsauftrag aus diesem Übereinkommen ernst
nimmt, führt an einer Strafbarkeit in solchen Fällen kein
Weg vorbei. Denn Herr Minister, geschätzte Kolleginnen
und Kollegen: Die Welt hat sich schlichtweg verändert!
Früher mussten mögliche Täter mit entsprechenden Nei-
gungen Anbahnungsversuche vor Kindergärten, Schulen
oder Kinderspielplätzen vornehmen. Dies barg zum ei-
nen das erhebliche Risiko der Aufdeckung, und es war
zum anderen wesentlich zeitintensiver. Heute geschieht
das in Deutschland täglich hundertfach, im Sekunden-
takt und im Schutze der Anonymität des Netzes. Deshalb
werden wir als CDU/CSU hier von unserer Forderung
nicht abweichen.
Diesbezüglich bin ich froh, dass sich aus den Bericht-
erstattergesprächen zumindest die Möglichkeit ergeben
hat, in einem weiteren Fachgespräch nochmals die For-
derung aus der Praxis ergebnisoffen zu diskutieren. Hie-
rauf setzten wir große Hoffnung.
Dennoch bleibt festzustellen: Wir sind ein gutes Stück
vorangekommen. Mit Nacktbildern von Kindern werden
in Zukunft in unserem Land keine Geschäfte gemacht.
Deshalb stimmen wir dem Gesetz gerne zu.
Dirk Wiese (SPD): Wir beraten heute in zweiter und
dritter Lesung den Entwurf eines „Gesetzes zu dem
Übereinkommen des Europarats vom 25. Oktober 2007
zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung
und sexuellem Missbrauch“. Die Zustimmung des Deut-
schen Bundestages zu diesem Gesetz ist gemäß Artikel 59
Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes Voraussetzung für
dessen Ratifikation durch die Bundesrepublik Deutsch-
land.
Für diese Zustimmung möchte ich hier und heute
werben.
Aber Deutschland hat seine Umsetzungspflichten aus
dem Abkommen bereits erfüllt. Letzter und entscheiden-
der Schritt waren dabei die von uns in der letzten
Sitzungswoche verabschiedeten Änderungen im Sexual-
strafrecht. Es würde den Rahmen sprengen, die Ände-
rungen vorzutragen, deshalb beschränke ich mich kurz
auf die wichtigsten Punkte und verweise ansonsten auf
die Debattenbeiträge der zweiten und dritten Lesung des
Gesetzentwurfs zur Änderung des Sexualstrafrechts.
Kernstück dieser Reform ist dabei, dass wir das Straf-
maß für den Besitz von Kinderpornografie von zwei auf
drei Jahre erhöht haben und genau definiert haben
welche Bilder und Aufnahmen unter Strafe fallen und
welche nicht. Daneben haben wir Strafbarkeitslücken bei
dem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen ge-
schlossen. Zur Verdeutlichung auch in der heutigen
Debatte folgendes Beispiel:
Das OLG Koblenz musste im Dezember 2012 einen
Lehrer, der sich gezielt an eine 14-jährige Schülerin her-
angemacht hatte und das Mädchen über fünf Monate und
letztendlich erfolgreich zum Sex gedrängt hatte, vom
Vorwurf des Missbrauchs von Schutzbefohlenen frei-
sprechen. Grund für den Freispruch war einzig und
allein, dass der Lehrer das Mädchen nicht regelmäßig
unterrichtete und er damit als Vertretungslehrer in kei-
nem sogenannten Obhutsverhältnis zu der Neuntklässle-
rin stand. Mit der Neufassung bzw. Ergänzung des § 174
Absatz 2 StGB schließen wir diese Regelungslücke nun.
Ganz klar: Niemand soll seine Vertrauensstellung unge-
straft missbrauchen dürfen.
Ferner haben wir den Straftatbestand des „Cybergroo-
mings“ konkretisiert, um Kinder und Jugendliche im In-
ternet besser vor Sexualstraftätern schützen zu können.
Ein äußerst wichtiger Teil der Reform des Sexualstraf-
rechts, denn die Fälle des „Cybergroomings“ nehmen
deutlich zu. Allein in NRW gab es eine Steigerung im
Jahr 2013 von 54,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Außerdem haben wir die Genitalverstümmelung, ei-
nes der abscheulichsten Verbrechen an jungen Frauen
und Kindern, in den Katalog der Auslandsstraftaten auf-
genommen, um Eltern davon abzuhalten, ihre Kinder im
Urlaub beschneiden zu lassen.
Darüber hinaus haben wir auch ein starkes Signal an
die Opfer von sexuellem Missbrauch gesandt, indem wir
die Verjährungsfristen deutlich erhöht haben. Denn
Opfer von sexuellem Missbrauchs können oftmals erst
viele viele Jahre später über die Taten sprechen, deren
Opfer sie einst wurden. Mit der Erhöhung der Verjäh-
rungsfristen setzen wir ein Zeichen dafür, dass wir diese
Menschen mit ihrem Leid nicht alleine lassen.
Wenn wir über den Schutz von Kindern und Jugendli-
chen reden, dürfen wir aber nicht nur über Strafrecht
reden. Denn in dem Moment, wo es zur Anwendung
kommt, ist es für die Opfer bereits zu spät. Sie sind mit-
unter ein Leben lang gezeichnet oder traumatisiert. Da-
rum müssen wir vorher ansetzen, also bevor die Taten
geschehen. Wir müssen also dafür sorgen, dass es gar
nicht erst zu sexueller Gewalt kommt.
Deshalb möchte ich hier noch auf das Präven-
tionskonzept von Bundesfamilienministerin Manuela
Schwesig, „Gemeinsam gegen sexuelle Gewalt“, hin-
weisen. Es stützt sich auf fünf Säulen, von denen die
erste die bereits von mir dargestellte Reform des Sexual-
strafrechts und der Verjährungsfristen beinhaltet.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7049
(A) (C)
(D)(B)
Die zweite Säule bilden der Schutz und die Beglei-
tung von Opfern im Strafverfahren. Nach einem
Referentenentwurf zur 3. Opferrechtsreform aus dem
Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
wird künftig ein Anspruch auf psychosoziale Prozess-
begleitung bestehen, um die Belastung der Kinder und
Jugendlichen im Strafprozess deutlich zu reduzieren.
Zusätzlich soll durch eine Ergänzung des Kinderschutz-
gesetzes eine engere Kooperation von Ermittlungsbehör-
den und Jugendämtern ermöglicht werden.
Eine weitere Säule des Gesamtkonzepts von Ministe-
rin Schwesig bildet die Schaffung eines für Kinder
uneingeschränkten Beratungsanspruchs gegenüber der
Kinder- und Jugendhilfe – auch ohne Kenntnis der El-
tern –, flankiert durch Einführung von Schutzkonzepten
in Schulen und anderen Einrichtungen. Ein klares Signal
für mehr Kinderschutz!
Die vierte Säule bilden Beratung, Hilfen und Thera-
pien für Betroffene. Auf Bundesebene wird eine Koordi-
nierungsstelle geschaffen werden, um die Beratungs-
strukturen für Betroffene zu verbessern und sie leichter
an die spezialisierte Fachberatung überweisen zu kön-
nen. Daneben werden auch mögliche und potenzielle
Täter mit entsprechenden Neigungen ins Auge gefasst:
Präventionskonzepte werden gestärkt, damit diese erst
gar nicht straffällig werden.
Abgerundet wird das Gesamtkonzept durch die fünfte
und letzte Säule, nämlich den Schutz von Kindern und
Jugendlichen in den digitalen Medien. In Zusammen-
arbeit mit dem Zentrum für Kinderschutz im Internet soll
ein Netzwerk einrichtet werden, um Grauzonen von
Missbrauchsdarstellungen im Netz national und interna-
tional besser bekämpfen zu können. Zusätzlich werden
Eltern und Kinder über Risiken beim Umgang mit digi-
talen Medien aufgeklärt und sensibilisiert. Durch eine
gesetzliche Informationsverpflichtung soll dabei sicher-
gestellt werden, dass diese Aufklärung auch wirklich
stattfindet.
Sie sehen, die Bundesregierung hat sich sowohl des
strafrechtlichen als auch des präventiven Schutzes von
Kindern und Jugendlichen vor sexueller Ausbeutung und
sexuellem Missbrauch angenommen. Wir haben dabei
die Zielvorgaben des Übereinkommens des Europarates
erfüllt und gewährleisten in manchen Bereichen sogar
einen weitaus besseren Schutz, als er im Abkommen
gefordert wird. Deshalb werbe ich heute hier um Ihre
Zustimmung zum vorliegenden Entwurf des Vertrags-
gesetzes, damit die Bundesrepublik Deutschland nach
der Zustimmung dieses Hohen Hauses das Abkommen
auch ratifizieren kann.
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Die Bundesrepu-
blik Deutschland hat das Übereinkommen des Europa-
rats vom 25. Oktober 2007 zum Schutz von Kindern vor
sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch
– Lanzarote-Konvention – am 25. Oktober 2007 unter-
zeichnet. Der Bundestag muss nun die nach Artikel 59
Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes erforderliche Zustim-
mung zum Vertragsgesetz beschließen.
Diese Ratifizierung setzte nach Auffassung der Bun-
desregierung eine Änderung des Strafgesetzbuches vo-
raus, die von der Mehrheit des Bundestages vor wenigen
Wochen mit der Änderung des Sexualstrafrechtes be-
schlossen wurde. Die Linke hat aus verschiedenen Grün-
den diesen Gesetzentwurf abgelehnt. Ich will all die
Gründe heute nicht wiederholen, zumal diese bei Inte-
resse im Plenarprotokoll nachgelesen werden können.
Das Ziel des Vertragswerks, die Verhütung und Be-
kämpfung der sexuellen Ausbeutung und des sexuellen
Missbrauchs von Kindern, teilen wir ausdrücklich. Die
in der Konvention enthaltenen Regelungen im Hinblick
auf die Verpflichtung zur Prävention in Bezug auf Täter
und Opfer und auf die Unterstützung von Opfern stellen
eine sinnvolle und begrüßenswerte Verbesserung im Ver-
gleich zu bisherigen internationalen Vorgaben dar und
fördern auch in Deutschland den Ausbau der Prävention.
Das finden wir richtig und gut. Die in der Konvention
enthaltenen Vorgaben für präventive Maßnahmen, etwa
verpflichtende Maßnahmen zum Schutz und zur Unter-
stützung der Opfer sowie Bestimmungen zu Präven-
tions- und Interventionsprogrammen und Maßnahmen
für Sexualstraftäterinnen und -täter, sind sinnvoll. Es ist
ebenfalls gut, dass Kinder in der Schule über sexuellen
Missbrauch aufgeklärt werden und Beratung erhalten
sollen. Auch die zwingende flächendeckende Einrich-
tung von Beratungsstellen für Opfer und potenzielle Op-
fer oder Ratsuchende sowie die Auflegung von Täterprä-
ventionsprogrammen findet unsere Zustimmung.
Wenn wir uns dennoch enthalten, dann hat dies damit
zu tun, dass wir einen Teil der Vorgaben im Strafrecht
für problematisch halten. Kind im Sinne des Überein-
kommens nach Artikel 3 a ist eine Person unter 18 Jah-
ren. Gerade im Bereich der Sexualität finden wir es aber
ausgesprochen richtig, einen Unterschied zu machen, ob
es sich um unter 14-jährige und um über 14-jährige, aber
unter 18-jährige Personen handelt.
Dieser Konflikt zieht sich durch die gesamten straf-
rechtlichen Regelungen im Übereinkommen. Da ist zum
Beispiel der Artikel 20. Dieser fordert, gesetzgeberische
Maßnahmen zu ergreifen, um die Herstellung von Kin-
derpornografie, das Anbieten oder die Verfügbarma-
chung von Kinderpornografie, das Verbreiten oder Über-
mitteln von Kinderpornografie, das Beschaffen von
Kinderpornografie für sich selbst oder einen anderen,
den Besitz von Kinderpornografie und den wissentlichen
Zugriff auf Kinderpornografie mithilfe der Informations-
und Kommunikationstechnologien unter Strafe zu stel-
len. Selbst bei einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber
dem Strafrecht dürfte unstreitig sein, dass in den aufge-
zählten Fällen das Strafrecht eingreifen sollte – wenn es
sich um unter 14-Jährige handelt. Nach Artikel 20 Ab-
satz 2 ist Kinderpornografie jedes Material mit der bild-
lichen Darstellung eines Kindes – und nach dem Über-
einkommen meint dies eben Personen unter 18 Jahren –
bei wirklichen oder simulierten eindeutig sexuellen
Handlungen oder jede Abbildung der Geschlechtsteile
eines Kindes zu vorwiegend sexuellen Zwecken. Wir ha-
ben uns bei der Verschärfung des Sexualstrafrechtes
schon trefflich darüber gestritten, ob wir nicht zumindest
7050 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
mit der zweiten Tatbestandsalternative in einen Bereich
des Motivstrafrechts kommen. Wie soll denn bitte ge-
klärt werden, ob die Aufnahme einer bildlichen Darstel-
lung eines Geschlechtsteiles aus vorwiegend sexuellen
Motiven stattgefunden hat?
Aber unabhängig davon gilt dies nach dem Überein-
kommen ja auch für Abbildungen von Geschlechtsteilen
von zum Beispiel 16-Jährigen oder 17-Jährigen. Wir lau-
fen hier durch die Definition, wer als Kind gelten soll,
Gefahr, die Sexualität von Jugendlichen zu kriminalisie-
ren. Aus unserer Sicht führt dies aber auch zu Wertungs-
widersprüchen. Denn sowohl nach dem Übereinkommen
als auch nach deutschem Recht dürfen Personen ab
14 Jahren mit Volljährigen einvernehmliche sexuelle
Handlungen vornehmen. Sie dürfen sich aber nicht dabei
fotografieren oder die Bilder besitzen. Eine Heraus-
nahme aus der Strafbarkeit ist für die Unterzeichnerstaa-
ten nicht möglich für den Fall, dass eine 18-Jährige, die
ihren 17-jährigen Freund bei sexuellen Handlungen – die
sie vornehmen dürfen – fotografiert und das Bild behält
oder gar Freunden zeigt oder ihnen per E-Mail sendet.
Wir sind nicht davon überzeugt, dass ein solches Verhal-
ten dem Strafrecht unterliegen soll. Wir glauben, diese
von der Konvention betriebene Kriminalisierung jugend-
lichen Sexualverhaltens ist nicht gerechtfertigt und ver-
letzt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Wir hal-
ten es tatsächlich für besser, zwischen Kinder- und
Jugendpornografie und sexuellen Handlungen mit Kin-
dern und Jugendlichen zu unterscheiden, wie dies in
Deutschland der Fall ist. Insofern hätten wir uns Rege-
lungen gewünscht, die sicherstellen, dass in keinem der
Unterzeichnerstaaten die einvernehmliche Sexualität
– und entsprechende Fotos – von Jugendlichen mit He-
ranwachsenden oder Erwachsenen unter Strafe gestellt
werden kann.
Wir sehen viele gute Ansätze in der Lanzarote-Kon-
vention; angesichts der aufgezeigten Probleme bleibt uns
allerdings nur die Stimmenthaltung.
Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Als der Europarat im Oktober 2007 seine Kon-
vention verabschiedete, war dies ein Meilenstein. Es war
ein Schritt zum besseren Schutz von Kindern vor sexuel-
ler Ausbeutung und vor Missbrauch. Dies ist inzwischen
mehr als sieben Jahre her, und erst heute verabschiedet
der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Ratifizierung der
sogenannten Lanzarote-Konvention. Wir werden diesem
Gesetz zustimmen, obwohl – und darauf muss ich hin-
weisen – wir die Definition von Kind differenzierter se-
hen als die völkerrechtliche Definition von Kind. Wir
unterscheiden zwischen Kindern und Jugendlichen, zum
Teil sogar zwischen 14- und 16-Jährigen.
Viele der strafrechtlichen Regelungsbedarfe wurden
jüngst mit dem „Gesetz zur Änderung des Strafgesetz-
buchs – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexual-
strafrecht“ umgesetzt. Das Gesetz aus dem Hause von
Bundesminister Maas hat öffentlich große Aufmerksam-
keit erfahren. Dies wurde meiner Auffassung nach aller-
dings vor allem durch zwei Punkte beeinflusst. Zum
einen wurde durch die Ermittlungen gegen einen ehema-
ligen Bundestagsabgeordneten eine öffentliche Debatte
über sogenannte Posingbilder ausgelöst. Diesem Vorfall
ist es quasi zu verdanken, dass viele der sexualstrafrecht-
lichen Vorgaben der Konvention vor wenigen Wochen
umgesetzt wurden. Zum anderen erfuhr das Thema so
viel Aufmerksamkeit, da der Entwurf aus dem Bundes-
justizministerium im Bereich der Persönlichkeitsverlet-
zung derart über das Ziel hinausgeschossen ist. Ich sage
nur: „bloßstellende Aufnahmen“. Gerade die Medien-
vertreter wurden da natürlich aufmerksam, schließlich
wären sie durchaus Betroffene dieses Gesetzes gewor-
den, wenn es in dieser Form durch den Bundestag ge-
kommen wäre.
Nun: Die mediale Konzentrationsfähigkeit ist schnell
dahin. Vermutlich will die Bundesregierung uns und den
Menschen im Lande auch suggerieren, dass mit der Ver-
abschiedung des Gesetzes nun alles getan ist, was getan
werden musste. Anders ist es nicht zu erklären, dass die
Ratifizierung der so wichtigen Lanzarote-Konvention in
dieser Sitzungswoche praktisch unter Ausschluss der Öf-
fentlichkeit stattfindet.
Es sind jedoch insbesondere die Präventionsmaßnah-
men, auf die die Konvention großen Wert legt und die
bisher völlig unzureichend umgesetzt sind. Ich will nur
drei Beispiele nennen: Die Schulungsmaßnahmen für
alle Berufsgruppen, die mit potenziellen minderjährigen
Opfern des sexuellen Missbrauchs oder der sexuellen
Ausbeutung in Kontakt kommen, sind in Deutschland
weiterhin unzureichend. Ebenso gibt es in Deutschland
keine bedarfsgerechte Betreuung und Therapie von min-
derjährigen Betroffenen – vor allem in ländlichen Regio-
nen. Auch wären gesetzliche Regelungen, wie „privacy
by design“ als Grundeinstellung, womit höhere Daten-
schutzstandards vor allem bei sozialen Netzwerken im
Internet erreicht werden, ein Beitrag zur Umsetzung der
Konvention.
Auf viele der Punkte, die noch umzusetzen sind, ha-
ben wir in unserem Antrag „Kinder schützen – Präven-
tion stärken“ – Drucksache 18/2619 – hingewiesen.
Auch das Gesamtkonzept für den Schutz von Kindern
und Jugendlichen vor sexueller Gewalt, das Bundes-
familienministerin Schwesig am 22. September 2014 in
Anwesenheit des Unabhängigen Beauftragten für Fragen
des sexuellen Kindesmissbrauchs, Rörig, auf einer Pres-
severanstaltung vorgestellt hat, beabsichtigt, Forderun-
gen aus der Konvention umzusetzen.
Ich bin froh, dass Konventionen mit ihrer Ratifizie-
rung innerstaatlich verbindlich werden. Dies erhöht den
Umsetzungsdruck. Diesen Druck werde auch ich künftig
machen. Deswegen habe ich mit meiner Fraktion in die-
ser Sitzungswoche die Bundesregierung mit einer Klei-
nen Anfrage um Antwort gebeten, was denn bei der Um-
setzung der Präventionsmaßnahmen Stand der Dinge ist.
In einigen Wochen werden wir dann hoffentlich etwas
schlauer sein. Ich kann nur hoffen, dass nach den vielen
Ankündigungen dann konkrete Umsetzungsschritte zu
erkennen sind.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7051
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie 2012/17/EU in Bezug
auf die Verknüpfung von Zentral-, Handels-
und Gesellschaftsregistern in der Europäischen
Union (Tagesordnungspunkt 23)
Sebastian Steineke (CDU/CSU): Durch die Schaf-
fung des EU-Binnenmarkts ist der Handel innerhalb der
Europäischen Union deutlich einfacher geworden. Heut-
zutage gehört es für Verbraucher zur Normalität, Waren
aus anderen Mitgliedstaaten zu beziehen, und für Unter-
nehmen zur Normalität, Waren in diese Länder zu expor-
tieren. Zudem errichten viele Unternehmen mittlerweile
Zweigniederlassungen in anderen Mitgliedstaaten der
Europäischen Union.
Dennoch bestehen nach wie vor Barrieren, die Ver-
braucher und Unternehmer häufig vom internationalen
Handel abhalten. Zu diesen Barrieren gehört auch das
schwierige und umständliche Verfahren zur Beschaffung
von Informationen über seinen ausländischen Geschäfts-
oder Vertragspartner. Zur Überwindung von Sprachpro-
blemen und zur Verbesserung des Zugangs zu solchen
Unternehmensinformationen bedarf es daher einer
grenzüberschreitenden Lösung.
Der vorliegende Gesetzentwurf, der der Umsetzung
der EU-Richtlinie zur Verknüpfung von Zentral-, Han-
dels- und Gesellschaftsregister in der Europäischen
Union (RL 2012/17/EU) dient, soll diese Barrieren be-
seitigen. Der Gesetzentwurf sieht entsprechende Ände-
rungen des Handelsgesetzbuches sowie der Handels-
registerverordnung vor.
Mit der Richtlinie soll der grenzüberschreitende Zu-
gang zu Unternehmensinformationen über das europäi-
sche Justizportal verbessert und die genauen Kanäle für
die Kommunikation zwischen den nationalen Registern
der Mitgliedstaaten über eine zentrale europäische Platt-
form festgelegt werden. Zukünftig bilden folgende drei
Teile gemeinsam das europäische System der Register-
vernetzung: die Register der Mitgliedstaaten, die zen-
trale europäische Plattform und das europäische Justiz-
portal.
Bisher musste man sich für die Informationsbeschaf-
fung beim ausländischen Register anmelden und die dor-
tige Gerichtssprache beherrschen. Der Gesetzentwurf
sieht vor, den Zugang zu diesen Registern im grenzüber-
greifenden Kontext erheblich zu vereinfachen und da-
durch sichere Rahmenbedingungen für den innereuropä-
ischen Handel zu schaffen.
Lassen Sie mich dies an einem Beispiel verdeutli-
chen: Ein Verbraucher, der nach dem Onlinekauf im
Ausland aufgrund von mangelhafter Warenlieferung
eine Klage gegen den Lieferanten anstrebt, kann dies
zwar – dank der Verbrauchergerichtsstandregelung – in
Deutschland tun. Dennoch benötigt er für die Klageerhe-
bung verlässliche Angaben zum Sitz, zur Anschrift und
zum gesetzlichen Vertreter des Prozessgegners. Dies
stellt ihn bislang vor eine schwierige Prozedur. Oftmals
führte dies dazu, dass Betroffene den Schaden lieber in
Kauf nahmen, da es zu umständlich erschien, die not-
wendigen Schritte zur Ermittlung der anderen Vertrags-
partei einzuleiten.
Durch die Verbesserung des grenzüberschreitenden
Zugangs zu Unternehmensinformationen soll sich dies
ändern. Beispielsweise sind nun Änderungen in der Re-
gel innerhalb von 21 Tagen ab Vorliegen der vollständi-
gen Anmeldung in das Handelsregister einzutragen und
bekannt zu machen. Diese Verbesserung wird durch die
Vernetzung der nationalen Register zu einem europäi-
schen Justizportal erreicht werden.
Darüber hinaus wird durch die Schaffung von zeitge-
mäßen Kommunikationskanälen und die Ergänzung des
europäischen Justizportals um alle Sprachen der EU das
Registerverfahren beschleunigt sowie Bürokratie abge-
baut. Alle in Deutschland tätigen Kapitalgesellschaften
erhalten eine einheitliche europäische Kennung, damit
sie problemlos zugeordnet werden können. Die weiteren
technischen Details des Datenverkehrs kann das Bundes-
ministerium für Justiz und Verbraucherschutz in einer
Rechtsverordnung regeln, für die wir ihm mit dem vor-
liegenden Gesetzentwurf eine Ermächtigungsgrundlage
schaffen.
Da der Gesetzentwurf viele technische Regelungsde-
tails hinsichtlich der Verknüpfung der einzelnen Register
beinhaltet, führte der Ausschuss für Recht und Verbrau-
cherschutz auf Initiative der Koalitionsfraktionen von
CDU/CSU und SPD am 5. November 2014 eine öffentli-
che Anhörung durch, in der der Gesetzentwurf von allen
anwesenden Sachverständigen im Grundsatz begrüßt
wurde. Trotzdem erlebten wir hier ein Paradebeispiel,
dass Anhörungen des Bundestags nicht nur für das
Schaufenster gedacht und wirkungslos sind. Denn ge-
rade weil dieser Gesetzentwurf viele technische Details
berücksichtigen musste, haben uns die Experten auf ver-
meintliche Kleinigkeiten hingewiesen, die aber für die
Praxis und insbesondere für die handelnden Personen
der Rechtspflege von immenser Bedeutung sind. Unter
anderem ging es um Begrifflichkeiten, die das Einrei-
chen von Dokumenten zum Handelsregister betreffen.
Wir als Union haben die Hinweise der Sachverständigen
aufgegriffen und im Anschluss gemeinsam mit dem
Bundesjustizministerium erörtert. Die nun eingearbeite-
ten Änderungen werden in der Praxis für Rechtssicher-
heit sorgen und für den Anwender eine Erleichterung
sein.
Dass das System der Registervernetzung innerhalb
der EU-Mitgliedstaaten notwendig ist, wird auch daran
deutlich, dass es nach Erhebungen der Europäischen
Kommission aus dem Jahre 2013 rund 31 Millionen Un-
ternehmen in der Europäischen Union gibt, die in den
Handelsregistern der Mitgliedstaaten erfasst sind.
Der Gesetzentwurf trägt zukünftig nicht nur zur Stär-
kung des grenzüberschreitenden Handels und Informations-
austauschs innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union sowie zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit
der europäischen Wirtschaft im internationalen Ver-
7052 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
gleich bei, sondern schafft auch mehr Rechtssicherheit
in diesem Bereich.
Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Gesetzentwurf in
der vom Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz be-
schlossenen Fassung zustimmen.
Dr. Johannes Fechner (SPD): Mit diesem Gesetz
tragen wir dazu bei, dass Richtlinien ins deutsche Recht
umgesetzt werden, die den Wirtschaftsverkehr innerhalb
der Europäischen Union wesentlich erleichtern werden.
Mit dem Gesetz sollen Änderungen der Publizitäts-
richtlinie, der Zweigniederlassungsrichtlinie und der Fu-
sionsrichtlinie umgesetzt werden, die auf Verknüpfung
der Handelsregister abzielen.
Ziel des Gesetzesvorhabens ist es, dass alle Unions-
bürgerinnen und Unionsbürger einen europaweiten Zu-
griff auf wichtige Unternehmensdaten der Kapitalgesell-
schaften erhalten – und zwar einfach und schnell über
das Internet. Viele Unternehmen innerhalb der EU nut-
zen längst die Möglichkeit, über Ländergrenzen hinweg
zu expandieren, Zweigniederlassungen zu gründen oder
stehen mit Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten in
geschäftlichem Kontakt.
Die Handels- bzw. Unternehmensregister sind in die-
sem grenzüberschreitenden Geschäftsverkehr wichtige
Informationsquellen. Über die Handelsregister können
Unternehmen, aber auch Verbraucherinnen und Verbrau-
cher relevante Informationen über die Unternehmen er-
halten, die ihre potenziellen Geschäftspartner sein könn-
ten oder mit denen sie bereits Geschäfte machen.
Mit dem schnellen zentralen Onlinezugriff auf Han-
delsregisterdaten haben wir in Deutschland bereits beste
Erfahrungen gemacht. Wir haben schon vor Jahren die
Daten von 130 Registergerichten aus allen Bundeslän-
dern auf nationaler Ebene miteinander vernetzt. Jeder-
mann kann seit 2007 über das gemeinsame Register-
portal der Länder unter www.handelsregister.de
Unternehmensdaten abrufen, aber auch wichtige Doku-
mente wie Gesellschaftervertrag, Jahresabschluss oder
Gesellschafterliste einsehen. Die Register sind zwar ver-
netzt, die Daten bleiben aber bei den Ländern. Der On-
linezugriff hat hier bereits zu steigender Nachfrage ge-
führt.
Genau dieses Erfolgsmodell wird jetzt auf europäi-
scher Ebene ebenfalls eingeführt. Jeder Mitgliedstaat be-
hält auch hier die Herrschaft über seine Register, die
aber miteinander vernetzt werden. So wird über das Eu-
ropäische Justizportal ein zentraler und europaweiter Zu-
griff für Bürgerinnen und Bürger, Rechtspraktiker, Un-
ternehmen und Gerichte installiert.
Das ist eine ausgesprochen erfreuliche Entwicklung.
Denn Millionen Unternehmen in der EU sind mittler-
weile in verschiedenen Handelsregistern der Mitglied-
staaten registriert. Nun erhalten Kapitalgesellschaften
sowie deren Zweigniederlassungen eine einheitliche eu-
ropäische Kennung. Das ermöglicht einen besseren Da-
tenaustausch und mehr Transparenz.
Veränderungen wie Insolvenz, Liquidation, Löschung
oder Verschmelzung von Kapitalgesellschaften werden
den betroffenen Registern mitgeteilt.
Außerdem haben die zuständigen Registerstellen nun
eine Frist von 21 Tagen für die Bekanntmachung oder
Änderung der Registerangaben einzuhalten, eine Frist,
die in Deutschland kein Problem darstellen wird. Die
Eintragungen erfolgen bei uns regelmäßig sehr viel
schneller. Der Suchservice über das Europäische Justiz-
portal wird kostenlos sein und in 23 Sprachen zur Verfü-
gung stehen. Dieser verbraucherfreundliche Ansatz soll
an dieser Stelle besonders betont werden.
Das Vorhaben, ein europäisches Handelsregisterportal
zu installieren, mag ambitioniert sein. Aber dieses Ge-
setz ist ein notwendiger Schritt dahin. Und ich bin über-
zeugt, dass es zur Harmonisierung des Wirtschaftsver-
kehrs beitragen, den Informationsaustausch vereinfachen
und in Zukunft von vielen Menschen und Unternehmen
genutzt werden wird.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf wird eigentlich ein unterstützenswer-
tes Ziel verfolgt. Denn bei den mehr und mehr europa-
weit vernetzten Handelsbeziehungen, Warenströmen und
Dienstleistungserbringungen macht eine Vernetzung
auch der verschiedenen Handels- und Unternehmens-
register durchaus Sinn. So soll mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf gemäß der zugrunde liegenden EU-Richt-
linie gewährleistet werden, dass die Register der Mit-
gliedstaaten, die zentrale Europäische Plattform und das
Europäische Justizportal künftig gemeinsam das Euro-
päische System der Registervernetzung bilden.
Um die Register der Mitgliedstaaten hier kompatibel
zu machen, soll eine einheitliche europäische Kennung
für alle Kapitalgesellschaften eingeführt werden. Und
hier liegt auch schon der erste Knackpunkt in Ihrem Ge-
setzentwurf, meine Damen und Herren von der Bundes-
regierung. Warum nur Kapitalgesellschaften? Was ist
mit den Personengesellschaften? Auch diese nehmen am
Wirtschaftsleben in der Europäischen Union teil, bei-
spielhaft möchte ich hier Aldi nennen – ein Unterneh-
men in der Form einer offenen Handels- und somit Per-
sonengesellschaft.
Ein weiterer Schwachpunkt in dem vorliegenden
Gesetzentwurf liegt in dem nicht sonderlich verbrau-
cherfreundlich geprägten Zugang zu den relevanten
Informationen. Wichtige Angaben wie ladungsfähige
Anschriften oder Vertretungsberechtigungen bei den Ge-
sellschaften sind nicht zwingend vorgeschrieben. Das
sind aber genau jene Angaben, die Verbraucherinnen
und Verbraucher bei der Verfolgung ihrer Ansprüche zu
allererst benötigen – wenn Sie ein Unternehmen verkla-
gen wollen, müssen Sie auch wissen, an wen die Klage
zu richten ist.
Wenn man die geplante praktische Umsetzung be-
trachtet, fällt zudem auf, dass die Richtlinie und leider
auch die vorliegende Umsetzung ins deutsche Recht kei-
nen Zwang zur Übersetzung in die europäischen Amts-
sprachen enthalten. Zur Überwindung der jeweiligen
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7053
(A) (C)
(D)(B)
Sprachbarrieren wäre eine solche aber durchaus notwen-
dig.
Aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher,
aber auch kleiner und mittlerer Unternehmen ist überdies
zu bemängeln, dass der Zugang zu den entsprechenden
Unterlagen nicht kostenlos sein soll.
Wir müssen daher feststellen, dass die Gestaltungs-
spielräume, die hier bei der Umsetzung der Richtlinie
zum Beispiel zugunsten der Verbraucherinnen und Ver-
braucher gegeben gewesen wären, von der Bundesregie-
rung leider nicht genutzt wurden.
Zwar ist es richtig, dass hier widerstreitende Interes-
sen in Einklang gebracht werden müssen. Da ist das
Recht auf den Zugang zu Informationen auf der einen
und die Rechte der diese Informationen zur Verfügung
stellenden Kapitalgesellschaften auf der anderen Seite.
Dennoch wäre eine effektivere Ausgestaltung des Infor-
mationsflusses hier wünschenswert gewesen.
Zuletzt muss ich Sie, meine Damen und Herren von
der Bundesregierung, noch an einer weiteren Stelle ta-
deln. Die Bundesrepublik hinkt bei der Umsetzung der
hier zugrunde liegenden EU-Richtlinie nämlich wieder
einmal hinterher. Eigentlich hätte die Richtlinie nämlich
bis zum Juli dieses sich dem Ende zuneigenden Jahres in
das nationale Recht implementiert sein müssen. Das ist
nicht geschehen, und somit hat Deutschland wieder ein-
mal kein gutes Beispiel bei der Beachtung europarechtli-
cher Vorgaben abgegeben. Hier wäre zukünftig etwas
mehr Disziplin durchaus wünschenswert.
Abschließend bleibt mir zu vorliegendem Gesetzent-
wurf letztlich nur Folgendes zu sagen: Der zugrunde lie-
gende Ansatz ist gut, aber bei der Umsetzung hakt es
mal wieder. Die Fraktion Die Linke wird sich daher ent-
halten.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit die-
sem Gesetzentwurf geht Deutschland den ersten Schritt
zur Umsetzung der Richtlinie 2012/17/EU, mit der mit-
telfristig das Europäische System der Registervernet-
zung auf den Weg gebracht werden soll. Künftig sollen
die Register verknüpft werden und alle Kapitalgesell-
schaften eine einheitliche Kennung erhalten. Die Voraus-
setzungen hierfür sollen im Handelsgesetzbuch geschaf-
fen werden.
Der immer weiter zusammenwachsende europäische
Binnenmarkt führt zu einem zunehmenden Anglei-
chungsdruck in rechtlicher Hinsicht. Wir erleben dies im
verbraucherrechtlichen Bereich genauso wie im Gesell-
schaftsrecht oder im Handelsrecht. Und eben auch bei
den Handelsregistern. Grenzüberschreitende Anfragen
gewinnen in der täglichen Arbeit der Handelsregister
stetig wachsendes Gewicht. Es wird immer wichtiger,
sich auch in den Registern der anderen EU-Mitgliedstaa-
ten zu informieren. Hierbei stößt der Anwender in der
Praxis leider häufig auf Hindernisse. Meist setzt zum
Beispiel der Zugang zu einem nationalen Register
schlicht die Kenntnis der Landessprache voraus. Ein In-
formationsaustausch zwischen den Registern erfolgt bis-
her nicht.
Dabei setzen bestimmte Sachverhalte dringend einen
besseren Informationsaustausch zwischen den Registern
voraus. Dies ist aber im grenzüberschreitenden Rechts-
verkehr bisher nicht möglich. Es ist zum Beispiel so,
dass die inländische Eintragung einer Zweigniederlas-
sung eines ausländischen Unternehmens häufig gewis-
sermaßen die Eintragung der Hauptniederlassung im
Ausland spiegelt. Das Register der Hauptniederlassung
meldet Veränderungen aber nicht automatisch an das Re-
gister der Zweigniederlassung und das Register der
Zweigniederlassung kann nicht unentwegt die Eintra-
gung im Register der Hauptniederlassung überprüfen.
Eine elektronische Kommunikation zwischen den Regis-
tern ist bisher nicht möglich. Dies kann zu unschönen
Missverständnissen führen!
Die deutschen Handelsregister und das deutsche
Unternehmensregister sollen mittels der zentralen Euro-
päischen Plattform mit den Registern der übrigen europäi-
schen Mitgliedstaaten verbunden werden. In Deutschland
sind die Daten der 130 Registergerichte bereits seit 2007
miteinander vernetzt. Die Daten liegen dabei nicht auf
einem zentralen Server, sondern die einzelnen Landes-
server werden miteinander vernetzt. Dieses System soll
nun auch auf europäischer Ebene angewendet werden,
ohne dass dabei die bisherigen Plattformen mit ihren un-
terschiedlichen Schwerpunktangeboten abgelöst werden.
Es werden weiterhin das gemeinsame Registerportal der
Länder, das Unternehmensregister und zusätzlich das
Europäische Justizportal verfügbar sein.
Es ist gut, dass hierbei der Mindestdatensatz kosten-
los zur Verfügung gestellt wird. Die Zugangshürden zu
den Informationen des Registers sollten möglichst nied-
rig gehalten werden.
Die zentrale Europäische Plattform wird die Verbin-
dung zwischen den Daten sicherstellen und das Europäi-
sche Justizportal dient als zentrale Suchplattform, spei-
chert aber selbst auch keine Daten. Diese Lösung halten
wir für sinnvoll.
Die Nutzer werden die mehrsprachige Suche schät-
zen. Registereintragungen sollen in allen Amtssprachen
der EU recherchiert werden können. Das hilft dabei,
Sprachbarrieren zu überbrücken. Als Indexdaten sollen
erfasst werden: der Name der Gesellschaft, ihre Rechts-
form, der Sitz der Gesellschaft, der Mitgliedstaat, in dem
die Gesellschaft eingetragen ist, sowie die Registernum-
mer der Gesellschaft. Die Sachverständigen haben in ih-
ren Stellungnahmen für die Anhörung im Ausschuss für
Recht und Verbraucherschutz noch die Frage aufgewor-
fen, ob es nicht eventuell auch sinnvoll wäre, die Regis-
terinformationen selbst in übersetzter Form zur Verfü-
gung zu stellen. Das finde ich einen sinnvollen Hinweis,
dem man nachgehen sollte. Es würde mich freuen, wenn
die Kommission diesen Gedanken aufnehmen würde.
In der Handelsregisterverordnung soll künftig festge-
legt werden, dass Änderungen im Register in der Regel
innerhalb von 21 Tagen ab Vorliegen der vollständigen
Anmeldung in das Handelsregister einzutragen und be-
kannt zu machen sind. Die Sachverständigen haben hier
in ihren Stellungnahmen zu bedenken gegeben, dass die
deutsche Regelung sich bei der 21-Tage-Frist nicht nur
7054 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(D)(B)
auf die notwendigen Daten beschränkt und die Richtlinie
übererfüllt wird. Es sei außerdem so, dass die Frist von
21 Tagen in der deutschen Registerpraxis in aller Regel
unterschritten würde. Hier verstehe ich nicht, wieso auf
diese Bedenken nicht eingegangen wurde, vor allem da
es in der Praxis offensichtlich kein Problem gibt, das
diese weite Interpretation der Richtlinie notwendig ma-
chen würde. Dies ist für uns zwar kein Grund, das Ge-
setz abzulehnen, aber wieder ein Beweis dafür, dass die
Koalition im Gesetzgebungsverfahren den Sachverstän-
digen nicht genug Gehör schenkt.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Übereinkommen vom 10. März 2009 zwi-
schen den Mitgliedstaaten der Europäischen
Union über die zentrale Zollabwicklung hin-
sichtlich der Aufteilung der nationalen Erhe-
bungskosten, die bei der Bereitstellung der tra-
ditionellen Eigenmittel für den Haushalt der
Europäischen Union einbehalten werden (Ta-
gesordnungspunkt 25)
Uwe Feiler (CDU/CSU): Heute beraten wir über den
Gesetzentwurf zur Umsetzung eines völkerrechtlichen
Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten der Europäi-
schen Union, der zu einer Anpassung der Gesetzeslage
an einige der Bestimmungen des neuen Unionszollkodex
führen wird. Durch das Gesetz werden die Voraussetzun-
gen im innerstaatlichen Zustimmungsverfahren nach Ar-
tikel 59 Absatz 2 Satz 1 GG für die Ratifikation des
Übereinkommens geschaffen.
Der Zollunion, eine der ersten Errungenschaften der
EU, kommt im Zeitalter der Globalisierung eine wich-
tige Rolle zu. Sie schützt den Binnenmarkt der EU mit
seinem freien Warenverkehr und kontrolliert dabei die
Ein- und Ausfuhr von Waren an den Außengrenzen der
EU. Unabhängig davon, wo in der EU die Waren verzollt
werden, gelten dank der Zollunion dieselben Regeln. Die
Zollbeamten in den 28 Mitgliedstaaten arbeiten in Hä-
fen, an Flughäfen und Grenzübergängen. Durch ihre Ar-
beit werden die Verbraucher geschützt, der unlautere
Wettbewerb vermieden und ein Teil der EU-Einnahmen
gesichert. 2012 machten die Zölle als Einnahmequelle
mit einer Summe von 16,3 Milliarden Euro beinahe
13 Prozent des EU-Haushalts aus. Die Zollbehörden der
EU wickeln fast 16 Prozent der weltweiten Importe ab –
das sind über 2 Milliarden Tonnen Waren pro Jahr. Dazu
bearbeiten sie über 260 Millionen Zollanmeldungen im
Jahr.
Mit der EU-Verordnung Nr. 952/2013 vom 9. Oktober
2013 wird endlich auch die Möglichkeit einer zentralen
Zollabwicklung geschaffen. Damit können zugelassene
Wirtschaftsbeteiligte ihre Waren elektronisch anmelden
und Zölle am Ort ihrer Niederlassung entrichten, unab-
hängig von dem Mitgliedstaat, in dem die Waren vom
Zollgebiet der EU ausgeführt, in das Gebiet eingeführt
oder in dem sie verbraucht werden. Die Änderung ist zu
begrüßen, da sie die Arbeit der Unternehmen vereinfacht
und zu einem Bürokratieabbau beiträgt. Ziel der zentra-
len Zollabwicklung ist es, Buchführung, Logistik und
Vertrieb zu zentralisieren und zu integrieren, damit die
Wirtschaft Verwaltungs- und Transaktionskosten spart.
Wir wollen das Zollverfahren modernisieren, den Han-
del vereinfachen und die Unternehmen entlasten, ohne
auf die Sicherheit der Außengrenzen zu verzichten.
Die neuen Regelungen führen jedoch auf der anderen
Seite dazu, dass nicht nur ein Mitgliedstaat, sondern
zwei an der Zollabwicklung beteiligt sind. Folglich ent-
stehen in beiden Ländern Verwaltungskosten, die mit der
Zollabwicklung verbunden sind.
Die Zölle werden von den Mitgliedstaaten als Ein-
fuhrabgaben erhoben, die sie der Europäischen Union
als deren Eigenmittel bereitzustellen haben. Für den Ver-
waltungsaufwand erhalten die Mitgliedstaaten eine soge-
nannte Erhebungskostenpauschale. Bis zum sogenann-
ten Eigenmittelbeschluss aus dem Jahr 2000 durften die
Mitgliedstaaten 10 Prozent der von ihnen bereitzustel-
lenden Zölle behalten. Nunmehr sind es 25 Prozent. Im
letzten Jahr nahm Deutschland rund 4,2 Milliarden Euro
an Zöllen ein. So durfte Deutschland von den im Jahr
2013 eingenommenen 4,2 Milliarden Euro gut 1 Mil-
liarde Euro behalten.
Die Erhebungskostenpauschale wird bisher vom je-
weiligen Mitgliedstaat einbehalten, in dem die Abgaben
entrichtet werden. Nach dem Übereinkommen darf die
Pauschale geteilt werden. 50 Prozent der Erhebungskos-
tenpauschale werden vom Mitgliedstaat einbehalten, in
dem die Ware zum zollrechtlich freien Verkehr angemel-
det wurde, die andere Hälfte bleibt in dem Staat, in den
die Ware tatsächlich eingeführt wurde. Dadurch werden
die in beiden Mitgliedstaaten entstandenen Verwaltungs-
kosten angemessen gedeckt.
Darüber hinaus enthält das Übereinkommen Regelun-
gen über den Anwendungsbereich, die Ermittlung und
Weiterverteilung der Erhebungskosten, die Streitbeile-
gung bei Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der
Auslegung oder des Funktionierens des Übereinkom-
mens sowie Durchführungs- und Schlussbestimmungen.
Durch den neuen Unionszollkodex wird der Zollbe-
reich für die Wirtschaftsbeteiligten vereinfacht und wirt-
schaftsfreundlicher gestaltet. Der Warenfluss soll durch
die Zollabwicklung so wenig wie möglich beeinträchtigt
werden. Auch der Zoll gehört mit seiner Anpassung an
die Bedürfnisse der Unternehmen und die globalen Ent-
wicklungen durch die Implementierung der modernen
Möglichkeiten zu einer wirtschafts- und serviceorientier-
ten Verwaltung. Die Folgen der Vorschriftenänderung
für die Mitgliedstaaten werden unter anderem in dem
vorliegenden Abkommen behandelt und müssen ins
deutsche Recht umgesetzt werden.
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Der heute eingebrachte
Gesetzentwurf mit dem sperrigen Titel „Entwurf eines
Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 10. März 2009
zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014 7055
(A) (C)
(D)(B)
über die zentrale Zollabwicklung hinsichtlich der Auftei-
lung der nationalen Erhebungskosten, die bei der Bereit-
stellung der traditionellen Eigenmittel für den Haushalt
der Europäischen Union einbehalten werden“ ist sehr
technischer Natur. Er regelt die gerechte Verteilung des
Verwaltungsaufwandes bei der Erhebung von Zöllen
zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Der Gesetzentwurf
setzt mit dem Unionszollkodex eine entsprechende EU-
Verordnung aus dem Jahr 2013 um. Verordnungen sind
Rechtsakte der Europäischen Union, die wir als Gesetz-
geber eins zu eins in deutsches Recht übernehmen müs-
sen.
Der vorliegende Gesetzentwurf schließt eine Rege-
lungslücke. Hintergrund ist die Zollerhebungspraxis in
der EU. Die Mitgliedstaaten erheben Zölle als Einfuhr-
abgaben, die sie an die Europäische Union abführen
müssen. Für ihren Verwaltungsaufwand erhalten die
Mitgliedstaaten eine Pauschale – Erhebungskostenpau-
schale – in Höhe von derzeit 25 Prozent, die sie von den
abzuführenden Zöllen einbehalten dürfen.
Durch den sogenannten Unionszollkodex wird das In-
strument der zentralen Zollabwicklung in allen EU-Län-
dern eingeführt. Danach können Waren in einem Mit-
gliedstaat zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet,
aber in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich einge-
führt werden.
Einfuhrstaat und Anmeldestaat fallen in der Praxis
mitunter auseinander. Dadurch sind also nicht nur ein,
sondern zwei Staaten beteiligt. Wenn nun zwei Staaten
an einem Einfuhrvorgang beteiligt sind, entsteht auch in
beiden Staaten ein Verwaltungsaufwand. Bislang wurde
die Erhebungskostenpauschale aber von dem Mitglied-
staat einbehalten, in dem die Abgaben entrichtet werden.
Mit der zukünftig zentralen Zollabwicklung wird auch
der Verwaltungsaufwand des anderen Staates berück-
sichtigt.
Die Mitgliedstaaten haben beschlossen, mithilfe eines
multinationalen Übereinkommens zwischen allen EU-
Mitgliedstaaten ein geeignetes Instrument für die Rege-
lung der Aufteilung der Erhebungskostenpauschale zu
schaffen. Ziel ist es, die Pauschale zwischen den tatsäch-
lich an der Einfuhr beteiligten Mitgliedstaaten gleichmäßig
aufzuteilen. In dem Übereinkommen haben sich die Mit-
gliedstaaten auf eine Aufteilung im Verhältnis 50 zu 50 ge-
einigt. Diese Regelung ist für mich plausibel und ange-
messen.
Zusätzlich enthält der Gesetzentwurf weitere Rege-
lungen des multinationalen Übereinkommens, die es
umzusetzen gilt, so zum Beispiel verfahrenstechnische
Fragen zur Ermittlung und Weiterverteilung der Erhe-
bungskosten oder der Streitbeilegung bei Meinungsver-
schiedenheiten: Ist bei einem Streit zwischen zwei Mit-
gliedstaaten nach drei Monaten noch keine Einigung
erzielt worden, wird ein Vermittler eingeschaltet.
Ich begrüße es, dass die Bundesregierung mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf die Umsetzung in Deutsch-
land auf den Weg gebracht hat, und gehe von einem zü-
gigen parlamentarischen Verfahren aus.
Richard Pitterle (DIE LINKE): Der vorliegende
Entwurf trägt den sehr umständlichen Namen „Gesetz zu
dem Übereinkommen vom 10. März 2009 zwischen den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die zen-
trale Zollabwicklung hinsichtlich der Aufteilung der na-
tionalen Erhebungskosten, die bei der Bereitstellung der
traditionellen Eigenmittel für den Haushalt der Europäi-
schen Union einbehalten werden“. Kurioserweise ist der
Titel damit fast so lang, wie der Inhalt des Gesetzes. Es
handelt sich hierbei nämlich nur um zwei kleine Artikel,
mit denen dem zugrunde liegenden Übereinkommen zu-
gestimmt wird.
Kommen wir daher also zum Inhalt des Übereinkom-
mens. Die von den Mitgliedstaaten erhobenen Zölle der
EU werden dieser nach Einzug zur Verfügung gestellt.
Die Mitgliedstaaten können für den angefallenen Ver-
waltungsaufwand von den an die EU abzuführenden Be-
trägen eine Erhebungskostenpauschale in Höhe von der-
zeit 25 Prozent einbehalten. Durch die Einführung der
zentralen Zollabwicklung in der EU können die erforder-
lichen Zollanmeldungen für Waren, die in einen Mit-
gliedstaat eingeführt werden, auch in einem anderen
Mitgliedstaat abgegeben werden. Da somit in diesen bei-
den Staaten jeweils Verwaltungsaufwand entsteht, die
Erhebungskosten für den Verwaltungsaufwand jedoch
nur von dem Staat einbehalten werden, in dem die An-
meldung stattfindet und die Abgaben auch entrichtet
werden, soll mit dem Übereinkommen ein Ausgleich ge-
schaffen werden. Dieser sieht vor, dass die einbehaltene
Erhebungskostenpauschale hälftig an den Staat weiterge-
leitet wird, in dessen Gebiet die Waren gestellt werden.
Damit wäre so weit auch schon alles gesagt. Auf den
ersten Blick erscheint das dem Entwurf zugrunde liegende
Übereinkommen zur Aufteilung der Erhebungskosten
konsequent und in Anbetracht des wohl tatsächlich an-
fallenden Aufwandes in verschiedenen Staaten auch
sachlich gerechtfertigt. Weshalb sollte nur der Staat von
der Erhebungskostenpauschale profitieren, in dem die
Waren angemeldet werden, obwohl in dem Staat, in den
sie eingeführt werden, ebenfalls Verwaltungsaufwand
entsteht?
Nun gilt es natürlich, in den kommenden Ausschuss-
beratungen noch einmal ins Detail zu gehen, zum Bei-
spiel hinsichtlich der hälftigen Teilung oder des genauen
Prozedere der Weiterverteilung. Ob hier weiterer Dis-
kussionsbedarf besteht, weil sich in dem Übereinkom-
men und somit hinter den zwei einsamen Artikeln des
Gesetzentwurfs vielleicht doch noch das ein oder andere
Problem versteckt, wird sich dann zeigen.
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bei dem
vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich um Formali-
täten zur Aufteilung der Zollerhebungskostenpauschale.
Sind zwei EU-Mitgliedstaaten an der Zollerhebung einer
Einfuhr von Waren in die EU beteiligt und haben beide
aus diesem Grund Erhebungskosten, so wird auch bei-
den Staaten ein Anteil von 50 Prozent an der Erhebungs-
pauschale gewährt. Die Aufteilungsregelung ist daher
zur Vorbeugung von Konflikten zwischen den Mitglied-
staaten grundsätzlich als sinnvoll anzusehen.
7056 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 73. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 4. Dezember 2014
(A) (C)
(B)
Diesem Gesetzentwurf wollen wir als Grüne nicht
entgegenstehen. Die einzige Frage, die wir in diesem Zu-
sammenhang aufwerfen, ist, warum dieser Gesetzent-
wurf gesondert und nicht im Rahmen des Zollkodexge-
setzes eingebracht und diskutiert worden ist.
(D)
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
73. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 4 Forschungs- und Innovationspolitik
TOP 5 Aufnahme von Flüchtlingen
TOP 9 Ausbau der Kindertagesbetreuung
TOP 32 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 33, ZP 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 4 Aktuelle Stunde zu den Klimaschutzzielen 2020
TOP 7 Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf
TOP 8, ZP 5 Altersgerechte Übergänge in die Rente
TOP 15 Anpassung der Abgabenordnung an EU-Zollkodex
TOP 10 Energieeffizienz
TOP 11 Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
TOP 12 Geschäftsordnung: Ausschussöffentlichkeit
TOP 13 Rechtsstellung asylsuchender Ausländer
TOP 14 Nukleare Abrüstung
TOP 17 Doha-Änderung des Protokolls von Kyoto
TOP 16 Diskriminierungsschutz chronisch Erkrankter
TOP 19 Bundeswehreinsatz Operation Active Endeavour (OAE)
TOP 18 Leistungsschutzrecht für Presseverleger
TOP 20 Änderung der Abgabenordnung (Selbstanzeige)
TOP 21 Rehabilitierung Opfer politischer Verfolgung in der DDR
TOP 22 EU-Übereinkommen zum Schutz von Kindern
TOP 23 Verknüpfung von Handelsregistern in der EU
TOP 24 Nationale Nachhaltigkeitsstrategie
TOP 25 Aufteilung der nationalen Zollerhebungskosten
Anlagen