Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29397
(A) )
)(B)
Anlagen
müssen dann die optimistischen Annahmen durch realis-
tische Angaben ersetzt werden. Dies wird dann lediglich
als Korrekturentscheidung deklariert, was wiederum zu
Zapf, Uta SPD 18.04.2013
(C
(D
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärungen nach § 31 GO
zu den namentlichen Abstimmungen über die
Einholung eines zustimmenden Beschlusses des
Deutschen Bundestages nach § 4 Absatz 1 Num-
mer 1 und 2 des ESM-Finanzierungsgesetzes,
nach § 3 Absatz 1 des Stabilisierungsmechanis-
musgesetzes im Rahmen der Haftungsanpas-
sungen nach Artikel 8 Absatz 2 des EFSF-Rah-
menvertrages sowie nach § 3 Absatz 1 i. V. m.
Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisierungsmecha-
nismusgesetzes (Tagesordnungspunkt 4 b)
Veronika Bellmann (CDU/CSU): Dem vorliegen-
den Antrag des Bundesfinanzministeriums in der Druck-
sache 17/13060 kann ich nicht zustimmen. Ich werde
mich der Stimme enthalten.
Die gesamte Rettungsschirmpolitik halte ich nach wie
vor für den falschen Weg – inklusive der Handlungsli-
nien der EZB –, die zwar noch nicht zur Inflation geführt
hat, aber doch zu einer Entwertung von Werten über
Niedrigstzinsen. Die Rettungspolitik ist aber bereits so
weit fortgeschritten und durch einzelne Gegenstimmen
nicht mehr aufzuhalten, dass berechtigte Kritiken im
Einzelfall nur noch korrektiv wirken können. Dass hier-
bei insbesondere die Kanzlerin das Möglichste tut, er-
kenne ich voll an. Darin will ich sie und die gesamte
Bundesregierung gerne unterstützen, da es gilt, die Op-
position mit ihrem Vorhaben einer Haftungs- und Trans-
ferunion im Euro-Raum durch Euro-Bonds, Schuldentil-
gungsfonds und Ähnliches zu verhindern. Allerdings
fordere ich bei allen verfassungsrechtlichen, wirtschaft-
lichen und politischen Bewertungen mehr Realismus
ein. Das erspart ständiges Nachbessern.
Verlängerung der Laufzeiten der EFSF-Darlehen an
Irland und Portugal durch den Bundestag:
Die Laufzeit stellt einen der wesentlichen Bestand-
teile einer Darlehensvereinbarung dar. Die beantragte
Verlängerung um immerhin sieben Jahre führt dazu, dass
ausstehende Summen deutlich länger garantiert werden
müssen als ursprünglich vorgesehen. Wegen später ein-
setzender Rückflüsse aus den Schuldnerländern müssen
temporär höhere Anleihevolumina gegeben werden. Da-
rüber hinaus steigt im Hinblick auf die EFSF unter ande-
rem das Risiko der Erreichung der Höchstgrenzwerte des
genehmigten Programmbeitrages.
Mittlerweile kann man den Eindruck gewinnen, dass
bei Erstbeschluss zu den Rettungsbeihilfen diese
Höchstgrenzwerte und die Schuldentragfähigkeit der
einzelnen Programmländer durch die Troika aus „opti-
schen Gründen“ bewusst zu niedrig bzw. zu optimistisch
angesetzt werden, um damit die Zustimmung der Parla-
mente leichter zu erreichen. Nach einer gewissen Zeit
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 18.04.2013
Beck (Reutlingen),
Ernst-Reinhard
CDU/CSU 18.04.2013
Bleser, Peter CDU/CSU 18.04.2013
Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 18.04.2013
Brand, Michael CDU/CSU 18.04.2013
Dittrich, Heidrun DIE LINKE 18.04.2013
Gabriel, Sigmar SPD 18.04.2013
Glos, Michael CDU/CSU 18.04.2013
Grindel, Reinhard CDU/CSU 18.04.2013
Hagedorn, Bettina SPD 18.04.2013
Hiller-Ohm, Gabriele SPD 18.04.2013
Keul, Katja BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.04.2013
Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.04.2013
Dr. Lindner, Tobias BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.04.2013
von der Marwitz, Hans-
Georg
CDU/CSU 18.04.2013
Menzner, Dorothée DIE LINKE 18.04.2013
Möller, Kornelia DIE LINKE 18.04.2013
Dr. Schick, Gerhard BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.04.2013
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 18.04.2013
Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.04.2013
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 18.04.2013
Walter-Rosenheimer,
Beate
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
18.04.2013
29398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
)(B)
(C
(D
weniger Diskussionen in den Parlamenten führt, als
wenn nach weiteren Hilfsprogrammen für die jeweiligen
Länder gerufen würde. Das bestätigt der Vorsitzende der
Unionsfraktion in seinem Bericht an die Fraktion vom
16. April 2013 in seiner Begründung zur Laufzeitverlän-
gerung für Irland und Portugal: „Damit verbessern sich
die Perspektiven, keine weiteren Hilfsprogramme für
diese beiden Länder auflegen zu müssen.“
Wenn auch noch kein Irland oder Portugal II dahinter-
steckt, so bedeutet die Laufzeitverlängerung aber den-
noch einen geldwerten Vorteil für die Programmländer
und einen geldwerten Nachteil für die Garantiegeber,
was einer schleichenden Ausweitung der jeweiligen Pro-
gramme bzw. Belastungen gleichkommt.
Die vorgelegten Fakten, warum eine Verlängerung
der Laufzeiten nötig ist, sind nicht erst seit der „Zypern-
Krise“ bekannt. Bezüglich der Notwendigkeit auf die
„erhöhten Marktunsicherheiten im Umfeld des Pro-
gramms mit Zypern“ zu verweisen, ist meines Erachtens
nicht zutreffend.
Aus Sicht der beiden Programmländer sind die An-
träge auf Laufzeitverlängerung durchaus verständlich,
da sie Spielräume zu deutlich günstigeren Konditionen
eröffnen, als sie sie durch die, wenn auch immer gerin-
ger werdenden Risikoaufschläge bei freier Kapitalmarkt-
finanzierung hätten. Eine Gewährung von Laufzeitver-
längerung begünstigt die weitere Refinanzierung über
den Markt, weil der jährliche Refinanzierungsbedarf
deutlich gesenkt würde und Rückzahlungsspitzen besser
aufgefangen werden können.
Gemäß StabMechG Haftungsanpassung für die Repu-
blik Zypern nach EFSF-Rahmenvertrag:
Im Zuge des Antrags der Republik Zypern auf Haf-
tungsanpassung bei Übernahme von Gewährleistungen
der EFSF fällt auf, dass dafür die rechtliche Grundlage
fehlt. Zypern soll eine Stabilitätshilfe in Form einer Fi-
nanzhilfefazilität des ESM nach ESM-Vertrag gewährt
werden. Warum die Haftungsanpassungen aber nach
EFSF-Rahmenvertrag erfolgen sollen, nach dem ein
EFSF-Mitgliedsstaat einen Antrag stellen kann, wenn er
in ernste finanzielle Schwierigkeiten gerät, und nicht
nach § 25 Abs. 2 des ESM-Vertrages, nach dem das Ka-
pital der Ausfallstaaten durch die Geberländer übernom-
men werden muss, erschließt sich mir nicht. Dieses
„Stepping-out“ erhöht den deutschen Gewährleistungs-
schlüssel von 29,07 auf 29,13 Prozent, was in etwa 38
Millionen Euro entspricht.
Die Währungsunion muss ein sehr fragiles Gebilde
sein, wenn schon ein Land mit einem Anteil von 0,2 Pro-
zent am gesamten volkswirtschaftlichen Einkommen in
der Euro-Zone für systemrelevant gehalten wird. Nach
den ESM-Vertragsregeln darf ein Land nur unter der Be-
dingung unterstützt werden, dass dies „zur Wahrung der
Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes insgesamt
und seiner Mitgliedstaaten unabdingbar ist“. Es reicht
also nicht, wenn einem Land die Zahlungsunfähigkeit
droht. Bei der vorliegenden, nicht durch konkrete Zah-
len, sondern nur durch psychologische Argumente be-
legten Argumentation verliert diese Systemrelevanz-
klausel im ESM-Vertrag jeden Sinn – weil dann die
Zahlungsunfähigkeit eines Landes immer und überall ei-
nen Beistand rechtfertigt.
Die Schuldentragfähigkeitsanalyse der Troika halte
ich für zu optimistisch. Wenn bei Irland und Portugal
schon nach reichlich einem Jahr in Form von Laufzeit-
verlängerung nachgebessert werden muss, obwohl dort
„nur“ korrektive Strukturreformen und Haushaltkonsoli-
dierung vorgenommen werden mussten, wie soll das
dann für ein Land aussehen, dessen gesamtes Geschäfts-
modell infrage gestellt wird? Ein ganzes Land vom Kopf
auf die Füße zu stellen, und sei es noch so klein, wird
nicht ohne soziale Unruhen und weitere unerträgliche
Schmähungen gegenüber den Gebern wie der EU und
Deutschland abgehen – abgesehen davon, dass die zy-
prischen Vorschläge zur Einnahmeverbesserung wie bei-
spielsweise das Angebot der Staatsbürgerschaft gegen
Geld mehr als nur abenteuerlich sind.
Ich begrüße die Ehrlichkeit, dass jetzt erstmals von
insolventen Staaten gesprochen wird. Ebenso begrüße
ich die Beteiligung der Gläubiger, der Eigentümer und
Anleger der Banken, sowie den geforderten eigenen Sa-
nierungsbeitrag des Landes. Das bestärkt die europäi-
schen Werte von Eigenverantwortung, Haftung und
Rechtssicherheit. Da die Perspektiven, dass sich neue
Wachstums- und Arbeitsmöglichkeiten in Bereichen der
Erdgasförderung, der öffentlichen Daseinsvorsorge und
des Tourismus allenfalls mittel- und langfristig eröffnen,
sich die Schulden aber schon kurzfristig drastisch erhö-
hen, scheint mir weder die Programmhöhe noch die
Schuldentragfähigkeitsanalyse realistisch zu sein. Ver-
mutlich werden wir deshalb alsbald über Programmauf-
stockung oder andere Varianten wie Laufzeitverlänge-
rung und dergleichen erneut debattieren.
Dass Zypern nun gerettet ist, halte ich deshalb für
eine zu forsche Aussage. Zu den 90 Prozent Schulden
des Bruttoinlandsproduktes kommen noch 10 Milliarden
Euro – und sicher bald noch mehr – hinzu. Die Staats-
schulden werden damit 100 Prozent des BIP erreichen
und den Rahmen des Erträglichen für alle Beteiligten
sprengen. Dass ein Land seine Schulden zurückzahlen
kann, ist aber die Voraussetzung für Hilfen bzw. die Ge-
währung von Krediten.
So heißt es dann auch in der ökonomischen Länder-
analyse des Referates für EU-Grundsatzangelegenheiten
des Deutschen Bundestages sehr treffend: „Als Fazit
kann festgehalten werden, dass die zyprische Staatsver-
schuldung bei Gewährung der vorgeschlagenen Finanz-
hilfefazilität in Höhe von 10 Milliarden Euro eine He-
rausforderung darstellt, dass sie aber tragfähig bleiben
kann, sofern das makroökonomische Anpassungspro-
gramm konsequent umgesetzt wird. Solche Tragfähig-
keitsanalysen beruhen jedoch notwendigerweise auf Pro-
gnosen.“
Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich stimme
heute gegen die vier Anträge des Bundesfinanzministers
Wolfgang Schäuble. Denn die sogenannten Finanzhilfen
helfen nicht der Bevölkerung in den betroffenen Staaten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29399
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)(B)
(C
(D
Sie nutzen lediglich den Banken und Konzernen und
sind mit einem massiven Sozialkahlschlag verbunden.
Der geplante Raub an den Sparguthaben der Zyprio-
ten führte zu Massenprotesten vor dem Parlament. Die
Demonstranten skandierten am Tag der Abstimmung
über die Annahme der Kreditbedingungen: „Ob Grie-
chenland, ob Zypern oder Türkei – der Feind sitzt in den
Banken und in den Ministerien.“
Der massive Widerstand hat zu einem Teilsieg für die
Arbeitnehmer geführt: Sparguthaben unter 100 000 Euro
blieben verschont. Doch die Bedingungen für die Kredit-
vergabe treffen nach wie vor die kleinen Leute. Wie be-
reits in Griechenland, Irland, Portugal oder Spanien sol-
len in Zypern sozialstaatliche Errungenschaften
abgeschafft, der öffentliche Dienst zusammengespart,
Löhne und Renten drastisch gekürzt und öffentliches Ei-
gentum und Infrastruktur privatisiert werden.
Angeblich ist Zypern eine Geldwaschanlage für russi-
sche Oligarchen. Doch warum sollen dann einfache Zy-
prioten bluten? Tatsächlich haben europäische Konzerne
und Spekulanten jahrelang von den hohen Zinsen und
niedrigen Steuern in Zypern profitiert. Doch sie kommen
ungeschoren davon. Auch haben zypriotische Unterneh-
mer, Regierungsmitglieder und internationale Finanz-
haie im Vorfeld der Schließung der zweitgrößten zyprio-
tischen Bank insgesamt mindestens 4,5 Milliarden Euro
ins Ausland gebracht. Der Verhandlungspartner der Bun-
desregierung, der konservative zypriotische Präsident
Anastasiades, und mehrere Regierungsmitglieder sind in
diesen Skandal verwickelt. Die Profiteure des bisherigen
Steuerdumpings kommen davon. Die EU deckt diese
kriminelle Kapitalflucht, die das Land weiter ausbluten
lässt.
Ich kritisiere zudem, dass die Bundesregierung die
Kredite missbraucht, um Zypern unter Druck zu setzen
und in das NATO-Programm „Partnership for Peace“ zu
nötigen. Das Ziel der EU ist es, Zyperns Eintritt in die
NATO zu erreichen – gegen den Willen der Mehrheit der
zypriotischen Bevölkerung.
Auch gegenüber Portugal und Irland wird die Verlän-
gerung bestehender Kreditlinien nur unter der Bedin-
gung bewilligt, dass die Regierungen dort am Sozial-
kahlschlag festhalten. Doch in Portugal hat unter dem
Druck der Gewerkschaften das Verfassungsgericht Teile
des Sparpakets als verfassungswidrig abgelehnt. Dies
betrifft Kürzungen bei Arbeitslosen, Rentnern und im
öffentlichen Dienst. Doch die deutsche Bundesregierung
und Finanzminister Schäuble interessiert das nicht,
ebenso wenig wie die Troika aus EU, IWF und EZB.
Meine Solidarität gilt der Bevölkerung in Zypern, in
Irland und in Portugal, die sich gegen das von der Troika
geforderte Verarmungsprogramm wehrt. Deshalb habe
ich heute gegen die Anträge der Bundesregierung ge-
stimmt.
Marco Bülow (SPD): Der Bundestag berät am Don-
nerstag, 18. April 2013, über den Antrag der Bundesre-
gierung auf Finanzhilfe für Zypern. Namentlich abge-
stimmt wird über die Finanzhilfe aus dem Europäischen
Stabilitätsmechanismus – ESM – von bis zu neun Mil-
liarden Euro, über eine entsprechende Vereinbarung
nach dem ESM-Vertrag dazu sowie jeweils über die Ver-
längerung der maximalen durchschnittlichen Laufzeit
der Darlehen der Europäischen Finanzstabilisierungsfa-
zilität – EFSF –, des vorläufigen Euro-Rettungsschirms,
für Irland und für Portugal.
Es ist gut, dass die SPD sich dafür eingesetzt hat, das
Rettungspaket für Zypern an verschiedenen Stellen zu
verbessern. Zum Beispiel, dass auf Bankguthaben von
mehr als 100 000 Euro eine Zwangsabgabe von ungefähr
30 Prozent erhoben wird und dass zugleich Spargutha-
ben unter 100 000 Euro verschont bleiben. Damit wird
hoffentlich gewährleistet, dass sich in Zypern auch die
Wohlhabenden an dem Rettungspaket beteiligen.
Ich sehe allerdings verschiedene Punkte sehr kritisch,
die ich nachfolgend stichpunktartig auflisten möchte:
Wir betreiben mit diesem Rettungspaket eine ver-
hängnisvolle neoliberale Politik. Diese Politikrichtung
widerspricht diametral der SPD-Politik – auch im be-
schlossenen SPD-Wahlprogramm. Diese Richtung in der
Politik sorgt dafür, dass die Ärmeren in Zypern überpro-
portional zur Kasse gebeten werden. Das ist sozial unge-
recht.
Dieses Paket wirkt wie eine reine Wachstumsbremse.
In Zypern sind deshalb eine stark schrumpfende Wirt-
schaft und steigende Arbeitslosigkeit zu erwarten. Wir
brauchen zukünftig ein europäisches Investitionspro-
gramm, das die Rezession im Euro-Raum überwindet
und die jeweiligen Wirtschaften wieder ankurbeln kann.
Die Konsolidierungsmaßnahmen von rund 4,5 Prozent
des BIP in zwei Jahren sind ein immenser Brocken für
die zyprische Wirtschaft, der kaum zu stemmen ist. Zum
Vergleich: Würden diese 4,5 Prozent in Deutschland ge-
spart werden müssen, wären das 112 Milliarden Euro!
Zypern akzeptiert keine Finanztransaktionsteuer. In
den Verhandlungen mit Zypern wäre das aber eine wich-
tige Gegenleistung gewesen. Insgesamt müssen wir auf
der europäischen Ebene die Finanzspekulationen ein-
dämmen – das geht nur mit einer europaweiten Finanz-
transaktionsteuer.
Für mich stellt sich die Frage, ob es bei dem Ret-
tungspaket bleibt oder ob nicht noch ein weiteres Paket
kommen wird, das den deutschen Steuerzahler erneut
Geld kosten wird. Bei Gesprächen der SPD mit dem Fi-
nanzministerium, bei der Zentralbank und mit dem Fi-
nanzausschuss des zyprischen Parlaments konnte man
den Eindruck gewinnen, dass die nun vereinbarten Milli-
ardenbeträge nach Überzeugung der zyprischen Ge-
sprächspartner wohl nicht die letzten Finanzhilfen an
Zypern bleiben werden.
Trotz der Diskussionen bleiben zahlreiche Steuerre-
gelungen, die Zypern für Steuertricks interessant mach-
ten, offenbar in Kraft. Das halte ich für problematisch.
Wir brauchen eine tatsächliche Bekämpfung der Ur-
sachen. Unter anderem kein Lohndumping mehr und
auch die Einführung von Reichensteuern.
Ich werde deshalb das Rettungspaket ablehnen.
29400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
)(B)
(C
(D
Alexander Funk (CDU/CSU): Aus guten ökonomi-
schen und rechtlichen Gründen lehne ich seit Mai 2010
die Maßnahmen zur Bewältigung der Euro-Schulden-
krise und die Übernahme von Haftungsrisiken für insol-
vente Staaten der Euro-Zone ab. Einmal mehr bestätigen
sich insbesondere in der Causa Zypern meine Bedenken
und Bewertungen. Beide Maßnahmen lehne ich daher ab
und warne vor einer weiteren Fortsetzung des einge-
schlagenen Weges.
Mit dem Europäischen Umschuldungsmechanismus
– EUM – habe ich indes eine Alternative aufgezeigt, die
sowohl den Bestand der Währungsunion, die Einhaltung
europäischer Verträge als auch eine zielführende Mittel-
verwendung aus Hilfsmechanismen ermöglichen würde.
Mit der Übernahme von Garantieleistungen für den
insolventen Staat Zypern und der Verlängerung von Ga-
rantieleistungen für Irland und Portugal setzt die Bun-
desregierung ihren bisher eingeschlagenen Weg fort:
Bürgschaften ersetzen die Kreditfinanzierung am Markt,
andere Mitglieder der Euro-Zone garantieren für exorbi-
tante Staatsschulden de facto zahlungsunfähiger Staaten,
und die Berufung auf die strikte Konditionalität bei der
Übernahme von Milliardenrisiken erweist sich einmal
mehr als nicht einhaltbar bzw. durchsetzbar in den kon-
kreten Verhandlungen.
Wenn der Zweck des ESM laut Vertrag darin besteht,
Finanzmittel zu mobilisieren, sofern dies für die Wah-
rung der Finanzstabilität der Euro-Zone insgesamt un-
abdingbar ist, so muss hier nach meiner Bewertung von
einer nicht zweckgemäßen Mittelverwendung ausgegan-
gen werden: Sowohl hinsichtlich der realen BIP-Größe
im Vergleich zur Euro-Zone als auch hinsichtlich der po-
tenziellen Auswirkungen eines zypriotischen Default mit
entsprechenden Abschreibungen kann keine Rede von
einer Gesamtgefährdung der Euro-Zonen-Finanzstabili-
tät sein.
Ebenso kritisch sehe ich die der Entscheidung zu-
grunde liegende Bewertung der Schuldentragfähigkeit
Zyperns. Selbst bei den optimistischen Basisannahmen
zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in den nächsten
Jahren und bei passgenauer Umsetzung aller Programm-
vereinbarungen wird die Schuldenquote auch nach Ende
des Programms mit 126 Prozent des BIP keine Aussicht
auf einen Zugang zu den Kapitalmärkten bieten können.
Die detailliert seitens der Troika dokumentierten Risiken
werden nach meiner festen Überzeugung zu weiteren
Stützungsmaßnahmen bzw. Zahlungsausfällen führen.
Inwiefern die Mischung aus rezessiv wirkenden In-
strumenten bei gleichzeitig fortgesetztem Schulden-
dienst sich realwirtschaftlich auswirkt, lässt sich gut an
den Programmländern Portugal und Irland absehen: In-
sofern belegt die Laufzeitverlängerung der Kreditlinie
für beide Länder die Hinfälligkeit von Zusagen und Be-
dingungen, die als notwendig und unerlässlich zum Zeit-
punkt der Beschlussfassung zugrunde gelegt worden
sind.
Die daraus entstehende deutlich längere Garantie der
Summen ebenso wie das Risiko, die Höchstwertgrenze
des Programmbeitrags zu erreichen, lehne ich dement-
sprechend ab. Ungeachtet dessen stelle ich klar, dass
sich meine Entscheidung nicht gegen die Bemühungen
der Programmländer und ihrer Bürgerinnen und Bürger
richtet.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich auch die Bemü-
hungen der Bundesregierung bei den Verhandlungen auf
eine größtmögliche Beteiligung des Privatsektors bei
gleichzeitiger Wahrung der Einlagensicherung für Nor-
malsparer hinzuwirken.
Ich stelle dennoch fest: Europa und seine Einigung
werden auf der Basis des eingeschlagenen Weges nicht
gefördert. Die Trennung in Bürgen und Gläubiger ge-
fährdet die Weiterentwicklung eines starken, solidari-
schen und auf Eigenverantwortung basierenden Europas,
wie es von seinen Gründungsvätern zu Recht ersonnen
worden ist.
Dr. Peter Gauweiler (CDU/CSU): Ich lehne den An-
trag auf Stabilitätshilfen aus dem ESM für die Republik
Zypern ab, da die innerstaatliche Umsetzung des ESM-
Vertrags nach wie vor auf erhebliche verfassungsrechtli-
che Bedenken stößt. Insbesondere sind für die Zahlungs-
verpflichtungen Deutschlands an den ESM in dreistelli-
ger Milliardenhöhe bis heute keinerlei Rückstellungen
gebildet. Diese meine Einwände sind derzeit in der
Hauptsache Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bun-
desverfassungsgericht – Aktenzeichen 2 BVR1390/12.
Darüber hinaus ist die Art und Weise der Zypern-Ret-
tung mit den vom Bundestag beschlossenen Regelungen
des ESM-Gesetzes und des ESM-Finanzierungsgesetzes
nicht vereinbar.
In den dauernd wechselnden Spielzügen der Euro-
Rettung gibt es eine Konstante: die Selbsttäuschung. Da-
mit diese immer wieder gelingt, müssen die „Rettungs-
vokabeln“ immer öfter das Gegenteil von dem bezeich-
nen, was ihr Begriffssinn vorgibt. Dies betrifft bei der
Zypern-Rettung die sogenannten Ultima-Ratio-Klausel
im ESM-Vertrag und die in den ESM-Zustimmungsge-
setzen vorgeschriebene „doppelstufige“ Befassung des
Deutschen Bundestages, die verhindern sollte, dass der
Bundestag vor vollendete Tatsachen gestellt wird.
Zur „Ultima-Ratio-Klausel“: Die führenden EU-Ret-
tungspolitiker haben von Anfang an versichert, dass die
finanzielle Hilfe für insolvenzgefährdete Euro-Staaten
eine restriktiv zu handhabende Ausnahme bleiben
müsse. Das Bail-out-Verbot solle nicht abgeschafft wer-
den. Nur in extremen Notsituationen, in denen durch Fi-
nanzprobleme in einem Euro-Staat die Euro-Zone im
Ganzen in einen Strudel gezogen zu werden drohe, dürfe
das Bail-out-Verbot durchbrochen werden. „Ultima Ra-
tio“ war die Formel, die der Bundesfinanzminister im-
mer wieder beschworen hat. Und diese Formel ist in den
ESM-Vertrag geschrieben und von allen Euro-Staaten
ratifiziert worden. „Stabilitätshilfe“, so heißt es in
Art. 12 des ESM-Vertrages, dürfe nur geleistet werden,
wenn dies „zur Wahrung der Finanzstabilität“ des Euro-
Währungsgebiets insgesamt und seiner Mitgliedstaaten
unabdingbar“ ist. Mit dieser rechtlichen Einschränkung
soll sichergestellt werden, dass die Eigenverantwortlich-
keit der Staaten für ihre Haushalte grundsätzlich beste-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29401
(A) )
)(B)
(C
(D
hen bleibt und dass finanzielle Hilfe nur als „Ultima Ra-
tio“ geleistet wird – nämlich dann, wenn ohne diese
Hilfe die Krise des betreffenden Staates auf andere Staa-
ten übergreifen und schließlich die Finanzstabilität der
ganzen Euro-Zone erschüttern müsste. Das hat auch den
Europäischen Gerichtshof beeindruckt, der im soge-
nannten Pringle-UridA – EUGh, Urteil vom 27. Novem-
ber 2012 – Rs. C-370/12 – dieses Kriterium besonders
hervorgehoben hat.
Die Finanzhilfe muss zu dem genannten Zweck „un-
abdingbar“ sein. Sie soll also nur erlaubt sein, wenn es
als sicher oder zumindest als höchstwahrscheinlich er-
scheint, dass ohne sie – auch in der geplanten Höhe – die
Finanzstabilität des Euro-Währungsgebietes und der
Mitgliedstaaten nicht gewahrt werden kann.
Schon im Falle Griechenlands war die systemische
Relevanz des Problemstaates für die gesamte Euro-Zone
unglaubwürdig. Im Falle Zyperns aber ist es völlig evi-
dent, dass die Insolvenz dieses Staates das Euro-Wäh-
rungsgebiet im Ganzen nicht in ernsthafte Probleme
brächte.
Bei der Mitteilung von Kommission und EZB, auf die
der Bundestag jetzt seine Abstimmung stützt, handelt es
sich nur um ein politisches Statement, das mit gefühls-
starken Behauptungen und spekulativen Vermutungen
arbeitet, aber keine durch Fakten und Zahlen belegten
Beweise für die angeblich befürchteten Auswirkungen
einer Zahlungsunfähigkeit Zyperns enthält. Statt kon-
krete Zahlen zu nennen, ziehen sich Kommission und
EZB in ihrer Mitteilung auf psychologische Erwägungen
zurück. Selbst für das mit Zypern wirtschaftlich eng ver-
bundene Griechenland vermögen Kommission und EZB
letztlich nicht mehr zu sagen, als dass die griechischen
Banken „mit unmittelbaren Vertrauensverlusten kon-
frontiert“ wären. Und was die Finanzstabilität des Euro-
Währungsgebiets insgesamt angeht, kommen Kommis-
sion und EZB nicht über die These hinaus, von Zypern
könne eine „negative Signalwirkung“ ausgehen.
Wenn der Bundestag der Zypern-Rettung zustimmt,
dann stimmt er der These zu, dass schon eine „negative
Signalwirkung“ ausreicht, Rettungsmaßnahmen zu er-
zwingen. Dann wirft er die von ihm zum Schutz der
deutschen Steuerzahler geforderte und groß herausge-
stellte „Ultima-Ratio-Konzeption“ über Bord. So wird
bei jeder regional begrenzten Krise die Ultima Ratio be-
nutzt, um die nächsten Rettungsmilliarden auf den Weg
zu bringen.
Zur doppelstufigen Befassung des Deutschen Bun-
destages: Auch verfahrensrechtlich setzen sich die Zy-
pern-Retter über den ESM-Vertrag hinweg. Wie Profes-
sor Dietrich Murswiek, mein Prozessbevollmächtigter
im ESM-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht,
darauf hinweist, sieht der Vertrag ein mehrstufiges Ent-
scheidungsverfahren vor: Zuerst trifft der Gouverneurs-
rat – nach Feststellung einer Gefahr für die Finanzstabi-
lität des Euro-Währungsgebiets und auf der Basis einer
Schuldentragfähigkeitsanalyse – den Grundsatzbe-
schluss, dass dem betroffenen ESM-Mitglied Stabilitäts-
hilfe gewährt werden soll. Sodann werden die mit der Fi-
nanzhilfe verbundenen Auflagen – also insbesondere das
Reformprogramm, mit dem die Finanzkrise überwunden
werden soll – ausgehandelt und in einem Memorandum
of Understanding, MoU, formuliert – Art. 13 ESMV. Die-
ses bedarf wiederum der Zustimmung des Gouverneurs-
rats. Hinsichtlich der Zypern-Hilfe wurde hingegen das
MoU bereits ausgehandelt, bevor der Gouverneursrat
überhaupt beschlossen hat, Stabilitätshilfe zu gewähren.
Der Grundsatzbeschluss und der Beschluss über das
MoU sollen jetzt in einer einzigen Entscheidung getrof-
fen werden.
Wäre dem Bundestag korrekterweise zunächst die
Grundsatzfrage der Hilfegewährung zur Entscheidung
vorlegt worden und hätte der Bundestag dies abgelehnt,
dann hätten die Verhandlungen über das MoU gar nicht
beginnen können. Nun aber werden dem Bundestag Be-
schlussanträge über die Zustimmung zur Hilfe und zu
den im MoU festgelegten Bedingungen gleichzeitig zur
Entscheidung vorgelegt. Dadurch wird ein massiver Zu-
stimmungsdruck zulasten Deutschlands aufgebaut: Der
Bundestag soll die Hilfe – mangels systemischer Rele-
vanz Zyperns – nicht mehr ablehnen können, da die
Troika – ohne jedes parlamentarisches Mandat – in mo-
natelangen Verhandlungen sich mit Zypern bereits auf
die Bedingungen dieser Hilfe geeinigt hat.
Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP): Dem Antrag der
Bundesregierung für die Finanzhilfe für Zypern werde
ich mit erheblichen Bedenken zustimmen.
Meine Bedenken sind, dass Zypern in dem vorgege-
benen Zeitraum die Finanzhilfe nicht zurückzahlen
kann, da es zusätzlich auch einen russischen Kredit von
2,5 Milliarden Euro zurückzahlt. Daneben soll es auch
wirtschaftlichen Aufschwung ab 2015 geben.
Ich halte alle diese Vorstellungen für Wunschdenken.
Diese Bedenken meinerseits konnten in den Vorge-
sprächen und im Haushaltsausschuss nicht ausgeräumt
werden.
Meine Zustimmung ist eher ein Vertrauensvorschuss,
dass sich insgesamt die Situation für Zypern verbessern
wird.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich habe dem Antrag
des Bundesministeriums der Finanzen auf Zustimmung
des Bundestages zur Gewährung von Finanzhilfen für
Zypern nach langer und eingehender Abwägung der ein-
zelnen Aspekte des Hilfsprogrammes letztendlich unter
Hintanstellung noch bestehender Bedenken aus nach-
folgenden Erwägungen zugestimmt.
Erstens. Ich habe dem ersten Hilfspaket auf Ersuchen
Griechenlands vor ziemlich genau drei Jahren im Deut-
schen Bundestag ebenfalls meine Zustimmung erteilt, da
ich europäische Solidarität im Falle einer Schieflage ei-
nes Landes zum Erhalt unserer gemeinsamen Währung
für unabdingbar erachte. Lediglich bei Nichteinhalten
von Sparauflagen und Zusagen von eigenen Bemühun-
gen, die Schuldenproblematik in den Griff zu bekom-
men, habe ich in den Folgepaketen bei Griechenland
mangels eigener Anstrengungen des Empfängerlandes
eine Zustimmung nicht mehr verantworten können.
29402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
)(B)
(C
(D
Zweitens. Unstreitig hat Zypern in den vergangenen
Jahren gravierende Fehler in seiner Bankenstrukturie-
rung zugelassen. Mit exorbitant niedrigen Unterneh-
menszinsen hat das Land jahrelang versucht, Unterneh-
men – nicht nur aus dem europäischen Ausland – zur
Gründung von sogenannten Briefkastenfirmen und Ver-
steuerung des Betriebsgewinnes in Zypern zu veranlas-
sen. Dies hat in Verbindung mit circa 300 Prozent über-
setztem Zinsniveau für eingelegte Spargelder dazu
geführt, dass aus vielen Ländern Europas und darüber
hinaus in erheblichem Umfang Gelder in Zypern inves-
tiert wurden. Dies hatte zur Folge, dass der Finanzbe-
reich nahezu die Hälfte des zyprischen Wirtschaftsrau-
mes ausmachte, was eine inhomogene, aufgequollene
und ausgesprochen anfällige volkswirtschaftliche Struk-
tur bedingt hat.
Auch nach Beantragung der Hilfen im Juni 2012 hat
Zypern zunächst Anstrengungen unterlassen, diese Fehl-
entwicklungen zu korrigieren.
Der zyprische Bankensektor soll nunmehr umstruktu-
riert, verschlankt und die Kreditversorgung stärker an
der Realwirtschaft ausgerichtet werden.
Die Bilanzsumme der zyprischen Banken betrug bis-
her rund 716 Prozent des Bruttoinlandsproduktes – ver-
gleiche Deutschland: 311 Prozent. Mit Aufspaltung der
zweitgrößten zyprischen Bank Laiki gemäß den Verein-
barungen zwischen der Euro-Gruppe, dem IWF und der
zyprischen Regierung vom 24./25. März 2013 werden
Guthaben oberhalb von 100 000 Euro in einer Auffang-
gesellschaft für schlechte Kredite – „Bad Bank“ – ge-
sammelt, die Guthaben bis zu 100 000 Euro bei der
größten zyprischen Bank, der Bank of Cyprus, unterge-
bracht.
Hiervon sind geschätzt 19 000 Kontoinhaber betrof-
fen, darunter auch viele Nicht-EU-Bürger.
Mit Ausgliederung der griechischen Geschäfte aus
den größten zyprischen Banken und Übertragung auf die
griechische Piräus-Bank wurde der zyprische Banken-
sektor nach Angabe der Kommission und des IWF be-
reits auf rund 350 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
verkleinert.
Mit dem Schuldenschnitt auf Sparguthaben oberhalb
von 100 000 Euro hat Zypern die bisher bestehende
Steueroase nach meiner jetzigen Einschätzung bereits in
einem erheblichen Umfang „ausgetrocknet“: 60 Prozent
der Einlagen bei zyprischen Banken oberhalb von
100 000 Euro werden einbehalten. Davon werden
37,5 Prozentpunkte in Aktien der Bank of Cyprus um-
getauscht, 22,5 Prozentpunkte werden für drei Monate
eingefroren, bis der Finanzbedarf Zyperns genauer
feststeht. Die übrigen 40 Prozent werden nur dann aus-
gezahlt, wenn sich die Bank positiv entwickelt. Die
bisherige Sogwirkung der zyprischen Banken für aus-
ländische Anlegegelder ist somit weitestgehend hinfäl-
lig.
Etwa ein Drittel der in Zypern angelegten Gelder in
Höhe von 68,31 Milliarden Euro entfielen auf ausländi-
sche Anleger – 25,61 Milliarden Euro. Von allen Einla-
gen auf zyprischen Konten liegen auf Konten mit bis zu
100 000 Euro insgesamt 31,5 Milliarden Euro, auf Kon-
ten mit mehr als 100 000 Euro 36,9 Milliarden Euro.
Somit ist für mich festzustellen, dass über die Hälfte
der auf zyprischen Konten betroffenen Sparguthaben
vom Volumen her betrachtet von der erheblichen Eigen-
beteiligung betroffen ist. Vom gesamten Sparpaket über
circa 17 Milliarden Euro leistet Zypern somit mit der
Einbeziehung hoher Sparguthaben selbst einen Finanzie-
rungsanteil von circa 52 Prozent. Mit der vom IWF pro-
gnostizierten Entwicklung des Staatshaushaltes über ei-
nen Rückgang von 8,7 Prozent in 2013 bis zur
Erwirtschaftung eines Primärüberschusses in Höhe von
1,2 Prozent im Jahr 2016 ist in Verbindung mit der An-
hebung der Zinsertragsteuer, der Erhöhung des Körper-
schaftsteuersatzes von 10 auf 12,5 Prozent sowie der Pri-
vatisierung von Staatsbetrieben und Veräußerung von
Goldreserven ein erheblicher Eigenanteil an der Rettung
der zyprischen Banken bereits erbracht, sodass eine Ban-
kenrettung von außen, wie in anderen Fällen vorliegend,
nicht erfolgt, da insbesondere vorrangig zyprische Mittel
zur Sanierung und Umstrukturierung des Bankensektors
in Zypern eingesetzt sind.
Drittens. Eine Gefahr für die Finanzstabilität wird im
Fall von Zypern von der Kommission im Benehmen mit
der Europäischen Zentralbank mit Schreiben vom
18. März 2013 bestätigt – EUFIN Nr. 42/2013 DE –:
„Obwohl Zypern mit seinem Bruttoinlandsprodukt von
weniger als 18 Mrd. Euro, gemessen am Euro-Wäh-
rungsgebiet, eine kleine Volkswirtschaft ist, würde ein
ungeordneter Zahlungsausfall eine hohe Gefahr der sys-
temischen Ansteckung in sich bergen und hätte das Po-
tenzial, die Finanzstabilität des Euro-Währungsgebiets
insgesamt zu gefährden.“
Gleichwohl wird man bei Systemrelevanz einer
Volkswirtschaft mit einem Bruttoinlandsprodukt von 18
Milliarden Euro davon ausgehen müssen, dass jede
volkswirtschaftlich drohende Insolvenz in Zukunft Sys-
temrelevanz entfalten wird und dieses Kriterium schlicht
immer unterstellt werden muss.
Viertens. Die Schuldentragfähigkeitsanalyse durch
die Kommission geht davon aus, dass die erstellten Pro-
gnosen nahelegen, dass die Staatsverschuldung Zyperns
zwar eine Herausforderung darstellt, aber tragfahig blei-
ben kann, sofern das Anpassungsprogramm konsequent
umgesetzt wird.
Anders als im Fall von vorherigen Hilfspaketen stellt
Zypern erstmalig einen Antrag und hat mit der Beteili-
gung hoher Sparguthaben zu erkennen gegeben, dass es
mit dem Risiko des Verlustes seines Images als inter-
nationaler Bankenplatz bereit ist, erhebliche eigene
Aufwendungen auf sich zu nehmen.
Damit gehe ich davon aus, dass Zypern eine realisti-
sche Chance hat, das Anpassungsprogramm konsequent
umzusetzen.
Unter Abwägung sämtlicher für und wider sprechen-
den Aspekte habe ich mich letztendlich für die Bewilli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29403
(A) )
)(B)
(C
(D
gung eines Hilfspaketes für Zypern im Bundestag ausge-
sprochen.
Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU): Der heute zur
Abstimmung gestellte Antrag kann meine Zweifel an der
Rettungsstrategie des Zeitkaufens nicht ausräumen. In
meinen Augen sind im Falle Zyperns gleich drei ent-
scheidende Kriterien nicht erfüllt. Dies betrifft die Sys-
temrelevanz für die Euro-Zone, die Notwendigkeit der
Schuldentragfähigkeit sowie das Vorliegen eines zu-
kunftsfähigen Geschäftsmodells. Zusammengefasst hat
Zypern kein kurzfristiges Liquiditäts-, sondern ein Sol-
venzproblem.
Dennoch kennt der Rettungsmechanismus – Europäi-
scher Stabilitätsmechanismus, kurz ESM – keine andere
Antwort als die Hilfegewährung. Einmal mehr befinden
wir uns in der Rettungspolitik in einer Sackgasse. Bis
heute gibt es keinen Fahrplan, wie wir mit Staaten umge-
hen, die ein Solvenzproblem haben und daher den ver-
einbarten Reformmaßnahmen nicht mehr nachkommen
können. Ohne ein Verfahren kontrollierter Sanierung mit
klaren Haftungsregeln, das bis zum Ausscheiden aus der
Euro-Zone führen kann, wird uns kein Hilfsprogramm
aus dem grundsätzlichen Rettungsdilemma befreien.
Ich kann aus den genannten Gründen dem Hilfspaket
nicht zustimmen.
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Nachdem seit
dem Frühjahr 2010 die „Euro-Retter“ Milliarden in der
griechischen Ägäis versenkt haben, geht es nun munter
weiter auf der nach unten offenen Systemrelevanzskala.
Die zyprische Wirtschaftsleistung ist gerade einmal
10 Prozent der griechischen. Mit einem Bruttoinlands-
produkt, BIP, von unter 18 Milliarden Euro hat Zypern
nicht mehr Wirtschaftskraft als eine deutsche Großstadt
wie zum Beispiel Essen. Essens Anteil am BIP der Euro-
Zone ist ebenfalls 0,2 Prozent; aber niemand würde auf
die Idee kommen, dass von Problemen im städtischen
Haushalt von Essen auch nur ansatzweise die Stabilität
der Euro-Zone abhängen könnte. Gleichwohl wird Zy-
pern Systemrelevanz attestiert Ein solches Ergebnis
kann nur zustande kommen, wenn die Diagnose schon
vor der Untersuchung feststeht. Konkrete Zahlen werden
nicht geliefert, nur Schreckensszenarien. Und ohnehin:
Wie soll denn Vertrauen in eine Währung entstehen,
wenn ein Währungsraum einen (Teil-)Ausfall von
0,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung nicht verkraften
kann. Bei der Attestierung von Systemrelevanz erwarte
ich ökonomische Analysen und keine konstruierten poli-
tischen Papiere. Das „Rettungspaket“ für Zypern offen-
bart, dass im Prinzip jeder Mitgliedstaat der Euro-Zone
systemrelevant ist. Bei Zypern geht es einzig und allein
um die Stabilisierung des zyprischen Bankensektors auf
Kosten der Steuerzahler. Ob der zyprische Bankensektor
überdimensioniert ist oder nicht, hat nicht zu interessie-
ren. Der Eigentümer geht das Risiko ein, der Eigentümer
hat für das eingegangene Risiko zu haften.
Und auf europäischer Ebene wird fleißig daran gear-
beitet, einen Rettungsschirm für Nicht-Euro-Staaten zu
konstruieren. Wer denkt und hofft, dass mit Zypern ein
Ende erreicht ist, irrt. Eher ist der heutige Tag das Ende
einer Etappe. Ein erneuter Tabubruch.
Und auch die Konstruktion des Hilfspakets ist nicht
stimmig. Selten war die Augenwischerei so offensicht-
lich. Noch vor wenigen Wochen sah sich Zypern unter
größten Anstrengungen in der Lage, sich mit höchstens
5,8 Milliarden Euro an seiner „Rettung“ zu beteiligen.
Nun sollen es über 10 Milliarden Euro sein. Ankündi-
gungen von Privatisierungsbemühungen sind – wie uns
das Beispiel Griechenlands gezeigt hat – kritisch zu se-
hen: Die 2010 mit einem Wert von 50 Milliarden Euro
veranschlagten Privatisierungserlöse sind inzwischen
auf rund 11 Milliarden neu festgelegt worden, realisiert
ist – im vierten Jahr des Programmes! – gerade mal eine
gute Milliarde. Kein „Rettungspaket“ lief bisher ohne
Nachverhandlungen und Nachbesserungen. Parallel zu
Zypern sollen Portugal und Irland mehr Zeit bekommen,
die milliardenschweren Kredite zurückzuzahlen. Seit der
Auszahlung der jeweils ersten Tranche aus den Ret-
tungspaketen sind die Schuldenstände der Programmlän-
der immer weiter gestiegen. Eine Besserung wird immer
für die Folgejahre angenommen und dann jährlich aufs
nächste Jahr verschoben. So sind die offiziellen Aussich-
ten immer heiter, auch wenn es für jedermann erkennbar
aktuell regnet und gewittert. Am Ende stehen entweder
neue Hilfspakete oder ein Schuldenschnitt der öffentli-
chen Gläubiger. Es kann nicht anders kommen.
Die europäische Einigung ist eine großartige Leistung
der Politik im Europa der Zeit nach dem Zweiten Welt-
krieg. Die Währungsunion ist politisches Symbol der
höchsten Ausprägungsstufe dieses Prozesses. Für uns
Deutsche war es wichtig, die Erfolgsgeschichte der
Deutschen Bundesbank durch die Unabhängigkeit der
Europäischen Zentralbank auf den gesamten Euro-Raum
zu übertragen. Durch Errichtung des Stabilitätspakts
hofften wir, Vorsorge dafür zu treffen, den gesamten
Euro-Raum auf das Ziel der nachhaltigen Haushaltspoli-
tik und der Preiswertstabilität zu verpflichten. ln den eu-
ropäischen Verträgen ist hierzu festgelegt, dass im Euro-
Raum kein Staat für die Schulden des anderen aufkom-
men muss, ja nicht einmal darf – Bail-out-Verbot. Dies
ist der Kern des Vertrauens in den Euro angesichts der
sehr unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Volkswirt-
schaften in diesem gemeinsamen Währungsraum. Die
vorgesehene Hilfe für Zypern verstößt aufs Neue gegen
Buchstaben und Geist der gültigen europäischen Ver-
träge. So wird die langfristige Stabilität des Euro nicht
gesichert, sondern gefährdet.
Deshalb kann und will ich diesen Weg nicht mitgehen
und stimme erneut mit Nein.
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Ich habe dem
Antrag der Bundesregierung zugestimmt, wenn auch mit
Vorbehalten. Diese beziehen sich weniger auf die ökono-
mischen Argumente; hier bin ich davon überzeugt, dass
die Bundesregierung ebenso wie die anderen internatio-
nalen Akteure nach bestem Wissen und Gewissen han-
delt.
Zur Idee Europas gehört auch die Idee der Solidarität.
Dies bedeutet, das die europäische Familie sich in Not-
29404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
)(B)
(C
(D
zeiten Beistand leistet. Für die fiskalische Dimension
gilt, dass Hilfen nicht voraussetzungslos sind. Sie wer-
den mit der Erwartung geleistet, dass sie rückerstattet
werden. Darüber hinaus müssen die Ursachen, die zu der
Hilfebedürftigkeit geführt haben, aktiv angegangen wer-
den, damit in Zukunft eine ähnliche Situation nicht er-
neut entsteht. Die Bundesrepublik Deutschland trägt da-
bei ein Ausfallrisiko. Darüber wird auch innenpolitisch
kontrovers diskutiert.
Zu meinem Verständnis europäischer Solidarität ge-
hört, dass wir diese Diskussionen führen und unsere Ar-
gumente vortragen. Ein starkes Argument ist dabei die
europäische Idee als das große Friedensprojekt in der eu-
ropäischen Geschichte. Es gehört zu der Würde des Ge-
bens, dass wir dies in der Überzeugung tun, dass Europa
unser gemeinsames Projekt ist. Europa war nie eine rein
betriebswirtschaftliche Idee und darf auch nicht darauf
reduziert werden.
Mit der Würde des Nehmens ist es meines Erachtens
nicht vereinbar, die Betonung des Zusammenhangs von
Freiheit und fiskalischer Verantwortung als neokolonia-
les Projekt der Bundesrepublik zu schmähen, die han-
delnden deutschen Politiker als Wiedergänger des Drit-
ten Reiches zu diskreditieren oder gar von einer
Erpressung zu sprechen. Solche Töne spalten Europa
und schaden der Idee der Solidarität. Das Verhalten maß-
geblicher Politiker in Zypern und von Teilen der zyprio-
tischen Bevölkerung für sich alleine genommen wäre
Anlass, die Hilfe für Zypern abzulehnen. Ich stimme
dem Hilfspaket aber aus übergeordneten Gründen zu.
Anlage 3
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Monika Lazar und Beate
Müller-Gemmeke (beide BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN) zu den namentlichen Abstimmun-
gen über die Einholung eines zustimmenden Be-
schlusses des Deutschen Bundestages nach § 4
Absatz 1 Nummer 1 und 2 des ESM-Finanzie-
rungsgesetzes, nach § 3 Absatz 1 des Stabilisie-
rungsmechanismusgesetzes im Rahmen der
Haftungsanpassungen nach Artikel 8 Absatz 2
des EFSF-Rahmenvertrages sowie nach § 3 Ab-
satz 1 i. V. m. Absatz 2 Nummer 2 des Stabilisie-
rungsmechanismusgesetzes (Tagesordnungs-
punkt 4 b)
Wir stehen heute vor der Frage, ob wir als Mitglieder
des Deutschen Bundestages die Zypern-Hilfe parlamen-
tarisch legitimieren oder nicht. Wie bereits bei früheren
Entscheidungen können wir die Details des Hilfspakets,
die von den Regierungen der Mitgliedstaaten der Euro-
Gruppe ausgehandelt wurden, nicht mehr mit aus unse-
rer Sicht notwendigen Verbesserungen versehen. Aber
die Alternative, nämlich ein Staatsbankrott Zyperns,
wäre für die Menschen in Zypern und für die Europäi-
sche Union insgesamt wesentlich schlimmer. Obwohl
wir auch an der Zypern-Hilfe Kritik haben, stimmen wir
dennoch zu. Denn die Menschen in Zypern brauchen
Hilfe und unsere europäische Solidarität.
Wir bewerten es als positiv, dass bei diesem Rettungs-
paket die Gläubiger stärker beteiligt werden, die Kun-
dengelder unter 100 000 Euro aber unangetastet bleiben.
Der überdimensionale Bankensektor wird schrumpfen,
und eine große Bank wird komplett abgewickelt. Es liegt
ein Schwerpunkt auf der Steuereintreibung und auf
Transparenz. Die praktizierte Geldwäsche wird als Pro-
blem anerkannt, und als Konsequenz wird es umfangrei-
che Untersuchungen der effektiven Geldwäschebekämp-
fung geben. Entsprechende Empfehlungen müssen
umgesetzt werden. Es müssen insbesondere auch die
Einnahmen bei der Unternehmensteuer, Zinsertragsteuer
und bei den Erträgen der Vermögensteuer erhöht wer-
den. All diese Maßnahmen sind notwendig und entspre-
chen unserer Vorstellung von Gerechtigkeit.
Wir haben aber auch Kritik, denn der Spardruck mit
Blick auf die Ausgaben besteht weiterhin, auch wenn die
Troika die Sparbedingungen mittlerweile vorsichtiger
formuliert. Das Anpassungsprogramm ist dennoch weit-
reichend. So wird es Maßnahmen im Bildungsbereich
geben. Mit einer Rentenreform werden das Rentenmin-
destalter erhöht, die Renten gekürzt und Frührentenab-
züge eingeführt. Im Gesundheitswesen werden Gebüh-
ren erhöht und die Kosten optimiert. Neben
Lohnkürzungen wird es weitere Eingriffe bei der Lohn-
indexierung geben, und der Mindestlohn kann nur nach
Beratung mit den Programmpartnern erhöht werden. Ins-
gesamt soll es im Einvernehmen mit den Programmpart-
nern eine Reform des Sozialsystems geben. In der Kon-
sequenz müssen wir nach wie vor davon ausgehen, dass
das Anpassungsprogramm erhebliche soziale Lasten mit
sich bringt, die für uns nicht akzeptabel sind. Einsparun-
gen bei Sozialausgaben, Sozialversicherungen, im Ge-
sundheits- und Bildungsbereich werden gerade die Men-
schen treffen, die die Krise nicht verschuldet haben.
Selbstverständlich müssen die Staatshaushalte konso-
lidiert werden. Erneut droht aber die Gefahr, dass die
Sparmaßnahmen Zypern die Handlungsmöglichkeiten
nehmen. Wenn ein Staat zum falschen Zeitpunkt kürzt,
dann verlieren Firmen Aufträge, die Binnennachfrage
bricht ein und die Krise verschärft sich. Wenn Löhne
und staatliche Transfers gekürzt werden, können Be-
schäftigte, Erwerbslose und Bedürftige weniger Geld
ausgeben. Damit verlängert dieser Nachfrageentzug im
Abschwung die wirtschaftliche Talfahrt. In der Folge
sinken Wachstum und Steuereinnahmen – Arbeitslosig-
keit und Schulden aber steigen. Die katastrophalen Fol-
gen dieser Sparmaßnahmen werden in Südeuropa schon
heute, beispielsweise durch eine extrem hohe Jugend-
arbeitslosigkeit, sichtbar.
Profitiert von Miss- und Günstlingswirtschaft und
Spekulationen haben nur wenige. Jetzt folgen weniger
Investitionen, weniger Nachfrage und auch kein ökolo-
gischer Umbau von Wirtschaft und Tourismus. Auch Zy-
pern steht vor einer jahrelangen Rezession, die sich na-
türlich auch auf den Arbeitsmarkt niederschlagen wird.
Schon heute liegt die Arbeitslosenquote bei 14,7 Prozent
und die Jugendarbeitslosigkeit bei 28,5 Prozent. Auch in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29405
(A) )
)(B)
(C
(D
Zypern werden die Verlierer bestimmt nicht nur jene
sein, die die Misere mit zu verantworten haben.
Konsolidieren heißt für uns auch investieren. Das
Sparpaket wird Zypern aber tiefer in die Rezession trei-
ben und realwirtschaftlich weiter bremsen. Die Men-
schen in Zypern brauchen Perspektiven. Nur wenn in
eine zukunftsfähige und nachhaltige Wirtschaft inves-
tiert wird, können Wertschöpfung und Arbeitsplätze ge-
sichert und Schulden abgetragen werden. Eine Sparpoli-
tik schwächt hingegen das wirtschaftliche und soziale
System in Zypern zulasten der Menschen.
Das Rettungspaket für Zypern hat positive und nega-
tive Bedingungen und Vorgaben. Bei unserer Entschei-
dung müssen wir abwägen. Trotz aller Kritik und Be-
fürchtungen überwiegt für uns schlussendlich, dass
erstmals die Einnahmeseite beim Anpassungsprogramm
eine zentrale Rolle spielt. Entscheidend ist für uns insbe-
sondere auch die europäische Solidarität und politische
Verantwortung – auch weil das desaströse Krisenmana-
gement der Euro-Gruppe in den letzten Wochen auf allen
Seiten viel Vertrauen gekostet hat: Vertrauen in die Soli-
darität zwischen den Euro-Staaten, Vertrauen in die Pro-
blemlösungskompetenz der Finanzminister und Finanz-
ministerinnen, Vertrauen der Bevölkerung in die
Sicherheit selbst geringer Ersparnisse bei Banken in der
Euro-Zone. Die Republik Zypern ist und bleibt Mitglied
der Europäischen Union und der Euro-Zone. Daran darf
kein Zweifel mehr bestehen.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Peter Danckert, Ewald
Schurer und Rolf Schwanitz (alle SPD) zu den
namentlichen Abstimmungen über die Einho-
lung eines zustimmenden Beschlusses des Deut-
schen Bundestages nach § 4 Absatz 1 Nummer 1
und 2 des ESM-Finanzierungsgesetzes, nach § 3
Absatz 1 des Stabilisierungsmechanismusgeset-
zes im Rahmen der Haftungsanpassungen nach
Artikel 8 Absatz 2 des EFSF-Rahmenvertrages
sowie nach § 3 Absatz 1 i. V. m. Absatz 2 Num-
mer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
(Tagesordnungspunkt 4 b)
Wir haben in der heutigen Abstimmung zu den oben
benannten Fragen aus zwei Gründen mit Nein votiert.
Zum einen, weil die Bundesregierung nicht hinreichend
darlegen konnte, dass die ESM-Finanzhilfe für Zypern
unabdingbar ist, da ohne sie die Finanzstabilität der
Euro-Währungsunion insgesamt nicht gewahrt werden
kann. Zum anderen, weil die Bundesregierung einen Be-
schluss des Bundestages nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 ESM-Fi-
nanzierungsgesetz, ESMFinG, entgegen ihren Verpflich-
tungen über Monate verschleppt und dadurch die
Beteiligungsrechte des Parlaments grob missachtet hat.
Unsere Ablehnungsgründe erläutern wir im Einzelnen
wie folgt:
Erstens. Der ESM kann laut ESM-Vertrag Stabilitäts-
hilfen an ESM-Mitgliedsländer nur dann gewähren,
wenn dies über die Gefährdung des beantragenden Lan-
des hinaus unabdingbar ist, um die Finanzstabilität der
gesamten Währungsunion zu bewahren – Systemrele-
vanz. Der ESM ist damit kein Mechanismus für Hilfe bei
jeder auftretenden finanziellen Instabilität eines Mit-
gliedslandes oder dafür, bei finanziellen Instabilitäten
einzelner Mitgliedsländer generell aktiv zu werden und
Staatsinsolvenzen grundsätzlich zu verhindern. Wer dies
ändern will, wer den ESM zu einem generellen Hilfein-
strument in der Währungsunion ausweiten möchte, muss
zuvor den ESM-Vertrag und das ESMFinG entsprechend
ändern.
Tatsächlich war die Systemrelevanz der finanziellen
Gefährdung Zyperns von Beginn an hochumstritten. Der
Bundesfinanzminister stellte im Blick auf die geringen
Ansteckungsgefahren der zypriotischen Finanzkrise für
den Euro-Raum die Systemrelevanz selbst über Monate
in Abrede. Auch nachdem die EU-Kommission ihrer-
seits in Zusammenarbeit mit der EZB gegenüber der
Euro-Gruppe die Gefährdung der Finanzstabilität der
Euro-Zone bestätigt hatte, blieb der Bundesfinanzminis-
ter erkennbar bei seiner eine Systemrelevanz ablehnen-
den Bewertung. So äußerte der FDP-Fraktionsvorsit-
zende Rainer Brüderle noch am 21. März 2013, nachdem
das zypriotische Parlament das erste Hilfspaket abge-
lehnt hatte, „er halte einen möglichen zyprischen Staats-
bankrott mit Blick auf die Folgen für den Euro-Raum,
für durchaus beherrschbar‘. Auch Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble (CDU) sagte nach dem ablehnenden
Votum des zyprischen Parlaments, „die Stabilität der
Euro-Zone gerate dadurch nicht in Gefahr.“
Es bleibt festzuhalten, dass die Bundesregierung we-
der hinreichend noch überzeugend darlegen konnte, dass
die ESM-Finanzhilfe für Zypern unabdingbar ist, da
ohne sie die Finanzstabilität der Euro-Währungsunion
insgesamt nicht gewahrt werden kann. Eine solche Sys-
temrelevanz ist nach unserer Meinung im Falle Zyperns
tatsächlich auch nicht gegeben. Damit fehlt dem vorge-
legten Antrag jedoch eine Grundvoraussetzung dafür,
dass nach dem ESM-Vertrag sowie nach dem ESMFinG
zustimmend über eine Finanzhilfe entschieden werden
kann. Das Votum in der Abstimmung kann deshalb nach
unserer Überzeugung nur „Ablehnung“ lauten. Andern-
falls würde zugleich ein Präzedenzfall geschaffen, der
dazu führt, dass in der Zukunft faktisch überhaupt kein
Hilfeersuchen eines ESM-Mitgliedes mehr aus Gründen
einer nicht gegebenen Systemrelevanz abgelehnt werden
kann.
Zweitens. Der ESM-Vertrag sieht, anders als der Rah-
menvertag zum EFSF, in der Vorbereitungsphase einer
Finanzhilfe ein zweistufiges Entscheidungsverfahren
vor. Nach Art. 13 Abs. 2 ESM-Vertrag beschließt der
ESM-Gouverneursrat zunächst darüber, ob einem betrof-
fenen Land grundsätzlich Stabilitätshilfe gewährt wer-
den soll. Dieser Beschluss ist Voraussetzung dafür, dass
der Europäischen Kommission die Aufgabe zur Ver-
handlung eines Memorandum of Understanding – als
Teil der Troika – übertragen werden und der Geschäfts-
führende Direktor des ESM zugleich einen Vorschlag ei-
29406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
)(B)
(C
(D
ner Finanzhilfevereinbarung ausarbeiten kann. Diese
erste, vorgelagerte Entscheidung des Gouverneursrates
steht also am Beginn einer jeden ESM-Hilfe, denn diese
Entscheidung hat eine konstitutive Funktion. Sie schafft
erst die Legitimation der Europäischen Kommission für
die sich daran anschließenden Verhandlungsprozesse.
Sind das MoU und die Finanzhilfevereinbarung am Ende
der Verhandlungen dann konsentiert, benötigen sie zur
Inkraftsetzung nach Art. 13 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 4
ESM-Vertrag jeweils die Zustimmung des Gouverneurs-
rates – zweite Stufe des Entscheidungsprozesses. Da es
sich bei diesen insgesamt drei Entscheidungen des deut-
schen Vertreters im Gouverneursrat – dem Bundes-
finanzminister – um Entscheidungen handelt, die die
haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deut-
schen Bundestages betreffen, stehen beide Entschei-
dungsstufen nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 ESMFinG
unter dem Zustimmungsvorbehalt des Parlamentes. Der
Bundesfinanzminister kann im Gouverneursrat bei die-
sen Abstimmungen nur zustimmen oder sich der Stimme
enthalten, wenn hierzu das Plenum des Deutschen Bun-
destages zuvor einen zustimmenden Beschluss gefasst
hat.
Tatsächlich ist die vorgelagerte, konstitutive Be-
schlussfassung des Gouverneursrates über eine grund-
sätzliche Stabilitätshilfe des ESM für Zypern nach Art. 13
Abs. 2 ESM-Vertrag – erste Entscheidungsstufe – und
ein den deutschen Vertreter hierfür legitimierender zu-
stimmender Beschluss des Bundestages bisher unterblie-
ben. Dieser Parlamentsbeschluss wird erst heute, viele
Monate nach Beginn der Troika-Verhandlungen, im Ple-
num des Bundestages nachgeholt. Entgegen den Rege-
lungen des ESM-Vertrages wurden stattdessen ein MoU
und eine Finanzhilfevereinbarung entworfen, verhandelt
und konsentiert, ohne dass die im Vertrag hierfür vorge-
sehene Legitimation durch einen Beschluss des Gouver-
neursrates erteilt worden ist. Die Bundesregierung recht-
fertigt dieses vom ESM-Vertrag abweichende Verfahren
damit, dass die Republik Zypern ihren Antrag auf Fi-
nanzhilfe vor dem Inkrafttreten des ESM-Vertrages so-
wie des ESMFinG bereits am 25. Juni 2012 gestellt und
darin sowohl Hilfe der EFSF als auch des ESM beantragt
hatte. Diese Rechtfertigungsgründe sind spätestens seit
Oktober 2012 irrelevant.
Das ESMFinG ist am 13. September 2012 in Kraft ge-
treten, der ESM-Vertrag ist seit dem 27. September 2012
geltendes Recht. Am 4. Oktober 2012 begann in Zypern
offiziell eine buchhalterische und wirtschaftliche Über-
prüfung des Wertes von Kreditportfolios ausgewählter
zypriotischer Banken – Due-Diligence-Prüfung –, die
von einem Lenkungsausschuss beaufsichtigt wurde. In
diesen Lenkungsausschuss wurden auch Vertreter des
ESM als Mitglied entsandt; die EFSF war daran nicht
beteiligt. Spätestens seit Anfang Oktober 2012 war dem-
nach klar, dass der Hilfeantrag von Zypern kein „EFSF-
Fall“ werden wird, sondern dass die Regelungen des
ESM-Vertrages sowie des ESMFinG Anwendung finden
müssen. Darüber hinaus ist in dieser Woche bekannt ge-
worden, dass unter den ESM-Mitgliedern immer Einig-
keit darüber bestanden hat, dass das Ersuchen Zyperns
als ein an den ESM gerichtetes Finanzhilfeersuchen zu
betrachten ist. Die Bundesregierung wäre deshalb ver-
pflichtet gewesen, ab Inkrafttreten des ESM-Vertrages,
spätestens aber ab Anfang Oktober 2012, auf eine Be-
schlussfassung des Gouverneursrates nach Art. 13 Abs. 2
ESM-Vertrag zu drängen und eine Abstimmung des
Deutschen Bundestages nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 ESMFinG
zu beantragen. Stattdessen hat die Bundesregierung, of-
fensichtlich auch aus politischem Kalkül, diesen Antrag
über sechseinhalb Monate verschleppt und damit auch
elementare Beteiligungsrechte des Parlamentes missach-
tet.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Kerstin Andreae, Cornelia
Behm, Birgitt Bender, Agnes Brugger, Viola von
Cramon-Taubadel, Katja Dörner, Harald
Ebner, Hans-Josef Fell, Dr. Thomas Gambke,
Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann,
Priska Hinz (Herborn), Memet Kilic, Sven-
Christian Kindler, Ute Koczy, Tom Koenigs,
Oliver Krischer, Markus Kurth, Dr. Tobias
Lindner, Omid Nouripour, Friedrich
Ostendorff, Lisa Paus, Tabea Rößner, Claudia
Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof
Schmidt, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Markus Tressel, Arfst Wagner (Schleswig),
Dr. Valerie Wilms, Josef Philip Winkler (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie Heinz-
Joachim Barchmann, Elke Ferner, Dietmar
Nietan, Manfred Nink, Axel Schäfer (Bochum)
und Frank Schwabe (alle SPD) zu den namentli-
chen Abstimmungen über die Einholung eines
zustimmenden Beschlusses des Deutschen Bun-
destages nach § 4 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des
ESM-Finanzierungsgesetzes, nach § 3 Absatz 1
des Stabilisierungsmechanismusgesetzes im
Rahmen der Haftungsanpassungen nach Arti-
kel 8 Absatz 2 des EFSF-Rahmenvertrages so-
wie nach § 3 Absatz 1 i. V. m. Absatz 2 Num-
mer 2 des Stabilisierungsmechanismusgesetzes
(Tagesordnungspunkt 4 b)
Die Republik Zypern ist und bleibt Mitglied der Euro-
päischen Union und der Euro-Zone. Daran darf kein
Zweifel mehr bestehen. Das desaströse Krisenmanage-
ment der Euro-Gruppe hat in den letzten Wochen auf al-
len Seiten viel Vertrauen gekostet: Vertrauen in Solidari-
tät zwischen den Euro-Staaten, Vertrauen in die
Problemlösungskompetenz der Finanzminister und Fi-
nanzministerinnen, Vertrauen der Bevölkerungen in die
Sicherheit selbst geringer Ersparnisse bei Banken in der
Eurozone.
Viel zu lange wurde die zyprische Bevölkerung mit
ihren teils existentiellen Ängsten im Unklaren gelassen.
Die Bundesregierung und der Stil der öffentlichen De-
batte in Deutschland haben nicht nur zu dieser Verunsi-
cherung, sondern auch zu Wut und Ablehnung beigetra-
gen. Teils ist die Reaktion mancherorts in Zypern zu
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29407
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Unrecht entstanden, weil die Wirtschaftskrise dort weit-
gehend auf eigene Fehler zurückzuführen ist und die
vorherige zyprische Regierung die Verhandlungen über
Monate verschleppt hat. Doch war und ist diese Re-
aktion auch eine Antwort auf die innenpolitisch scharf-
gemachte Debatte in Deutschland: Es darf nicht zum
akzeptierten Allgemeingut werden, populistisch und de-
spektierlich übereinander zu reden, ein einseitiges, un-
differenziertes Bild von der Insel zu erzeugen und die
existenziellen Sorgen der Menschen nur unzureichend
zu erwähnen. Deutliche Kritik an der Krisenpolitik der
Bundesregierung ist daher angebracht. Vergleiche oder
gar Gleichsetzungen der Kanzlerin mit der nationalso-
zialistischen Vergangenheit lehnen wir entschieden ab.
Gegenseitige Diffamierung darf nicht der Kommuni-
kationsstil unter europäischen Partnern sein. Zypern und
der europäische Zusammenhalt sind keine wahlkampf-
politischen Spielbälle. Wir müssen schleunigst zurück-
kehren zu mehr gegenseitigem Verständnis und Respekt.
Auch die deutsche Politik muss sich dieser Verantwor-
tung bewusst sein.
Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des
Maßnahmenpakets sind hart. Die EU muss der zy-
prischen Bevölkerung nun jedwede Unterstützung zu-
kommen lassen, damit das Land schnellstmöglich wie-
der auf wirtschaftlich gesunde Beine kommt. Zypern
muss sich auf die europäische Solidarität verlassen kön-
nen. Investitionen in nachhaltiges Wachstum wie Solar-
energie, Tourismus und Landwirtschaft müssen unter-
stützt, die sozialen Auswirkungen der Krise abgefedert
und bizonale sowie bikommunale Projekte gefördert
werden. Dafür müssen unter anderem der Zugang zu
Strukturfonds erleichtert sowie schnellstmöglich zusätz-
liche Mittel der Europäischen Investitionsbank zur Be-
kämpfung von Jugendarbeitslosigkeit bereitgestellt wer-
den.
Die vergangenen Wochen haben die Freundschaft
zwischen Deutschland und Zypern auf eine harte Probe
gestellt. Wir wollen nicht, dass diese wertvolle Bezie-
hung irreparable Schäden davonträgt. Daher müssen alle
Beteiligten aus ihren Fehlern lernen. Gerade jetzt ist es
unser Anliegen, den deutsch-zyprischen Dialog nicht nur
fortzusetzen, sondern bewusst zu stärken.
Anlage 6
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
wurf eines Gesetzes zur Förderung gleichbe-
rechtigter Teilhabe von Frauen und Männern in
Führungsgremien (GlTeilhG) (Tagesordnungs-
punkt 4 b)
Christine Buchholz (DIE LINKE): Ich stimme
heute für den Gesetzentwurf des Bundesrates, weil
Frauen in den Führungsgremien der freien Wirtschaft
tatsächlich deutlich unterrepräsentiert sind. Es sagt viel
über die FDP und den Wirtschaftsflügel der Union, dass
sie die Frauenquote mit der gleichen Härte bekämpfen
wie den vollständigen Atomausstieg. Die Frauen der
CDU sind für einen harmlosen Kompromiss einge-
knickt. Sie sind im Zweifel solidarisch mit der deutschen
Wirtschaft und ordnen die Frauenrechte den Wirtschafts-
interessen unter.
Aber ich verbinde mit dem Gesetzentwurf nicht die
falschen Hoffnungen von SPD und Grünen, dass Frauen
in Führungsgremien ein Unternehmen familienfreundli-
cher gestalten würden, Einkommensdefizite der Frauen
gegenüber den Männern ausgeglichen, Kinderbetreuung
gefördert und die Umgangsformen innerhalb des Unter-
nehmens sich positiv verändern würden.
Tatsächlich kam eine Studie des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2011 zu fol-
gendem Ergebnis: „Es ließ sich für Deutschland kein sta-
tistisch signifikanter allgemeiner (undifferenzierter) po-
sitiver Performance-Effekt von Frauen in Aufsichtsräten
nachweisen.“ Das bedeutet, dass mehr Frauen in Auf-
sichtsräten nicht die entscheidenden Veränderungen
bringen. Nein, Lohngleichheit, Arbeitnehmerrechte und
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen in der
Realität von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
hart gegen die Unternehmensleitungen und Aufsichtsräte
erkämpft werden. Ich bin zudem für eine Begrenzung
der Gehälter innerhalb von Unternehmen. Auch ge-
schlechtergerecht besetzte Aufsichtsräte müssen einer
Einkommensbegrenzung unterliegen: Vorstandsmit-
glieder sollten nicht mehr als das Zwanzigfache des
durchschnittlich gezahlten Gehalts im jeweiligen Un-
ternehmen erhalten.
Ist denn tatsächlich die Frauenquote in Aufsichtsräten
und Führungsgremien unser Problem? Im europäischen
Vergleich gehört Deutschland zu den Schlusslichtern bei
der Gleichstellung der Geschlechter. Obwohl Frauen
Männer in den letzten Jahren bildungspolitisch ein- und
überholt haben, sind sie immer noch mit struktureller
Diskriminierung und einer traditionellen Geschlechter-
ordnung konfrontiert.
Was ist mit gleichen Löhnen für gleiche Arbeit? Ich
wünsche mir eine ähnlich intensive Debatte über den
Kampf gegen Lohnungleichheit zwischen Männern und
Frauen und über die Vereinbarkeit von Kindern und Be-
ruf.
Frauen verdienen hierzulande bei gleicher Qualifika-
tion durchschnittlich 23 Prozent weniger als Männer, in
Hessen sind es sogar 25 Prozent. Frauen bilden mit
65 Prozent die größte Gruppe im Niedriglohnsektor.
Wäre nicht die zuverlässige Betreuung von Kindern
durch hochqualifizierte und gut bezahlte Erzieherinnen
ein Thema für einen Gesetzesentwurf des Bundesrates?
Aber das passt natürlich nicht mit der Schuldenbremse
zusammen, für die die ganz große Koalition von CDU,
FDP, SPD und Grünen steht.
Ich stimme diesem Gesetzentwurf zu. Aber: Wirkli-
che Gleichberechtigung für Arbeitnehmerinnen in
Deutschland sieht anders aus.
29408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Frauen sind in Füh-
rungspositionen der Wirtschaft stark unterrepräsentiert.
Frauen stoßen nach wie vor an eine gläserne Decke,
wenn es um die Übernahme von Führungsverantwortung
geht. Freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft,
die 2001 von der SPD angestoßen wurden, haben nicht
den notwendigen Durchbruch gebracht.
Der Bundesvorstand der Frauen Union der CDU hat
sich daher bereits 2010 nach einer Expertenanhörung
und intensiver Diskussion für gesetzliche Regelungen
ausgesprochen. Durch einen Beschluss des Bundesdele-
giertentages 2011 wurde diese Position bekräftigt. Kon-
kret treten wir für eine feste Frauenquote von 30 Prozent
in Aufsichtsräten und eine flexible Quotenregelung in
Vorständen ein. Als Zielmarke für die Aufsichtsräte for-
dert die Frauen Union längerfristig eine Geschlechter-
quote von 40 Prozent. Das Eintreten der Bundesministe-
rin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für eine
Flexiquote und ein breites Bündnis von Politikerinnen
und Frauenverbänden haben das Bewusstsein für die
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen auch in Füh-
rungspositionen der Wirtschaft gestärkt und viele Unter-
nehmen dazu bewogen, ihre Anstrengungen dafür zu
verstärken. Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräfte-
mangels und angesichts des großen ungenutzten Poten-
zials von Frauen erkennen immer mehr Unternehmen,
dass gemischte Führungsteams erfolgreicher sind und
Innovationskraft sowie Wettbewerbsfähigkeit gesteigert
werden.
Die „Berliner Erklärung“ habe ich als Erstunterzeich-
nerin bewusst unterstützt, um der Forderung nach einer
festen Quote für Aufsichtsräte Nachdruck zu geben.
Die Entwicklung zeigt: Es gibt Fortschritte. Insge-
samt zeigen die geringen Steigerungsraten aber auch,
dass der Verfassungsauftrag von Art. 3 Abs. 2 GG –
„Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat
fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberech-
tigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Besei-
tigung bestehender Nachteile hin“ – ohne verbindliche
gesetzliche Regelungen kaum in der Breite umzusetzen
ist. Nach Angaben von „Frauen in die Aufsichtsräte
e. V.“ lag der Anteil der Frauen in 160 DAX-Unterneh-
men zum Stichtag 31. März 2013 bei 16,2 Prozent. In
den Vorständen liegt er bei 5,9 Prozent. Nach wie vor hat
ein Viertel der DAX-Unternehmen überhaupt keine Frau
in der Unternehmensführung.
Der Bundesvorstand der CDU hat jetzt seinen Partei-
tagsbeschluss vom Dezember 2012 weiterentwickelt.
Wir wollen gesetzlich regeln, dass der Anteil von Frauen
in Vorständen und Aufsichtsräten von Unternehmen er-
höht wird. Neben einer unmittelbar geltenden „Flexi-
Quote“ für Vorstände und Aufsichtsräte soll ab dem Jahr
2020 eine feste Quote von 30 Prozent für Frauen in Auf-
sichtsratsmandaten von mitbestimmungspflichtigen und
börsennotierten Unternehmen gelten.
Deshalb entscheide ich mich für eine solche gesetzli-
che Regelung, die ich in der kommenden Legislaturpe-
riode des Deutschen Bundestages gemeinsam mit der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion unmittelbar umsetzen
will. Das schließt trotz der weitgehend inhaltlichen
Übereinstimmung im Verfahren heute eine Zustimmung
zu den dem Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfen
aus.
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ich habe für die
Einführung einer festen Quote in Führungspositionen
gestimmt.
In Deutschland verdienen Frauen fast ein Viertel we-
niger als Männer, und zwar auf allen Ebenen: Die Arbeit
einer Physikerin ist im Schnitt 32 Prozent weniger Lohn
„wert“ als die eines Physikers, eine Verkäuferin verdient
26 Prozent weniger als ihr männlicher Kollege, eine In-
genieurin 22, eine Köchin 20 Prozent. Im Niedriglohn-
bereich, in Mini- und Midijobs arbeiten zu 70 Prozent
Frauen, ihre Altersarmut ist vorprogrammiert. Viele von
ihnen wünschen reguläre, sichere, anständig bezahlte
Arbeitsverhältnisse. Auch auf Teilzeit geht ein Großteil
von Frauen unfreiwillig.
Die neoliberale Wirtschaft mit ihrem Streben nach
Profitmaximierung hat diese Ungleichheiten seit Jahr-
zehnten eher zementiert als egalisiert. Spätestens jetzt ist
die Politik verpflichtet, die grundgesetzlich garantierte
Gleichbehandlung der Geschlechter durchzusetzen, auch
in der Wirtschaft. Doch wo bleibt die parteiübergrei-
fende mutige, kämpferische Gesetzesinitiative für Ent-
geltgleichheit?
Der Druck für eine verbindliche Frauenquote ist not-
wendig. Sie müsste allerdings eine Quote von mindes-
tens 50 Prozent – für Leitungspositionen, Ämter und
Mandate – fordern, um Diskriminierungen von Frauen
qua Geschlecht zu überwinden. In Norwegen gilt eine
solche Quote seit 2006. Dort haben Frauen bewiesen:
Sie schaden der Wirtschaft ebenso wenig wie in der Poli-
tik eine Bundeskanzlerin Angela Merkel von Nachteil
ist. Auch Frauen in Berufsarmeen machen aus dem Mili-
tär keine Friedenskraft. Den aggressiven und patriarcha-
len Charakter von Machtzentren in Politik, Wirtschaft
und Militär ändern Frauen an deren Spitze nicht. Daran
ändert die Quote grundsätzlich nichts.
Diese Ungerechtigkeiten gehen die Fraktionen von
SPD und Grünen nicht an, sie haben sie vielmehr durch
die Hartz-Gesetze mitverursacht, durch die auch immer
mehr Männer arm und rechtlos werden. Ich setze mich
für Emanzipation und Selbstbestimmung ein. Die sind
etwas qualitativ Anderes als das gleiche Recht von Män-
nern und Frauen auf Ausbeutung am oberen Rand der
Gesellschaft und die gleiche Pflicht zur Armut an der
breiten unteren Basis.
Ich habe mit Wut für die Einführung einer festen
Quote in Aufsichtsräten gestimmt, mit Wut deshalb, weil
die eigentlichen Ungerechtigkeiten nicht thematisiert
werden.
Monika Grütters (CDU/CSU): Frauen sind in Füh-
rungspositionen der Wirtschaft stark unterrepräsentiert.
Frauen stoßen nach wie vor an eine gläserne Decke,
wenn es um die Übernahme von Führungsverantwortung
geht. Freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29409
(A) )
)(B)
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die 2001 von der SPD angestoßen wurden, haben nicht
den notwendigen Durchbruch gebracht.
Der Bundesvorstand der Frauen Union der CDU hat
sich daher bereits 2010 nach einer Expertenanhörung
und intensiver Diskussion für gesetzliche Regelungen
ausgesprochen. Durch einen Beschluss des Bundesdele-
giertentages 2011 wurde diese Position bekräftigt. Kon-
kret treten wir für eine feste Frauenquote von 30 Prozent
in Aufsichtsräten und eine flexible Quotenregelung in
Vorständen ein. Als Zielmarke für die Aufsichtsräte for-
dert die Frauen Union längerfristig eine Geschlechter-
quote von 40 Prozent.
Das Eintreten der Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend für eine „Flexi-Quote“ und
ein breites Bündnis von Politikerinnen und Frauenver-
bänden haben das Bewusstsein für die gleichberechtigte
Teilhabe von Frauen auch in Führungspositionen der
Wirtschaft gestärkt und viele Unternehmen dazu bewo-
gen, ihre Anstrengungen dafür zu verstärken. Gerade vor
dem Hintergrund des Fachkräftemangels und angesichts
des großen ungenutzten Potenzials von Frauen erkennen
immer mehr Unternehmen, dass gemischte Füh-
rungsteams erfolgreicher sind und Innovationskraft so-
wie Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden.
Die „Berliner Erklärung“ habe ich als Unterzeichne-
rin bewusst unterstützt, um der Forderung nach einer
festen Quote für Aufsichtsräte Nachdruck zu verleihen.
Die Entwicklung zeigt: Es gibt Fortschritte. Insge-
samt zeigen die geringen Steigerungsraten aber auch,
dass der Verfassungsauftrag von Art. 3 (2) GG, „Frauen
und Männer sind gleichberechtigt“, ohne verbindliche
gesetzliche Regelungen kaum in der Breite umzusetzen
ist. Nach Angaben von „Frauen in die Aufsichtsräte
e. V.“ lag der Frauenanteil in Aufsichtsräten der 160
DAX-Unternehmen zum Stichtag 31. März 2013 bei
16,2 Prozent. In den Vorständen liegt er bei 5,9 Prozent.
Nach wie vor hat ein Viertel der DAX-Unternehmen
überhaupt keine Frau in der Unternehmensführung.
Der Bundesvorstand der CDU hat jetzt einen Partei-
tagsbeschluss vom Dezember 2012 weiterentwickelt.
Wir wollen gesetzlich regeln, dass der Anteil von Frauen
in Vorständen und Aufsichtsräten von Unternehmen er-
höht wird. Neben einer unmittelbar geltenden „Flexi-
Quote“ für Vorstände und Aufsichtsräte soll ab dem Jahr
2020 eine feste Quote von 30 Prozent für Frauen in Auf-
sichtsratsgremien von mitbestimmungspflichtigen und
börsennotierten Unternehmen gelten.
Deshalb entscheide ich mich für eine solche gesetzli-
che Regelung, die ich in der kommenden Legislaturpe-
riode des Deutschen Bundestages gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion unmittelbar umsetzen möchte. Das
schließt trotz der weitgehend inhaltlichen Übereinstim-
mung im Verfahren heute eine Zustimmung zu den dem
Deutschen Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfen
aus.
Katharina Landgraf (CDU/CSU): In Deutschland
gibt es einen weitgehenden gesellschaftlichen und von
allen Parteien getragenen Konsens darüber, dass der An-
teil von Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft
und im öffentlichen Dienst zu gering ist. Dieser Erkennt-
nis müssen wirksame Maßnahmen folgen.
Ziel muss es daher sein, verbindlich und verlässlich
mehr Frauen in die Entscheidungsprozesse der Wirt-
schaft einzubeziehen. Alle bisherigen Versuche, dieses
Ziel mit freiwilligen Vereinbarungen zu erreichen, sind
gescheitert. Der Anteil von Frauen in Führungspositio-
nen muss daher maßgeblich erhöht werden.
In der jüngsten Vergangenheit hat es verschiedene Ini-
tiativen gegeben, die dieses gemeinsame Anliegen unter-
stützen. Die Intention des Gesetzesantrages zur Förde-
rung gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und
Männern in Führungsgremien begrüße ich, da er für
Aufsichts- und Verwaltungsräte börsennotierter und mit-
bestimmter Unternehmen erstmals angemessene gesetz-
lich verpflichtende Regelungen vorsieht, die das gesetzte
Ziel praxisgerecht befördern.
Bereits im Dezember 2011 hatten sich Abgeordnete
aller sechs im Bundestag vertretenen Parteien sowie die
Vertreterinnen sechs großer Frauenverbände in ihrer
„Berliner Erklärung“ für eine feste Quote von Männern
und Frauen in den Aufsichtsgremien börsennotierter,
mitbestimmungspflichtiger und öffentlicher Unterneh-
men eingesetzt. Diese Initiative hat in der Gesellschaft
breite Unterstützung gefunden. Die in der „Berliner Er-
klärung“ in einem ersten Schritt geforderte Quote von
30 Prozent ist angemessen, um die Berücksichtigung des
bislang unterrepräsentierten Geschlechts bei der Zusam-
mensetzung von Aufsichtsgremien deutlich zu verbes-
sern, ohne dass dadurch die Seite der Anteilseigner oder
die der Arbeitnehmer überfordert werden. Daher werden
wir – in der nächsten Legislaturperiode – gesetzlich re-
geln, dass ab dem Jahr 2020 eine feste Quote von
30 Prozent für Frauen in Aufsichtsräten von mitbestim-
mungspflichtigen und/oder börsennotierten Unterneh-
men gilt. Die gesetzliche Verpflichtung zum Jahr 2020
lässt für alle Unternehmen ausreichend Zeit, um der ge-
setzlichen Verpflichtung nachzukommen.
Für die deutsche Wirtschaft ist dies ein Gewinn, der
sich in der Führungskultur und im Erfolg der Unterneh-
men niederschlagen wird. Für die Frauen in Deutschland
bedeutet diese Festlegung eine Verbesserung von Ver-
wirklichungs- und Teilhabechancen.
Die Zeit ist reif, die notwendigen Entscheidungen
rechtzeitig und im breiten politischen Konsens vorzube-
reiten. Dazu sind in den letzten Tagen kraftvolle Schritte
unternommen worden, auf die man vertrauen kann und
hinter denen ein großes Engagement entscheidender
politischer Kräfte steht. Die Quote ist unabdingbar, das
Verfahren zur Quote sollte aber das in den letzten Tagen
erreichte Ziel, ein deutliches Votum pro Quote im Bun-
desvorstand der CDU, nicht vorführen. Auch insoweit
gilt Verlässlichkeit und Verbindlichkeit. Wir haben viel
erreicht und stehen zu unserem Wort. Es wird die Quote
geben. Die CDU wird das Ziel mit aller Konsequenz ver-
folgen. Diesen Weg will ich mitgehen und gestalten. Das
schließt trotz der weitgehend inhaltlichen Übereinstim-
mung im Verfahren heute eine Zustimmung zu den dem
Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfen aus.
29410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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)(B)
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Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): In Deutschland
gibt es einen breiten gesellschaftlichen und von allen
Parteien getragenen Konsens darüber, dass der Anteil
von Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft und
im öffentlichen Dienst zu gering ist. Frauen stoßen nach
wie vor an eine gläserne Decke, wenn es um die Über-
nahme von Führungsverantwortung geht. Dieser Er-
kenntnis müssen wirksame Maßnahmen folgen.
Unser Anliegen ist es daher, verbindlich und verläss-
lich mehr Frauen in die Entscheidungsprozesse der Wirt-
schaft einzubeziehen. Alle bisherigen Versuche, dieses
Ziel mit freiwilligen Vereinbarungen zu erreichen, sind
gescheitert. Ich bin daher der Überzeugung, dass wir ei-
nen Schritt weiter gehen müssen.
In der jüngsten Vergangenheit hat es verschiedene Ini-
tiativen gegeben, die dieses gemeinsame Anliegen unter-
stützen. Die Intention des Gesetzesantrages des Bundes-
rates zur Förderung gleichberechtigter Teilhabe von
Frauen und Männern in Führungsgremien, der auch von
CDU-geführten Bundesländern mitgetragen wurde, wird
daher von uns begrüßt, da er für Aufsichts- und Verwal-
tungsräte börsennotierter und mitbestimmter Unterneh-
men erstmals angemessene gesetzlich verpflichtende Re-
gelungen vorsieht, die das gesetzte Ziel praxisgerecht
befördern.
Bereits im Dezember 2011 hatten sich Abgeordnete
aller sechs im Bundestag vertretenen Parteien sowie die
Vertreterinnen sechs großer Frauenverbände in ihrer
„Berliner Erklärung“ für eine feste Quote von Männern
und Frauen in den Aufsichtsgremien börsennotierter,
mitbestimmungspflichtiger und öffentlicher Unterneh-
men eingesetzt. Diese Initiative hat in der Gesellschaft
breite Unterstützung gefunden. Die in der „Berliner Er-
klärung“ in einem ersten Schritt geforderte Quote von
30 Prozent ist angemessen, um die Berücksichtigung des
bislang unterrepräsentierten Geschlechts bei der Zusam-
mensetzung von Aufsichtsgremien deutlich zu verbes-
sern, ohne dass dadurch die Seite der Anteilseigner oder
die der Arbeitnehmer überfordert werden. Daher werden
wir als Bestandteil unseres Regierungsprogramms für
die Bundestagswahl 2013 klar und unmissverständlich
regeln, dass wir ab dem Jahr 2020 eine feste Quote von
30 Prozent für Frauen in Aufsichtsräten von voll mitbe-
stimmten und börsennotierten Unternehmen wollen. Das
wollen und werden wir auch in Koalitionsverhandlungen
nach der Wahl durchsetzen.
Die Zeit ist reif, die notwendigen Entscheidungen
rechtzeitig und im breiten politischen Konsens vorzube-
reiten. Dazu sind in den letzten Tagen kraftvolle Schritte
unternommen worden, auf die man vertrauen kann und
hinter denen ein großes Engagement entscheidender
politischer Kräfte steht: Der Bundesvorstand der CDU
hat jetzt seinen Parteitagsbeschluss vom Dezember 2012
im Sinne einer verbindlichen gesetzlichen Quote ab
2020 weiterentwickelt.
Wir haben also eine klare Richtung und ein klares
Ziel. Dieses Ziel – 30 Prozent als verbindliche Quote –
ist das, was auch in der „Berliner Erklärung“ festgehal-
ten ist. Diese Erklärung haben viele Kolleginnen und,
ich betone: auch männliche Kollegen aus allen Fraktio-
nen unterzeichnet. Auch ich habe sie unterschrieben.
Das – und nicht die Hamburger Gesetzesinitiative – war
und ist Maßstab meines Abstimmungsverhaltens.
Für mich ist daher klar: Ich trete weiter ein für mehr
Frauen in Führungspositionen – aber ich will, dass wir
dies durch eigene Initiativen erreichen. Wir lassen uns
daher hier und heute nicht von der Opposition ausein-
anderdividieren, sondern wir stehen zusammen. Das
schließt trotz der weitgehend inhaltlichen Übereinstim-
mung heute aus, dass ich den dem Bundestag vorliegen-
den Gesetzentwürfen der Opposition zustimme.
Karin Maag (CDU/CSU): Frauen sind in Führungs-
positionen der Wirtschaft stark unterrepräsentiert.
Frauen stoßen nach wie vor an eine gläserne Decke,
wenn es um die Übernahme von Führungsverantwortung
geht. Freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft,
die 2001 von der SPD angestoßen wurden, haben nicht
den notwendigen Durchbruch gebracht.
Der Bundesvorstand der Frauen Union der CDU hat
sich daher bereits 2010 nach einer Expertenanhörung
und intensiver Diskussion für gesetzliche Regelungen
ausgesprochen. Durch einen Beschluss des Bundesdele-
giertentages 2011 wurde diese Position bekräftigt. Kon-
kret treten wir für eine feste Frauenquote von 30 Prozent
in Aufsichtsräten und eine flexible Quotenregelung in
Vorständen ein. Als Zielmarke für die Aufsichtsräte for-
dert die Frauen Union längerfristig eine Geschlechter-
quote von 40 Prozent.
Das Eintreten der Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend für eine „Flexi-Quote“ und
ein breites Bündnis von Politikerinnen und Frauenver-
bänden haben das Bewusstsein für die gleichberechtigte
Teilhabe von Frauen auch in Führungspositionen der
Wirtschaft gestärkt und viele Unternehmen dazu bewo-
gen, ihre Anstrengungen dafür zu verstärken. Gerade vor
dem Hintergrund des Fachkräftemangels und angesichts
des großen ungenutzten Potenzials von Frauen erkennen
immer mehr Unternehmen, dass gemischte Füh-
rungsteams erfolgreicher sind und Innovationskraft so-
wie Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden.
Die „Berliner Erklärung“ habe ich bewusst unter-
stützt, um der Forderung nach einer festen Quote für
Aufsichtsräte Nachdruck zu geben.
Die Entwicklung zeigt: Es gibt Fortschritte. Insge-
samt zeigen die geringen Steigerungsraten aber auch,
dass der Verfassungsauftrag von Art. 3 (2) GG, „Frauen
und Männer sind gleichberechtigt“, ohne verbindliche
gesetzliche Regelungen kaum in der Breite umzusetzen
ist. Nach Angaben von „Frauen in die Aufsichtsräte
e. V.“ lag der Anteil der Frauen in 160 DAX-Unterneh-
men zum Stichtag 31. März 2013 bei 16,2 Prozent. In
den Vorständen liegt er bei 5,9 Prozent. Nach wie vor hat
ein Viertel der DAX-Unternehmen überhaupt keine Frau
in der Unternehmensführung.
Der Bundesvorstand der CDU hat jetzt seinen Partei-
tagsbeschluss vom Dezember 2012 weiterentwickelt.
Wir wollen gesetzlich regeln, dass der Anteil von Frauen
in Vorständen und Aufsichtsräten von Unternehmen er-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29411
(A) )
)(B)
(C
(D
höht wird. Neben einer unmittelbar geltenden „Flexi-
Quote“ für Vorstände und Aufsichtsräte soll ab dem Jahr
2020 eine feste Quote von 30 Prozent für Frauen in Auf-
sichtsratsmandaten von mitbestimmungspflichtigen und
börsennotierten Unternehmen gelten.
Deshalb entscheide ich mich für eine solche gesetzli-
che Regelung, die ich in der kommenden Legislaturpe-
riode des Deutschen Bundestages gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion unmittelbar umsetzen will. Das
schließt trotz der weitgehend inhaltlichen Übereinstim-
mung im Verfahren heute eine Zustimmung zu den dem
Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfen aus.
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): In unserem Land
gibt es inzwischen erfreulicherweise einen weitgehenden
gesellschaftlichen Konsens darüber, dass der geringe
Anteil von Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft
nicht länger hinnehmbar ist. Frauen stoßen nach wie vor
viel zu oft an eine „gläserne Decke“, wenn es um die
Übernahme von Führungsverantwortung in der Wirt-
schaft geht. Ebenso ist inakzeptabel, dass Frauen nach
wie vor häufig für ihre Leistung schlechter bezahlt wer-
den als Männer in vergleichbaren Positionen.
Freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft ha-
ben bezüglich der Führungsverantwortung nicht den not-
wendigen Durchbruch gebracht. Es gibt zwar Fort-
schritte, aber die geringen Steigerungsraten zeigen, dass
der Verfassungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz,
Frauen und Männer sind gleichberechtigt, ohne verbind-
liche gesetzliche Regelungen kaum in der Breite umzu-
setzen ist. Nach Zahlen von „Frauen in die Aufsichtsräte
e.V.“ lag der Anteil der Frauen in den 160 DAX-Unter-
nehmen per 31. März 2013 bei gerade einmal 16,2 Pro-
zent. In den Vorständen liegt er gar bei nur 5,9 Prozent.
Nach wie vor hat ein Viertel der DAX-Unternehmen
überhaupt keine Frauen in der Untemehmensführung. Es
ist also überfällig, wirksam zu handeln.
In der jüngeren Vergangenheit hat es verschiedene
Initiativen gegeben, die dieses Anliegen vorantreiben.
Beginnend im Dezember 2011 haben sich neben vielen
weiteren Engagierten Abgeordnete der im Bundestag
vertretenen Parteien und Vertreterinnen sechs großer
Frauenverbände in der „Berliner Erklärung“ für eine
feste Quote in den Aufsichtsgremien börsennotierter,
mitbestimmungspflichtiger und öffentlicher Unterneh-
men eingesetzt. Die Initiative hat in der Gesellschaft
breite Unterstützung gefunden. Die dort in einem ersten
Schritt geforderte Quote von 30 Prozent ist angemessen,
um die Berücksichtigung bei der Zusammensetzung der
Aufsichtsgremien großer Kapitalgesellschaften deutlich
zu verbessern, ohne dass dadurch Anteilseigner überfor-
dert werden.
Ursula von der Leyen gehörte zu den Erstunterzeich-
nern der Initiative. Ihr gebührt Dank, dass sie für dieses
wichtige Thema kraftvoll eingetreten ist.
Die „Berliner Erklärung“ habe auch ich als Unter-
zeichner bewusst unterstützt. Ich bin überzeugt: Für die
Frauen in Deutschland wird es eine Verbesserung von
Verwirklichungs- und Teilhabechancen. Für die deutsche
Wirtschaft wird es ein Gewinn, der sich in der Führungs-
kultur und im Erfolg der Unternehmen niederschlagen
wird.
Die Intention des heute zur Abstimmung stehenden
Bundesratsgesetzentwurfs begrüße ich dem Grunde
nach, da für Aufsichts- und Verwaltungsräte börsenno-
tierter vollmitbestimmter Unternehmen angemessene ge-
setzlich verpflichtende Regelungen der richtige Weg sind.
In den letzten Tagen sind kraftvolle Schritte für die
notwendigen Entscheidungen unternommen worden, auf
die ich vertraue. Der Bundesvorstand der CDU hat den
einschlägigen Parteitagsbeschluss aus dem Dezember
2012 weiterentwickelt. Wir wollen gesetzlich regeln,
dass der Anteil von Frauen in Vorständen und Aufsichts-
räten erhöht wird. Neben einer unmittelbar geltenden
„Flexi-Quote“ soll ab dem Jahr 2020 eine feste Quote
von zunächst 30 Prozent für Frauen in Aufsichtsratsman-
daten von vollmitbestimmten börsennotierten Unterneh-
men gelten.
Ich entscheide mich für eine gesetzliche Regelung,
die ich in der kommenden Legislaturperiode des Deut-
schen Bundestages gemeinsam mit der CDU/CSU-Frak-
tion unmittelbar umsetzen will. Das schließt trotz der
weitgehenden inhaltlichen Übereinstimmung im Verfah-
ren heute eine Zustimmung zum Bundesratsgesetzent-
wurf aus.
Mit wechselnden Mehrheiten ist keine Regierung
handlungsfähig. Dazu, dass Angela Merkel weiterhin als
Bundeskanzlerin erfolgreiche Politik für unser Land ge-
stalten kann, will ich beitragen. Auch das oben genannte
Thema „equal pay“ ist dabei auf der politischen Tages-
ordnung.
Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): In Deutsch-
land gibt es einen weitgehenden gesellschaftlichen und
von allen Parteien getragenen Konsens darüber, dass der
Anteil von Frauen in Führungspositionen in der Wirt-
schaft und im öffentlichen Dienst zu gering ist. Dieser
Erkenntnis müssen wirksame Maßnahmen folgen.
Unser Anliegen ist es daher, verbindlich und verläss-
lich mehr Frauen in die Entscheidungsprozesse der Wirt-
schaft einzubeziehen. Alle bisherigen Versuche, dieses
Ziel mit freiwilligen Vereinbarungen zu erreichen, sind
gescheitert. Der Anteil von Frauen in Führungspositio-
nen muss daher maßgeblich erhöht werden.
In der jüngsten Vergangenheit hat es verschiedene
Initiativen gegeben, die dieses gemeinsame Anliegen
unterstützen. Die Intention des Gesetzesantrages zur
Förderung gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und
Männern in Führungsgremien wird daher dem Grunde
nach von uns begrüßt, da er für Aufsichts- und Verwal-
tungsräte börsennotierter und mitbestimmter Unterneh-
men erstmals angemessene gesetzlich verpflichtende Re-
gelungen vorsieht, die das gesetzte Ziel praxisgerecht
befördern.
Bereits im Dezember 2011 hatten sich Abgeordnete
aller sechs im Bundestag vertretenen Parteien sowie die
Vertreterinnen sechs großer Frauenverbände in ihrer
29412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
)(B)
(C
(D
„Berliner Erklärung“ für eine feste Quote von Männern
und Frauen in den Aufsichtsgremien börsennotierter,
mitbestimmungspflichtiger und öffentlicher Unterneh-
men eingesetzt. Diese Initiative hat in der Gesellschaft
breite Unterstützung gefunden. Die in der „Berliner Er-
klärung“ in einem ersten Schritt geforderte Quote von
30 Prozent ist angemessen, um die Berücksichtigung des
bislang unterrepräsentierten Geschlechts bei der Zusam-
mensetzung von Aufsichtsgremien deutlich zu verbes-
sern, ohne dass dadurch die Seite der Anteilseigner oder
die der Arbeitnehmer überfordert werden. Daher werden
wir – in der nächsten Legislaturperiode – gesetzlich re-
geln, dass ab dem Jahr 2020 eine feste Quote von
30 Prozent für Frauen in Aufsichtsräten von mitbestim-
mungspflichtigen und/oder börsennotierten Unterneh-
men gilt. Die gesetzliche Verpflichtung zum Jahr 2020
lässt für alle Unternehmen ausreichend Zeit, um der ge-
setzlichen Verpflichtung nachzukommen.
Für die deutsche Wirtschaft ist dies ein Gewinn, der
sich in der Führungskultur und im Erfolg der Unterneh-
men niederschlagen wird. Für die Frauen in Deutschland
bedeutet diese Festlegung eine Verbesserung von Ver-
wirklichungs- und Teilhabechancen.
Die Zeit ist reif, die notwendigen Entscheidungen
rechtzeitig und im breiten politischen Konsens vorzube-
reiten. Dazu sind in den letzten Tagen kraftvolle Schritte
unternommen worden, auf die man vertrauen kann und
hinter denen ein großes Engagement entscheidender
politischer Kräfte steht. Die Quote ist unabdingbar, das
Verfahren zur Quote sollte aber das in den letzten Ta-
gen erreichte Ziel, ein deutliches Votum pro Quote im
Bundesvorstand der CDU, nicht vorführen. Auch inso-
weit gilt Verlässlichkeit und Verbindlichkeit. Wir haben
viel erreicht und stehen zu unserem Wort. Es wird die
Quote geben. Die CDU wird das Ziel mit aller Konse-
quenz verfolgen. Diesen Weg werden wir mitgehen und
gestalten. Das schließt trotz der weitgehend inhaltlichen
Übereinstimmung im Verfahren heute eine Zustimmung
zu den dem Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfen
aus.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Frauen sind
in Führungspositionen der Wirtschaft stark unterreprä-
sentiert. Frauen stoßen nach wie vor an eine gläserne
Decke, wenn es um die Übernahme von Führungsverant-
wortung geht. Freiwillige Selbstverpflichtungen der
Wirtschaft, die 2001 von der SPD angestoßen wurden,
haben nicht den notwendigen Durchbruch gebracht.
Der Bundesvorstand der Frauen Union der CDU hat
sich daher bereits 2010 nach einer Expertenanhörung
und intensiver Diskussion für gesetzliche Regelungen
ausgesprochen. Durch einen Beschluss des Bundesdele-
giertentages 2011 wurde diese Position bekräftigt. Kon-
kret treten wir für eine feste Frauenquote von 30 Prozent
in Aufsichtsräten und eine flexible Quotenregelung in
Vorständen ein. Als Zielmarke für die Aufsichtsräte for-
dert die Frauen Union längerfristig eine Geschlechter-
quote von 40 Prozent.
Das Eintreten der Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend für eine „Flexi-Quote“ und
ein breites Bündnis von Politikerinnen und Frauenver-
bänden haben das Bewusstsein für die gleichberechtigte
Teilhabe von Frauen auch in Führungspositionen der
Wirtschaft gestärkt und viele Unternehmen dazu bewo-
gen, ihre Anstrengungen dafür zu verstärken. Gerade vor
dem Hintergrund des Fachkräftemangels und angesichts
des großen ungenutzten Potenzials von Frauen erkennen
immer mehr Unternehmen, dass gemischte Füh-
rungsteams erfolgreicher sind und Innovationskraft so-
wie Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden.
Die „Berliner Erklärung“ habe ich als Unterzeichne-
rin bewusst unterstützt, um der Forderung nach einer
festen Quote für Aufsichtsräte Nachdruck zu geben.
Die Entwicklung zeigt: Es gibt Fortschritte. Insge-
samt zeigen die geringen Steigerungsraten aber auch,
dass der Verfassungsauftrag von Art. 3 (2) GG, „Frauen
und Männer sind gleichberechtigt“, ohne verbindliche
gesetzliche Regelungen kaum in der Breite umzusetzen
ist. Nach Angaben von „Frauen in die Aufsichtsräte
e. V.“ lag der Anteil der Frauen in 160 DAX-Unterneh-
men zum Stichtag 31. März 2013 bei 16,2 Prozent. In
den Vorständen liegt er bei 5,9 Prozent. Nach wie vor hat
ein Viertel der DAX-Unternehmen überhaupt keine Frau
in der Unternehmensführung.
Der Bundesvorstand der CDU hat jetzt seinen Partei-
tagsbeschluss vom Dezember 2012 weiterentwickelt.
Wir wollen gesetzlich regeln, dass der Anteil von Frauen
in Vorständen und Aufsichtsräten von Unternehmen er-
höht wird. Neben einer unmittelbar geltenden „Flexi-
Quote“ für Vorstände und Aufsichtsräte soll ab dem Jahr
2020 eine feste Quote von 30 Prozent für Frauen in Auf-
sichtsratsmandaten von mitbestimmungspflichtigen und
börsennotierten Unternehmen gelten.
Deshalb entscheide ich mich für eine solche gesetzli-
che Regelung, die ich in der kommenden Legislaturpe-
riode des Deutschen Bundestages gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion unmittelbar umsetzen will. Das
schließt trotz der weitgehend inhaltlichen Übereinstim-
mung im Verfahren heute eine Zustimmung zu den dem
Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfen aus.
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): In
Deutschland gibt es einen weitgehenden gesellschaftli-
chen und von allen Parteien getragenen Konsens da-
rüber, dass der Anteil von Frauen in Führungspositionen
in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst zu gering
ist. Dieser Erkenntnis müssen wirksame Maßnahmen
folgen.
Unser Anliegen ist es daher, verbindlich und verläss-
lich mehr Frauen in die Entscheidungsprozesse der Wirt-
schaft einzubeziehen. Alle bisherigen Versuche, dieses
Ziel mit freiwilligen Vereinbarungen zu erreichen, sind
gescheitert. Der Anteil von Frauen in Führungspositio-
nen muss daher maßgeblich erhöht werden.
In der jüngsten Vergangenheit hat es verschiedene
Initiativen gegeben, die dieses gemeinsame Anliegen
unterstützen. Die Intention des Gesetzesantrags zur För-
derung gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und
Männern in Führungsgremien wird daher dem Grunde
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29413
(A) )
)(B)
(C
(D
nach von uns begrüßt, da er für Aufsichts- und Verwal-
tungsräte börsennotierter und mitbestimmter Unterneh-
men erstmals angemessene gesetzlich verpflichtende Re-
gelungen vorsieht, die das gesetzte Ziel praxisgerecht
befördern.
Bereits im Dezember 2011 hatten sich Abgeordnete
aller sechs im Bundestag vertretenen Parteien sowie die
Vertreterinnen sechs großer Frauenverbände in ihrer
„Berliner Erklärung“ für eine feste Quote von Männern
und Frauen in den Aufsichtsgremien börsennotierter,
mitbestimmungspflichtiger und öffentlicher Unterneh-
men eingesetzt. Diese Initiative hat in der Gesellschaft
breite Unterstützung gefunden. Die in der „Berliner Er-
klärung“ in einem ersten Schritt geforderte Quote von
30 Prozent ist angemessen, um die Berücksichtigung des
bislang unterrepräsentierten Geschlechts bei der Zusam-
mensetzung von Aufsichtsgremien deutlich zu verbes-
sern, ohne dass dadurch die Seite der Anteilseigner oder
die der Arbeitnehmer überfordert wird. Daher werden
wir – in der nächsten Legislaturperiode – gesetzlich re-
geln, dass ab dem Jahr 2020 eine feste Quote von
30 Prozent für Frauen in Aufsichtsräten von mitbestim-
mungspflichtigen und/oder börsennotierten Unterneh-
men gilt. Die gesetzliche Verpflichtung zum Jahr 2020
lässt für alle Unternehmen ausreichend Zeit, um der ge-
setzlichen Verpflichtung nachzukommen.
Für die deutsche Wirtschaft ist dies ein Gewinn, der
sich in der Führungskultur und im Erfolg der Unterneh-
men niederschlagen wird. Für die Frauen in Deutschland
bedeutet diese Festlegung eine Verbesserung von Ver-
wirklichungs- und Teilhabechancen.
Die Zeit ist reif, die notwendigen Entscheidungen
rechtzeitig und im breiten politischen Konsens vorzube-
reiten. Dazu sind in den letzten Tagen kraftvolle Schritte
unternommen worden, auf die wir vertrauen und hinter
denen ein großes Engagement entscheidender politischer
Kräfte steht. Es ist nun konkret absehbar, dass wir eine
verbindliche Regelung gemeinsam mit der Union umset-
zen können. Dies ist aus unserer Sicht die zielführendste
Option, um zu einer gesetzlichen Regelung zu kommen.
Wir haben viel erreicht und stehen zu unserem Wort. Es
wird die Quote geben. Die CDU wird das Ziel mit aller
Konsequenz verfolgen. Diesen Weg werden wir mitge-
hen und gestalten. Auch insoweit gelten beiderseits Ver-
lässlichkeit und Verbindlichkeit. Das schließt trotz der
weitgehend inhaltlichen Übereinstimmung im Verfahren
heute eine Zustimmung zu den dem Bundestag vorlie-
genden Gesetzentwürfen aus.
Anlage 7
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Veronika Bellmann,
Dr. Maria Böhmer, Ursula Heinen-Esser und
Nadine Schön (St. Wendel) (alle CDU/CSU) zur
namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Förderung gleichberechtigter
Teilhabe von Frauen und Männern in Führungs-
gremien (GlTeilhG) (Tagesordnungspunkt 4 b)
Frauen sind in Führungspositionen der Wirtschaft
stark unterrepräsentiert. Frauen stoßen nach wie vor an
eine gläserne Decke, wenn es um die Übernahme von
Führungsverantwortung geht. Freiwillige Selbstver-
pflichtungen der Wirtschaft, die 2001 von der SPD ange-
stoßen wurden, haben nicht den notwendigen Durch-
bruch gebracht.
Der Bundesvorstand der Frauen Union der CDU hat
sich daher bereits 2010 nach einer Expertenanhörung
und intensiver Diskussion für gesetzliche Regelungen
ausgesprochen. Durch einen Beschluss des Bundesdele-
giertentages 2011 wurde diese Position bekräftigt. Kon-
kret treten wir für eine feste Frauenquote von 30 Prozent
in Aufsichtsräten und eine flexible Quotenregelung in
Vorständen ein. Als Zielmarke für die Aufsichtsräte for-
dert die Frauen Union längerfristig eine Geschlechter-
quote von 40 Prozent.
Das Eintreten der Bundesministerin für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend für eine „Flexi-Quote“ und
ein breites Bündnis von Politikerinnen und Frauenver-
bänden haben das Bewusstsein für die gleichberechtigte
Teilhabe von Frauen auch in Führungspositionen der
Wirtschaft gestärkt und viele Unternehmen dazu bewo-
gen, ihre Anstrengungen dafür zu verstärken. Gerade vor
dem Hintergrund des Fachkräftemangels und angesichts
des großen ungenutzten Potenzials von Frauen erkennen
immer mehr Unternehmen, dass gemischte Führungs-
teams erfolgreicher sind und Innovationskraft sowie
Wettbewerbsfähigkeit gesteigert werden.
Die „Berliner Erklärung“ haben wir als Erstunter-
zeichnerinnen bewusst unterstützt, um der Forderung
nach einer festen Quote für Aufsichtsräte Nachdruck zu
geben.
Die Entwicklung zeigt: Es gibt Fortschritte. Insge-
samt zeigen die geringen Steigerungsraten aber auch,
dass der Verfassungsauftrag von Art. 3 (2) GG, „Frauen
und Männer sind gleichberechtigt“, ohne verbindliche
gesetzliche Regelungen kaum in der Breite umzusetzen
ist. Nach Angaben von „Frauen in die Aufsichtsräte e.V.“
lag der Anteil der Frauen in 160 DAX-Unternehmen
zum Stichtag 31. März 2013 bei 16,2 Prozent.
In den Vorständen liegt er bei 5,9 Prozent. Nach wie
vor hat ein Viertel der DAX-Unternehmen überhaupt
keine Frau in der Unternehmensführung.
Der Bundesvorstand der CDU hat jetzt seinen Partei-
tagsbeschluss vom Dezember 2012 weiterentwickelt.
Wir wollen gesetzlich regeln, dass der Anteil von Frauen
in Vorständen und Aufsichtsräten von Unternehmen er-
höht wird. Neben einer unmittelbar geltenden „Flexi-
Quote“ für Vorstände und Aufsichtsräte soll ab dem Jahr
2020 eine feste Quote von 30 Prozent für Frauen in Auf-
sichtsratsmandaten von mitbestimmungspflichtigen und
börsennotierten Unternehmen gelten.
Deshalb entscheiden wir uns für eine solche gesetz-
liche Regelung, die wir in der kommenden Legislatur-
periode des Deutschen Bundestages gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion unmittelbar umsetzen wollen. Das
schließt trotz der weitgehenden inhaltlichen Überein-
stimmung im Verfahren heute eine Zustimmung zu den
dem Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfen aus.
29414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
)(B)
(C
(D
Anlage 8
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth,
Dr. Ursula von der Leyen und Rita Pawelski
(alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Förderung
gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und
Männern in Führungsgremien (GlTeilhG) (Ta-
gesordnungspunkt 4 b)
In Deutschland gibt es einen weitgehenden gesell-
schaftlichen und von allen Parteien getragenen Konsens
darüber, dass der Anteil von Frauen in Führungspositio-
nen in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst zu ge-
ring ist. Dieser Erkenntnis müssen wirksame Maßnah-
men folgen.
Unser Anliegen ist es daher, verbindlich und verläss-
lich mehr Frauen in die Entscheidungsprozesse der Wirt-
schaft einzubeziehen. Alle bisherigen Versuche, dieses
Ziel mit freiwilligen Vereinbarungen zu erreichen, sind
gescheitert. Der Anteil von Frauen in Führungspositio-
nen muss daher maßgeblich erhöht werden.
In der jüngsten Vergangenheit hat es verschiedene Ini-
tiativen gegeben, die dieses gemeinsame Anliegen unter-
stützen. Die Intention des Gesetzesantrags zur Förde-
rung gleichberechtigter Teilhabe von Frauen und
Männern in Führungsgremien wird daher dem Grunde
nach von uns begrüßt, da er für Aufsichts- und Verwal-
tungsräte börsennotierter und mitbestimmter Unterneh-
men erstmals angemessene gesetzlich verpflichtende Re-
gelungen vorsieht, die das gesetzte Ziel praxisgerecht
befördern.
Bereits im Dezember 2011 hatten sich Abgeordnete
aller sechs im Bundestag vertretenen Parteien sowie die
Vertreterinnen sechs großer Frauenverbände in ihrer
„Berliner Erklärung“ für eine feste Quote von Männern
und Frauen in den Aufsichtsgremien börsennotierter,
mitbestimmungspflichtiger und öffentlicher Unterneh-
men eingesetzt. Diese Initiative hat in der Gesellschaft
breite Unterstützung gefunden. Die in der „Berliner Er-
klärung“ in einem ersten Schritt geforderte Quote von
30 Prozent ist angemessen, um die Berücksichtigung des
bislang unterrepräsentierten Geschlechts bei der Zusam-
mensetzung von Aufsichtsgremien deutlich zu verbes-
sern, ohne dass dadurch die Seite der Anteilseigner oder
die der Arbeitnehmer überfordert wird. Daher werden
wir in der nächsten Legislaturperiode gesetzlich regeln,
dass ab dem Jahr 2020 eine feste Quote von 30 Prozent
für Frauen in Aufsichtsräten von mitbestimmungspflich-
tigen und/oder börsennotierten Unternehmen gilt. Die
gesetzliche Verpflichtung zum Jahr 2020 lässt für alle
Unternehmen ausreichend Zeit, um der gesetzlichen Ver-
pflichtung nachzukommen.
Für die deutsche Wirtschaft ist dies ein Gewinn, der
sich in der Führungskultur und im Erfolg der Unterneh-
men niederschlagen wird. Für die Frauen in Deutschland
bedeutet diese Festlegung eine Verbesserung von Ver-
wirklichungs- und Teilhabechancen.
Der Bundesvorstand der CDU hat jetzt seinen Partei-
tagsbeschluss vom Dezember 2012 weiterentwickelt.
Wir wollen gesetzlich regeln, dass der Anteil von Frauen
in Vorständen und Aufsichtsräten von Unternehmen er-
höht wird. Neben einer unmittelbar geltenden „Flexi-
Quote“ für Vorstände und Aufsichtsräte soll ab dem Jahr
2020 eine feste Quote von 30 Prozent für Frauen in Auf-
sichtsratsmandaten von mitbestimmungspflichtigen und
börsennotierten Unternehmen gelten.
Deshalb entscheiden wir uns für eine solche gesetzli-
che Regelung, die wir in der kommenden Legislaturpe-
riode des Deutschen Bundestages gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion unmittelbar umsetzen wollen. Das
schließt trotz der weitgehend inhaltlichen Übereinstim-
mung im Verfahren heute eine Zustimmung zu den dem
Bundestag vorliegenden Gesetzentwürfen aus.
Anlage 9
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Karin Binder, Heidrun
Dittrich, Dr. Dagmar Enkelmann, Inge Höger,
Ulla Jelpke, Dorothée Menzner, Cornelia
Möhring, Kathrin Vogler und Johanna Voß
(alle DIE LINKE) zur namentlichen Abstim-
mung über den Entwurf eines Gesetzes zur För-
derung gleichberechtigter Teilhabe von Frauen
und Männern in Führungsgremien (GlTeilhG)
(Tagesordnungspunkt 4 b)
Wir stimmen zwar für den Antrag für eine Frauen-
quote, aber: Die Linke steht an der Seite der großen
Mehrheit der Frauen. Wir stehen an der Seite der Mini-
jobberinnen, der Erwerbslosen, der Alleinerziehenden,
der Erzieherinnen, der Putzfrauen und Grundschullehre-
rinnen, der Krankenschwestern und Verkäuferinnen. Wir
sind nicht die Lobby der Banken und Konzerne. Wir sind
nicht die Lobby der Aufsichtsräte und Vorstände – egal
ob in den Chefetagen Frauen oder Männer sitzen.
Wir sind die Lobby derjenigen, die endlich einen ge-
setzlichen Mindestlohn von mindestens 10 Euro brau-
chen, wir sind die Lobby derjenigen, die von prekärem
Lohn leben müssen und die dem Hartz-IV-System aus-
geliefert sind. Wir kämpfen an der Seite der Frauen, die
sich für gute Arbeit und für gleichen Lohn einsetzen.
Was heute abgestimmt wird, das mag ein winziger
Schritt auf dem Weg zur Überwindung patriarchaler
Strukturen sein, die Lebensverhältnisse für die große
Mehrheit der Frauen wird eine Quote in den Chefetagen
nicht ändern. Der Gesetzentwurf bleibt zudem überdeut-
lich hinter den ursprünglichen Forderungen der Opposi-
tionsfraktionen zurück.
Die Übergangsfristen für das Inkrafttreten der Quoten
sind auffällig lang, und im ersten Schritt ist lediglich
eine erbärmliche Mindestquote von 20 Prozent vorgese-
hen. Wer es wirklich ernst nimmt mit Gleichberechti-
gung, der schließt Schlupflöcher, anstelle Ausnahmere-
gelungen zu schaffen, und wer es ernst meint, der führt
auch Sanktionen ein, die wirklich weh tun.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29415
(A) )
)(B)
(C
(D
Der Antrag wird für die Lebenssituation von
99,9 Prozent der Frauen keinen Unterschied machen.
Zwei winzige Vorteile bringt er jedoch, zum einen bringt
er Unruhe in die Männerbünde der Chefetagen, und zum
zweiten wird hier ein Präzedenzfall dafür geschaffen,
dass es möglich ist, durch politische Entscheidungen
verbindlich die Situation von Frauen auch in der Privat-
wirtschaft zu verbessern.
Grundsätzlich gilt jedoch: Feminismus und soziale
Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen. Der we-
sentliche Kampf ist nicht der um ein paar Frauen in den
Chefetagen, sondern der für die Verbesserung der
Rechte, der Arbeitsbedingungen und der Einkommen
der großen Mehrheit der Frauen.
Anlage 10
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung des Anti-D-Hilfegesetzes (Ta-
gesordnungspunkt 43 a)
Steffen-Claudio Lemme (SPD): Ich werde mich bei
dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke enthalten
und kann diesem nicht zustimmen. Ich möchte aber das
Bemühen für die Belange der Betroffenen an dieser
Stelle anerkennen. Das Schicksal der Betroffenen hat
mich zutiefst berührt. Menschen, denen derartiges Un-
recht zugefügt wird, muss die Politik stets zur Seite ste-
hen. Dies habe ich als Berichterstatter für dieses Thema
auch getan und mit dem Betroffenenverband der geschä-
digten Frauen intensiv über ihre Probleme gesprochen.
Von ihnen wird ausdrücklich auf nachgelagerte Umset-
zungsprobleme des Anti-D-Hilfegesetzes verwiesen, die
durch die von der Fraktion Die Linke vorgeschlagene
Gesetzesänderung nicht überwunden werden können.
Ich möchte dies kurz begründen:
Eine Beweislastumkehr, wie von der Fraktion Die
Linke gefordert, wird von allen Expertinnen und Exper-
ten zurückgewiesen. Denn nach geltendem Recht ist ein
Anspruch auf Entschädigung nach dem Anti-DHG in
Anwendung des § 1 Abs. 3 Satz 1 Bundesversorgungs-
gesetz, BVG, bereits dann gegeben, wenn ein Nachweis
des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Infek-
tion und den geltend gemachten Schädigungsfolgen er-
bracht werden kann. Dieser Nachweis ist bereits geführt,
wenn der Zusammenhang wahrscheinlich ist, das heißt,
wenn mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammen-
hang spricht, was hier ausdrücklich der Fall ist. Es han-
delt sich hier um eine grundsätzliche Form der Beweis-
erleichterung. Nicht die Betroffenen selbst haben den
Nachweis einer Schädigung zu führen. Vielmehr haben
die zuständigen Behörden der Versorgungsverwaltung
bzw. im Verfahrensfall die Sozialgerichtsbarkeit nach
dem allgemein geltenden Amtsermittlungsgrundsatz des
Sozialrechts – § 20 SGB X, § 103 SGG – den Sachver-
halt von Amts wegen aufzuklären.
Entgegen dem Vorschlag der Fraktion Die Linke müs-
sen sich die betroffenen Frauen vielmehr darauf verlas-
sen können, dass die Bundesregierung darauf hinwirkt,
dass das Gesetz einheitlich ausgeführt und gemeinsam
mit den Bundesländern koordiniert und evaluiert wird.
Sie wollen vor allem über den Fortgang der Entwicklun-
gen stetig informiert werden. Darüber hinaus müssen ge-
rade die Gutachterinnen und Gutachter der betroffenen
Frauen über eine spezifische Fachqualifikation verfügen,
damit letztlich die Betroffenen Vertrauen in die Begut-
achtung ihrer Leiden haben können. Notwendig ist zu-
dem, dass eine Begutachtung der Infektion und ihrer
Folgeerkrankungen nach dem Stand der Wissenschaft er-
folgt und eine in diesem Zusammenhang notwendige
Überprüfung der Versorgungsmedizinverordnung umge-
hend angegangen wird.
Somit werde ich mich beim Entwurf der Fraktion Die
Linke nur enthalten können.
Dr. Marlies Volkmer (SPD): Ich werde dem Gesetz-
entwurf der Fraktion Die Linke nicht zustimmen kön-
nen, erkenne jedoch das Bemühen um die Belange der
Betroffenen ausdrücklich an. Auch ich stehe seit Jahren
in engem Austausch mit ihnen. Seit der Verabschiedung
des Anti-D-Hilfegesetzes hat der Betroffenenverband
auch mir gegenüber wiederholt auf spezifische Probleme
hingewiesen, die jedoch mit dem von der Fraktion Die
Linke eingebrachten Gesetzesänderungsvorschlag nicht
gelöst werden können.
Ich will kurz meine Abstimmung begründen:
Die Forderung der Fraktion Die Linke nach einer Be-
weislastumkehr ist rechtssystematisch falsch. Denn nach
geltendem Recht ist ein Anspruch auf Entschädigung
nach dem Anti-DHG in Anwendung des § 1 Abs. 3 Satz 1
Bundesversorgungsgesetz – BVG – bereits dann gege-
ben, wenn ein Nachweis des ursächlichen Zusammen-
hangs zwischen der Infektion und den geltend gemach-
ten Schädigungsfolgen erbracht werden kann. Dieser
Nachweis ist bereits geführt, wenn der Zusammenhang
wahrscheinlich ist, das heißt, wenn mehr für als gegen
einen ursächlichen Zusammenhang spricht, was hier
ausdrücklich der Fall ist. Es handelt sich hier um eine
grundsätzliche Form der Beweiserleichterung. Nicht die
Betroffenen selbst haben den Nachweis einer Schädi-
gung zu führen. Vielmehr haben die zuständigen Behörden
der Versorgungsverwaltung bzw. im Verfahrensfall die
Sozialgerichtsbarkeit nach dem allgemein geltenden
Amtsermittlungsgrundsatz des Sozialrechts – § 20 SGB X,
§ 103 SGG – den Sachverhalt von Amts wegen aufzu-
klären.
Entgegen dem Vorschlag der Fraktion Die Linke müs-
sen sich die betroffenen Frauen vielmehr darauf verlas-
sen können, dass die Bundesregierung darauf hinwirkt,
dass das Gesetz einheitlich ausgeführt und gemeinsam
mit den Bundesländern koordiniert und evaluiert wird.
Sie wollen vor allem über den Fortgang der Entwicklun-
gen stetig informiert werden. Darüber hinaus müssen ge-
rade die Gutachterinnen und Gutachter der betroffenen
Frauen über eine spezifische Fachqualifikation verfügen,
damit letztlich die Betroffenen Vertrauen in die Begut-
achtung ihrer Leiden haben können. Notwendig ist
zudem, dass eine Begutachtung der Infektion und ihrer
29416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
)(B)
(C
(D
Folgeerkrankungen nach dem Stand der Wissenschaft er-
folgt und eine in diesem Zusammenhang notwendige
Überprüfung der Versorgungsmedizinverordnung umge-
hend angegangen wird.
Vor diesem Hintergrund werde ich mich bei der Ab-
stimmung des Gesetzentwurfs der Fraktion Die Linke
enthalten.
Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:
– Beschlussempfehlung und Bericht zu dem
Antrag: Menschenrechtslage und humani-
täre Situation in der Westsahara verbessern
und Klärung des völkerrechtlichen Status
voranbringen
– Große Anfrage: Haltung der Bundesregie-
rung zur Westsahara und zur Menschen-
rechtslage in den vom Königreich Marokko
und der Frente Popular de Liberacion de
Saguía el Hamra y Río de Oro kontrollierten
Gebiet
– Antrag: Die Beendigung der völkerrechts-
widrigen Besatzungspolitik Marokkos in der
Westsahara und Lösung des Konflikts durch
Referendum unterstützen (Tagesordnungs-
punkt 12 und Zusatztagesordnungspunkte 7
und 8)
Frank Heinrich (CDU/CSU): Infolge des seit Jahr-
zehnten ungeklärten völkerrechtlichen Status befindet
sich die Lage der Menschenrechte in der Westsahara in
einer gefährlichen Sackgasse. Man muss von einer dau-
erhaften sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Dis-
kriminierung der saharauischen Bevölkerung sprechen.
Durch den Bürgerkrieg in Mali und die 70 000
Flüchtlinge, die in den anliegenden Sahara-Staaten und
insbesondere in Mauretanien untergekommen sind, hat
sich der Fokus der Weltöffentlichkeit neu der Region zu-
gewandt – doch nach wie vor ist das Thema Westsahara
dabei mehr als unterbelichtet. Vielleicht eröffnen sich
Chancen zu neuem Handeln? Einige positive Signale
lassen aufmerken. Doch dazu später mehr.
Beginnen möchte ich mit einer Situationsbeschrei-
bung: Bis heute leben, je nach Schätzung, zwischen
100 000 und 160 000 Sahauris in Flüchtlingslagern nahe
der Stadt Tindouf in der algerischen Sahara. Das Gebiet
der Westsahara ist aktuell durch eine befestigte und ver-
minte Grenzanlage geteilt, die von Marokko entlang der
Waffenstillstandslinie von 1991 errichtet wurde. Seit
1963 – und damit seit einem halben Jahrhundert! – steht
die Westsahara auf der Liste der Vereinten Nationen als
ein „Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung“. Die organi-
sierte und international anerkannte Vertretung der Saha-
rauis, die Polisario, tritt auf der Stelle. Die Afrikanische
Union hat die Polisario als Vertretung der Saharauis an-
erkannt, woraufhin Marokko aus der Union ausgetreten
ist. Ein Status, an dem sich seit Jahren nichts ändert.
Ebenfalls seit Jahren stagniert die konstruktive Unter-
stützung für die Westsahara durch die Weltgemeinschaft.
Sobald kleinere Fortschritte erzielt werden, geht es bald
darauf wieder einen Schritt zurück. Seit Jahren beschul-
digen sich Algerien und Marokko gegenseitig, ohne den
Status quo anzutasten. Seit Jahren diskutieren wir ergeb-
nislos hier im Bundestag. Das ist ernüchternd. Es ist er-
schütternd. Und mehr noch: Es ist brandgefährlich.
Schon wächst die zweite Generation Saharauis heran,
die unter menschenunwürdigen Bedingungen lebt, die
nicht das erhält, was ihr historisch und völkerrechtlich
zusteht. Es brodelt unter diesen Menschen – wer will es
ihnen verdenken? Es wächst eine Generation heran, die
noch niemals in Freiheit gelebt hat. Gut ausgebildete
junge Menschen haben keine Perspektive. Weder auf Ar-
beit oder Wohlstand, noch auf freie demokratische Ge-
staltungsmöglichkeiten in ihrem Land – ja, sie wissen
nicht einmal, ob der völkerrechtliche Status der Westsa-
hara zu ihren eigenen Lebzeiten geklärt werden wird.
Dass hier ein Nährboden für extremistisches Gedanken-
gut zumindest entstehen könnte, liegt auf der Hand.
Die Westsahara liegt vor unserer Haustür, das Fische-
reiabkommen zwischen der EU und Marokko, das die
Befischung von Gewässern regelt, deren Status weiter-
hin ungeklärt ist, da sie territorial zur Westsahara gehö-
ren, aber von Marokko befischt werden, betrifft EU-
Recht – und damit die Bundesrepublik ganz unmittelbar.
Ich werde darauf noch näher eingehen. Es macht aber et-
was deutlich: Wir dürfen die Augen nicht länger ver-
schließen.
Immerhin verabschiedete der Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen am 28. April 2011 einstimmig die Reso-
lution 1979 zur Lage in der Westsahara und zur Verlän-
gerung des Mandats der VN-Mission MINURSO. Diese
Resolution bringt in der Präambel erstmals die Notwen-
digkeit der Verbesserung der Menschenrechte in der
Westsahara und den Lagern in Tindouf zur Sprache. Das
ist eine deutliche Verbesserung gegenüber der ursprüng-
lichen Formulierung der Resolution 690 vom 29. April
1991, in der ein Referendum über den völkerrechtlichen
Status der Westsahara gefordert wird und welche die
MINURSO-Mission der Vereinten Nationen begründet.
Eine Umsetzung ist bis heute nicht erfolgt. Auch die
Verbesserungen der neuen Resolution sind marginal, da
diese den von vielen Seiten – von Menschenrechtsorga-
nisationen ebenso wie von einzelnen Staaten und Staa-
tengemeinschaften – geforderten Menschenrechtsme-
chanismus nicht enthalten.
Die Durchführung des Referendums scheitert an den
verschiedenen Positionen und Interessen der Konflikt-
parteien – vor allem Marokkos, Algeriens und der Poli-
sario. Sie vertreten unterschiedliche Optionen für die
Durchführung eines Referendums: Die Polisario fordert,
eine Wahl zu haben zwischen der vollständigen Unab-
hängigkeit Westsaharas, einer Autonomie innerhalb Ma-
rokkos und einem Aufgehen in das Land Marokko. Das
wird aber von Marokko abgelehnt; sie wollen nur ein Ja
oder Nein zur Autonomie.
In einem Gespräch im Februar 2013 mit der Deut-
schen Gesellschaft für die Vereinten Nationen, DGVN,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29417
(A) )
)(B)
(C
(D
erläuterte der deutsche MINURSO-Beauftragte
Weisbrod-Weber die Differenzen. Auf ihrer Internetseite
führt die DGVN dazu aus:
„Die Stellung und die Möglichkeiten von MINURSO
sieht auch der MINURSO-Leiter Weisbrod-Weber durch
ein Auseinanderklaffen der Realität und des De-jure-
Mandates geprägt. Er berichtet, dass beide Konflikt-
parteien, Marokko und Polisario, den Auftrag der
MINURSO unterschiedlich deuteten. Während Marokko
den Einsatz auf die Überwachung des Waffenstillstandes
reduziert, beruft sich die Polisario auf UN-Resolution
690 (1991) und damit auf die Organisation und Gewähr-
leistung eines freien und fairen Referendums. Der Waf-
fenstillstand sollte in ihren Augen nur den Auftakt zur
friedlichen Vorbereitung des Selbstbestimmungs-Refe-
rendums darstellen. Außerdem leiten sie aus dem Man-
dat MINURSO nicht nur eine Verantwortung für die in
Westsahara lebenden Menschen, sondern für alle Saha-
rauis und deren Recht auf ein menschenwürdiges Leben
ab. Diese unterschiedlichen Haltungen würden sich, so
Weisbrod-Weber, auch im Sicherheitsrat widerspiegeln.
Zudem gäbe es, neben Befürwortern der marokkani-
schen oder der saharauischen Sichtweise, eine Reihe von
UN-Mitgliedstaaten, die keine Position zum Westsahara-
Konflikt beziehen würden.“
Statt der ursprünglichen Hauptaufgabe von
MINURSO, die Rahmenbedingungen für das Referen-
dum zu erarbeiten, nimmt MINURSO daher de facto
heute vor allem diese Aufgaben wahr: die Überwachung
des Waffenstillstandes, die Unterstützung vertrauensbil-
dender Maßnahmen, die unabhängige Berichterstattung.
Immerhin fuhren nach Einschätzung Weisbrod-
Webers die vertrauensbildenden Maßnahmen zu ersten
Verbesserungen der Lage der Saharauis, deren primäres
Ziel es ist, den Kontakt zwischen den in der Westsahara,
und den in den Flüchtlingslagern in der Region Tindouf,
Algerien, lebenden Saharauis zu erleichtern.
Von den geplanten Maßnahmen wurden bereits einige
umgesetzt, wie regelmäßige Familienbesuche, ein kos-
tenloser Telefondienst und das Angebot nichtpolitischer
Seminare, die das kulturelle Erbe der Saharauis behan-
deln und stärken sollen. Als Leiter einer interfraktionel-
len Delegation des Menschenrechtsausschusses habe ich
mir im Juni 2011 ein eigenes Bild von den Lagern vor
Ort machen können. Damals war die Lage, gelinde ge-
sagt, bedrückend. Umso mehr begrüße ich die Fort-
schritte – ohne mit dem Ergebnis bereits zufrieden zu
sein. Viele der jungen Menschen, unter ihnen viele
Frauen, haben uns mit ihrer Bildung und ihrem Ehrgeiz,
sich zu entwickeln, beeindruckt. Hier liegen große
menschliche Potenziale brach, die es für eine Entwick-
lung der ganzen Region zu gewinnen gilt.
Ein großes Problem in der Westsahara bleiben Men-
schenrechtsverletzungen. Die Polisario und viele inter-
nationale Beobachter sowie Menschenrechtsorganisatio-
nen fordern daher von den Vereinten Nationen eine noch
umfassendere Dokumentation und Aufklärung der Men-
schenrechtsverletzungen, als dies etwa im Jahresbericht
der VN vom April 2012 erfolgt ist. Im marokkanisch
verwalteten Gebiet werden unter anderem das Folterver-
bot und das Recht auf freie Meinungsäußerung der saha-
rauischen Bevölkerung offensichtlich eingeschränkt.
Um ein Beispiel zu nennen: 24 Saharauis, die 2010 im
Camp Gdim Izik für mehr soziale Gerechtigkeit protes-
tierten, wurden im Februar 2012 von einem Militärge-
richt zu sehr langen oder lebenslangen – und damit
völlig unangemessenen – Haftstrafen verurteilt.
Ein anderes – brandaktuelles – Beispiel nennt der An-
trag der Fraktion Die Linke:
„Zuletzt ging die marokkanische Polizei am 25. März
2013 beim Besuch des UN-Beauftragten Christopher
Ross brutal gegen sahrauische Demonstrationsteilneh-
mer und -teilnehmerinnen in El Aaiún vor. In seinem Be-
richt vom 28. Februar 2013 hat der Sonderbeauftragte
der Vereinten Nationen Folter und andere grausame und
unmenschliche Behandlungen, das große Ausmaß von
Folter, insbesondere in den besetzen Gebieten durch
Marokko, belegt (A-HRC-22-53-Add-2).“
Neben den Menschenrechtsverletzungen ist beson-
ders die Ausbeutung der Ressourcen der Westsahara
durch Marokko zu kritisieren: Das erwähnte EU-Fische-
reiabkommen mit Marokko ist am 29. Juni 2011 für ein
Jahr verlängert worden. Am 14. Februar 2012 wurde das
Mandat zur Aushandlung eines neuen Protokolls erteilt –
die Verhandlungen laufen noch.
Die Bundesregierung hat gemeinsam mit Slowenien
und Irland eine Erklärung zur Verpflichtung Marokkos,
die Partizipation der Bevölkerung von Westsahara an
den Rückflüssen aus dem Abkommen darzulegen, abge-
geben. Die Zustimmung erfolgte auf Grundlage von
Analysen der Europäischen Kommission über Rück-
flüsse aus dem Abkommen an die Bevölkerung der
Westsahara sowie der erstmaligen Verpflichtung Marok-
kos, hierüber Bericht zu erstatten.
In einem persönlichen Brief an mich hat Staatssekre-
tär Dr. Gerd Müller am 5. April 2013 noch einmal darge-
legt, dass die Bundesrepublik und die EU im Abkommen
Marokko darauf verpflichten, regelmäßig Bericht zu er-
statten, wie mit den Gewinnen verfahren wird, und eine
Aufschlüsselung darzulegen, welche Anteile der sahau-
rischen Bevölkerung zugutekommen. Ich anerkenne und
begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung hier zu-
gunsten der Westsahara und ihrer Bevölkerung agiert.
Da unterscheide ich mich in der Einschätzung von den
Antragstellern der Fraktionen SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke.
Dennoch sehe ich starken Handlungsbedarf auf EU-
Ebene, kein einseitiges, die Saharauis benachteiligendes
Abkommen zu schließen. Ich stehe dazu in persönlichen
Gesprächen mit verschiedenen europäischen Abgeord-
neten, die dieses Anliegen teilen. Erste – unverbindliche,
aber deutliche – Signale, deuten an, dass auch Frank-
reich mit Präsident Hollande den berechtigten Ansprü-
chen der Westsahara im neuen Abkommen zustimmen
könnte. Das findet meine volle Zustimmung.
Eine Nebenbemerkung noch: Das Fischereiabkom-
men enthält keine Definition des Rechtsstatus der West-
sahara und soll nicht präjudizieren, wie Staatssekretär
29418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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Dr. Müller ausführt. Eine notwendige Klärung des
Rechtsstatus der Meeresgewässer der Westsahara hinge-
gen sollte im Zuge des Referendums schnellstens erfol-
gen.
Auch weitere Ressourcen der Westsahara werden ein-
seitig ausgebeutet, und es bedarf einer dringenden Über-
prüfung der Verträge. Da sind die Tomaten der Marken
Azura und Idyl, die im Rahmen des EU-Agrarabkom-
mens mit Marokko auf dem europäischen Markt ver-
kauft werden. Da ist ferner der Energiebereich: Die
Firma Siemens liefert Windenergieanlagen in die besetz-
ten Territorien. Auch die Erlöse aus der Desertec-Ener-
gieanlage, die teilweise in der Westsahara errichtet wird,
müssen entsprechend auch der sahrauischen Bevölke-
rung zugutekommen.
Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, endlich den
völkerrechtlichen Status der Westsahara zu klären und
nicht mehr nur den „Stillstand zu verwalten“ (Weisbrod-
Weber)? Das scheint nahezu unmöglich, doch lassen Sie
mich noch einmal den Bericht der DGVN zitieren:
„Seit seinem Amtsantritt vor 8 Monaten bekam Weis-
brod-Weber ein zunehmendes öffentliches Interesse am
Westsahara-Konflikt zu spüren. Dies ist unter anderem
darauf zurückzuführen, dass die Maghreb-Region durch
den Mali-Konflikt in den Fokus der Weltöffentlichkeit
gerückt ist. Es bleibt abzuwarten, ob diese neue interna-
tionale Aufmerksamkeit ausreicht, um den Verhand-
lungsprozess zwischen Marokko und Polisario voranzu-
treiben.“
Die Anträge der Oppositionsparteien kann ich nicht in
jedem Detail unterstützen und werde sie daher heute ab-
lehnen: insbesondere die Linke formuliert auch zu
scharfe Angriffe gegen Marokko – dieser Tonfall verhin-
dert eher Verhandlungen, als sie möglich zu machen.
Dennoch unterstütze ich das Anliegen. Ich werde
mich weiter für eine Verbesserung der Menschenrechts-
lage der Saharauis einsetzen. Ausdrücklich begrüße ich
daher die internationalen Initiativen, die zeigen, dass
aktuell Bewegung in die Angelegenheit kommt. Ich
begrüße, dass sich die USA gerade in den vergangenen
Tagen zugunsten der Aufnahme eines Menschenrechts-
mechanismus in die UN-Resolution geäußert haben. Ich
begrüßte ebenfalls, dass Frankreich sich unter Präsident
Hollande weniger einseitig pro Marokko positioniert,
was im besten Falle zu einer Wiederaufnahme der Ver-
handlungen zwischen der Polisario und Marokko und zu
einer Lösung des Stillstandes führen könnte.
Weiterhin werde ich mich – gemeinsam mit der Bun-
desregierung – im Rahmen der aktuellen Verhandlungen
über die Abkommen zur Fischerei, zu Agrarprodukten
und zur Energieerzeugung für Gerechtigkeit einsetzen.
In neuen Verträgen müssen die Erträge in angemessener
Weise den Saharauis zugutekommen.
Bei all den kleinen Schritten dürfen wir das große
Ziel nicht aus den Augen verlieren: Das Ziel all unserer
Bemühungen muss die schnellstmögliche Durchführung
des Referendums sein, damit der völkerrechtliche Status
der Westsahara geklärt wird und damit aus Flüchtlingen
wieder Menschen mit vollen Bürgerrechten werden.
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Ich möchte Ih-
nen drei Vorfälle im Zusammenhang mit der Problema-
tik „Westsahara“ in Erinnerung rufen, die mich in den
letzten zwei Monaten sehr erschüttert, aber doch nicht
überrascht haben. Sie machen deutlich, wie wichtig ein
ernst gemeintes Engagement von deutscher Seite im
Westsahara-Konflikt ist.
Worum geht es bei diesem Konflikt? Die ehemalige
Kolonialmacht Spanien brachte den Transitionsprozess
der Westsahara nicht zu Ende und hinterließ der Region
ein Konfliktfeld. Das hat in der Vergangenheit zum ei-
nen massiv die Rechte der Saharauis eingeschränkt und
zum anderen viele Leben gekostet. Aktuell ist das Gebiet
der Westsahara geteilt: Marokko kontrolliert den frucht-
baren Westen, die Polisario den trockenen Osten und Sü-
den. Entlang der Waffenstillstandslinie von 1991 hat
Marokko eine 2 500 Kilometer lange Grenzbefestigung
errichtet. Die internationale Gemeinschaft versprach,
eine Volksbefragung über die politische Zukunft der Sa-
harauis durchzuführen. Dies ist bis heute nicht gesche-
hen. Gleichzeitig schuf Marokko durch die Ansiedlung
nichtsaharauischer Marokkaner Fakten. Nach über 20
Jahren des Wartens auf eine gewaltfreie Konfliktlösung
und angesichts der wachsenden Ungeduld junger Saha-
rauis blicke ich mit Sorge in die Zukunft.
Zu den eingangs angesprochenen konkreten Vorfällen
aus jüngster Zeit:
Erstens. Mein SPD-Kollege Norbert Neuser ist Vor-
sitzender der Parlamentariergruppe für die Westsahara
im Europäischen Parlament. Anfang März brachen er
und drei weitere Abgeordnete sowie einige Mitarbeiter
zu einer Fact Finding Mission zur Menschenrechtslage
in die Westsahara auf. Die Reisepläne waren mit der ma-
rokkanischen Botschaft in Brüssel in zahlreichen Brief-
wechseln und Telefonaten abgesprochen worden. Ge-
plant waren unter anderem ein Gesprächstermin mit
MINURSO genauso wie mit marokkanischen Beamten
vor Ort, der Besuch eines Fischerdorfes sowie ein Tref-
fen mit Menschenrechtsorganisationen.
Doch die Reise konnte nicht stattfinden. Die marok-
kanischen Behörden überlegten es sich kurzerhand an-
ders. Trotz Absprachen! Kaum gelandet, wurden den
Kollegen die Reisedokumente abgenommen. Sie durften
noch nicht einmal aussteigen und den Flughafen in
Casablanca betreten, sondern mussten unverzüglich mit
derselben Maschine wieder zurückfliegen. Unsere Kol-
legen vom Europäischen Parlament wurden von unserem
Partnerland Marokko also einfach ausgewiesen. Das ist
diplomatisch nicht tragbar und aufs Schärfste zu verur-
teilen!
Was zeigt uns dieser Vorfall? Für mich kann das nur
eines bedeuten, und ich schließe mich dem Urteil der
Kollegen des Europäischen Parlaments an: Marokko
fürchtet anscheinend wie nie zuvor kritische Berichte zur
Menschenrechtssituation im besetzten Gebiet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29419
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Zweitens. Erst zwei Wochen zuvor hatte ein marokka-
nisches Militärgericht 24 Saharauis zu langjährigen
Haftstrafen verurteilt. Die Schweiz und Kanada waren
übrigens mit Vertretern aus ihren Missionen bei dem Tri-
bunal vor Ort. Deutsche Vertreter wurden nirgendwo ge-
sichtet. Das wäre ein wichtiges Signal für die Menschen-
rechte gewesen. Doch zurück zum Prozess: Allein, dass
dieser für die 24 Zivilisten vor dem Militärgericht in Ra-
bat stattgefunden hat, verletzt die internationalen Stan-
dards für ein faires Gerichtsverfahren. Die Verurteilten
waren 2010 nach friedlichen Protesten und der gewaltsa-
men Auflösung des Lagers von Gdeim Izik festgenom-
men worden. Acht von ihnen müssen nun lebenslang ins
Gefängnis, die anderen bis zu 30 Jahre.
Diese harten Strafen ohne eindeutige Beweislage, bei
Foltervorwürfen gegen das Gefängnispersonal, ohne Au-
topsie der getöteten marokkanischen Sicherheitskräfte
zeigen: Marokko versucht in Kolonialmanier durch ge-
waltsame Räumungen und intransparente und politisch
motivierte Prozesse, jegliche Aktivitäten der Saharauis
zu unterbinden.
Drittens hat mich die Nachricht bestürzt, dass die EU
angeblich bei den Verhandlungen über ein neues Fische-
reiabkommen mit Marokko die Befischung der Gewäs-
ser vor den Küsten der Westsahara wieder mitdiskutiert.
Erst 2011 hatte das Europäische Parlament eine Verlän-
gerung des Abkommens vor diesem Hintergrund abge-
lehnt. Eine Antwort der Hohen Vertreterin für Außen-
und Sicherheitspolitik der EU, Catherine Ashton, steht
noch aus. Falls die Vermutung stimmen sollte, dass die
EU diesmal nun wieder zustimmen wird, ist eine solch
inkonsequente Linie der EU das Letzte, was wir brau-
chen können, wenn wir den Prozess einer Einigung in
der Region voranbringen wollen. Ich erwarte deshalb in
dieser Debatte eine klare und deutliche Positionierung
der deutschen Bundesregierung in Brüssel gegen das
Abkommen und keine „Fähnchen-im-Wind-Dreherei“
wie bei den letzten Verhandlungen 2011.
Ich selbst war vor zwei Jahren mit einer Delegation
des Menschenrechtsausschusses in der Westsahara und
in den Flüchtlingslagern in Algerien. Diese Reise hat
mich sehr berührt.
Der UNHCR versucht, die Flüchtlinge den Umstän-
den entsprechend gut zu versorgen. Und auch die Polisa-
rio kümmert sich um die Lebenssituation vor Ort. Aber
die Bedingungen für die Flüchtlinge sind erschreckend.
Einer der Hauptfinanziers, die krisengeschüttelten spani-
schen Gemeinden, die bisher insbesondere die schuli-
sche Ausbildung und den Austausch der Jugendlichen
förderten, stellten in den vergangenen Jahren viele Zah-
lungen ein.
Aber vor allem bewegt mich die Frage: Welche Per-
spektiven auf ein freies Leben unter gesicherten Be-
dingungen haben die Menschen? Das Gleiche gilt für
die Saharauis, die im marokkanisch verwalteten Ge-
biet leben. Sie leiden täglich unter den Menschen-
rechtsverletzungen und den Diskriminierungen durch
die marokkanische Verwaltung. Die lokalen Men-
schenrechtsorganisationen arbeiten unter schwierigen
Bedingungen. Umso schöner ist die Nachricht, dass
die bekannteste Organisation – CODESA – nun mit
dem Bremer Solidaritätspreis ausgezeichnet wurde.
Unser gemeinsames Ziel der Delegation, einen inter-
fraktionellen Antrag zu schreiben, ist leider nicht zu-
stande gekommen. Doch meinen Kollegen von den Grü-
nen Volker Beck und mich haben die Eindrücke von dort
nicht mehr losgelassen. In unserem Antrag kommen wir
unserer menschenrechtlichen Pflicht nach, uns interna-
tional für die Lösung des Konfliktes zu engagieren und
gegebenenfalls Druck auf die Beteiligten auszuüben. Die
Menschen in der Westsahara müssen endlich die Wahl
bekommen: Wollen sie ein Teil Marokkos sein oder da-
von unabhängig? Und Marokko muss stärker als bisher
an seine menschenrechtlichen Verpflichtungen erinnert
werden.
Daher bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag.
Bei dem Antrag der Linken, der uns ganz kurzfristig und
überraschend heute zur Abstimmung noch vorgelegt
worden ist, werden wir uns enthalten. Vielleicht hätten
Sie mit uns reden sollen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von den Linken.
Marina Schuster (FDP): Auch nach fast 40 Jahren
ist der Westsahara-Konflikt ungelöst. Die Fronten zwi-
schen den Parteien sind verhärtet; ein rund 2 500 Kilo-
meter langer Sandwall zieht sich durch die Region. Las-
sen Sie mich jedoch gleich zu Anfang festhalten:
Vergessen ist der Konflikt dadurch noch lange nicht.
Und deswegen begrüße ich es auch, dass wir hierzu eine
Debatte führen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der SPD und
von den Grünen, Sie haben nicht im Antragstext selbst,
sondern in der Begründung vieles aufgeschrieben. Doch
diese Zusammenschau wird den tatsächlichen Gegeben-
heiten in einigen Punkten nicht gerecht. Das wissen Sie
auch. Sie erwähnen beispielsweise nicht, was die
Bundesregierung bereits tut. Bundesaußenminister
Westerwelle und Bundeskanzlerin Merkel thematisieren
die humanitäre Lage in der Region regelmäßig auf bi-
und multilateraler Ebene. Diplomatisches Spitzenperso-
nal bemüht sich in Algier, Rabat und Laayoune um eine
stetige Intensivierung des Dialogs. Die Besuche des VN-
Sondergesandten Wolfgang Weisbrod-Weber und des
persönlichen Gesandten des VN-Generalsekretärs
Christopher Ross in Berlin zu Beginn dieses Jahres sind
ein Ergebnis dieses Engagements.
Und seien Sie versichert: Wir drängen auf eine rasche
Lösung des Konflikts. Denn zu lange warten die Men-
schen auf Bewegung.
Seit 1991 überwachen die Vereinten Nationen mit der
Mission MINURSO den Waffenstillstand zwischen Ma-
rokko und der Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisa-
rio. Die sogenannte Übergangsperiode, die die Umset-
zung des VN-Lösungsplans vorsieht, hat noch nicht
einmal begonnen. Obwohl die Mission die Durchfüh-
rung eines Referendums sogar in ihrem Namen trägt,
steht dieses bis heute aus. Zu unterschiedlich sind die
Positionen der beteiligten Parteien.
29420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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Das heißt jedoch nicht, dass die Anwesenheit von
MINURSO vergeblich ist. Und genau auf diesen Punkt
geht Ihr Antrag überhaupt nicht ein: Ich vermisse eine
Würdigung der Arbeit der Vereinten Nationen, von Ban
Ki-moon, und von Herrn Weisbrod-Weber und Herrn
Ross. Die Gesandten und die Mission MINURSO leisten
unter sehr schwierigen Bedingungen einen wichtigen
Beitrag, um eine Annäherung zwischen Marokko und
Sahrauis zu fördern. Deutschland unterstützt diese Be-
mühungen ausdrücklich. Das Auswärtige Amt trägt zum
Beispiel zu den vertrauensbildenden Maßnahmen des
UNHCR bei, die Familienbesuche oder Telefonkontakte
ermöglichen. Und wir haben uns ja selbst im Menschen-
rechtsausschuss mit Herrn Weisbrod-Weber darüber in-
formieren können.
Vergessen wird ebenfalls, wie leider so oft, der Euro-
parat. Marokko ist seit fast zwei Jahren Partner for De-
mocracy der Parlamentarischen Versammlung des Euro-
parates. Die Idee hinter diesem Status ist, dass Marokko
die Instrumente des Europarates, wie zum Beispiel die
Venedig-Kommission, nutzen kann, um menschenrecht-
liche und rechtsstaatliche Entwicklungen im eigenen
Land zu fördern.
Diesen Weg halte ich übrigens für konstruktiver, als
beispielsweise jedwede Entwicklungszusammenarbeit in
der Region Westsahara zu beenden. Ich denke, wir müs-
sen bei einer solchen Forderung auch bedenken, ob es im
Sinne der Menschen vor Ort wäre oder ob es nicht doch
mögliche Projekte gibt, die unterstützungswürdig sind.
Eines ist besonders wichtig: Wir müssen den Blick
auf die teilweise gravierenden Menschenrechtsprobleme
in der Region lenken.
Anfang des Monats erschien der jährliche Bericht des
VN-Generalsekretärs Ban Ki-moon zur Situation in
Westsahara. Dieser thematisiert die fortdauernden Men-
schenrechtsverletzungen im von Marokko kontrollierten
Gebiet. Er kritisiert aber auch, dass es keinerlei Aufklä-
rung über Menschenrechtsverletzungen in den Flücht-
lingslagern der Frente Polisario in Tindouf gibt.
In Bezug auf den marokkanischen Teil reichen die
Menschenrechtsverletzungen von Einschränkungen der
Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
über unfaire Gerichtsverfahren bis hin zu Folter sowie
grausamer und unmenschlicher Behandlung. Gleichzei-
tig gibt es Anschuldigungen über Menschenrechtsverlet-
zungen in den Flüchtlingslagern in Tindouf, die mithilfe
der UN aufgeklärt werden müssen. Im September 2012
hat Frente Polisario Kooperation zugesagt.
Die Eröffnung zweier Büros des Nationalen Men-
schenrechtsrates durch Marokko 2011 im Zuge einer
Verfassungsreform sendete sicherlich ein positives Si-
gnal. Dennoch sehe ich weiterhin besorgniserregende
Entwicklungen im Bereich der Menschenrechte, die sich
negativ auf die ohnehin schon instabile Lage im Sahel
auswirken können.
Auch mir ist klar, dass die Konfliktparteien unter-
schiedliche Ansätze verfolgen, die die Durchsetzung von
Menschenrechten in der Region sicherstellen sollen.
Gleichzeitig bin ich aber davon überzeugt, dass eine Ver-
besserung der Menschenrechtslage inhärent notwendig
für jedwede Lösung des Konflikts ist. Ban Ki-moon
empfiehlt in seinem Bericht, einen unabhängigen Kon-
trollmechanismus zur Überwachung der Menschen-
rechtssituation in der Region einzurichten.
Ein neutraler Mechanismus, der die Menschenrechts-
lage sowohl in Westsahara als auch in den Flüchtlingsla-
gern in Tindouf überwacht, ist lange überfällig. Hier
würde sich vor allem die Chance bieten, das gegensei-
tige Vertrauen zwischen den Parteien zu stärken und so-
mit auch eine Grundlage für zukünftige Verhandlungen
zu schaffen.
Diesen Monat läuft das Mandat der VN-Mission
MINURSO aus, eine Verlängerung steht an. Umstritten
ist allerdings leider die Erweiterung des Mandats um
eine Menschenrechtskomponente. Die „Freundesgruppe
der Westsahara“, bestehend aus den USA, Großbritan-
nien, Frankreich, Russland und Spanien, verhandelt der-
zeit über die Ausgestaltung des neuen MINURSO-
Mandats. Den Vorstoß, einen Entwurf für ein Menschen-
rechtsmandat einzubringen, begrüße ich sehr. Ich bedau-
ere umso mehr, dass sich Marokko – zumindest nach
Presseberichten – bereits ausdrücklich gegen ein erwei-
tertes Mandat von MINURSO um ein Menschenrechts-
monitoring ausgesprochen hat. Ich appelliere hier ins-
besondere an Frankreich, die Aufnahme eines
Menschenrechtsmonitorings zu unterstützen. Und ich
hoffe sehr, dass es zu einer einheitlichen Position inner-
halb der EU kommt! Wir wissen leider, dass es diese seit
vielen Jahren nicht gegeben hat.
Denn in diesem Punkt stimme ich Ihrem Antrag zu:
Wir brauchen dringend eine Ergänzung des MINURSO-
Mandats um eine Menschenrechtskomponente.
Die Mission leistet seit über 20 Jahren wichtige Ver-
mittlungsarbeit vor Ort. Sie ist als unabhängige Instanz
wie keine andere Partei geeignet, die Lage der Men-
schenrechte in der Region zu überwachen.
Ich glaube, dass eine Unterstützung durch die Hohe
Kommissarin der VN für Menschenrechte maßgeblich
für die Erweiterung des MINURSO-Mandats ist. Hier
müssen wir unbedingt unsere Unterstützung zeigen. Ich
habe mich daher in einem Brief an Navi Pillay gewandt
und sie gebeten, sich für eine Menschenrechtskompo-
nente im Mandat von MINURSO einzusetzen.
Jetzt sind vor allem die Konfliktparteien gefragt, die
einen gemeinsamen Nenner finden müssen, wie sie ihrer
Verantwortung für den Menschenrechtsschutz der be-
troffenen Bevölkerung gerecht werden. Wir tun alles, um
dies zu unterstützen.
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Die Kriege in Jugo-
slawien, Afghanistan und Irak, die Propaganda gegen
den Iran als Weltbedrohung, die uneingeschränkte Par-
teinahme für die damalige libysche und die heutige syri-
sche Opposition und das Hofieren dieser sogenannten
Rebellen, die den Bürgerkrieg weiter zu eskalieren su-
chen, um schließlich eine Intervention von außen zu be-
fördern – all dem liegt die westliche Eigennützigkeit zu-
grunde. Die angebliche Prämisse der Förderung von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29421
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Demokratie und Menschenrechten spielt in Wahrheit
– wenn überhaupt – nur eine nachgeordnete Rolle. Zu-
meist wird sie gänzlich ignoriert, wie das Beispiel Ma-
rokko sehr deutlich zeigt.
Da kooperiert die Bundesregierung mit dem marok-
kanischen Regime aufs Engste, an das sie Waffen liefert
und dessen Soldaten und Polizisten sie ausbildet. Jene
Soldaten und Polizisten, die vermutlich auch mit deut-
schen Ausrüstungen am 8. November 2010 gewaltsam
das „Camp der Würde“ in der Wüste vor den Toren der
Stadt El Aaiún räumten. Dabei starben nach sahraui-
schen Angaben zwölf Menschen, mehrere Hundert De-
monstranten wurden schwer verletzt. Das Camp wurde
dem Erdboden gleichgemacht, die Zelte in Brand ge-
steckt. Die Bundesregierung belohnt auch noch Ma-
rokko dafür, dass es durch die Besatzung Völkerrecht
bricht und sich kontinuierlich schwerster Menschen-
rechtsverletzungen schuldig macht. Sie lässt die sahraui-
sche Bevölkerung für die schmutzigen Dienste
Marokkos bei der vermeintlichen Bekämpfung des inter-
nationalen Terrorismus und der Flüchtlingsabwehr im
wahrsten Sinne des Wortes „bluten“.
Sonst unterstützt die Bundesregierung jede beliebige
Gruppierung beim Streben nach Unabhängigkeit. Sie
muss sich nur geostrategische Vorteile versprechen und
das Interesse des deutschen Kapitals sehen. Menschen-
rechte und Völkerrecht spielen da eine untergeordnete
Rolle. Diese sieht die Bundesregierung offenkundig im
Falle der Sahrauis und der Westsahara nicht. Denn sie
stellt sich auch weiterhin nicht auf die Seite des Völker-
rechts, sondern auf die Seite der völkerrechtswidrigen
Besatzungspolitik Marokkos. Sie stellt sich auf die Seite
derer, die das geforderte Referendum verhindern bzw.
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wollen und
damit die sahrauische Bevölkerung der Westsahara dau-
erhaft ihres Rechtes auf Selbstbestimmung berauben.
Ihre Unterstützung für das marokkanische Besatzungsre-
gime trägt dazu bei, eine endgültige Klärung des völker-
rechtlichen Status der Westsahara zu behindern. Schlim-
mer noch: Das offen und demonstrativ gezeigte absolute
Desinteresse der Bundesregierung an einer Klärung setzt
ein klares Zeichen für die Zukunft. Denn eine militäri-
sche Konfrontation ist nicht mehr ausgeschlossen. Durch
sofortige und konkrete Schritte zu einem Referendum
könnte diese verhindert werden. Die Linke unterstützt
alle dahin gehenden Schritte. Sie teilt in diesem Sinne
auch einige der Forderungen des SPD-Grünen-Antrages.
Der Antrag hat aber ein grundsätzliches Manko, weshalb
wir als Linke auch nicht zustimmen können. Dieser An-
trag lässt es in der zentralen Frage des Konflikts an Klar-
heit fehlen. So ist nicht klar benannt, dass es sich um
eine völkerrechtswidrige Besetzung und Besatzung der
Westsahara handelt. Sehr verkürzend wird von einer
„völkerrechtswidrigen Verwaltung“ geschrieben. Kein
Wunder also, wenn eine wirtschaftliche Ausbeutung der
Westsahara durch Marokko akzeptabel zu sein scheint,
sofern sie „der sahrauischen Bevölkerung zu Gute“
komme. Diese Formulierungen deuten an, dass SPD und
Grüne die jetzige Politik geradewegs fortsetzen wollen,
wenn sie selbst wieder einmal an einer Regierung betei-
ligt sind. Die Besatzung selbst ist schlicht illegal und
muss beendet werden – daran ist eine Position für das
Völkerrecht und die Menschenrechte zu messen.
Die Linke will nicht einfach nur, dass die Sahrauis an
der illegalen Ausbeutung im Nachgang irgendwie betei-
ligt werden. Sie sind es, die darüber entscheiden können
müssen, ob überhaupt eine Ausbeutung der Ressourcen
stattfinden soll. Und wenn sie das wollen, sind auch sie
es, die darüber entscheiden müssen, in welcher Art und
Weise dies zu geschehen hat. So funktioniert Demokra-
tie! So sieht es das internationale Recht vor! All das wird
ihnen völkerrechtswidrig durch die marokkanischen Be-
satzer verwehrt. Sahrauis, die sich wie damals im „Camp
der Würde“ gegen diese völkerrechtswidrige Besatzung
und ihre Folgen wehren, werden eingesperrt, gefoltert
oder gar getötet. Mit diesen Menschenrechtsverletzun-
gen und mit der systematischen Diskriminierung der
Sahrauis muss endlich Schluss sein! Und Schluss sein
muss auch damit, dass die Bundesregierung das marok-
kanische Regime bei jeder Gelegenheit hofiert und damit
das Königshaus gegen die Protestbewegungen unter-
stützt. Sie muss endlich alles tun, Marokko von der völ-
kerrechtswidrigen Besatzung der Westsahara und den
dort stattfindenden Menschenrechtsverletzungen abzu-
halten, auch um eine weitere Eskalation in der gesamten
Region zu vermeiden. Und dazu bedarf es eben wesent-
lich stärkerer Maßnahmen als derjenigen, die im SPD-
Grünen-Antrag formuliert sind. Hauptziel muss sein, das
marokkanische Regime zu bewegen, endlich die Resolu-
tion 690 des UN-Sicherheitsrats vom 29. April 1991 um-
zusetzen und das Referendum über die Zukunft der
Westsahara unter UN-Aufsicht nicht weiter zu blockie-
ren.
Die Linke fordert deshalb unter anderem: dafür Sorge
zu tragen, dass die Begünstigungen Marokkos im Rah-
men der Europäischen Nachbarschaftspolitik und des
„fortgeschrittenen Status“, advanced status, sowie das
Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Ma-
rokko so lange ausgesetzt werden, bis das Referendum
über die Zukunft der Westsahara unter UN-Aufsicht
stattgefunden und Marokko die völkerrechtswidrige Be-
satzung der Westsahara beendet hat; die Beteiligung
deutscher Unternehmen an Abbau, Abtransport und Wei-
terverarbeitung von Ressourcen wie Phosphaten in der
Westsahara oder Fischfang sowie an Explorationen zum
Beispiel von Öl und Gas nicht weiter zu decken, sondern
zur Anzeige zu bringen; sich dafür einzusetzen, dass ein
Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko nicht
im Widerspruch zum Völkerrecht steht, indem die Ge-
biete der völkerrechtswidrig besetzten Westsahara aus-
drücklich ausgenommen werden; darauf hinzuwirken,
dass bei Verlängerung der UN-Mission MINURSO das
Mandat auf die Beobachtung und Meldung von Men-
schenrechtsverletzungen in der Westsahara erweitert
wird, solange unabhängige Menschenrechtsbeobachter
und -beobachterinnen keinen freien Zugang zu den be-
setzten Gebieten haben; jegliche Ausbildungs- und Aus-
stattungshilfe für marokkanische Polizei- und Armee-
kräfte einzustellen.
29422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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Es wird Zeit, die Unterstützung gegenüber autoritären
Regimen endlich zu beenden und die deutsche Außen-
politik auf Rechts- und Sozialstaatlichkeit sowie auf das
Völkerrecht zu orientieren.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es ist jetzt gut zwei Jahre her, dass ich gemeinsam mit
anderen Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen in der
Westsahara war. Zudem haben wir damals das riesige
sahrauische Flüchtlingslager in Tindouf in Algerien be-
sucht. Was wir dort gesehen, gehört und erlebt haben,
hat uns alle betroffen gemacht.
Vor über 20 Jahren, am 29. April 1991, setzte der UN-
Sicherheitsrat mit der Resolution 690 die UN-Mission
MINURSO ein, die ein Referendum über die Zukunft
der Westsahara absichern sollte. Nach jahrzehntelangen
Kämpfen hatte sich die Regierung von Marokko mit der
Polisario, der Befreiungsbewegung der maurischen
Sahrauis, auf eine Volksabstimmung geeinigt. Diese Ab-
stimmung hat es bis heute nicht gegeben. Stattdessen
durchzieht von Nordost nach Südwest eine befestigte
Grenzanlage die Westsahara, die das Gebiet ziemlich ge-
nau nach der wirtschaftlichen Nutzbarkeit aufteilt: in
eine marokkanisch besetzte Speckschwarte zur Küste
hin samt Fischreichtum und Phosphatvorkommen und in
ein der Polisario überlassenes Knochenstück mit viel
Wüste und Dürre. Als ich diese krassen Unterschiede in
den Lebensverhältnissen gesehen habe, habe ich begrif-
fen, dass es sich hier tatsächlich um den wohl letzten ko-
lonialen Konflikt der Welt handelt.
Was völkerrechtlich noch als schwerwiegendes Ver-
säumnis durchgehen könnte, hat katastrophale men-
schenrechtliche Konsequenzen. Einem Großteil der
sahrauischen Bevölkerung in dem von Marokko besetz-
ten Gebiet werden wesentliche Menschenrechte vorent-
halten. Sie darf weder ihre Meinung äußern noch sich
frei versammeln, sie wird staatlich diskriminiert und be-
nachteiligt. Die Bevölkerung in dem von der Polisario
kontrollierten Teil leidet unter der von Marokko bewusst
herbeigeführten schlechten wirtschaftlichen Lage und
zahlreichen Aktivitäten des marokkanischen Geheim-
dienstes. In beiden Teilen verschwinden Aktivistinnen
und Aktivisten, werden willkürlich verhaftet und zum
Teil in den Gefängnissen gefoltert. Eine Strafverfolgung
dieser Menschenrechtsverletzungen findet nicht statt.
Katastrophal ist nach wie vor die Lage in den Flücht-
lingslagern auf algerischer Seite, wo weit über 100 000
Menschen zum Teil seit über 30 Jahren und in dritter Ge-
neration unter erbärmlichen Umständen leben müssen,
ohne eine Aussicht darauf zu haben, jemals in ihre Hei-
mat zurückzukönnen und ein normales Leben zu führen.
Die schlechten humanitären Bedingungen im Lager
Tindouf, der Wassermangel und die Hitze sind mir noch
in guter Erinnerung. Die Perspektivlosigkeit an diesem
Ort hat mich tief getroffen.
Dass der Westsahara-Konflikt immer noch nicht ge-
löst ist, liegt in erster Linie an den wirtschaftlichen Inte-
ressen und der Sturköpfigkeit Marokkos. Aber es liegt
auch daran, dass weder die UN über MINURSO noch
die EU noch Deutschland genügend Willen und Elan
zeigen, diese Situation wirklich zu ändern.
Die UN nutzen ihre Möglichkeiten, um das überfäl-
lige Referendum endlich gegen den marokkanischen Wi-
derstand durchzusetzen, nicht, weil wohl in erster Linie
französische Interessen dagegen stehen. Frankreich sieht
sich in einer traditionellen Schutzpflicht für Marokko
und unterhält dorthin enge politische, wirtschaftliche
und persönliche Beziehungen. Als im Jahre 2009 ange-
dacht wurde, dem MINURSO-Mandat einen Menschen-
rechtsmechanismus hinzuzufügen, scheiterte dies an der
Androhung Frankreichs, notfalls ein Veto einlegen zu
wollen. Eine entsprechende Vorlage zur Änderung des
Mandats kam somit erst gar nicht zur Abstimmung.
Frankreich stellt sich eins zu eins hinter die Regierung
des Königreichs Marokko und unterstützt damit die fak-
tische Annexion dieses Gebietes der Westsahara durch
Marokko. Nach den zwei nahezu verschenkten Jahren
im Sicherheitsrat sollte Deutschland nun zumindest im
UN-Menschenrechtsrat seinen Einfluss geltend machen,
um die französische Blockade zu überwinden und zu-
mindest der MINURSO das Recht einzuräumen, über
die Achtung der Menschenrechte in Westsahara zu wa-
chen. Und auch in der EU sollte Deutschland sein Ge-
wicht nutzen, um eine neue europäische Position zu
Westsahara zu erwirken.
Im Gespräch mit Wolfgang Weisbrod-Weber vor we-
nigen Wochen im Ausschuss für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe wurde deutlich, dass das Mandat der
MINURSO nach wie vor zwei gewichtige Probleme hat:
Erstens mangelt es an der Unterstützung der Konflikt-
parteien für eine Durchführung des Referendums – vor
allem von der marokkanischen Seite, die daran keinerlei
politisches Interesse hat. Zweitens hat MINURSO als
einzige aktuelle VN-Mission kein Mandat zur Überprü-
fung der Menschenrechtslage. Sicher: Es gibt auch an-
dere Möglichkeiten der Vereinten Nationen. Das hat uns
Herr Weisbrod-Weber – nicht zuletzt aus Loyalität zu
seinem Mandat – dargelegt: etwa Berichte des VN-Son-
derberichterstatters für Folter oder der Hochkommissa-
rin für Menschenrechte. Oder auch die Befassung des
UN-Menschenrechtsrates, wie wir es in Forderung 3 ste-
hen haben. Wir denken dennoch, dass ein Menschen-
rechtsmechanismus in das Mandat hineingehört, und for-
dern dies daher in unserem Antrag explizit.
Wichtig ist uns aber auch, dass sich die Bundesregie-
rung viel stärker als bislang bemühen sollte, Marokko
zur Einhaltung seiner völkerrechtlichen Pflichten zu
ermahnen. Dies gilt insbesondere für die Verteilung der
Einnahmen aus der Ausbeutung von natürlichen Res-
sourcen auf dem Gebiet der Westsahara. Die sahrauische
Bevölkerung profitiert davon derzeit nahezu gar nicht.
Infrastrukturmaßnahmen kommen vor allem dem ma-
rokkanischen Militär zugute, schädigen die Position der
Sahrauis also eher. Dies gilt etwa auch für die Neuver-
handlung eines Fischereiabkommens der EU mit Ma-
rokko, die Phosphatgewinnung oder den Aufbau von So-
larkraftwerken. Es war richtig, dass das Europäische
Parlament auf die Initiative der europäischen Grünen hin
dafür gesorgt hat, dass das Fischereiabkommen zwi-
schen der EU und Marokko nicht verlängert werden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29423
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konnte. Zuvor verkaufte Marokko die reichen Fischbe-
stände vor der Küste Westsaharas an die Europäer. Gut
36 Millionen Euro war dieser Fang wert. Völkerrechtlich
müssten diese Beträge eigentlich der Bevölkerung der
besetzten Gebiete dienen, denn die wirtschaftliche Ver-
wertung der Bodenschätze auf dem Gebiet der West-
sahara und der Fischbestände vor der Küste durch
Marokko ist völkerrechtswidrig, solange sie der sahrau-
ischen Bevölkerung nicht zugutekommt. Abgeleitet aus
dem Recht auf Selbstbestimmung besitzen alle Völker
auch das Recht, ihre eigene ökonomische, kulturelle und
soziale Entwicklung zu fördern, was die Freiheit ein-
schließt, über die Bodenschätze und natürlichen Res-
sourcen auf ihrem Gebiet selbst zu verfügen. Art. 73 der
VN-Charta besagt zudem, dass die ökonomische Aus-
beutung von natürlichen Ressourcen in nicht selbstbe-
stimmten Gebieten nur mit der Zustimmung der lokalen
Bevölkerung gestattet werden kann und in Übereinstim-
mung mit deren wirtschaftlichen Interessen erfolgen
muss. Beides ist in dem von Marokko besetzten Gebiet
der Westsahara nicht der Fall.
Sicherlich ist es zu kurz gesprungen, das Königreich
Marokko als alleinigen Missetäter in diesem Konflikt
darzustellen. Zwar gehen durch die Besatzungspolitik
viele der in Westsahara verübten Menschenrechtsverlet-
zungen von Marokko aus. Daraus folgt jedoch nicht
zwangsläufig, dass man der Polisario bei dem Umgang
mit ihren eigenen Leuten 100-prozentig vertrauen kann.
Gerade deshalb braucht MINURSO einen Menschen-
rechtsmechanismus. Leider aber hat die schwarz-gelbe
Koalition auch diese einzelne Forderung – die wir ges-
tern im Menschenrechtsausschuss getrennt haben ab-
stimmen lassen – abgelehnt. Die Koalitionsräson, nicht
mit Anträgen der Opposition zu stimmen, stand einmal
mehr über dem Einsatz für die Menschenrechte. Dabei
wäre es wichtig gewesen, endlich zu einer eigenständi-
gen und menschenrechtsorientierten deutschen Westsa-
hara-Politik zu kommen.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union (EUZBBG) (Tagesord-
nungspunkt 13)
Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Hartnäckig be-
gegnet mir im Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern
das Missverständnis, der Deutsche Bundestag habe in
den vergangenen Jahren europapolitisch an Einfluss ver-
loren. Dabei ist das Gegenteil richtig: Zunächst durch
den parlamentarisch geprägten Konvent zum Europäi-
schen Verfassungsvertrag und später durch den Vertrag
von Lissabon wurde eine umfassende Parlamentarisie-
rung der Europapolitik eingeleitet. Mit frühzeitigen In-
formationsrechten direkt aus der Europäischen Kommis-
sion und den neuen Instrumenten der Subsidiaritätsrüge
und der Subsidiaritätsklage erhielten die nationalen Par-
lamente einen sehr viel stärkeren Einfluss auf europa-
politische Entscheidungen, die lange die Domäne der
Exekutive gewesen waren. Gleichzeitig hat auch das Eu-
ropäische Parlament in den vergangenen Jahrzehnten an
Einfluss auf europäische Gesetzgebungsprozesse ge-
wonnen; es ist zu einem echten Parlament gereift.
Kurzum: So viel parlamentarische Mitbestimmung in
Europa wie heute gab es noch nie!
Daher ist es nur richtig, diese Informations- und Ent-
scheidungsrechte auch gegenüber der eigenen Regierung
gesetzlich zu verankern. Doch geschieht dies heute ja
mitnichten zum ersten Mal: Der Deutsche Bundestag hat
allen Grund, heute auch stolz auf seine eigene gesetzge-
berische Arbeit zurückzublicken. Was 2005 mit der da-
maligen „Zusammenarbeitsvereinbarung“ zwischen
Bundestag und Bundesregierung begann, findet heute in
einem neuen EUZBBG seinen Abschluss. Mein Dank
gilt daher den Berichterstattern aller Fraktionen, die an
diesem überfraktionellen Antrag mitgewirkt haben.
Während wir bei der Verabschiedung des alten
EUZBBG lediglich die alte Zusammenarbeitsvereinba-
rung in ein Gesetz umformuliert haben, wurde der heute
vorliegende Text vollkommen neu verfasst. Damit
konnte erstmals eine Gesetzessystematik geschaffen
werden, wie wir und wie sie auch Gerichte und die Wis-
senschaft gewohnt sind. Zugleich wurde nun erstmals
vollumfänglich ausformuliert, was aus Sicht des Deut-
schen Bundestages unter dem Begriff der „Angelegen-
heiten der Europäischen Union“ zu verstehen ist. Hier
gab es in der Vergangenheit Unterschiede in der Inter-
pretation zwischen der Bundesregierung und dem Parla-
ment, die teilweise erst vom Bundesverfassungsgericht –
übrigens im Sinne des Parlaments! – geklärt werden
konnten. Jetzt ist klar, dass künftig sämtliche neu zu
schaffenden Instrumente zur Weiterentwicklung der
Euro-Zone zu diesen „Angelegenheiten der Europäi-
schen Union“ zu zählen sind und der Deutsche Bundes-
tag entsprechend zu informieren ist. Die Erfahrung mit
dem alten EUZBBG hat gezeigt, dass der Bundestag
seine europapolitische Rolle selbstbewusst, aber auch
verantwortungsbewusst wahrnimmt. Wir gerieren uns
nicht als bessere Exekutive, sondern wahren auch in die-
sem Gesetz die Balance zwischen parlamentarischer
Kontrolle und europapolitischer Handlungsfähigkeit der
Regierung. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe werden wir
von der Bundestagsverwaltung – namentlich der neu ge-
schaffenen Unterabteilung Europa – und dem Verbin-
dungsbüro in Brüssel unterstützt. Auch ihnen sei an die-
ser Stelle ein herzliches Dankeschön gesagt.
Bereits die alte Zusammenarbeitsvereinbarung fand
im Übrigen bei unseren Kolleginnen und Kollegen in
den übrigen Mitgliedstaaten der EU großes Interesse.
Mehrfach musste unser Sprachendienst dieses Doku-
ment übersetzen, weil die zunehmende Beteiligung des
Deutschen Bundestages an der deutschen Europapolitik
mit sehr großem Interesse wahrgenommen wurde. Dies
fand nach Verabschiedung des alten EUZBBG seine
Fortsetzung. Auch dieses Gesetz hatte ich mehr als ein-
mal in übersetzter Fassung in meinem Reisekoffer, wenn
ich andere Hauptstädte, die Sitzungen der COSAC, der
Konferenz der nationalen Europaausschüsse, oder auch
29424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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das Europäische Parlament besuchte. Überall stieß ich
auf sehr großes Interesse an der europapolitischen Arbeit
des Bundestages, und überall wurde sehr aufmerksam
registriert, dass das Parlament in einem zentralen Mit-
gliedstaat der EU seine Kompetenzen in der Europapoli-
tik deutlich ausweiten konnte. Und unser EUZBBG
wurde auch als Vorbild für die Formulierung eigener Be-
teiligungsrechte genutzt: Kürzlich informierte mich bei-
spielsweise das dänische Parlament darüber, dass die
dortigen Kolleginnen und Kollegen sich bei ihrem Betei-
ligungsgesetz eng an unserer Vorlage orientieren. Daher
bin ich mir ganz sicher, dass das heute zu verabschie-
dende neue EUZBBG ebenfalls weit über die Beziehun-
gen zwischen Bundestag und Bundesregierung hinaus in
ganz Europa unter den Parlamentariern große Beachtung
finden wird.
Und ich würde mir wünschen, wenn es unsere Kolle-
ginnen und Kollegen in jenen Ländern, in denen die Eu-
ropapolitik noch immer weitgehend von der Exekutive
ausgeht, ebenfalls zu mehr Selbstbewusstsein ermuntert.
Denn wir als nationale Parlamentarier können unsere
Aufgaben, die uns in der Europapolitik mit dem Vertrag
von Lissabon ausdrücklich zugewachsen sind, nur dann
vollumfänglich wahrnehmen, wenn wir zugleich über
entsprechende Beteiligungsrechte verfügen. Aufgrund
der unterschiedlichen parlamentarischen Traditionen in
den einzelnen Mitgliedstaaten der EU wird naturgemäß
auch die Beteiligung in europapolitischen Fragen nie-
mals vollkommen harmonisiert werden können. Verglei-
chen wir nur einmal die Parlamente, ihre Traditionen
und die den Abgeordneten zur Verfügung stehenden
Ressourcen in unseren Nachbarländern Österreich,
Frankreich, Polen und Dänemark! Denken wir an das
britische Parlament und seine ganz eigene Debattenkul-
tur! Es ist gut, dass es diese Unterschiede gibt, denn
Demokratie lebt auch von der Verwurzelung in
eigenen Traditionen. Ich wünsche aber trotzdem dem
neuen EUZBBG eine große Verbreitung unter unseren
europäischen Kolleginnen und Kollegen, um Ideen für
die eigene Arbeit anzustoßen.
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Heute wurden im
Deutschen Bundestag weitreichende und in ihren Konse-
quenzen noch nicht vollständig absehbare Entscheidun-
gen getroffen, die mit Zypern, Irland und Portugal zwar
auf Partnerländer in der Europäischen Union bezogen
sind, die aber natürlich auch Deutschland elementar be-
rühren. Unabhängig von ihrem Inhalt zeigen diese Ent-
scheidungen zum einen, wie eng verflochten die euro-
päischen Partner heute schon sind, wie Entwicklungen,
die sich an den äußersten Rändern unseres Kontinents
abspielen, uns ebenso intensiv beschäftigen müssen wie
manche Fragen der Innenpolitik.
Die Entscheidungen machen aber zum anderen noch
einmal sehr deutlich, wie eng das Handeln der Bundesre-
gierung auf europäischer Ebene und unser eigenes hier
im Deutschen Bundestag inzwischen miteinander ver-
flochten sind. Von Deutschland wird häufig gefordert,
seiner Führungsverantwortung in Europa gerecht zu
werden. Eine starke Position in Brüssel beruht aber
heute nicht mehr darauf, dass eine Exekutive quasi im
Verborgenen – ungestört und losgelöst von Positionen
der heimischen Parlamentarier – handeln und verhandeln
kann. Um eine führende Rolle in Verhandlungen spielen
zu können, bedarf die Bundesregierung vielmehr eines
klaren Mandats des Parlaments, auf das sie sich stützen
und an dem sie sich orientieren kann. Auch die europäi-
schen Partner sind von deutschen Positionen eher zu
überzeugen, wenn sie wissen, dass hier in wesentlichen
Punkten Parlament und Exekutive mit einer Stimme
sprechen. Auswirkungen eines Auseinanderklaffens von
Verhandlungspositionen und parlamentarischer Rücken-
deckung konnten im Rahmen der Verhandlungen in der
Zypernkrise ja besichtigt werden.
Nach einer begrüßenswerten Entwicklung, in der ne-
ben der Eigeninitiative des Deutschen Bundestages
auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
und Selbsterkenntnis der Bundesregierung zusammen-
spielten, haben wir mit dem neuen Gesetz über die Zu-
sammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem
Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
nun einen Punkt erreicht, an dem über umfassende und
präzise Unterrichtungs- und Mitwirkungsrechte des
Deutschen Bundestages eine solide Basis für ein solches
koordiniertes Vorgehen von Regierung und Parlament in
europäischen Angelegenheiten gelegt ist. Der Deutsche
Bundestag hat Beteiligungsrechte erreicht, deren Aus-
maß und Ausgestaltung uns zu einem Vorreiter im Kreis
der Parlamente in Europa machen.
Diese Rechte gelten, wie das Bundesverfassungsge-
richt in seinem Urteil vom 19. Juni 2012 entschieden
hat, nicht nur für die klassischen Angelegenheiten der
Europäischen Union, sondern ebenso für völkerrechtli-
che Verträge und intergouvernementale Vereinbarungen,
wenn diese in einem Ergänzungs- oder sonstigen Nähe-
verhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen.
Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union war schon seit längerem dieser Auffassung
und hatte eine Unterrichtung in diesem Bereich bereits
vor dem Urteil mit Erfolg eingefordert. Nach Klarstel-
lung in Urteil und Gesetz sind wir nun aber zu Recht
nicht mehr auf die „Kulanz“ der Bundesregierung ange-
wiesen.
Ein koordiniertes Vorgehen zwischen Bundestag und
Bundesregierung kann freilich nicht bedeuten, unter-
schiedliche Rollen im Verfassungsgefüge einzuebnen.
„Checks and Balances“ setzen selbstständige Akteure
mit abgegrenzten Bereichen der Eigenverantwortung vo-
raus. Der Bundestag muss seine Mitwirkungs- und Kon-
trollfunktion gegenüber der Bundesregierung gerade
auch bei deren Wirken auf europäischer Ebene zum Tra-
gen bringen können. Die Abgeordneten dürfen nicht vor
vollendete Tatsachen gestellt werden, sondern müssen
rechtzeitig und wirkungsvoll Einfluss auf die Positionie-
rung der Bundesregierung in europäischen Angelegen-
heiten nehmen können.
Ein Verhandeln auf internationaler Ebene braucht an-
dererseits eine gewisse Flexibilität. Auch spontane Zu-
geständnisse müssen manchmal möglich sein. Zudem
dürfen nicht alle internen Vorabstimmungen und Ver-
handlungslinien gleich so breit gestreut werden, dass sie
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29425
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fast zwangsläufig den europäischen Partnern ebenfalls
bekannt werden. Die Bundesregierung darf nicht ge-
zwungen sein, als Einzige stets ihre Karten auf den Tisch
zu legen.
Die interfraktionelle Arbeitsgruppe hatte daher die
schwierige Aufgabe, die Informations- und Mitwir-
kungsrechte des Bundestages sicherzustellen, ohne zu-
gleich die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung un-
nötig zu beschränken. Die gefundene Lösung trägt den
berechtigten Interessen beider Seiten Rechnung.
Die Bundesregierung wird den Bundestag in Angele-
genheiten der Europäischen Union umfassend, zum frü-
hestmöglichen Zeitpunkt und fortlaufend unterrichten,
und zwar so, dass auf Grundlage dieser Unterrichtung
eine Befassung des Bundestages in der Sache ermöglicht
wird. Dies entspricht im Wesentlichen gängiger Praxis,
ist aber im neuen Gesetz insbesondere im Hinblick auf
Institutionen wie den Euro-Gipfel, die Euro-Gruppe und
vergleichbare Einrichtungen in einem Ergänzungs- oder
Näheverhältnis zur Europäischen Union präzisiert wor-
den.
Die Unterrichtungspflichten haben nach dem Gesetz
aber auch Grenzen: Damit die Bundesregierung auf eu-
ropäischer Ebene in der Lage bleibt, einer Verhandlungs-
strategie zu folgen, ohne im Vorfeld in die Öffentlichkeit
zu geraten und damit den Gesamterfolg ihrer Verhand-
lungen infrage zu stellen, bleibt nach dem neuen Gesetz
der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der
Bundesregierung von den Unterrichtungspflichten unbe-
rührt. Dies fordert der Grundsatz der Gewaltenteilung.
Die Bundesregierung soll nicht schon vor Abschluss ih-
res Meinungsbildungsprozesses zu einer Mitteilung ge-
zwungen sein. Solange also die interne Willensbildung
der Bundesregierung nicht abgeschlossen ist, besteht
kein Anspruch des Parlaments auf Unterrichtung. Ent-
scheidend für den Deutschen Bundestag ist es, dass er in
die Lage versetzt wird, den politischen Prozess in euro-
päischen Angelegenheiten rechtzeitig zu begleiten, sich
eine eigene Meinung zu bilden und die Entscheidungs-
findung durch eine eigene Stellungnahme zu beeinflus-
sen.
Wir alle kennen den Umfang von Dokumenten und
Unterlagen, die uns bereits jetzt in Angelegenheiten der
Europäischen Union tagtäglich zugehen. In der Fülle an
Informationen dürfen die wirklich wichtigen, heiklen
Punkte nicht untergehen. Das sicherzustellen, ist Sache
des Deutschen Bundestages selbst. Es liegt an uns Abge-
ordneten, die Auswahl zu treffen, welche Informationen
für die Meinungsbildung im Deutschen Bundestag tat-
sächlich von Bedeutung sind. Der Bundestag hat daher
in Bezug auf seine Informationsrechte auch die Möglich-
keit, auf Unterrichtungen im Einzelfall zu verzichten,
wenn nicht eine Fraktion oder fünf vom Hundert der
Mitglieder des Bundestages widersprechen. Hierdurch
kann zielgenau einer Überflutungsgefahr entgegenge-
wirkt werden. Die Minderheitsrechte einer Fraktion blei-
ben trotzdem gewahrt. Nochmals: Nicht die Menge an
Papier ist für eine verantwortungsvolle politische Be-
wertung entscheidend, sondern die Qualität und der rich-
tige Zeitpunkt, zu dem eine Information erfolgt.
Es wäre im Übrigen auch problematisch und einem
selbstbewussten Parlament nicht angemessen, wenn
die Verantwortung für die Informationsbeschaffung und
-übermittlung allein bei der Bundesregierung läge. Der
Bundestag wird über sein im Gesetz verankertes Verbin-
dungsbüro in die Lage versetzt, unmittelbare Kontakte
zu Einrichtungen der Europäischen Union zu pflegen,
soweit dies der Wahrnehmung seiner Mitwirkungsrechte
dient. Auch die Fraktionen des Bundestages entsenden
Vertreter in das Verbindungsbüro. Sie sind damit gesetz-
lich abgesichert in ihrer eigenen Verantwortung zur In-
formationsbeschaffung und in ihrer Position gestärkt.
Das neue Zusammenarbeitsgesetz kann nur den recht-
lichen Rahmen dessen setzen, was von uns im Hinblick
auf die Begleitung europäischer Politik verlangt wird.
Mit Leben und Inhalt füllen müssen wir es in unserer
täglichen Arbeit als Abgeordnete. Kenntnis bedeutet in-
sofern auch Verantwortung. Das Gesetz gibt uns nicht
nur das Recht auf Information in europäischen Angele-
genheiten, es konstituiert auch eine Pflicht, diese Infor-
mationen zu bewerten und die erforderlichen Schlussfol-
gerungen im deutschen Interesse zu ziehen. Es gibt uns
damit auch die Mittel an die Hand, die vom Bundesver-
fassungsgericht verdeutlichten Grenzen der Integration
aus dem Grundgesetz im Auge zu behalten und Verant-
wortung für unsere Verfassung zu übernehmen. Gerade
schleichende Kompetenzerweiterungen der Europäi-
schen Union, die über die europäische Gesetzgebung
drohen, können wir so besser verhindern. Angesichts
der Fülle an Informationen und der Komplexität vieler
Dossiers ist eine solche dauernde Achtsamkeit natürlich
manchmal nicht ganz leicht. Dieser Herausforderung
müssen und werden wir uns stellen.
Christian Lange (Backnang) (SPD): Es kommt
nicht oft in einer Legislaturperiode vor, dass wir von ei-
ner Sternstunde des Parlaments sprechen können.
Nein, nicht deswegen, weil der Entwurf des Gesetzes,
das die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bun-
destag in Angelegenheiten der Europäischen Union re-
gelt, zu so später Stunde auf der Tagesordnung steht. Es
ist eine Sternstunde gleich in mehrfacher Hinsicht:
Erstens. Es ist der erste und wohl einzige Gesetzent-
wurf in dieser Wahlperiode, der von allen Fraktionen in
diesem Hause gemeinsam erarbeitet, eingebracht und
nun auch in zweiter und dritter Lesung einvernehmlich
verabschiedet wird. Ganz abgesehen davon, dass dies
auch noch so kurz vor Ende der Legislaturperiode gelun-
gen ist.
Zweitens. Bei diesem Gesetzentwurf konnte das
„Struck‘sche Gesetz“, wonach kein Gesetz den Bundes-
tag so verlässt, wie es eingebracht wurde, außer Kraft
gesetzt werden.
Drittens. Es ist fraktionsübergreifend gelungen, die
Rechte des Parlaments gegenüber der Bundesregierung
in allen Angelegenheiten der Europäischen Union zu
stärken.
Zugegeben, es bedurfte dafür des Urteils des Bundes-
verfassungsgerichts und damit des Drucks eines anderen
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Verfassungsorgans. Es soll auch nicht verschwiegen
werden, dass es der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu
verdanken ist, da sie vor dem Verfassungsgericht geklagt
hatte und dieses Urteil erwirkt hat.
Inzwischen sind wir alle klüger geworden. Und so
fügt es sich, dass wir heute alle gemeinsam und einver-
nehmlich ein sehr gutes Gesetz verabschieden. Es ist ein
Kompromiss, aber kein fauler! Alle Fraktionen hatten
ganz eigene Punkte, die in dem Gesetz verwirklicht sein
sollten. Jede Fraktion konnte die ihr wichtigen Punkte
realisieren. Meiner Fraktion war es zum Beispiel sehr
wichtig, dass wir Parlamentarier umfassend und früher
als bisher über alle europäischen Aktivitäten der Bun-
desregierung informiert werden, um auch Einfluss auf
die Willensbildung der Bundesregierung nehmen zu
können. Nunmehr regelt der Gesetzentwurf, dass wir ei-
nen grundsätzlichen Unterrichtungsanspruch in Bezug
auf inoffizielle Dokumente und die vorbereitenden Gre-
mien und Arbeitsgruppen haben.
Aber auch die Einführung eines Minderheitenrechts
von einem Viertel der Abgeordneten, um eine Debatte
im Plenum des Deutschen Bundestages über die Gründe
für eine Nichtumsetzung einer Stellungnahme durch die
Bundesregierung zu erwirken, war für uns Sozialdemo-
kraten wichtig.
Auf Maximalforderungen wurde von allen Fraktionen
verzichtet. Und so könnte die Erarbeitung dieses Geset-
zes auch als Blaupause für die weitere Zusammenarbeit
im Bundestag dienen.
Mit diesem EUZBBG wird die künftige Zusammen-
arbeit zwischen Bundesregierung und Bundestag auf
eine neue Grundlage gestellt. So muss die Bundesregie-
rung bereits wesentlich früher als bisher und umfassen-
der über ihre Willensbildung zu anstehenden Entschei-
dungen auf europäischer Ebene unterrichten. Das
umfasst auch Dokumente und Unterlagen der vorberei-
tenden Gremien, um auf die Willensbildung der Bundes-
regierung durch den Deutschen Bundestag Einfluss neh-
men zu können. Gleichwohl wird im § 3 Abs. 4 der
Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der Bun-
desregierung gewährleistet. In der Begründung zum Ge-
setzentwurf wird erläutert – ich zitiere –:
„Innerhalb der Funktionenordnung des Grundgeset-
zes kommt der Regierung ein Kernbereich exekutiver
Eigenverantwortung zu, der einen grundsätzlich nicht
ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbe-
reich einschließt. Solange die interne Willensbildung der
Bundesregierung nicht abgeschlossen ist, besteht kein
Anspruch des Parlaments auf Unterrichtung. Der Bun-
destag muss die Informationen der Bundesregierung spä-
testens zu einem Zeitpunkt erhalten, der ihn in die Lage
versetzt, sich fundiert mit dem Vorgang zu befassen und
eine Stellungnahme zu erarbeiten, bevor die Bundesre-
gierung nach außen wirksame Erklärungen, insbeson-
dere bindende Erklärungen zu unionalen Rechtsetzungs-
akten und intergouvernementalen Vereinbarungen,
abgibt.“
Die Handlungsfähigkeit in Europaangelegenheiten
der Bundesregierung wird damit gewährleistet, und
gleichzeitig werden die Beteiligungsrechte des Parla-
ments erweitert.
Das EUZBBG wird aber auch Auswirkungen auf die
öffentliche Wahrnehmung europäischer Themen haben.
Denn je öfter, je frühzeitiger und je intensiver wir hier
im Bundestag über europäische Themen künftig disku-
tieren und Entscheidungen mitgestalten, desto größer
werden auch die Transparenz und das Verständnis in der
Bevölkerung für diese Themen und Entscheidungen
werden.
Mit diesem Gesetz holen wir ein großes Stück Europa
in den Bundestag und damit in die öffentliche Debatte.
Angesichts der am letzten Sonntag gegründeten Anti-
Europa-Partei Alternative für Deutschland, die populis-
tisch die Stimmung gegen den Euro und damit auch ge-
gen die Europäische Union schürt, ist das EUZBBG ein
aktiver Beitrag für mehr Akzeptanz der Europäischen
Union in unserem Land.
Zu viele Menschen stehen europäischen Themen re-
serviert gegenüber. Europäische Errungenschaften, die
hart erkämpft werden mussten, werden sehr schnell als
selbstverständlich genommen. Auf grenzenloses Reisen,
die freie Wahl des Wohnortes und regionale Förderpro-
gramme der Europäischen Union will doch niemand
mehr verzichten. Dennoch wird Europa von vielen mit
einer undurchschaubaren Bürokratie und einem extre-
men Kostenfaktor gleichgesetzt. Mit der Europäischen
Union verbinden die Menschen immer noch mehr nega-
tive Gefühle als positive Erwartungen. Unwissenheit
und das Gefühl der Lebensferne von europäischen Ent-
scheidungen sind meines Erachtens die häufigsten Ursa-
chen für diese Empfindungen.
Wir alle hier im Parlament können und wollen dem
entgegenwirken. Mit der heutigen Verabschiedung des
EUZBBG wird dafür ein weiterer Grundstein gelegt. Ich
würde mich freuen, wenn auch die Bundesländer die Er-
arbeitung ihres Gesetzes zur Zusammenarbeit der Bun-
desregierung mit den Bundesländern, EUZBLG, jetzt
rasch abschließen und verabschieden könnten. Auch das
wäre das richtige Signal für die Stärkung der europäi-
schen Perspektive.
Jetzt wird es darauf ankommen, das EUZBBG mit
Leben zu erfüllen.
Brigitte Zypries (SPD): Zunächst ein Blick zurück:
Europa steht 2010 und 2011 mitten in einer massiven Fi-
nanz- und Wirtschaftskrise. Griechenland hat bereits
umfangreiche Finanzhilfen erhalten. Es ist absehbar,
dass Rettungsmaßnahmen für weitere Mitgliedstaaten in
ungeahntem, anfänglich unvorstellbarem Ausmaß not-
wendig werden. Ein Euro-Land nach dem anderen
braucht Unterstützung. Die immer wieder einzeln aufge-
spannten Rettungsschirme sollen durch einen Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus abgelöst werden.
Die Bürgerinnen und Bürger sind besorgt, das Parla-
ment alarmiert. Ist das Ganze überhaupt zu stemmen?
Was kommt auf Deutschland zu?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29427
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In dieser Situation hat die Bundesregierung den Deut-
schen Bundestag nur unzureichend informiert. Das Bun-
desverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom Juni
2012 wunderbar geschildert, wie das bewerkstelligt
wurde. Die Abgeordneten haben immer wieder bei der
Regierung nachgefragt, weil sie in der Presse lesen
mussten, welche Vorschläge die Regierung diskutierte.
Wenn sie diese Papiere angefordert haben, hat die Bun-
desregierung zum Beispiel erklärt:
Maßstab der Unterrichtungspflicht seien nicht Presse-
berichte, sondern offizielle Dokumente; vorbereitende
Papiere für den europäischen Rat seien nicht vorzulegen,
weil die Bundesregierung ergebnisoffen in die Gesprä-
che gehe, innerhalb der Regierung abgestimmte Papiere
nicht vorlägen und nicht abgestimmte Papiere nicht vor-
lagepflichtig seien; über informelle Treffen der Euro-
Gruppe müsse die Regierung dem Bundestag nichts be-
richten; Nonpapers des Präsidenten der Europäischen
Kommission und des Europäischen Rates zum Pakt für
Wettbewerbsfähigkeit seien nicht vorzulegen; was die
Bundeskanzlerin gemeinsam mit dem französischen Prä-
sidenten dem Europäischen Rat in Sachen Pakt für
Wettbewerbsfähigkeit vertraulich und informell beim
Mittagessen vorschlagen wolle, ohne dass es auf der Ta-
gesordnung stehe, darüber gebe es keine abgestimmte
Position der Bundesregierung. Deshalb müsse das Par-
lament darüber nicht informiert werden.
Am Ende hat sich sogar der Bundestagspräsident
schriftlich bei der Kanzlerin über diese mangelhafte In-
formation beschwert.
Heute wissen wir, wie das Ganze geendet hat: mit ei-
nem Europäischen Stabilitätsmechanismus, an dem
Deutschland sich mit 21 Milliarden Euro am einzuzah-
lenden Kapital beteiligt hat und aus dem eine auf 190
Milliarden Euro begrenzte Haftung Deutschlands folgt.
Beim Bundesverfassungsgericht hat die Regierung
dann vorgetragen, es stimme wohl, dass der Bundestag
nach Art. 23 GG in Angelegenheiten der Europäischen
Union mitwirke und deshalb umfassend und zum frü-
hestmöglichen Zeitpunkt unterrichtet werden müsse.
Aber es sei ja gar nicht um die Europäische Union, son-
dern nur um die Euro-Gruppe gegangen, und die sei
völkerrechtlich außerhalb der Europäischen Union or-
ganisiert. Deshalb gelte Art. 23 Grundgesetz nicht.
Hier hat das Bundesverfassungsgericht für Klarheit
gesorgt. Auch völkerrechtliche Verträge, die in einem
besonderen Näheverhältnis zur Europäischen Union ste-
hen, sind Angelegenheiten der Europäischen Union.
Jetzt wissen wir also, dass auch der Europäische Stabili-
tätsmechanismus eine Angelegenheit der Europäischen
Union ist. Der Deutsche Bundestag muss in diesen An-
gelegenheiten mitwirken, und zwar in voll und jederzeit
informierter Weise. Etwas anderes hätten wir auch nie-
mandem erklären können.
Das Gesetz, das wir heute fraktionsübergreifend be-
schließen werden, ist gut. Es ist wichtig. Es ist weitge-
hend so, wie das Bundesverfassungsgericht es vorgege-
ben hat. Es erfasst inoffizielle Dokumente, die der
Bundesregierung vorliegen. Es erfasst informelle Tref-
fen, Vorschläge, Programme, Initiativen, mit und ohne
Tagesordnung, mit und ohne Mittagessen.
Ein Blick in die Zukunft. In der Vergangenheit hat der
Bundestagspräsident die Regierung ermahnt, sie möge
besser informieren. Jetzt hat der Bundestagspräsident
uns daran erinnert, wir mögen uns doch etwas mehr be-
schränken, sonst müssten wir mit bis zu 800 Papieren
monatlich rechnen, die wir weder benötigen würden,
noch verarbeiten könnten. Der Hinweis ist berechtigt.
Das Bundesverfassungsgericht hat dazu ausgeführt, es
sei Aufgabe des Parlaments, im Rahmen seiner Ge-
schäftsordnungsautonomie für eine sachgerechte Sich-
tung und Bewertung der eingehenden Informationen zu
sorgen und die Voraussetzungen für deren sachgemäße
Verarbeitung zu schaffen. Hier gibt es nach meiner
Überzeugung noch einiges zu tun.
Joachim Spatz (FDP): Die im Deutschen Bundes-
tag vertretenen Parteien haben sich auf eine Neufassung
des EUZBBG verständigt, mit der das bisherige Gesetz
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäi-
schen Union ersetzt wird. Das EUZBBG in seiner bishe-
rigen Fassung wird damit aufgehoben.
Das Ergebnis nach langen Verhandlungen stellt aus
unserer Sicht einen ausgewogenen Gesamtkompromiss
dar. Ich finde es wichtig und richtig, dass sich alle Frak-
tionen in dieser bedeutenden Frage auf einen sinnvollen
Konsens haben verständigen können. Nicht nur weil das
Bundesverfassungsgericht uns im vergangen Juni den
unmissverständlichen Auftrag zur Überarbeitung der
bisherigen Regelungen aufgetragen hat, sondern auch
aus wohlverstandenem eigenem Interesse können wir als
Parlamentarier mit der nun zu verabschiedenden Rege-
lung sehr zufrieden sein.
Es geht letztlich um die Frage, inwieweit der Deut-
sche Bundestag vor dem Hintergrund der zunehmenden
Europäisierung – und wir als Liberale stehen eindeutig
hinter der Idee einer verantwortungsvollen Vertiefung
der Europäischen Union – seiner verfassungsrechtlich
aufgetragenen Integrationsverantwortung in Zukunft ge-
recht werden kann. Diesem Anspruch kann der Deutsche
Bundestag durch das nun vorliegende Instrumentarium
zweifelsohne nachkommen. Letztlich ermöglicht das
neue EUZBBG uns Volksvertretern zum einen, in Ange-
legenheiten der Europäischen Union direkt wie indirekt
effektiv mitzuwirken, und zum anderen versetzt es uns
in die Lage, das Handeln der Bundesregierung auf euro-
päischer Ebene zu kontrollieren und damit letztlich
auch demokratisch zu legitimieren. Die Neufassung des
EUZBBG ist damit mittel- bis langfristig eine der bedeu-
tendsten Entscheidungen für die zukünftige Rolle des
Deutschen Bundestages und damit auch für unser parla-
mentarisches Selbstverständnis der jüngeren Geschichte
unseres Hohen Hauses. Auch die Organisation und Ver-
waltung des Deutschen Bundestages muss sich diesen
neuen Entwicklungen anpassen. Die Schaffung der
neuen Unterabteilung Europa ist ein erstes Anzeichen
dafür, welche Bedeutung das Thema Europa in der
nächsten Wahlperiode einnehmen wird.
29428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf
haben wir das Ziel erreicht, die erweiterten Beteiligungs-
rechte des Deutschen Bundestages in der Weise sinnvoll
gesetzgeberisch umzusetzen, dass die frühestmögliche
und umfassende Beteiligung des Deutschen Bundestages
erfolgen kann und zugleich auch die Arbeitsfähigkeit der
Bundesregierung bei der Durchsetzung der deutschen In-
teressen in der Europäischen Union in vollem Umfang
gewahrt bleibt. Damit haben wir den Anspruch der Prak-
tikabilität beibehalten.
Zudem konnte durch mehrere Konkretisierungen und
einen stringenteren Regelungsaufbau eine Reihe von bis-
herigen Unklarheiten beseitigt werden. Besonders her-
vorheben möchte ich in diesem Zusammenhang die De-
finition, bei welchen Angelegenheiten es sich um
Vorhaben der Europäischen Union handelt und welche
Unterrichtungs- und Mitwirkungsrechte damit konkret
und im Einzelnen verbunden sind. Festgehalten wurde
ferner, dass darunter auch Vorgänge, Verhandlungen und
Verfahren im Bereich der Eurogruppe fallen. Dies ist
ausdrücklich zu begrüßen: Als Haushaltsgesetzgeber
müssen wir Parlamentarier der uns aufgetragenen Bud-
getverantwortung in besonderem Maße nachkommen.
Dafür bedarf es allerdings auch einer hinreichenden In-
formationsbasis, die uns frühzeitig in die Lage versetzt,
zu einem geeigneten Zeitpunkt Einfluss auf die anste-
henden Entscheidungen auf europäischer Ebene zu neh-
men. Gleiches gilt etwa auch für Fragen, die im Zusam-
menhang mit der Einführung des Euros in einem
Mitgliedstaat der Europäischen Union stehen.
Der Deutsche Bundestag kann sich künftig in ver-
stärktem Maße proaktiv an Vorhaben der Europäischen
Union beteiligen, anstatt – wie bislang leider viel zu häu-
fig – Dinge erst im Nachhinein nachzuvollziehen. Der
Deutsche Bundestag ist damit auch Vorbild für viele Par-
lamente anderer Mitgliedstaaten der Europäischen
Union, die sich bei Debatten immer wieder explizit auf
die Rolle sowie die Mitwirkungs- und Beteiligungs-
rechte unserer Volksvertretung beziehen. Darauf können
wir als Parlamentarier zu Recht stolz sein.
Alexander Ulrich (DIE LINKE): Seit mehreren Jah-
ren nimmt die Zustimmung zur Europäischen Union
kontinuierlich ab. Einer der Hauptgründe dafür ist das
Empfinden von immer mehr Menschen, dass die Ent-
wicklung der europäischen Integration an den Bürgerin-
nen und Bürgern, aber auch an den Parlamenten vorbei-
gegangen ist. Die Europäische Union wird als
undemokratisches, von den Menschen weit entferntes
Konstrukt wahrgenommen und von vielen Menschen
skeptisch gesehen.
Wie bereits in der ersten Lesung des vorliegenden Ge-
setzentwurfes möchte ich auch heute wieder betonen,
dass es die Fraktion Die Linke begrüßt, dass es gelungen
ist, fraktionsübergreifend einen gemeinsamen Gesetzent-
wurf über die Zusammenarbeit zwischen Bundesregie-
rung und Deutschem Bundestag in EU-Angelegenheiten
vorlegen zu können. Dieser Gesetzentwurf baut die par-
lamentarischen Rechte in EU-Fragen aus, die die Linke
mit ihrer Klage zum Vertrag von Lissabon mit erstritten
hat. Der vorliegende Entwurf stärkt die bestehenden par-
lamentarischen Rechte weiter und stellt damit zweifels-
ohne einen wichtigen Fortschritt dar.
Parlamentarische Demokratie setzt ein selbstbewuss-
tes Parlament voraus, das sich auch gegenüber den je-
weiligen Regierungen eigenständig für die Entwicklung
von Positionen einsetzt: ein Parlament, das seine Gestal-
tungskompetenz proaktiv wahrnimmt, sie gegen jegliche
Angriffe verteidigt und an die neuen Entwicklungen
fortdauernd anpasst.
Ein kritischer Rückblick auf die letzten Jahre zeigt,
dass dies dem Bundestag leider nur teilweise gelungen
ist. Und auch diesmal wurden die parlamentarischen
Mitwirkungs- und Kontrollrechte nicht auf Grundlage
einer selbstständigen Initiative dieses Hauses gestärkt,
sondern es war erneut das Bundesverfassungsgericht,
das mit seinen Vorgaben die parlamentarische Verant-
wortung für die EU-Politik ermahnt hat und die Überar-
beitung des Zusammenarbeitsgesetzes angestoßen hat.
Hier würden wir uns als Fraktion Die Linke mehr
Selbstbewusstsein des Parlamentes wünschen, auch weil
wir die Integration auf europäischer Ebene weiterentwi-
ckeln und neu gestalten wollen. Eine Europäische
Union, die demokratisch, sozial, ökologisch und fried-
lich ausgestaltet sein soll, wird nur entstehen, wenn sie
nicht mehr nur von den Regierungen und der EU-Kom-
mission maßgeblich gestaltet wird, sondern die Parla-
mente der unterschiedlichen Ebenen, in direktem Kon-
takt mit den Bürgerinnen und Bürgern, die Richtung der
Europäischen Union maßgeblich mitgestalten können.
Die Fraktion Die Linke unterstützt den vorgelegten
Gesetzentwurf. Trotzdem bedauern wir es sehr, dass un-
sere Vorschläge, die demokratischen Rechte des Parla-
ments auch im Bereich der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik auszubauen, bei den anderen
Fraktionen keine Unterstützung gefunden haben.
Mit der Ablehnung unserer Anträge, die Verbindlich-
keit der Stellungnahmen des Bundestages gegenüber der
Bundesregierung zu stärken, haben die anderen Fraktio-
nen im Deutschen Bundestag unseres Erachtens eine
Chance vertan, die parlamentarische Demokratie weiter
zu stärken. Für die Fraktion Die Linke ist nicht nachvoll-
ziehbar, warum diese Position von den anderen Fraktio-
nen nicht aufgegriffen wurde, da die demokratische
Entwicklung der EU selbstbewusste und real mitbestim-
mende Parlamente braucht.
Denkt man daran, dass die Politik der Bundesregie-
rung von der parlamentarischen Mehrheit getragen wird,
ist es kaum zu erwarten, dass eine mehrheitliche Position
des Bundestages, die von der Bundesregierung abge-
lehnt wird, zustande kommen kann. Gleichzeitig aber
wäre die Position der Regierungsfraktionen gegenüber
ihrer eigenen Regierung gestärkt und damit mehr demo-
kratische parlamentarische Mitbestimmung festgeschrie-
ben worden.
Es ist im Interesse aller Parlamentarier, gleich ob sie
zu Oppositions- oder zu Regierungsparteien gehören,
dass die Dominanz der Regierung in außenpolitischen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29429
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und europapolitischen Fragen durch eine stärkere parla-
mentarische Kontrolle und Mitbestimmung einge-
schränkt wird. Gleichzeitig hätte die Verbindlichkeit von
parlamentarischen Entscheidungen in Fragen der EU die
Rolle des Parlaments für die demokratische Legitimation
der Europapolitik zumindest symbolisch hervorgehoben
und die Europapolitik des Deutschen Bundestages deut-
lich gestärkt werden müssen.
Mit dem neuen Gesetz wird ein weiterer Schritt ge-
gangen, damit das Parlament nicht nur über Entschei-
dungen der Bundesregierung informiert wird, sondern
auch bei der Festlegung dieser Entscheidungen mit ein-
bezogen wird. Entscheidend ist hierbei die Möglichkeit,
den Prozess der Fassung europapolitischer Entscheidun-
gen möglichst transparent zu gestalten. Je mehr in die-
sem Saal über europapolitische Entscheidungen gestrit-
ten wird, desto verständlicher werden sie auch für die
Öffentlichkeit.
Die Fraktion Die Linke ist der Überzeugung, dass wir
bei weitem noch nicht am Ende des Weges angekommen
sind: In dem Maße, in dem die Europapolitik komplexer
wird und die Entscheidungsbefugnisse der EU-Ebene
immer mehr erweitert werden, sind erweiterte Kontroll-
und Mitwirkungsrechte des Bundestages und der Lan-
desparlamente notwendig, um die demokratische Legiti-
mation dieser Entscheidungen sicherzustellen.
Auch Möglichkeiten direkter demokratischer Ent-
scheidung müssen geschaffen werden. Volksabstimmun-
gen in Angelegenheiten der Europäischen Union müssen
verfassungsrechtlich ermöglicht werden. Grundlegenden
Entscheidungen, wie zum Beispiel über den Fiskalpakt,
über den ESM-Vertrag und über die Änderung der EU-
Verträge, sollten auch durch die Bürgerinnen und Bürger
unmittelbar mitentschieden werden. Nur so kann die de-
mokratische Legitimation der EU gewährleistet werden.
Ich freue mich, dass mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf heute eine für alle tragbare Lösung verabschiedet
wird. Gleichzeitig möchte ich Ihnen jedoch versprechen,
dass die Fraktion Die Linke auch in den nächsten Legis-
laturperioden weiter für die Erweiterung der Rechte des
Parlaments in allen Fragen der Europäischen Union ein-
treten wird und die jetzt gefundene Lösung für einen
wichtigen Etappenschritt hin zu mehr demokratischen
Rechten des Parlaments gegenüber der Regierung an-
sieht.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Gesetz über die Zusammenarbeit des Deutschen Bundes-
tages mit der Bundesregierung in Angelegenheiten der
Europäischen Union wird heute einstimmig und von al-
len Fraktionen getragen beschlossen werden. Für unser
Parlament ist dies ein überaus wichtiger Tag.
Zwei zentrale Forderungen werden mit diesem Gesetz
erfüllt:
Um unseren Verpflichtungen zur effektiven und ver-
antwortlichen Mitwirkung des Bundestages an der Eu-
ropäischen Gesetzgebung zu genügen, müssen wir frü-
hestmöglich und vollständig informiert werden. Die
Bundesregierung ist hier in der Pflicht.
Und zu den Angelegenheiten der Europäischen Union
im Sinne des Art. 23 Grundgesetz gehören nicht nur die
europäischen Verträge selbst, sondern auch alle völker-
rechtlichen Verträge, die in einem Näheverhältnis zur
Europäischen Union stehen: namentlich alle Verträge
und Vereinbarungen, die die gemeinsame Währung, den
Euro, betreffen.
Dieses Gesetz ist aus der Mitte des Parlaments heraus
entstanden. Indem es tatsächlich und vollständig von
Abgeordneten und nicht von der Ministerialbürokratie
ausgearbeitet wurde, beweist dies, dass das Gesetzesini-
tiativrecht zu Recht auch beim Parlament selbst liegt.
Wir haben allen Grund, hervorzuheben, dass das vor-
liegende Gesetz das Ergebnis einer sachlich-konstrukti-
ven Zusammenarbeit zwischen Abgeordneten über frak-
tionelle Grenzen hinweg ist. Wir demonstrieren damit
die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokra-
tie in unserem Land.
Aber es gibt keinerlei Anlass zu einer verklärenden
Betrachtungsweise im Sinne eines „Wir Parlamentarier
von Koalition und Opposition wollen alle immer nur das
Beste für unsere Demokratie und unser Parlament“. Tat-
sächlich war die Ausgangslage weniger romantisch und
auch weniger harmonisch. Denn so wunderbar konsen-
sual der Entwurf eines Gesetzes über die Zusammenar-
beit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen Union auch heute
präsentiert wird, klar muss sein: Ohne das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts hätte es diesen Entwurf und
dieses Gesetz nicht gegeben. Und klar ist ebenso: Ohne
die Klage der Grünen vor dem Bundesverfassungsge-
richt hätte es das Urteil nicht gegeben.
Und nicht zuletzt muss auch Folgendes in aller Klar-
heit zum Ausdruck gebracht werden: Ohne das überaus
unkooperative Verhalten der Bundesregierung hätte es
auch keiner Verfassungsbeschwerde der Grünen bedurft.
Von Dezember 2010 bis weit ins Jahr 2011 hinein ver-
langten Abgeordnete immer wieder Unterlagen zu den
verhandelten Verträgen über die EFSF und den ESM.
Weder Vorlagen der Europäischen Kommission noch
Vorlagen der Bundesregierung wurden dem Bundestag
überlassen. Die Bundesregierung vertrat die verfas-
sungswidrige Auffassung, Maßnahmen zur Stabilisie-
rung der Währung Euro seien keine Angelegenheit der
Europäischen Union im Sinne des Art. 23 Grundgesetz.
Informationen wurden dem Bundestag und den Abge-
ordneten nur mündlich und immer wieder unter Bestrei-
ten jeglicher Rechtspflicht zur Information erteilt.
Die Bundesregierung wollte das Parlament im Ergeb-
nis aus allen Maßnahmen zur Stabilität und Rettung des
Euro heraushalten, obwohl die Abgeordneten die Verant-
wortung für die beschlossenen Maßnahmen zu tragen
haben. Die Bundesregierung wollte das Parlament ge-
rade nicht fortlaufend und umfassend über Maßnahmen
und Handlungen auf europäischer Ebene informieren.
Beispielhaft hierfür ist die Aussage von Finanzminister
Schäuble, er wolle das Parlament nicht „kleckerweise“,
sondern eben nur über das Gesamtpaket informieren,
wenn dieses bereits ausverhandelt sei. Damit hat die
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Bundesregierung verhindert, dass sich der Bundestag
mit den Maßnahmen beschäftigen, sich eine Position
hierzu erarbeiten und die Bundesregierung lenken
konnte.
Aber genau das Gegenteil hierzu braucht das Parla-
ment: eine zeitnahe, fortlaufende und umfassende Infor-
mationspolitik, weil der Deutsche Bundestag auch nur so
seiner Integrationsverpflichtung aus Art. 23 Grundgesetz
nachkommen kann.
Es ist gut, dass im EUZBBG nun die Rechte des Par-
laments und der Abgeordneten auf der einen Seite und
die Pflichten der Bundesregierung auf der anderen Seite
festgeschrieben sind. Es wird nun darauf ankommen, das
Gesetz mit Leben zu füllen und die Möglichkeiten der
Beteiligung zu nutzen.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu den Anträgen:
– Leistungspotenziale von Menschen mit Be-
hinderung im Arbeitsleben ausschöpfen
– Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen
mit Behinderung fairen Zugang zum Ar-
beitsmarkt ermöglichen
– Gute Arbeit für Menschen mit Behinderung
(Tagesordnungspunkt 14)
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Art. 27 der UN-Behin-
dertenrechtskonvention gewährleistet eine gleichberech-
tigte Teilhabe für Menschen mit Behinderung an einem
offenen, integrativen und für Menschen mit Behinderung
zugänglichen Arbeitsmarkt.
Betrachtet man die Entwicklung am deutschen Ar-
beitsmarkt in den vergangenen Jahren, könnten die Rah-
menbedingungen eigentlich nicht besser sein. Mit über
41,5 Millionen waren im vergangenen Jahr so viele
Menschen in Deutschland beschäftigt wie nie zuvor.
Auch die durchschnittliche Zahl der Erwerbslosen ist mit
2,897 Millionen auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren
gefallen. Und blickt man über die Grenzen hinaus, so
steht Deutschland im europäischen Vergleich – insbe-
sondere was die geringe Jugendarbeitslosigkeit anbe-
langt – mit Abstand am besten da. Die durchschnittliche
Dauer der Arbeitslosigkeit ist gesunken, und die Ver-
mittlung in Arbeit verläuft wesentlich zügiger. Um unse-
ren soliden und äußerst robusten Arbeitsmarkt werden
wir im gesamten europäischen Ausland beneidet.
Doch bei einem genaueren Blick auf die aktuellen Ar-
beitslosenstatistiken – nämlich im Bereich der Menschen
mit Behinderung – wird deutlich, dass bei weitem nicht
alle Menschen in unserem Land von dieser erfreulichen
Entwicklung profitieren. Für eine gleichberechtigte Teil-
habe von Menschen mit Behinderung auf dem Arbeits-
markt sind weitere Anstrengungen vonnöten. Zwar set-
zen zunehmend mehr Unternehmen auf Menschen mit
Behinderung als hochmotivierte und leistungsfähige Ar-
beitnehmer und profitieren von ihren Fähigkeiten; den-
noch finden viele von ihnen ohne zusätzliche Unterstüt-
zung nicht den Weg in den ersten Arbeitsmarkt.
Mit dem vorliegenden Koalitionsantrag „Leistungs-
potenziale von Menschen mit Behinderung im Arbeitsle-
ben ausschöpfen“, der auf Initiative von Maria Michalk,
der Beauftragten für Menschen mit Behinderung der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in enger Abstimmung
mit unserem Koalitionspartner FDP und mit Hubert
Hüppe, dem Beauftragten der Bundesregierung für die
Belange behinderter Menschen, erarbeitet wurde, wollen
wir dieser Gegebenheit wirksam entgegentreten. Der
Antrag nimmt Menschen mit Behinderung in den Fokus,
formuliert die wichtigsten behindertenpolitischen Ak-
zente, zeigt die bestehenden Unterstützungsmöglichkei-
ten für einen erleichterten Zugang zum ersten Arbeits-
markt auf und unterstützt die Bundesregierung bei ihren
bisherigen behindertenpolitischen Aktivitäten. Er zielt
insbesondere auf die Vorlage einer differenzierten Da-
tenlage, um zu analysieren, welche Maßnahmen wirk-
sam sind, um sodann passgenaue Fördermaßnahmen zur
Steigerung der Teilhabechancen weiterentwickeln zu
können.
Dazu gehört auch, dass das Wunsch- und Wahlrecht
von werkstattberechtigten Menschen zwischen Werk-
stätten und alternativen Leistungsanbietern bei harmoni-
sierter sozialer Absicherung – auch unter Nutzung des
persönlichen Budgets – gestärkt und bestehende Unter-
stützungsmaßnahmen vereinfacht werden.
Im Rahmen der öffentlichen Anhörung am 25. Fe-
bruar 2013 haben die Sachverständigen bestätigt, dass
der Koalitionsantrag in die richtige Richtung geht.
Sehr geehrte Damen und Herren der Fraktion Die
Linke und der Fraktion der SPD, mit den in Ihren Anträ-
gen formulierten Forderungen nach einer Erhöhung der
Ausgleichsabgabe und neuen Schutzvorschriften sowie
der Überregulierung im Behindertenrecht vermitteln Sie
nicht nur ein schlechtes Signal an die Betroffenen selbst,
sondern sorgen zudem für eine zusätzliche Belastung der
Unternehmen und eine zusätzliche Bürokratisierung des
Behindertenrechts.
Das System von Beschäftigungspflicht und gestaffel-
ter Ausgleichsabgabe hat sich bewährt. So ist die Be-
schäftigungsquote von 3,8 Prozent im Jahr 2002 immer-
hin auf 4,5 Prozent im Jahr 2010 gestiegen. Änderungen
in diesem Bereich erscheinen nicht angezeigt, zumal
eine Dynamisierung der Ausgleichsabgabe gesetzlich
bereits vorgesehen ist und mit Wirkung zum 1. Januar
2012 zum Tragen gekommen ist.
Der Ansatz der christlich-liberalen Koalition ist es,
Arbeitnehmer und Arbeitgeber für einen inklusiven Ar-
beitsmarkt zu sensibilisieren. Um unserem Auftrag, eine
inklusive Arbeitswelt zu gestalten, gerecht zu werden,
setzen wir nicht auf eine erhöhte Abgabe, mit der sich
die Unternehmen von der Verpflichtung zur Einstellung
behinderter Menschen freikaufen können, sondern auf
Kooperation und das gezielte Setzen von Anreizen.
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Insbesondere in Anbetracht des drohenden Fachkräf-
temangels sowie des demografischen Wandels müssen
wir dafür Sorge tragen, die Vorbehalte und Barrieren in
den Köpfen der Arbeitgeber und auch der Arbeitnehmer
abzubauen, um behinderten Menschen eine bessere
Chance zu geben. Qualifizierte Arbeitskraft wird zuneh-
mend zu einem kostbaren Gut. Dennoch sind viele der
aktuell arbeitslosen Behinderten in diesem Land trotz ih-
rer fachlichen Qualifikation und Fähigkeiten zum Teil
schon lange arbeitslos. Oftmals mangelt es potenziellen
Arbeitgebern an Informationen hinsichtlich der Kompe-
tenzen und Qualifikationen von Arbeitnehmern mit Be-
hinderung; Fördermöglichkeiten zur beruflichen Einglie-
derung sind ihnen meist nicht hinreichend bekannt.
Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen müssen
bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung
informiert, beraten und unterstützt werden.
Bedauerlicherweise ist es häufig noch so, dass sich
sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitskollegen schwertun,
sich behinderte Menschen als Mitarbeiter bzw. Kollegen
vorzustellen.
Es darf nicht sein, dass bei vielen Betrieben erst der
Fachkräftemangel dazu führt, sich ernsthaft mit dem Be-
schäftigungspotenzial behinderter Arbeitnehmer ausein-
anderzusetzen. Hier benötigen wir dringend einen Men-
talitätswechsel.
Dies zu ändern, ist jedoch eine gesamtgesellschaftli-
che Aufgabe. Wir können und wollen auf die Qualifika-
tionen von Menschen mit Behinderung nicht verzichten.
Es muss ganz selbstverständlich werden, dass Menschen
mit und ohne Behinderung zusammenarbeiten.
Allerdings kann die Politik hier auch nur die notwen-
digen Rahmenbedingungen schaffen – die Unternehmen
schaffen die Arbeitsplätze.
Unser Antrag „Leistungspotenziale von Menschen
mit Behinderung im Arbeitsleben ausschöpfen“ macht
unmissverständlich klar, dass Menschen mit Behinde-
rung auf dem ersten Arbeitsmarkt gebraucht werden und
wir sie auf dem Weg dahin in jeglicher Hinsicht tatkräf-
tig unterstützen werden.
Gerne möchte ich neben unseren geplanten Anstren-
gungen in diesem Zusammenhang auch nochmals die
bereits bestehenden gesetzlichen Regelungen, aus denen
sich ein Anspruch auf gesellschaftliche Partizipation und
Teilhabe am Arbeitsleben ergibt, in Erinnerung rufen.
Mit dem verfassungsrechtlich verankerten Gleichstel-
lungsgebot sollen explizit Benachteiligungen für Men-
schen mit Behinderung verhindert werden. Des Weiteren
möchte ich die Regelungen zur Teilhabe am Arbeitsle-
ben nach dem SGB III oder dem Neunten Buch Sozial-
gesetzbuch nennen, die die selbstbestimmte Teilhabe be-
hinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben
betreffen und dabei helfen, Hindernisse, die der Chan-
cengleichheit entgegenstehen, zu beseitigen. So enthält
beispielsweise das SGB IX verpflichtende Sonderrege-
lungen für Arbeitgeber, schwerbehinderte Menschen zu
beschäftigen.
Eine dauerhafte Teilhabe am Arbeitsleben ist eine der
Hauptgrundlagen für eine eigenverantwortliche Lebens-
gestaltung und Grundvoraussetzung für die Entfaltung
der Persönlichkeit – das gilt für behinderte und nichtbe-
hinderte Menschen gleichermaßen. Arbeit zu haben, be-
deutet wirtschaftliche Unabhängigkeit und aktive Teil-
nahme am gesellschaftlichen Leben. Für Menschen mit
Behinderung gibt es in vielen Bereichen des ersten Ar-
beitsmarktes Arbeit – den Wettbewerb können sie jedoch
nur dann bestehen, wenn sie gut ausgebildet sind. Wirk-
same Maßnahmen und Konzepte sind also gefragt, um
einerseits behinderte Menschen für den allgemeinen Ar-
beitsmarkt zu qualifizieren und andererseits potenzielle
Arbeitgeber umfassend zu informieren, um die Beschäf-
tigungsfähigkeit fördern zu können. Ein nahtloser Wech-
sel in die betriebliche Ausbildung und auf den ersten Ar-
beitsmarkt stellt für viele Menschen mit Behinderung
noch die Ausnahme dar. Daher sind für einen erfolgrei-
chen Übergang von der Schule in die Berufsausbildung
und die betriebliche Übernahme die Rahmenbedingun-
gen entscheidend.
Das Ziel der christlich-liberalen Koalition ist es, die
Rahmenbedingungen in allen Lebensbezügen so zu ge-
stalten, dass behinderte Menschen ohne Ausgrenzung in
allen Bereichen des Lebens und der Arbeitswelt teilha-
ben können. Dies setzt ein Umdenken und gezieltes
Handeln der Gesellschaft voraus. Menschen mit Behin-
derung müssen nicht nur bei der Arbeitssuche immer
noch gegen Vorurteile ankämpfen. Um eine vollständige
Teilhabe an allen Bereichen des Lebens zu ermöglichen,
gilt es, diese hartnäckigen Vorbehalte auf lange Sicht
endgültig auszuräumen. Daran werden wir auch weiter-
hin arbeiten.
Maria Michalk (CDU/CSU): Uns liegt heute die Be-
schlussempfehlung aus dem Ausschuss für Arbeit und
Soziales zu drei Anträgen vor, die sich allesamt damit
auseinandersetzen, wie wir die Chancen von Menschen
mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt besser gestalten
können, um ihnen mit ihrem sehr individuellen Leis-
tungspotenzial bessere Chancen für die Teilhabe in der
Arbeitswelt einzuräumen. Die SPD fordert die Erhöhung
der Ausgleichsabgabe. Das lehnen wir ab. Die Fraktion
Die Linke sieht den Weg ebenfalls in der Anhebung der
Ausgleichsabgabe und will zusätzlich Assistenzleistun-
gen aus Steuermitteln, entgegen europäischen Bestim-
mungen die Zurücknahme der Ausschreibungspflicht für
die BA und Reha-Träger und noch einiges mehr.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen geht davon aus,
dass für die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen
mit Behinderung am Arbeitsmarkt weiterhin Anstren-
gungen notwendig sind, da sie trotz wirtschaftlichen
Aufschwungs deutlich stärker von Arbeitslosigkeit be-
troffen sind als Menschen ohne Behinderung. Nach wie
vor haben schwerbehinderte Arbeitslose größere
Schwierigkeiten, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Un-
ser Grundansatz ist aber nicht die Verschärfung von
Sanktionen gegenüber den Arbeitgebern bzw. den Un-
ternehmungen, sondern das Werben um ihre Gunst und
das Abbauen von Vorurteilen und Vorbehalten, sowohl
bei den Unternehmern, als auch bei den Belegschaften.
Notwendig sind flexible Sachleistungen für die Leis-
tungsempfänger, denn gerade hier ist jede Situation sehr
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individuell. Das gilt nicht nur für den Einstieg bzw. Wie-
dereinstieg in das Berufsleben, sondern auch für beste-
hende Arbeitsverhältnisse von Menschen mit einer Be-
hinderung. Oftmals ist der Verbleib am Arbeitsplatz
nach einer Krankheit oder einem Unfall mit dauerhaften
Beeinträchtigungen sehr differenziert zu entscheiden.
Gleichmacherei führt sehr oft in die Arbeitslosigkeit und
viel zu oft in die Grundsicherung. Hier haben die Reha-
bilitationsträger eine große Verantwortung, vor allem in
der Eingliederungsphase. Fakt ist, dass aktuell die be-
reits reduzierten Eingliederungsmittel nicht verbraucht
werden; denn die Rahmenbedingungen auf dem Arbeits-
markt haben sich in den letzten Jahren entscheidend ver-
ändert. Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 2005 zum Bei-
spiel in Sachsen nahezu halbiert. Die Zahl der
Beschäftigten stieg und ist auf dem höchsten Stand seit
zehn Jahren. Das Stellenangebot bewegt sich auf hohem
Niveau. Deshalb werden viele Arbeitnehmer auch ohne
Förderleistungen bzw. mit deutlich verringertem Förder-
bedarf eingestellt. In meinem Wahlkreis hat allein im
Dezember letzten Jahres die Zahl der Langzeitleistungs-
bezieher um acht Prozent abgenommen. Deshalb wird
auch das verfügbare Eingliederungsbudget nicht in vol-
lem Umfang in Anspruch genommen.
Was will ich damit sagen? Es fehlt nicht an finanziel-
len Mitteln zur stärkeren Eingliederung von Menschen
mit Behinderung. Was fehlt, ist die Bereitschaft, sich
aufeinander einzulassen. Viele Einstellungswillige sind
unsicher, was sie zum Beispiel mit Blick auf den stärke-
ren Kündigungsschutz von Menschen mit Behinderung
erwartet. Deshalb sind Beratung und Information not-
wendig. Auch wird befürchtet, die Belastbarkeitsgrenze
nicht zu erkennen. Hier ist ein betriebliches Praktikum
oder die zeitweise Arbeit auf einem Außenarbeitsplatz
aus der Werkstatt heraus oder die unterstützte Beschäfti-
gung hilfreich. In der Anhörung und in der anschließen-
den Ausschussberatung zu den vorliegenden Anträgen
wurde erneut deutlich, dass es uns auch nicht an Instru-
menten fehlt. Was fehlt, ist die individuelle Herange-
hensweise und das Aufeinanderzugehen. Allerdings
muss die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen
Instrumenten verbessert werden. Wer zum Beispiel zu-
nächst in einer unterstützen Beschäftigung einen Ar-
beitsplatz findet und später feststellt, dem Leistungsan-
spruch nicht gerecht zu werden, der muss zum Beispiel
die Möglichkeit einer Beschäftigung in einer Werkstatt
erhalten und auch umgekehrt. In jedem Fall ist aber das
Abstrafen von Unternehmen, die sich diesem Thema
nicht stellen, durch eine höhere Ausgleichsabgabe kont-
raproduktiv. Den inklusiven Arbeitsmarkt werden wir
nicht durch mehr und höhere Sanktionen erreichen, son-
dern allein durch gegenseitiges Verständnis und Mut,
sich mit Sachverhalten auseinandersetzten, für die man
bisher „kein Ohr“ hatte.
Noch etwas ist erneut deutlich geworden: Je früher
die Teilhabe am Arbeitsmarkt in den Blick genommen
wird, desto größer die Erfolge. Das Ausüben einer quali-
fizierten Erwerbstätigkeit versetzt Menschen mit Behin-
derung nämlich in die Lage, Anteil am gesellschaftli-
chen Leben zu nehmen, eigene Netzwerke aufzubauen,
Anerkennung zu erfahren und ein den Lebensunterhalt
sicherndes Einkommen zu erzielen. Es ist nicht nur für
die Betroffenen, sondern auch für unsere Gesellschaft
wichtig, Jugendliche mit einer Behinderung stärker in
die betriebliche Berufsausbildung zu führen. Der Ab-
gang aus der Schule ohne eine Berufsausbildung, und
das sind in Deutschland immer noch mehr als 10 Pro-
zent, ist die sichere Fahrkarte in die Langzeitarbeitslo-
sigkeit. Deshalb plädieren wir dafür, stärker als bisher
auch Jugendlichen mit einer Behinderung einen betrieb-
lichen Ausbildungsplatz zu geben. Auch können wir uns
allein aus dem drohenden Fachkräftemangel keine un-
ausgeschöpften Potenziale in der Gesellschaft leisten.
Junge Menschen mit einer Behinderung vom Arbeitsle-
ben auszugrenzen, ist nicht nur unsozial, sondern auch
gesetzeswidrig. Die UN-Behindertenrechtskonvention
verpflichtet uns alle gemeinsam, die allumfassende
Teilhabe zu organisieren und zu leben. Außerdem stellt
sich die Frage, ob die Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt
am Ende uns alle mehr kostet als die Unterstützung zur
Teilhabe. Deshalb stehen wir in der Union dafür, den
Übergang in die Ausbildung und Beschäftigung durch
Hilfestellungen in Form von Integrationsmaßnahmen der
Arbeitsagenturen oder berufsvorbereitenden Maßnah-
men zu forcieren und die Kompetenzen zu stärken und
die Unternehmen für ein Berufsausbildungsverhältnis zu
gewinnen. Wir müssen die Ansicht überwinden, dass es
hier um Fürsorge geht. Vielmehr haben wir die Notwen-
digkeit der Verstärkung des Arbeitsmarktangebotes. Das
haben viele Fachveranstaltungen gerade in den letzten
Monaten sehr deutlich herausgearbeitet. Wir brauchen
für jede konkrete Situation, die sich bei jedermann im
Lauf des Lebens einstellen kann und erst recht bei Men-
schen mit einer mehrfachen bzw. dauerhaften Behinde-
rung, ein stärkeres Übergangsmanagement statt Schubla-
dendenken und Polarisierung.
In dieser Hinsicht werbe ich noch einmal für unseren
Antrag und bitte alle Akteure, an der Umsetzung mitzu-
wirken. Ich habe nach wie vor die Überzeugung, dass
vorausschauende Unternehmen im Rahmen ihrer Unter-
nehmensstrategie die Vorteile des inklusiven Arbeits-
marktes und das Lern- und Weiterbildungspotenzial so-
wie die Arbeitsbereitschaft der Menschen mit einer
Behinderung nutzen werden. Politisch wollen wir die
Einstellungsneigung der Betriebe zugunsten schwerbe-
hinderter Menschen stärken. Das ist das Signal, das von
unserem Antrag ausgeht.
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Aus Anlass dieser
Debatte über die Anträge der Fraktionen sowie zum
Ausklang der 17. Wahlperiode gilt es, Bilanz darüber zu
ziehen, wie sich die Teilhabe am Arbeitsleben für Men-
schen mit Behinderung entwickelt hat.
Es ist begrüßenswert, dass auch die Koalition zum
Ende dieser Legislatur Interesse an diesem wichtigen
Thema zeigt. Wobei ich an der Ernsthaftigkeit dieses In-
teresses meine Zweifel habe, wenn ich mir den Inhalt
des Antrags anschaue.
Die UN-Behindertenrechtskonvention haben wir
2009 in der Großen Koalition gemeinsam unterzeichnet
und ratifiziert. Der Anspruch der Konvention war und ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29433
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es, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemein-
sam auf einem inklusiven und durchlässigen Arbeits-
markt ihren Lebensunterhalt mit selbst gewählter Arbeit
verdienen können, dass sie gesunde Arbeitsbedingungen
vorfinden und dass sie ihre gewerkschaftlichen Rechte
gleichberechtigt ausüben können. Die Konvention for-
dert auch, dass die Regierungen die Beschäftigung im
privaten Sektor fördern und dafür geeignete Anreize set-
zen.
Soweit zu dem, wo wir alle hinwollen. Nun zu dem,
wo wir stehen und was wir auf diesem Wege erreicht
oder eben nicht erreicht haben.
Da muss man leider feststellen, dass die vergangenen
Jahre der schwarz-gelben Koalition – gemessen an den
genannten Zielen – verlorene Jahre waren. Wohin man
auch schaut: Von Ihrer Koalition ist bisher nur Stillstand
ausgegangen.
Auf den Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention mussten wir bis zum
Frühjahr 2012 warten. Gesetzgeberische Konzepte im
Bereich Arbeitsmarkt: Fehlanzeige! Da sollen vor allem
Arbeitgeber sensibilisiert werden, man will sich einset-
zen für mehr Personenzentrierung, und man macht vor
allem viele Modellprojekte. Es wurde ein Programm
aufgelegt mit dem Titel „Initiative Inklusion“, das vor al-
lem besondere Gruppen – nämlich Schüler, Jugendliche
und ältere Schwerbehinderte – fördern soll.
Das ist alles nicht falsch, aber schlicht unzureichend.
Man muss bei all dem doch festhalten, dass sich die Zahl
der arbeitslosen Schwerbehinderten in den vergangenen
vier Jahren nicht wesentlich verringert hat; sie ist sogar
gestiegen. Waren im März 2009 noch circa 171 000
schwerbehinderte Menschen arbeitslos, waren dies im
März 2013 180 000 Menschen. Die meisten schwerbe-
hinderten Menschen – mittlerweile über 110 000 – sind
mittlerweile langzeitarbeitslos und damit im Bereich des
SGB II angekommen.
Das ist eine Katastrophe für diese Menschen; denn
wir wissen, dass die Jobcenter und optierenden Kommu-
nen nicht das Potenzial für eine dauerhafte Eingliede-
rung dieser besonderen Personengruppe haben. Man
muss festhalten: Schwerbehinderte Menschen sind mehr
denn je von Arbeitslosigkeit betroffen und erfahren ei-
nen Verschiebebahnhof in das SGB II.
Viele andere Bereiche, die hier genannt werden müs-
sen, haben Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen aus der Koalition, leider vollkommen vernach-
lässigt. Werkstätten haben ungebremsten Zulauf, es gibt
keine Weiterentwicklung der Ausgleichsabgabe, keine
zusätzliche Förderung der Beschäftigung in Integrations-
unternehmen, keine Weiterentwicklung der betrieblichen
Schwerbehindertenvertretungen oder der Mitwirkung in
Werkstätten, keine Weiterentwicklung des SGB IX, kein
Konzept für die Erwerbsminderungsrente und bis heute
keine Erweiterung des sogenannten Rehadeckels der
Rentenversicherung.
Das ist die rehabilitations- und arbeitsmarktpolitische
Bilanz dieser Regierung in Bezug auf behinderte Men-
schen. Und das, obwohl Ihnen die Opposition und die
Fach- und Betroffenenverbände unzählige Vorschläge
gemacht haben.
Sie bleiben weiterhin untätig und legen hier stattdes-
sen einen Antrag vor, der nur einen Ausschnitt des ge-
samten vorhandenen Spektrums anreißt; er kratzt an der
Oberfläche und lässt wichtige und für den Arbeitsmarkt
grundlegende Bereiche außen vor.
Er steht damit in guter Tradition zum Nationalen Ak-
tionsplan, der auch nichts weiter als ein Sammelsurium
bereits bestehender Maßnahmen und oberflächlich ge-
schönter Problemaufrisse ist. Das haben nicht nur wir,
sondern in der Anhörung zum Beispiel auch die Schwer-
behindertenvertretungen festgestellt. Das können die in-
teressierten Bürgerinnen und Bürger in der Berichterstat-
tung des Ausschusses nachlesen.
Es geht eben nicht nur darum, Arbeitgeber und Ar-
beitnehmer für einen inklusiven Arbeitsmarkt zu sensibi-
lisieren, sondern wir müssen klare Kriterien einziehen,
damit dieser inklusive Arbeitsmarkt entstehen kann. Den
Marktkräften hier alles Gestalterische blind zu überlas-
sen, das passt zur FDP und ihrer Klientelpolitik, wird
aber unserer Verantwortung nicht gerecht.
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir haben unsere Haus-
aufgaben gemacht, und wir wollen nach der Bundes-
tagswahl diese Politik des Stillstands ablösen und
gemeinsam mit den Betroffenen endlich konkrete Ver-
besserungen erreichen. Menschen mit Behinderung ha-
ben ohne Unterstützung keine Chance auf unserem der-
zeitigen Arbeitsmarkt. Es ist deshalb die Aufgabe des
Gesetzgebers, Anreize für Beschäftigung zu setzen und
nicht nur gut auf die Arbeitgeber einzureden.
Da hilft es keinem weiter, wenn man – wie Sie es mit
ihrem Antrag tun – der Regierung einen Merkzettel
schreibt, was sie alles noch tun könnte – man muss kon-
kret werden!
Nehmen wir einmal die Beschäftigungszahlen: Sie
stellen es so dar, als wenn immer mehr Unternehmen
Menschen mit Behinderung beschäftigen und das ein
Fortschritt sei. Auf die Entwicklung der Arbeitslosen-
zahlen bin ich schon eingegangen. Die Beschäftigungs-
quote in der privaten Wirtschaft hat sich zwischen 2003
und 2010 nur um 0,4 Prozent verbessert. Die öffentli-
chen Arbeitgeber machen das wett – aber auch hier gibt
es noch Potenzial; denn immerhin 5 400 öffentliche Ar-
beitgeber erfüllten die Pflichtquote von 5 Prozent im
Jahr 2010 nicht.
Durch die Flexibilisierung am Arbeitsmarkt werden
heute viele Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft gar
nicht mehr mitgezählt; insofern ist die bereinigte Quote
wahrscheinlich noch geringer.
Diesem Effekt könnte man mit einer Reform des Be-
rechnungsmodus der Pflichtquote begegnen, zum Bei-
spiel indem man zukünftig Arbeitsverhältnisse unter
18 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit grundsätzlich mit-
zählt. So könnte man auch den Effekt beseitigen, dass
Unternehmen mit im Wesentlichen teilzeitbeschäftigten
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern deutliche Vor-
teile bei der Berechnung ihrer Pflichtarbeitsplätze haben.
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Dafür müssen wir der Ausgleichsabgabe aber auch zu
einer wirksamen Anreizfunktion verhelfen, die sie der-
zeit nicht hat. Unternehmen nehmen die Abgabe in Kauf,
weil sie so gering ist und man damit vermeintlich be-
quem die Beschäftigungspflicht umgehen kann.
Die Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Men-
schen hat sich zwischen 2005 und 2010 sogar verringert.
Waren 2005 bundesweit noch 142 700 Schwerbehinderte
in Arbeit, waren dies 2010 nur noch 138 300. Der DGB
hat in der Anhörung deutlich gemacht, dass eine Arbeits-
losenquote von 14 Prozent bei Schwerbehinderten ge-
genüber 7,9 Prozent allgemeiner Arbeitslosenquote auf
eine Benachteiligung dieser Gruppe hinweist. Gleichzei-
tig hat sich auch die Zahl derjenigen, die als – per Defi-
nition – „voll erwerbsgeminderte“ Menschen die Werk-
stätten besuchen, fast verdoppelt. Darunter sind viele
Menschen, die als sogenannte Leistungsträger mit richti-
ger Förderung durchaus schon heute Chancen auf dem
Arbeitsmarkt hätten.
Die Zahl der Firmen, die 2 Prozent und weniger
schwerbehinderte Menschen beschäftigen, hat sich im
selben Zeitraum aber kaum verändert. Das heißt, dass
sich die Bereitschaft zur Einstellung behinderter Men-
schen im privaten Sektor kaum verbessert hat und Alter-
nativen zur Werkstatt offenbar fehlen oder nicht attraktiv
genug sind.
Ich denke nicht, dass man dieses Gesamtbild als
„Fortschritt“ bezeichnen kann, so wie Sie es in Ihrem
Antrag tun. Hier müssen endlich konkrete Vorschläge
auf den Tisch, und das haben wir mit unserem Antrag
„Ausgleichsabgabe erhöhen und Menschen mit Behinde-
rung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen“ ge-
tan. Wir fordern eine Wiedererhöhung der Pflichtquote
auf 6 Prozent und die Erhöhung der Ausgleichsabgabe-
beträge, besonders für die Unternehmen, die anhaltend
eine geringe Quote unter 2 Prozent aufweisen. Wir for-
dern für diese Unternehmen eine deutliche Erhöhung der
Beträge von 290 auf 750 Euro pro nichtbesetztem
Pflichtarbeitsplatz.
Noch einmal: Den Arbeitgebern gut zuzureden, hilft
nicht weiter. Das muss man nach zehn Jahren einfach
einmal feststellen und konsequente Schlüsse daraus zie-
hen. Deshalb müssen Verstöße gegen die Beschäfti-
gungspflicht auch als Ordnungswidrigkeiten konsequent
verfolgt und die Nichterfüllung der Mindestbeschäfti-
gung geahndet werden.
In der Anhörung hat die Bundesagentur für Arbeit un-
seren Vorschlag, die Verfolgung der Beschäftigungs-
pflichtverstöße zu verlagern, begrüßt. Dies würde den
Interessenkonflikt lösen, den die derzeitige Regelung
hervorruft.
Als weitere Maßnahme schlagen wir vor, die institu-
tionelle Förderung in Höhe von derzeit circa 40 Millio-
nen Euro jährlich aus Mitteln der Ausgleichsabgabe zu-
künftig nicht mehr für Werkstätten und Wohnheime,
sondern für die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zu ver-
wenden. Das ist wichtig; denn nur so bekommen wir
eine Trendwende von der alternativlosen Werkstatt zu
mehr Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.
Die Integrationsunternehmen leiden momentan nicht
darunter, dass es zu wenige tragfähige Geschäftsideen
oder zu wenig geeignetes Personal gäbe, sondern vor al-
lem darunter, dass das Aufkommen der Ausgleichsab-
gabe in einigen Ländern enorm begrenzt ist und daraus
keine neuen Förderungen erfolgen können. Die Auftei-
lung des Aufkommens der Ausgleichsabgabe muss des-
halb so neu geregelt werden, dass mehr Mittel für die
Förderung von Integrationsunternehmen bereitstehen.
Auch die Rücklagemittel im Ausgleichsfonds des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – nach un-
seren Informationen fast 300 Millionen Euro – sind für
eine neue Beschäftigungsinitiative für schwerbehinderte
Arbeitslose zu verwenden. Die Integrationsunterneh-
men könnten in Jahresfrist mehrere Tausend neuer so-
zialversicherungspflichtiger Jobs auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt schaffen.
Wir werden im Falle einer Regierungsübernahme die
Inklusion am Arbeitsmarkt aktiv und mit Nachdruck för-
dern und wieder Bewegung hineinbringen, damit die Be-
troffenen endlich Perspektiven erhalten und wir mit der
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention voran-
kommen.
Gabriele Molitor (FDP): Wollen wir Inklusion um-
setzen, müssen Menschen mit und ohne Behinderung die
Möglichkeit haben, sich zu begegnen. Besonders gut
geht das am Arbeitsplatz. Hier verbringen wir einen
Großteil unserer Zeit. Hier finden sich Möglichkeiten,
inklusive Prozesse voranzubringen und die Teilhabe von
Menschen mit Behinderung zu fördern. Ein Blick auf die
Arbeitslosenstatistik von Menschen mit Schwerbehinde-
rung macht den Handlungsbedarf deutlich. Denn Men-
schen mit Behinderung sind in Deutschland deutlich
stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als nichtbehin-
derte Menschen.
Dabei haben viele Unternehmen bereits gezeigt, wie
erfolgreich die Zusammenarbeit mit behinderten Mitar-
beitern verläuft. Globetrotter, Daimler AG, Metro Group
oder die Deutsche Telekom stellen Menschen mit Behin-
derung ein und leisten so einen wertvollen Beitrag für
eine inklusive Gesellschaft. Der Effekt, der dabei ent-
steht, ist elementar für eine tolerante und solidarische
Gemeinschaft: Menschen mit Behinderung und ihre Be-
dürfnisse werden wahrgenommen und ernst genommen.
Diese Wahrnehmung wollen wir mit unserem gemein-
samen Antrag der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und
FDP fördern.
Inklusion auf dem Arbeitsmarkt ist ein wechselseiti-
ger Prozess. Nicht nur die Arbeitgeberseite, sondern
auch Menschen mit Behinderung leisten einen wichtigen
Beitrag und zeigen, dass Inklusion, Leistungsfähigkeit
und wirtschaftlicher Erfolg sich nicht ausschließen. So-
wohl die Unternehmen als auch die Menschen mit Be-
hinderung und die nichtbehinderten Kollegen zeigen,
worauf es bei der Inklusion ankommt: eine Win-win-Si-
tuation für alle zu schaffen.
Dieser Prozess verläuft nicht automatisch. Dafür braucht
es Instrumente und Unterstützungssysteme. Diese wur-
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den bereits entwickelt und erfolgreich angewendet. Zum
Beispiel ermöglichen technische Hilfen die Integration
in den ersten Arbeitsmarkt. Auch eine Arbeitsassistenz
ist hilfreich. Sie führt Handgriffe aus, die der schwer-
behinderte Arbeitnehmer selbst nicht ausführen kann.
Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen profitieren
von der „Unterstützten Beschäftigung“, bei der eine
Fachkraft den Mensch mit Lernschwierigkeiten anleitet
und die Arbeitsaufgaben mit ihm trainiert.
Aber auch Integrationsfachdienste und andere Dienst-
leister sind wichtig. Sie fungieren als Vermittler zwi-
schen dem Menschen mit Behinderung und dem Unter-
nehmen. Sie beraten und helfen bei der
Hilfsmittelbeschaffung. Institutionen wie Berufsbil-
dungs- und Berufsförderungswerke unterstützen Men-
schen mit Behinderung bei der Eingliederung oder Wie-
dereingliederung in den Arbeitsmarkt.
Diese beispielhaften Instrumente zeigen, dass wir be-
reits ein breites Spektrum an Hilfsmöglichkeiten ge-
schaffen haben. Diese gilt es bekannter zu machen. Denn
nach wie vor stellen Betriebe Menschen mit Behinde-
rung nicht ein, weil sie viele Nachteile befürchten. Dabei
werden die Hilfen, die die Behinderung ausgleichen,
vom Integrationsamt finanziert. Daher ist Aufklärung
wichtig. Arbeitgebern muss die Inklusion so leicht wie
nur möglich gemacht werden. Entgegen den Forderun-
gen der Opposition werden eine erhöhte Ausgleichsab-
gabe oder zusätzliche Sanktionen nicht zu mehr Men-
schen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt
führen. Kein Arbeitgeber lässt sich zu einer Anstellung
zwingen. Wir müssen Unternehmer vom Potenzial von
Menschen mit Behinderung überzeugen. Konkret heißt
das: ermutigen und Anreize schaffen, statt strafen und
mahnen.
Seit Jahren wirbt die FDP mit der Botschaft, dass be-
hinderte Menschen, am richtigen Platz in der richtigen
Weise eingesetzt, wertvolle Mitarbeiter sind. Auch die
UN-Behindertenrechtskonvention betont ausdrücklich
den uneingeschränkten Zugang behinderter Menschen
zum allgemeinen Arbeitsmarkt (Art. 27). Hierfür setzen
wir uns mit unserem gemeinsamen Antrag ein. Mit dem
Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung zur Um-
setzung der UN-Behindertenrechtskonvention und mit
der Initiative Inklusion sind wir auf einem guten Weg.
Vor allem ältere und junge Menschen mit Behinderung
profitieren von der Initiative Inklusion. Die Inklusions-
kompetenzen bei den Kammern zu fördern, schwerbe-
hinderten Jugendlichen den Zugang zu Ausbildung und
Beschäftigung zu erleichtern und ältere Menschen mit
Behinderung (über 50 Jahre) wieder in den Arbeitsmarkt
zu integrieren, sind genau die richtigen Schritte.
Gerade der Fachkräftemangel und der demografische
Wandel stellen den Arbeitsmarkt vor die Herausforde-
rung, Arbeitnehmer zu finden. Den Blick dabei auch auf
Menschen mit Handicap zu richten, ist nicht nur loh-
nenswert, sondern eine reelle Chance auf einen gut qua-
lifizierten Mitarbeiter.
Auch Selbstständigkeit muss als weitere Option stär-
ker in den Blick genommen werden. Für viele Menschen
mit Behinderung ist die Selbstständigkeit die einzige
Möglichkeit der Beschäftigung, da sie sich so flexible
und auf ihre Behinderung zugeschnittene Arbeitsbedin-
gungen schaffen können.
Auch Menschen mit psychischen und geistigen Ein-
schränkungen müssen in den Fokus der Debatte genom-
men werden. Viele Menschen mit diesen Behinderungen
sind in Werkstätten für Menschen mit Behinderung be-
schäftigt. Die Zahl dieser Gruppe steigt kontinuierlich
an. In den letzten 15 Jahren hat sich die Zahl der Werk-
stattbeschäftigten fast verdoppelt. Für viele Menschen
mit schweren Behinderungen ist die bezahlte Arbeit in
Werkstätten der Behindertenhilfe die einzige Möglich-
keit, zu arbeiten. Deshalb müssen Werkstätten erhalten
bleiben. Jedoch muss hier zukünftig mit mehr Augen-
maß vorgegangen werden. Auch das Wunsch- und Wahl-
recht von Menschen mit Behinderung muss stärker be-
rücksichtigt werden.
Ich habe mit Menschen mit psychischen Behinderun-
gen gesprochen, die gerne in einer geschützten Werkstatt
arbeiten und diese Form der Beschäftigung dringend
brauchen. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Werk-
stattbeschäftigten, die sich eine Arbeit außerhalb der
Werkstatt vorstellen können. Diesen Menschen muss der
Zugang zu inklusiver Beschäftigung ermöglicht werden.
Zurzeit sind zu viele Leistungen immer noch an eine
Werkstatt gekoppelt. Wichtig ist auch, mehr Außenar-
beitsplätze zu schaffen. So können Werkstattbeschäf-
tigte, die ein gewisses Maß an Selbstständigkeit besit-
zen, außerhalb der Werkstatt in Betrieben arbeiten, ohne
die Unterstützung der Werkstatt aufzugeben. So kann
nach und nach der Weg in den ersten Arbeitsmarkt geeb-
net werden. Ein Rückkehrrecht in die Werkstatt und die
soziale Absicherung fördert den Übergang zum ersten
Arbeitsmarkt.
Unser gemeinsamer Antrag zielt darauf ab, Sonder-
welten abzubauen und den Zugang von Menschen mit
Behinderung zum allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleich-
tern. Die vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten
stärker zu nutzen und an den richtigen Stellen zu verbes-
sern, ist der richtige Weg. Denn dadurch werden Men-
schen mit Behinderung auch im Arbeitsleben stärker
wahrgenommen. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen
in Deutschland einen Kollegen mit Behinderung haben.
Mit unseren Maßnahmen wollen wir das mehr und mehr
selbstverständlich machen.
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): So selten wir
uns über das Thema Menschen mit Behinderung am Ar-
beitsmarkt hier im Plenum unterhalten, könnte man viel-
leicht denken, alles sei bestens und es gäbe keinen um-
fassenden Handlungsbedarf.
Das mögen Sie vielleicht glauben, meine Damen und
Herren von der Bundesregierung. Doch das Gegenteil ist
der Fall. Die Lage von Menschen mit Behinderung am
Arbeitsmarkt ist eines der größten Trauerspiele in Ihrer
Regierungszeit, und das kann man Ihnen nicht oft genug
sagen.
Seit Jahren ändert sich nichts an der hohen Arbeitslo-
sigkeit von Menschen mit Behinderung. Aktuell sind es
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in der Statistik über 180 000 schwerbehinderte Men-
schen; ähnlich sah es in den letzten Jahren aus. Im Ver-
gleich zu 2009 sind es sogar rund 8 Prozent mehr.
Auch der jährliche Blick auf die Statistik zur Pflicht-
quote für die Beschäftigung von schwerbehinderten
Menschen ist immer wieder ernüchternd, denn von Jahr
zu Jahr werden die 5 Prozent nicht erfüllt.
Nun könnte die Regierungskoalition sagen, in den
letzten Jahren ist sie zumindest um ein paar Quäntchen
gestiegen. Darauf würde ich Ihnen antworten: Dieser mi-
nimale Anstieg beruht oft überwiegend nicht auf der ge-
stiegenen Bereitschaft der Arbeitgeber zur Einstellung
von Menschen mit Behinderungen, sondern vielmehr da-
rauf, dass bereits Beschäftigten der Status der Schwerbe-
hinderung neu zugesprochen wurde.
Verschiedene Studien zeigen auch, dass in manchen
Betrieben die Erfüllung der Beschäftigungsquote über-
wiegend aus den im Laufe einer langjährigen Beschäfti-
gung angefallenen Krankheits- und Unfallfolgen in der
Belegschaft resultiert. Zynisch ausgedrückt, könnte man
auch sagen: Wer lange genug wartet und keine Men-
schen mit Behinderung einstellt, erfüllt schon irgend-
wann die Pflichtquote. Und das kann und darf so nicht
länger sein!
Und noch ein weiterer Aspekt, der verdeutlicht, wie
wenig Chancen für Menschen mit Behinderung auf ei-
nen neuen Job bestehen: Nur bei rund jedem sechsten
schwerbehinderten Arbeitslosen ist der Grund der Been-
digung der Arbeitslosigkeit eine Beschäftigung auf dem
ersten Arbeitsmarkt, bei den nicht schwerbehinderten
Arbeitslosen in rund jedem dritten Fall.
Vor dem Hintergrund der schlechten Jobchancen von
arbeitslosen Menschen mit Behinderung ist es deshalb
überhaupt nicht nachvollziehbar, dass bei der Förderung
dieser Personengruppe durch arbeitsmarktpolitische In-
strumente drastisch gespart wird. In den letzten drei Jah-
ren hat es hier einen Rückgang um 27 Prozent gegeben.
Hier werden die geringen Chancen noch einmal zusätz-
lich geschmälert. Das ist nicht länger hinnehmbar!
Die Bundesregierung und Arbeitgeberverbände be-
klagen alle paar Wochen den vermeintlichen Fachkräfte-
mangel. Doch wie passt das zusammen mit den Daten
und Fakten zur schlechten Arbeitsmarktsituation von
Menschen mit Behinderung? Viele wirklich gut qualifi-
zierte und hochmotivierte Menschen mit Behinderung
haben mir erzählt, wie schwer bis unmöglich es für sie
ist, einen Job zu bekommen. Und das macht einen wirk-
lich betroffen.
Damit sich die Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rung am Arbeitsleben nachhaltig verbessert, möchte die
Linke dies nicht dem Zufall und dem freien Spiel der
Kräfte überlassen. Dazu haben wir einen Antrag vorge-
legt, der entscheidende Weichenstellungen, etwa Erhö-
hung der Pflichtquote, Erhöhung der Anreize für Unter-
nehmen oder eine bessere Förderung, vornimmt. Damit
gute Arbeit für viele Menschen mit Behinderung nicht
länger ein unerfüllter Traum bleibt.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor
etwas mehr als einem halben Jahr waren hier im Bun-
destag zwei Tage lang knapp 300 Menschen mit Be-
hinderung zu Gast, um mit uns Abgeordneten über die
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zu
sprechen. Eines der vielen Themen, über die wir uns
ausgetauscht haben, war selbstverständlich auch die Si-
tuation am Arbeitsmarkt. Für Menschen mit Behinde-
rung ist sie wenig befriedigend. Es ist häufig schwierig,
einen Arbeitsplatz zu finden, und auf der Suche nach
Unterstützung gibt es häufig Probleme, wenn Anträge
gestellt werden müssen und die Kommunikation mit Be-
hörden ansteht. Entsprechend eindeutig waren die For-
derungen unserer Gäste: Die Verantwortlichen müssen
im Interesse der Menschen mit Behinderung besser zu-
sammenarbeiten, und der Fokus muss dabei weg von den
Werkstätten für Menschen mit Behinderung und hin zum
allgemeinen Arbeitsmarkt gehen. Die Selbstbestim-
mungsrechte von Menschen mit Behinderung müssen
gestärkt werden.
Was heißt das für die Politik? Was können wir tun,
um diese Ziele zu erreichen? Ich möchte hier insbeson-
dere auf einen Punkt näher eingehen: auf die Frage nach
der Möglichkeit des Übergangs von der Werkstatt für be-
hinderte Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden vom
Sozialhilfeträger gegenwärtig nur finanziert, sofern die
leistungsberechtigte Person nicht erwerbsfähig ist. In
diesem Fall finanziert der Sozialhilfeträger die Tätigkeit
im Arbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Men-
schen. Möchte eine Person aus der Werkstatt auf den all-
gemeinen Arbeitsmarkt wechseln, ist der Sozialhilfeträ-
ger nicht mehr zuständig. Selbst wenn er im Sinne der
leistungsberechtigten Person eine Maßnahme auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt finanzieren möchte, kann der
Sozialhilfeträger die Leistung nicht erbringen. Zur Fi-
nanzierung dieser Leistungen kommen andere Träger in
Betracht, unter anderem die Bundesagentur für Arbeit
und die Integrationsämter. Deren Interesse, Leistungen
für einen immer größeren Personenkreis zu erbringen,
der zudem noch dauerhaft auf Unterstützungsleistungen
sowie Lohnkostenzuschüsse angewiesen sein wird, ist
natürlich nicht besonders ausgeprägt. Insofern sind auch
die Bemühungen, hier Angebote für Menschen mit Be-
hinderung zu schaffen, überschaubar. Die Erhöhung der
Ausgleichsabgabe ist eine Möglichkeit, zumindest die
Budgets der Integrationsämter zu stabilisieren und neue
Jobs – etwa in Integrationsunternehmen – zu fördern.
Trotzdem sind wir in der sehr unerfreulichen Situation,
dass zwar Geld im System ist, aber nicht an den richti-
gen Stellen. Diese Situation entspricht weder den Be-
dürfnissen von Menschen mit Behinderung noch der
UN-Behindertenrechtskonvention. Denn die Konvention
formuliert in Art. 27 ganz unmissverständlich das Recht
behinderter Menschen, ihren Lebensunterhalt durch Ar-
beit zu verdienen, die in einem offenen und für Men-
schen mit Behinderung zugänglichen Arbeitsmarkt frei
gewählt wird. Auch dem Wunsch- und Wahlrecht behin-
derter Menschen wird die Situation gegenwärtig nicht
gerecht. Denn wirklich wählen kann man nur, wenn es
die entsprechenden Angebote gibt.
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Wenn wir den Übergang aus der Werkstatt in den ers-
ten Arbeitsmarkt wirklich erleichtern wollen, müssen
wir zu besseren Regelungen kommen. Es ist nicht nach-
vollziehbar, warum sich durch den Sozialhilfeträger ein
Werkstattplatz finanzieren lässt, nicht aber die nötige
Unterstützung im Rahmen einer Beschäftigung auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt. Es ist bisher nur in zwei
Bundesländern einigermaßen gelungen, die Leistungs-
ansprüche von der Werkstatt auf den allgemeinen Ar-
beitsmarkt zu übertragen. In Rheinland-Pfalz und in
Niedersachsen gibt es das sogenannte Budget für Ar-
beit. Dort haben wir eine Leistungsform, die sich an den
Interessen des behinderten Menschen orientiert und fle-
xibel eingesetzt werden kann. Zu solchen und ähnlichen
Lösungen müssen wir endlich auch bundesweit kom-
men und vor allem das Jobangebot an unterstützter Be-
schäftigung quantitativ ausweiten, ohne dass die Qualität
der Unterstützung auf der Strecke bleibt. Nur wenn alle
Träger, die für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben
infrage kommen, an einem Strang ziehen, werden wir
gute Lösungen finden. Die Reform der Eingliederungs-
hilfe bietet die Möglichkeit zur Veränderung in diese
Richtung. Ich hoffe sehr, dass wir bald ein politisches
Kräfteverhältnis vorfinden, mit dem wir entscheidende
Schritte vorankommen: für eine bessere Zusammenar-
beit im Interesse eines starken Selbstbestimmungsrechts
behinderter Menschen.
Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
die Gewährung eines Altersgelds für freiwillig
aus dem Bundesdienst ausscheidende Beamte,
Richter und Soldaten (Tagesordnungspunkt 15)
Florian Hahn (CDU/CSU): Der demografische Wan-
del und der internationale Kampf um die besten Köpfe
verändern den Arbeitsmarkt zunehmend. Viele Unter-
nehmen finden nicht genügend Lehrlinge, geschweige
denn Fachkräfte. Dieser Mangel an gutausgebildeten Ar-
beitskräften wird auch am öffentlichen Dienst nicht vor-
beigehen. Wenn der Bund als Arbeitgeber der neuen Ar-
beitswelt, die auf Flexibilität und Mobilität beruht,
gewachsen sein will, muss er ein zukunftsorientiertes
Angebot vorlegen.
Die schwarz-gelbe Regierung hat in den letzten Jah-
ren hierfür wichtige Impulse gesetzt. Die Gewährung ei-
nes Altersgeldes ist nun ein weiterer Schritt in die rich-
tige Richtung. Sie reduziert die Mobilitätshindernisse
zwischen Privatwirtschaft und Beamtenlaufbahn und
macht einen Eintritt in den öffentlichen Dienst für viele
junge High Potentials erst interessant.
So sollen freiwillig aus dem Bundesdienst ausschei-
dende Beamte, Richter und Soldaten künftig gegenüber
den vormaligen Dienstherren einen Anspruch auf die
Gewährung eines Altersgeldes haben. Dies bedeutet eine
wesentliche Besserstellung der Beamten und Berufssol-
daten, als dies gegenwärtig in der Nachversicherung der
gesetzlichen Rente der Fall ist. Durch den Abzug von 15
Prozent des dynamisierten Altersgeldes ist jedoch auch
der Bund entschädigt, der sich durch das neue Gesetz
mit zusätzlichen Kosten für die Einarbeitung und Rekru-
tierung neuen Personals konfrontiert sieht. Ich denke, so
ist beiden Seiten geholfen.
Ich möchte deshalb auch den Bedenkenträgern sagen,
dass wir dieses neue Gesetz nicht als Bedrohung und
Aushöhlung der Bundesdienste sehen dürfen. Die Ge-
fahr, dass uns sämtliche Beamte nach einer gewissen
Zeit davonlaufen, ist sehr gering. Sie steht auch in kei-
nem Verhältnis zu dem Attraktivitätsgewinn, den die Be-
amtenlaufbahn mit dem Gesetz erfährt. Die wirtschaftli-
chen Nachteile bei einem vorzeitigen Ausscheiden, die
viele junge gutausgebildete Menschen bisher abschre-
cken, fallen weg.
Als Verteidigungspolitiker liegt mir natürlich nicht
nur das Wohl unserer Beamtenschaft, sondern speziell
die Zukunftsfähigkeit des Soldatenberufs am Herzen.
Das Altersgeld ist deshalb eine wichtige Etappe, um das
Berufsfeld des Soldaten noch attraktiver und moderner
zu gestalten. Die schwarz-gelbe Regierung hat ohnehin
ein beispielloses Maßnahmenpaket im Rahmen der Bun-
deswehrreform verabschiedet:
Erstens. So haben wir zum Beispiel die Vereinbarkeit
von Familie und Dienst durch die Schaffung von mehr
Kinderbetreuungsmöglichkeiten und die Reduzierung
der Versetzungen verbessert.
Zweitens werden durch das Einsatzversorgungs-Ver-
besserungsgesetz die im Einsatz Geschädigten und die
Hinterbliebenen wesentlich bessergestellt. Neben der
materiellen Verbesserung haben wir mit diesem Gesetz
auch die politische und soziale Verantwortung der Poli-
tik für die Bundeswehr unterstrichen.
Drittens. Außerdem ist es uns auch gelungen, dafür zu
sorgen, dass eine besondere Auslandsverwendung von
180 Tagen bereits für eine Doppelanrechnung der ruhe-
gehaltsfähigen Dienstzeit ausreicht. Des Weiteren kann
bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 Pro-
zent grundsätzlich ein Anspruch auf die Ernennung zum
Berufssoldaten bestehen. Damit wird anerkannt, dass
Soldaten im Einsatz in Situationen kämpfen, die sich
durch Intensität und Bedrohungslage nachhaltig von
nichtmilitärischen Tätigkeiten unterscheiden, und dass
ein höheres Risiko für Posttraumatische Belastungsstö-
rungen vorliegt.
Viertens. Zuletzt möchte ich noch das Bundeswehrre-
form-Begleitgesetz erwähnen. Entgegen sämtlicher trü-
ber Prognosen hat dieses Gesetz viel Positives gebracht.
Die vorzeitige Zurruhesetzung für Berufssoldaten ab
50 Jahren sowie das bessere Wehrdienstverhältnis für
Reservisten, die ehrenamtliche Aufgaben übernehmen,
sind nur einige Beispiele.
Ich denke, wir haben einiges auf den Weg gebracht,
um die Attraktivität der Bundeswehr als zukunftsorien-
tierten Arbeitsgeber zu steigern. Das Gesetz zur Gewäh-
rung eines Altersgeldes ist da nur konsequent und gilt es
deshalb zu bewilligen.
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Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU):
Heute erhielt ich einen Anruf von einem Naturwissen-
schaftler: Er hat das Angebot erhalten, in einem Bundes-
ministerium als Referent zu arbeiten. Er ist unschlüssig:
Will er wirklich Beamter auf Lebenszeit werden? Des-
halb hat er mich gefragt, was es mit dem Projekt Alters-
geld auf sich habe. Es stellte sich im Gespräch heraus,
dass die Aussicht auf einen Ausstieg ohne große finan-
zielle Verluste für ihn ein starkes Argument für den Ein-
stieg in die Bundesverwaltung ist. Und genau das ist un-
sere Intention: Das Altersgeld ist ein Modell zum
Einstieg!
Der demografische Wandel ist für die Arbeitgeber in
Deutschland heute schon spürbar, es mangelt bereits
jetzt an Fachkräften, und dieser Mangel wird sich weiter
verschärfen. Wenn der Arbeitgeber Bund im Wettbewerb
um Fachkräfte mithalten will, muss er auch etwas bieten.
Immerhin bewerben sich heute die Bundesbehörden im-
mer öfter bei den Fachkräften und nicht umgekehrt. Bei
den Gehältern kann die öffentliche Verwaltung mit der
freien Wirtschaft sicher selten mithalten. Deshalb muss
der Bund als Arbeitgeber andere attraktive Angebote
machen können.
Unsere beamtenpolitischen Initiativen in den vergan-
genen gut drei Jahren stellen in dieser Hinsicht eine Er-
folgsbilanz der christlich-liberalen Koalition dar, wie sie
sich übrigens viele Beamtinnen und Beamte in einigen
rot-grün geführten Bundesländern wünschen würden.
Und wir wollen heute, sozusagen auf der Zielgeraden
dieser Legislaturperiode, eine weitere Gesetzesinitiative
verabschieden, die es guten Bewerbern noch attraktiver
macht, in der Bundesverwaltung anzuheuern. Wir wol-
len den Wechsel zwischen Öffentlichem Dienst und der
Privatwirtschaft zukünftig in beide Richtungen erleich-
tern. In der Koalition haben wir uns auf den vorliegen-
den Gesetzentwurf zur Mitnahme von Versorgungsan-
wartschaften geeinigt, ein Gesetzentwurf, mit dem wir
die bundesweit wegweisende Dienstrechtsreform aus
dem Jahr 2009 komplettieren. Wir wollen den Austausch
zwischen Staat und Wirtschaft beleben und die besten
Köpfe für den Öffentlichen Dienst gewinnen, ihnen da-
bei aber nicht den Eindruck vermitteln, sie müssten sich
von Beginn an für ihr ganzes Leben unwiderruflich ver-
pflichten.
Wenn ein aktiver Beamter bisher den Wechsel in die
Privatwirtschaft erwogen hat, musste er innerhalb der
dann fälligen gesetzlichen Nachversicherung mit derart
hohen Abschlägen in der Alterssicherung rechnen, dass
die meisten von diesem Schritt abgehalten wurden. Die-
jenigen Berufseinsteiger, die sich eine berufliche Flexi-
bilität nicht von vorneherein verbauen wollen, entschei-
den sich deshalb heute nicht für die Verwaltung. Genau
diesen Bewerbern möchten wir die Option offen lassen,
möglicherweise nur einen Teil des beruflichen Lebens
als Beamter zu arbeiten und die damit erworbenen Ver-
sorgungsansprüche wie auch in der Privatwirtschaft
quasi mitzunehmen. Mitnehmen heißt in diesem Fall, der
Anspruch wird mit Erreichen der gesetzlichen Alters-
grenze wirksam. Ich bin davon überzeugt, dass diese Re-
gelung nicht nur mehr Gerechtigkeit bringt, sondern
auch mehr interessierte Bewerber. Und von diesen Neu-
gewonnenen werden deutlich mehr bleiben als gehen.
Erfahrene Fachkräfte aus der Wirtschaft, aber auch junge
Studienabsolventen werden den Öffentlichen Dienst als
attraktiven Arbeitgeber erleben und sich wohlfühlen.
Deshalb ist das Altersgeld für uns ein Modell zum Ein-
stieg.
Das Lebenszeitprinzip bleibt für uns gleichwohl ein
wichtiger Grundsatz. Deshalb wollen wir auch keine fal-
schen Anreize setzen und haben einen Abschlag in Höhe
von 15 Prozent der Altersgeldansprüche und eine Min-
destverwendungszeit von sieben Jahren im Gesetz ver-
ankert. Ebenso sollen entstandene Ausbildungskosten
vom Staat gegebenenfalls zurückgefordert werden kön-
nen.
Die Oppositionsparteien wollten dieses Vorhaben
schon immer machen, geschafft haben sie es nicht. Wir
machen es jetzt, und ich denke, dieses Modell wird – wie
die Dienstrechtsreform der letzten Wahlperiode – als
Vorbild dienen, weitere werden folgen. Der einzige
Dienstherr, der bei der Portabilität schneller war als wir,
waren die Baden-Württemberger – wohlgemerkt aber
die schwarz-gelbe Landesregierung.
In der öffentlichen Anhörung haben wir viel Lob für
die Initiative bekommen. Herr Dauderstädt vom Deut-
schen Beamtenbund sprach von der Quadratur des Krei-
ses, die gelungen sei, Herr Niesen von der Gewerkschaft
Technik und Naturwissenschaft begrüßte die Lösung als
tragfähigen Kompromiss. Herr Dr. Schneider vom DGB
sprach von einem Schritt in die richtige Richtung. Herr
Weber von Verdi nannte die Gewährung eines Altersgel-
des vom Grundsatz her positiv. Er wies auch darauf hin,
dass wir klarmachen müssen, dass es sich bei diesem
Gesetz nicht um eine Erhöhung von Versorgungsansprü-
chen handelt. Dafür möchte ich mich bedanken. Keiner
der Sachverständigen sah eine Gefahr für ein Ausbluten
des Öffentlichen Dienstes.
Der Änderungsantrag der SPD-Fraktion greift drei
Punkte auf, die auch in der Anhörung angesprochen
wurden. Nach unserem Entwurf müssen Bundesbeamte
mindestens sieben Jahre im Öffentlichen Dienst beschäf-
tigt sein, um beim Ausscheiden einen Anspruch auf Al-
tersgeld mitnehmen zu können. Ich bin von dieser Rege-
lung überzeugt, weil die Verpflichtung auf einen
Dienstherren nicht so schnell ohne Konsequenzen aufge-
löst werden sollte. Ich würde sogar eine noch längere
Mindestdienstzeit befürworten. Zudem entstehen Kosten
für den Dienstherren, wenn ein Wechsel ansteht. Dies
war auch einer der Gründe für den Abschlag von 15 Pro-
zent. Liebe Kolleginnen und Kollegen Sozialdemokra-
ten: Sie lieben ja Klartext, deshalb: Das war kein einfa-
ches Gesetzesvorhaben. Ich denke, das können Sie sich
vorstellen, schließlich haben Sie es ja vorher auch nicht
geschafft. Die Spatzen pfeifen es ja vom Reichstags-
dach, dass es auch bei Ihnen sehr unterschiedliche Mei-
nungen zum Altersgeld gibt. Der 15-prozentige Ab-
schlag und die Mindestwartezeit waren in unseren
Reihen Zugeständnisse an die Skeptiker, die den Aus-
stieg nicht zu attraktiv gestalten und zudem die Kosten-
frage geklärt sehen wollten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29439
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Uns allen ist klar, dass es damit nicht getan ist. Wei-
tere Schritte müssen folgen. Wir werden deshalb prüfen,
in welcher Form Zeitsoldaten zukünftig berücksichtigt
werden können. Aufgrund der Komplexität dieses The-
mas werden wir uns gesondert damit befassen. Wir müs-
sen uns auch darüber Gedanken machen, wie wir externe
Bewerber zukünftig zu den Erfahrungstufen einordnen,
welche Qualifikations- und Ausbildungszeiten, aber
auch sonstige berufliche Erfahrungen wir dabei berück-
sichtigen. Um die Attraktivität des Öffentlichen Dienstes
zu steigern, haben wir schon einiges getan. Ich erinnere
an dieser Stelle nur an den Wegfall der pauschalen Stel-
lenkürzung. Weitere Maßnahmen zur Fachkräftegewin-
nung werden folgen. Diese Koalition hat jedenfalls be-
wiesen: Wir gestalten nicht wie andere schöne
Prospekte, wir nehmen das Thema Demografie ernst und
setzen konsequent das Erforderliche um.
Ich bitte Sie heute um Ihre Zustimmung zum vorlie-
genden Gesetzentwurf.
Michael Hartmann (Wackernheim) (SPD): Nun ist
es endlich soweit: Nach jahrelanger Diskussion wird die
Mitnahmefähigkeit der Beamtenversorgung bzw. das,
was manche darunter verstehen wollen, heute nun wohl
endlich abschließend beraten und beschlossen. Nur zu
gerne hätten auch wir Sozialdemokraten heute zu diesem
von uns seit Jahren offensiv und intensiv verfolgten Vor-
haben Ja gesagt. Doch das ist uns nicht möglich. Es ist
nämlich bestenfalls ein Halbfertigprodukt, das die Koali-
tion heute als Patentlösung verkaufen will. Für so etwas
reichen wir jedoch nicht die Hand.
Erstaunlich, dass überhaupt eine Einigung erzielt wurde;
denn die Widerstände im Bundesinnenministerium wa-
ren und sind gewaltig. Das Ende des öffentlichen Diens-
tes, dessen Ausbluten nach kurzem Siechtum wird als
Weltuntergangsszenario an die Wand gemalt. Welch eine
Denke! Wie verstaubt und vorgestrig! So funktioniert die
Welt eben nicht mehr!
Große Teile des Hauses würden doch zu Recht mit
Empörung reagieren, wollten wir Beschäftigten in der
gewerblichen Wirtschaft den Wechsel von einem Arbeit-
geber zum anderen unmöglich machen, indem sie ihre
Zusatzversorgung in diesem Falle verlören. Bei den Be-
amtinnen und Beamten des Bundes aber sehen manche
diese Hürde als eine besondere Tugend an: einmal Be-
amter, immer Beamter.
So aber lockt man junge Menschen nicht in den öf-
fentlichen Dienst, vielmehr schreckt man sie ab. Wir
brauchen aber qualifizierte Nachwuchskräfte. Wir sind
angewiesen auf flexible Hochqualifizierte, die gerne
eine Weile – zumeist ja dann doch dauerhaft – ihrem
Land dienen, dann aber in ihrem Berufsleben noch eine
andere Tätigkeit ausüben wollen.
Immer mehr Bundesländer öffnen sich daher der Mit-
nahmefähigkeit und leiden eben nicht unter einem Exo-
dus. Begrenzt und maßvoll sind die Abwanderungsbe-
wegungen von Beschäftigten dort. Diese Wenigen
erhalten übrigens nur selten Spitzenbesoldungen. Auch
da können alle Ängstlichen beruhigt werden.
Daher ist es schade, dass die Bedenkenträger im In-
nenministerium gegenüber den wenigen Aufgeschlosse-
nen in der Koalition so stark waren, dass heute nur
scheinbar die Mitnahmefähigkeit beschlossen wird.
Halbherzig ist der Schritt, den Sie gehen. Deshalb gehen
wir nicht mit. Sie wollen nur mit erheblichen Abschlä-
gen und erst nach sieben Jahren den Wechsel ermög-
lichen, anstatt nach fünf Jahren und ohne Abschläge, wie
wir im Innenausschuss forderten und es in Baden-Würt-
temberg und anderswo schon praktiziert wird.
Das ist auf zynische Weise übrigens konsequent. Be-
reits in der Großen Koalition wollten wir Sozialdemo-
kraten nämlich die Mitnahmefähigkeit. Doch auf den
letzten Metern bremste uns der damalige Bundesinnen-
und heutige Finanzminister mit seiner Denke von vor-
gestern aus. Nun nötigt man das Bollwerk des Denkens
in obrigkeitsstaatlichen Kategorien zu einem Schritt. Er
ist ein Schrittchen. Da geht mehr. Das werden wir nach
der Bundestagswahl unter Beweis stellen.
Dr. Stefan Ruppert (FDP): Im Wahljahr 2013 kann
die FDP-Bundestagsfraktion auf vier gute Jahre für das
deutsche Berufsbeamtentum zurückschauen. Unsere Bi-
lanz fällt positiv aus: Deutschland verfügt über einen
funktionierenden und leistungsfähigen öffentlichen
Dienst. Nach Umfragen der forsa, Gesellschaft für So-
zialforschung und statistische Analysen, aus dem Jahr
2012 genießen die Beamten bei den Bundesbürgern nach
wie vor ein gutes Ansehen. Die weit überwiegende Zahl
der Befragten hält die Staatsbediensteten für pflichtbe-
wusst, zuverlässig und kompetent.
Der öffentliche Dienst ist ein positiver Standortfaktor
für Deutschland. Im 2012 veröffentlichten internationa-
len Vergleich von 45 Industrienationen und Schwellen-
ländern im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums
liegt Deutschland auf dem fünften Platz und damit ledig-
lich hinter den USA, Schweden, Dänemark und der
Schweiz.
Gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion haben wir in
dieser Wahlperiode für den Bund zahlreiche wichtige
Reformen für die Beamten, Richter und Soldaten des
Bundes umgesetzt: von der Gleichstellung von Le-
benspartnerschaften mit der Ehe im Dienstrecht über die
Attraktivitätssteigerung des öffentlichen Dienstes mit
dem Fachkräftegewinnungsgesetz und die Wiederge-
währung der Sonderzahlung bis hin zur Übertragung der
Tarifergebnisse auf Aktivbezüge und Pensionen.
Gleichwohl steht außer Frage, dass die Modernisie-
rung des öffentlichen Dienstes vorangehen muss. Der
demografische Wandel stellt nicht nur die Gesellschaft
und die Privatwirtschaft, sondern auch den öffentlichen
Dienst angesichts knapper werdender Fachkräfte vor
neue Herausforderungen. Aus diesem Grund hat die
FDP-Bundestagsfraktion im Koalitionsvertrag 2009 mit
der CDU/CSU-Fraktion vereinbart, den Bund als Arbeit-
geber weiter zu stärken und seine Wettbewerbsfähigkeit
gegenüber der Privatwirtschaft um qualifiziertes Fach-
personal zu stärken.
29440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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Die FDP fordert im Zusammenhang mit der Moderni-
sierung des öffentlichen Dienstes des Bundes seit lan-
gem die Einführung der Portabilität von Versorgungsan-
wartschaften für Beamte, Richter und Soldaten. Für uns
ändert die Portabilität nichts daran, dass das Beamten-
verhältnis auf Dauer angelegt ist. Der öffentliche Dienst
braucht dauerhafte und zuverlässige Beschäftigungsver-
hältnisse, um die Erledigung seiner Aufgaben in den
Ministerien, Gerichten und Behörden zu gewährleisten.
Wir sind aber davon überzeugt, dass die Portabilität für
viele junge und motivierte Fachkräfte zu einem Attrakti-
vitätsmerkmal werden wird. Ihnen wird leichter fallen,
sich für eine auf Dauer angelegte Laufbahn im öffentli-
chen Dienst zu entscheiden, wenn sie sich im Ernstfall –
ob aus persönlichen oder anderen Gründen – mit gerin-
gen Einbußen für den Ausstieg entscheiden können. Zu-
dem sorgen wir für mehr Wissens- und Erfahrungsaus-
tausch zwischen Wirtschaft und öffentlichem Dienst.
Mit der Verabschiedung des vorliegenden Gesetzent-
wurfes setzen wir die alte FDP-Forderung der Portabili-
tät nun um und erreichen damit, was die Große Koalition
in der vergangenen Wahlperiode verpasst hat. Schon
2008 hätte die Portabilität im Rahmen des Dienstrechts-
neuordnungsgesetzes eingeführt werden können. Die
FDP hatte in einem Entschließungsantrag das Fehlen der
Portabilität im Gesetzentwurf beanstandet.
Mit der vorliegenden Regelung ist uns aus meiner
Sicht ein guter Kompromiss gelungen. Anstelle der obli-
gatorischen Nachversicherung in der gesetzlichen Ren-
tenversicherung können freiwillig aus dem Bundesdienst
ausscheidende Beamte, Richter und Berufssoldaten
künftig das Altersgeld beantragen. Mit der Nachversi-
cherung waren für ausscheidende Beamte bisher erhebli-
che Einbußen in der Altersversorgung verbunden, und
sie wurden behandelt wie strafrechtlich verurteilte Be-
amte auch. Diese Ungerechtigkeit schaffen wir nun ab.
Der vorliegende Gesetzentwurf unterscheidet sich
deutlich von einem Regelungsvorschlag des Bundesin-
nenministeriums von November 2012, der erheblich
höhere Hürden für die Inanspruchnahme des Altersgel-
des vorsah. Auf Druck der FDP-Fraktion legt der Ge-
setzentwurf der Koalition nun weitaus günstigere Kondi-
tionen fest. Danach kann das Altersgeld nach einer
Mindestdienstzeit von sieben Jahren im öffentlichen
Dienst beantragt werden, von denen fünf im Bundes-
dienst absolviert sein müssen. Das Altersgeld wird ge-
mäß der Beamtenversorgung bis hin zur Rente regelmä-
ßig dynamisiert, das heißt an die wirtschaftliche
Gesamtentwicklung angepasst. Der Gesetzentwurf sieht
einen Abschlag von 15 Prozent im Vergleich zur vollen
Versorgung vor, den wir später nochmals prüfen werden.
Grundlage dieses Kompromisses war die Regelung
aus Baden-Württemberg, wo das Altersgeld Anfang
2011 eingeführt wurde. Die FDP-Bundestagsfraktion
hätte die Bundesregelung gern noch enger am Modell
aus Baden-Württemberg ausgerichtet, musste aber in den
parlamentarischen Beratungen mit dem Koalitionspart-
ner Kompromisse eingehen. Eine für 2016 vorgesehene
Evaluation des Gesetzentwurfs wird ergeben, ob Nach-
besserungen durch den Wegfall des Abschlags oder eine
geringere Mindestdienstzeit geboten sind. Der Ände-
rungsantrag der SPD-Fraktion ist insofern überflüssig
und daher abzulehnen.
Lassen Sie mich abschließend einige Worte zu den
Soldaten auf Zeit sagen. Die FDP-Fraktion hat sich dafür
eingesetzt, sie bei der Portabilität zu berücksichtigen.
Bei der öffentlichen Anhörung zum Gesetzentwurf im
März dieses Jahres wurde diese Forderung durch den
Deutschen BundeswehrVerband einmal mehr bekräftigt.
Leider konnten wir dies beim Koalitionspartner nicht
durchsetzen. Wir werden uns weiterhin für eine Verbes-
serung der Altersversorgung der Soldaten auf Zeit ein-
setzen.
Es kommt nun darauf an, dass möglichst viele Bun-
desländer dem Beispiel des Bundes folgen und wie Ba-
den-Württemberg den Einstieg in die Portabilität finden.
Hessen hat den Anfang ebenfalls gemacht.
Ich freue mich, dass die Fraktion Die Linke ihre Ver-
antwortung für das Berufsbeamtentum heute einmal
wahrnimmt und diesen Gesetzentwurf gemeinsam mit
der Koalition verabschiedet. Bedauerlich bleibt, dass die
SPD-Fraktion dies aus wahltaktischen Gründen nicht tut
und an dem Meilenstein keinen Anteil hat, den die Ko-
alition heute für ein modernes Berufsbeamtentum setzt.
Frank Tempel (DIE LINKE): Ein kleiner Schritt in
die richtige Richtung: Eigentlich gibt es zum Gesetzent-
wurf in der zweiten und dritten Beratung auch nichts an-
deres zu sagen als in der ersten Lesung. Die Regierungs-
koalition hat es nicht für nötig empfunden, einen
Änderungsvorschlag einzubringen und wenigstens ei-
nige der Unzulänglichkeiten des Gesetzentwurfes auszu-
bessern, die in der Anhörung des Innenausschusses
Mitte März zur Sprache kamen.
Unzulänglichkeiten gibt es einige: die siebenjährige
Wartezeit für die Gewährung des Altersgeldes, die vor-
gesehene Kürzung des ermittelten Altersgeldes um
15 Prozent und die Anrechnung von möglicherweise er-
worbenen Rentenbezügen auf das Altersgeld.
Die siebenjährige Wartezeit soll laut Ihrer Gesetzes-
begründung einen übermäßigen Anreiz für das Verlassen
des Bundesdienstes ausschließen. Dieser Beweggrund
ist nachvollziehbar. Diese Grenze von sieben Jahren ist
aber willkürlich gezogen. In Ableitung von den Rege-
lungen in den anderen Alterssicherungssystemen ist eine
fünfjährige Frist angemessener.
Die pauschalen Kürzungen des ermittelten Altersgel-
des von 15 Prozent sind nicht nachvollziehbar. Der DGB
schlägt eine sozial gestaffelte Kürzung vor. Damit hätte
sich auch die Linke anfreunden können.
Bei der geplanten Anrechnung von vor dem Beamten-
verhältnis erworbenen Rentenanwartschaften an das Al-
tersgeld hat die Regierungskoalition dann offensichtlich
ihr eigenes Konzept zum Altersgeld nicht verstanden. Es
ging um die Mitnahmefähigkeit von Versorgungsansprü-
chen zwischen den verschiedenen Alterssicherungssys-
temen. Erklären Sie mir bitte, wieso Ansprüche nur in
Richtung Rentensystem mitgenommen werden können,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29441
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aber nicht in Richtung des Versorgungssystems der Be-
amtenschaft.
Des Weiteren wurde auch die Anregung des DGB zur
Korruptionsvorbeugung nicht aufgegriffen. Der Deut-
sche Gewerkschaftsbund hatte vorgeschlagen, dass „das
Altersgeld nicht gewährt wird, wenn eine Beamtin oder
ein Beamter zu einem Arbeitgeber wechseln wird, zu
dem in Ausübung ihres bzw. seines Amtes Geschäftsbe-
ziehungen bestanden, über dessen Anträge sie bzw. er
entschieden hatte oder gegenüber welchem sie bzw. er
einer Aufsichtstätigkeit nachging.“ Als ehemaliger Er-
mittler in Korruptionsfällen kann ich die Notwendigkeit
einer solchen Regelung nur ausdrücklich unterstreichen!
Um noch einmal auf meine Rede zur ersten Lesung
des Gesetzes zurückzukommen: Wir begrüßen grund-
sätzlich die Einführung eines Altersgeldes, aber Sie ha-
ben sich die Chance vergeben, einen ausgereiften Ge-
setzentwurf vorzulegen. Wir werden Ihrem Vorschlag
dennoch zustimmen, ergeben sich doch trotz aller Män-
gel Verbesserungen für die Beschäftigten.
Alle drei am heutigen Tag zur Abstimmung stehenden
Gesetze zu Fragen des öffentlichen Dienstrechtes, zum
Altersgeld, zur Familienpflegezeit und zur Professoren-
besoldung kranken an dem gleichen Problem: Die Ge-
setzentwürfe ändern das Recht des öffentlichen Dienstes
in vielen Details, aber sie folgen keinem durchdachten
Konzept, das für eine Reform zur Modernisierung des
Dienstrechts – nicht zuletzt angesichts des demografischen
Wandels – notwendig wäre. Ihnen fehlt eine Vision, und
Ihnen fehlt der Mut über Ihre selbstgesetzte Grenze der
Kosten- und Planstellenneutralität hinwegzuschreiten.
Mit Stückwerk kann man sich über die Zeit retten, aber
die Probleme holen Sie über kurz oder lang unweigerlich
ein.
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Gemeinsam haben wir über das Altersgeld in der
ersten Lesung ja durchaus lebhaft diskutiert. Das ist bei
einem zuweilen etwas hölzern daherkommenden Thema
wie dem Beamtenrecht ja doch auffällig. Ich sage Ihnen,
warum das so war – ich wiederhole das gern –: Die Auf-
regung auf Koalitionsseite bezog sich, neben der späten
Stunde vielleicht, auch darauf, dass Sie von uns nicht da-
ran erinnert werden wollten, dass die Koalition sich zum
einen hinsichtlich der grundsätzlichen Einführung des
Instruments mit fremden Federn schmückt, denn natür-
lich geht es auf die Anregung der Gewerkschaften zu-
rück und war bereits in der Vorgängerkoalition gewisser-
maßen versandfertig gemacht. Zum anderen wollten Sie
dann nicht erinnert werden, dass Wolfgang Schäuble
selbst es war, der eine Umsetzung vor fünf Jahren per-
sönlich zunichtemachte. Man kann also sagen, dass da-
mit Jahre der Gerechtigkeit für die Beamten gezielt ver-
schenkt worden sind.
Dass ein Instrument zur Frage der Versorgung beim
freiwilligen Verlassen des Beamtenverhältnisses überfäl-
lig erscheint angesichts der erheblichen Benachteiligung
durch die bloße Nachversicherung in der gesetzlichen
Rentenversicherung, das ist Konsens. Und doch – das ist
uns allen wohl auch klar – eine Gratwanderung: Flexibi-
lisieren des Dienstrechts, aber gleichzeitig doch den
Sonderstatus des Beamtentums unberührt lassen. Die
Bindung durch das Lebensarbeitszeitverhältnis und das
damit verbundene Treueprinzip durch den gesellschaftli-
chen Wandel zumindest in Teilbereichen wegkorrodie-
ren sehen und doch eisern daran als „privilegiertem Nor-
malfall“ festhalten. Gute Leute ziehen lassen müssen,
ohne sie bestrafen zu können, weil sie es gewagt haben,
den privilegierten Status des Beamtendaseins zu verlas-
sen. Die Verhältnisse zwingen das Beamtentum weiter in
die gesellschaftliche Öffnung und die Einnahme einer
externen Perspektive, die danach fragt, wie das alles auf
Bewerber, auf die fachlich besonders Qualifizierten
wirkt, die wir zukünftig gewinnen müssen.
Man merkte diese Gratwanderung besonders ein-
dringlich am „Einerseits-andererseits-Sprech“ des DBB-
Vorsitzenden in der Ausschussanhörung, der davon
sprach, den Eindruck vermeiden zu wollen, es handele
sich beim Beamtensystem um ein „Einmal drin, mehr
oder weniger gefangen“; man wolle dem Argument ent-
gegentreten, man nehme dann erhebliche Abstriche in
der Altersversorgung in Kauf. Andererseits gehe es um
ein Bleibeargument; es sollte mit Nachdruck ein Aus-
stiegssignal vermieden werden.
Ich betone den Gerechtigkeitsaspekt dieses an und für
sich vernünftigen Instruments gerne vorrangig, denn Ih-
nen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koali-
tion, scheint die Zuordnung zur Demografiepolitik und
zur Fachkräftegewinnung wichtig. Sie und ich wissen
aber, dass es mit den erwarteten Zahlen für die Inan-
spruchnahme des Altersgeldes – vergleichen Sie auch
die moderaten Zahlen von Baden-Württemberg – zu den
von Ihnen gebotenen Konditionen nicht so weit her ist.
Und komplexe Großentwicklungen wie der demografi-
sche Wandel und deren Folgen werden mit dem von Ih-
nen vorgelegten Instrument ohnehin nicht steuerbar. Vor
allem aber lehnen Sie ja gerade wirkliche Anreize – das
hat die Fachanhörung ja deutlich herausgearbeitet – mit
Ihrem Entwurf letztlich ab. Genau deshalb handelt es
sich nicht um eine Maßnahme zur Steigerung der Attrak-
tivität des öffentlichen Dienstes, wie Ihnen der DGB und
auch Verdi vorgehalten haben. Das ist keine Flexibilisie-
rung des Wechsels in den öffentlichen Dienst oder aus
ihm hinaus, das ist schon ein Wechsel-Abschreckungs-
programm.
Es erscheint wichtig, zu betonen, dass es zunächst
durchaus schlicht einem Gebot der Fairness entspricht,
dass ein Dienstherr die über Jahre ihm gegenüber er-
brachten Leistungen auch versorgungsfest mitnahmefä-
hig macht, ein gebotener Nachteilsausgleich eben. Der
Verweis auf das Versprechen der Lebenszeitverbeam-
tung greift an dieser Stelle deshalb nicht mehr, weil das
Ausmaß dessen, was die Gesellschaft heute von den
Bürgern und deren Familien an Flexibilität verlangt, mit
diesem Grundprinzip und der dahinterstehenden Denke
oft nicht mehr vereinbar erscheint. Es sind heute genug
Lebenssituationen denkbar, wo es schlicht nicht zumut-
bar erschiene, Beschäftigte weiter festzuhalten, ihnen
aber gleichwohl gewissermaßen zur Bestrafung die Ver-
sorgungsansprüche vorzuenthalten.
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Wie übrigens bei der Familienpflegezeit auch kann
man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass diese Ko-
alition des Stillstandes die Lorbeeren für ein strukturell
wirkendes „Instrument der Flexibilisierung“ einheimsen
wollte, ohne sich je auf ein entsprechendes Instrument
geeinigt zu haben. Anders sind die von Ihnen eingebau-
ten Hindernisse für die Beschäftigten, verehrte Kollegin-
nen und Kollegen von der Koalition, nämlich nicht zu
verstehen. Geradezu akribisch haben Ihnen die Gewerk-
schaften das in der Anhörung des Innenausschusses auch
dargelegt. An erster Stelle rangiert die Mindestdienst-
zeit, die entgegen der Empfehlung der Großen Merkel-
Koalition von 2009 und entgegen den Landesregelungen
von Baden-Württemberg und Niedersachsen statt auf
fünf auf sieben Jahre hochgeschraubt wurde. Dabei ist es
meines Erachtens auch schon nach vier Jahren nicht zu
rechtfertigen, Beschäftigte derart abzustrafen, wenn sie,
aus welchen Gründen auch immer, weiterziehen wollen.
Der 15-prozentige Abschlag zählt ebenfalls zu den eher
harschen Abstandsgeboten der Beamtenschaft für dieje-
nigen, dies es wagen, dem Bund die Treue aufzukündi-
gen. Die Länder haben solche Abschläge nicht und wur-
den gleichwohl nicht überrannt.
Wie sehr wir die Durchlässigkeit der Systeme und die
„Transportfähigkeit“ des Erfahrungswissens der Be-
schäftigten brauchen werden – in beide Richtungen: in
den öffentlichen Dienst hinein und aber auch aus ihm
wieder heraus –, wird in den kommenden Jahren vermut-
lich eine zentrale Debatte werden. Für manche Bereiche
wie die IT oder ingenieurtechnischen Berufe ist es schon
jetzt mehr als offenkundig. Vor diesem Hintergrund ist
der vorgelegte Entwurf schlicht zu zaghaft.
Zur Gewinnung von Personal aus der Wirtschaft für
den öffentlichen Dienst wird es weitere Schritte brau-
chen. Verdi hat – nur um hier einmal die Fantasie für
wirkliche Reformdiskussionen anzuregen – einen, wie
wir meinen, diskussionswürdigen Vorschlag vorgelegt:
Der spätere Wechsel in den öffentlichen Dienst darf
nicht durch Bedenken wegen möglicher Verluste bei den
zuvor und außerhalb des öffentlichen Dienstes erbrach-
ten Leistungen behindert werden. Deshalb könnte etwa
die erweiterte Anerkennung von Ausbildungszeiten,
wissenschaftlichen Qualifikationszeiten etc. als ruhege-
haltsfähige Dienstzeiten einen wichtigen Anreiz für Inte-
ressierte bieten. Wie gesagt: nur wenn man bereit ist,
über den morgigen Tag hinauszudenken. Mit dieser Ko-
alition war und ist das nicht mehr zu erwarten.
Hinsichtlich der Soldaten auf Zeit, die sich bis zu
25 Jahre und damit ja quasi lebenslänglich verpflichten,
leuchtet auch mir nicht ein, weshalb es keinerlei Rege-
lung der Portabilität geben soll. Dass diese wiederum sui
generis ausgestaltet werden müsste, erscheint vor dem
formalen Hintergrund der Unvergleichbarkeit mit der
Lebenszeitverbeamtung ebenfalls naheliegend, sollte
aber die weitere Ausarbeitung nicht hindern. Die Zu-
rückhaltung der Koalition erklärt sich hier einzig aus den
hohen erwarteten Zahlen, wie diese etwa in der Stellung-
nahme der Bundesregierung aus der letzten Wahlperiode
dokumentiert wurden. Es käme dann aber eben auf die
konkrete Ausgestaltung der Regelung an, um eine finan-
zierbare Alternative aufzuzeigen.
Einen weiteren interessanten Vorschlag des DGB, der
ebenfalls in engem Verhältnis zur Thematik steht, sind
die Wechsel von Spitzenbeamten in die Wirtschaft. Beim
Wechsel zu einem Arbeitgeber, zu dem in Ausübung ei-
nes Amtes eine Geschäftsbeziehung bestand, über des-
sen Anträge entschieden wurde oder der beaufsichtigt
wurde, könnte danach ein Anspruch auf Altersgeld aus-
geschlossen werden. Es wäre ein gutes Signal gewesen,
wenn diese Regierung im Kontext des Altersgeldes eine
entsprechende Regelung mit aufgenommen hätte.
Die vielen kleinteiligeren fachlichen Kritikpunkte,
von der GdP verdienstvollerweise höchst akribisch auf-
gelistet, die sich angesichts des konkreten Regierungs-
entwurfs anschließen, habe ich hier nicht weiter auf-
greifen können. Vielleicht nur so viel: Auch der
Familienzuschlag wird nicht als altersgeldfähig aner-
kannt. Eine weitere Hürde zu viel bei einem Instrument,
dessen eigentliche Zielrichtung anerkennenswert er-
scheint. Wir werden deshalb dem Gesetzentwurf in die-
ser Form nicht zustimmen können, enthalten uns aber
mit Blick auf den zutreffenden Grundansatz.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Wettbewerb und
Innovationsdynamik im Softwarebereich si-
chern – Patentierung von Computerpro-
grammen effektiv begrenzen (Tagesordnungs-
punkt 17)
Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Im Kern der vor-
liegenden Debatte geht es darum, welches Rechtsinstitut
– Patentschutz oder Urheberschutz – das geeignetere In-
strument der Innovationspolitik ist, um mehr Erfindun-
gen und vor allem mehr innovative Produkte und Dienst-
leistungen am Markt zu etablieren und so die
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu behaupten.
Vor ziemlich genau einem Jahr veröffentlichten For-
scher der TU München einen Bericht über die innova-
tivsten Regionen Deutschlands. Hierbei untersuchten sie
Unternehmen und ihre Patentanmeldungen. Es darf Sie
– mich allerdings weniger – verwundern, dass bei dieser
Untersuchung zum Vorschein kam, dass mein Wahlkreis
– der Märkische Kreis auf Platz eins und der Kreis Olpe
auf Platz neun – mit seinen mittelständischen Familien-
unternehmen ganz vorne dabei war. Danach ist es sehr
bezeichnend, dass nicht nur die Großindustrie, sondern
auch kleine und mittelständische Unternehmen die
Champions der forschungsintensiven Branchen sind.
Patente sind mit Sicherheit kein Selbstzweck, sondern
Gradmesser für Innovationen und Erfindungen. Die
Innovationsfähigkeit eines Landes misst sich an ihren
Patentanmeldungen. Hier ist Deutschland europaweit
Spitzenreiter und weltweit auf Platz drei.
Seit Jahren schon gibt es eine heftige Diskussion um
die Patentierbarkeit von Software und die Folgen für die
Innovationsdynamik. Während meiner Recherchen bin
ich auf eine Internetpräsenz gestoßen, die ihre Seite mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29443
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dem Titel „Gedanken sind frei! – Wir wollen keine Soft-
warepatente!“ einleitet. Hier ist die Rede von Patentma-
fia und Patentlobbying der Großindustrie. Auf einer
ebenfalls sehr meinungsmachenden Seite wird sogar von
einem „krassen Kulturbruch“ gesprochen.
Hier zeigt sich wieder einmal – wie bei vielen The-
men rund um das geistige Eigentum –, dass mit harten
Bandagen hochemotional gekämpft wird. Leider wird
viel zu oft das Wesentliche aus dem Auge gelassen und
zu wenig darauf geachtet, was genau geregelt werden
soll.
Es geht um die Möglichkeit der Patentierungen von
Softwareerfindungen bzw. computerimplementierten Er-
findungen und nicht um ein Monopol auf reine Compu-
terprogramme. Die Software als Sprache, die uns hilft,
mit Computern in Verbindung zu treten, ist genauso we-
nig patentierbar wie Musik, Bücher oder Filme. Sie alle
unterliegen einzig dem Urheberrecht. Das soll auch so
bleiben!
Software hat auch eine technische Funktion: Das
Neue am Antiblockiersystem war nicht die Bremse, son-
dern vielmehr ihre computerunterstützte Steuerung. Das
Aufrechterhalten einer konstanten Spannung unserer
Stromnetze wäre ohne eine Softwareunterstützung nicht
denkbar. Auch unsere Handys und Smartphones wären
bei gleicher Kompaktheit nicht so leistungsstark, wie sie
sind. Von diesem patentrechtlich geschützten Entwick-
lungs- und Forschungseifer profitieren wir alle!
Gerade wegen des Doppelcharakters von Software
gibt es erhebliche Schwierigkeiten in der Praxis. Beson-
ders betroffen hiervon sind vor allem kleine und mittlere
Unternehmen sowie selbstständige Erfinder und Ent-
wickler. Für sie stellt sich immer auch die Frage nach
Schutzrechten, was eine klare Abgrenzung zwischen ur-
heberrechtlich geschützter Computersoftware und pa-
tentrechtlich geschützten computerimplementierten Er-
findungen notwendig macht.
Dieser Aufgabe stellt sich der vorliegende Antrag.
Computerimplementierte Erfindungen lassen sich nicht
immer leicht von reiner Software abgrenzen. Bei dem
heutigen rasanten technischen Fortschritt tauchen immer
wieder neue Sachverhalte auf, sodass Abgrenzungskrite-
rien nicht statisch sein dürfen. Anknüpfungspunkt ist der
in der Rechtsprechung des BGH verwandte Technizitäts-
begriff. Der BGH macht in seinen jüngsten Entscheidun-
gen klar, dass der Technikbegriff nicht statisch gesehen
werden darf. Er muss Modifikationen zugänglich sein,
die durch die technische Entwicklung bewirkt sind.
Ich wünsche mir in den sich nun anschließenden wei-
teren Beratungen, dass sich alle Beteiligten dafür einset-
zen, dass dort, wo sich das Patentrecht schützend mit
Blick auf den internationalen Wettbewerb auswirkt, die-
ser auch beibehalten wird und gleichzeitig den Soft-
wareentwicklern ausreichend Rechtssicherheit vermittelt
wird, um dem Wettbewerbsgedanken und der Innovati-
onsdynamik hinreichend Rechnung zu tragen.
Ansgar Heveling (CDU/CSU): Wir beraten heute
den interfraktionellen gemeinsamen Antrag der Koali-
tionsfraktionen sowie von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen zur Sicherung von Wettbewerb und Innovations-
dynamik im Softwarebereich.
Dieses Thema ist nicht ganz neu und beschäftigt uns
in diesem Hause wiederkehrend seit längerer Zeit. Be-
reits in der 15. Wahlperiode gab es einen fraktionsüber-
greifenden Antrag (Drucksache 15/4403), im dem die
Patentierbarkeit von Software abgelehnt wurde.
In Europa besteht derzeit eine uneinheitliche Situa-
tion, was Patentierungen angeht. Ein Richtlinienvor-
schlag der EU-Kommission von 2002 mit dem Ziel, eine
einheitliche Patentierungspraxis innerhalb der EU zu
schaffen, wurde vom Europäischen Parlament abgelehnt
und danach nicht weiter verfolgt. Diese Situation hat ins-
gesamt zu Unsicherheit bei Unternehmen und Soft-
wareentwicklern geführt.
Der Deutsche Bundestag hat sich daher in dieser in-
terfraktionellen Initiative des Themas Softwarepatente
nochmals angenommen. Die Möglichkeiten zur Paten-
tierung von Software sind international insgesamt sehr
unterschiedlich geregelt. Grundsätzlich ist Software
nach dem TRIPS-Abkommen weltweit geschützt. In den
USA etwa ist aber auch ein Schutz über das Patentrecht
möglich.
Dieser doppelte Schutz ist aus unserer Sicht jedoch zu
weitgehend. Den urheberrechtlichen Schutz für Software
halten wir für ausreichend. Dafür haben wir verschie-
dene Gründe:
Zum einen würde durch einen zusätzlichen Schutz
durch das Patentrecht letztendlich der urheberrechtliche
Schutz der Software beschränkt. Der Schutz von Soft-
ware durch das Urheberrecht entspricht auch dem gel-
tenden § 2 UrhG, insbesondere Abs. 1. Ohne Software-
patente bleibt dem Urheber die Freiheit und vor allem
Rechtssicherheit. Er kann selbst darüber entscheiden,
was er mit der von ihm geschriebenen Software machen
möchte. Mit Softwarepatenten wird demgegenüber die
Wahrscheinlichkeit schon bei kleinen Softwareprojek-
ten sehr hoch, dass diese ein Patent verletzen könnten.
Denn Software ist sehr komplex und besteht aus vielen
Teilalgorithmen. Daher wäre es annähernd unmöglich,
neue Software unter Rücksichtnahme auf bestehende Pa-
tente zu entwickeln. So würden im Ergebnis Innovatio-
nen erschwert und Kreativität gehemmt.
Zum anderen soll der Begriff der „Technizität“ als
Unterscheidungskriterium dafür, ob Patentrecht oder Ur-
heberrecht anwendbar ist, konkretisiert werden. Ist die
Technizität gegeben, ist die Software patentierbar. Ist
dies nicht der Fall, ist das Urheberrecht anwendbar. Dies
stellen wir mit dem vorliegenden Antrag klar.
Die Rechtspolitiker meiner Fraktion haben sich seit
langem dafür eingesetzt, dass Software durch das Urhe-
berrecht geschützt werden soll. Der vorliegende Antrag
ist deshalb auch im Positionspapier der CDU/CSU-Frak-
tion zum Urheberrecht beschlossen worden. Es ist rich-
tig, dass Computerprogramme durch das Urheberrecht
geschützt sind. Denn der urheberrechtliche Schutz bietet
Flexibilität und fördert dadurch Innovation. Ein aufwen-
diges und teures Patentierungsverfahren ist nicht not-
29444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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wendig. Der weitreichende Ansatz des Patentrechts kann
aus unserer Sicht hingegen der Programmierung neuer
Software im Wege stehen und damit Innovationen und
neue Produkte verhindern. Der individualistische Ansatz
des Urheberrechts sorgt hier für einen Schutz der Inte-
ressen des Softwareentwicklers.
Zudem dient das Urhebervertragsrecht dazu, die Posi-
tion der Programmierer, also der Urheber, gegenüber den
Softwarefirmen zu stärken. Das Beispiel der Software-
patente macht deutlich, dass es stets darum geht, einen
Ausgleich zwischen den beteiligten Interessen herzustel-
len – zwischen den Kreativen auf der einen und den Nut-
zern auf der anderen Seite. Denn schließlich wollen
möglichst viele von den Innovationen profitieren und sie
im Allgemeininteresse nutzen.
Das Ziel des Schutzes geistigen Eigentums muss aus
unserer Sicht immer sein, Kreativität und damit auch
Innovation zu fördern. Wir setzen uns deshalb dafür ein,
den Rechtsrahmen zum Schutz des geistigen Eigentums
so zu ziehen, dass der Anreiz groß genug ist, möglichst
viele Innovationen hervorzubringen.
Klar festzuhalten ist, dass bestehende Patente durch
den Antrag nicht eingeschränkt werden. Auf der Grund-
lage der bestehenden Schutzrechte kann weiterhin ge-
forscht und können Patente entwickelt werden.
Gleichzeitig stärken wir insbesondere kleine und mit-
telständische Softwareunternehmer, die in unserem Land
ansässig sind. Aber auch größere Softwareunternehmen
müssen keine Einschränkung des Patentschutzes be-
fürchten. Die Patentierbarkeit softwareimplementierter
Erfindungen wird weiterhin möglich sein. Denn das gel-
tende Recht ändert sich durch diesen Antrag nicht.
Vielmehr setzen wir mit diesem Antrag ein Zeichen
gegen rechtliche Unsicherheit und für einen starken
Schutz der kreativen Leistung.
Ingo Egloff (SPD): Die Patentierbarkeit von Soft-
ware stellt eine Einschränkung des Urheberschutzes dar,
die zu erheblichen Rechtsunsicherheiten insbesondere
für kleine und mittlere Unternehmen führt. Während das
Urheberrecht die konkrete Ausgestaltung der kreativen
Leistung schützt, die sich zum Beispiel im Quellcode ei-
nes Computerprogramms niederschlägt, werden Patente
auf die bloße Idee einer Erfindung erteilt – mit fatalen
Folgen für jede Softwareentwicklung, die kaum noch
möglich ist, ohne eines der zahlreichen patentierten
Rechte zu verletzen.
Wenn das Werk eines Softwareentwicklers von frem-
den Patenten erfasst wird, kann er in der Folge sein urhe-
berrechtlich geschütztes Verwertungsrecht nicht aus-
üben. Die europaweit ausgeübte Praxis der Erteilung von
Softwarepatenten greift damit in den Kernbereich des
Urheberrechts ein.
Die Wettbewerbsfähigkeit aller Unternehmen, gro-
ßen wie kleinen, hängt maßgeblich vom Urheberrecht
ab. Nur dadurch ist sichergestellt, dass den Softwareent-
wicklern die wirtschaftlichen Erträge ihrer Programme
zufließen. Gleichzeitig bezweckt das Softwareurheber-
recht die Sicherung der Interoperabilität zwischen den
Programmen.
Nach dem deutschen Patentgesetz und dem Europäi-
schen Patentübereinkommen sind Computerprogramme
als solche vom Patentschutz auszunehmen. Hier gilt der
Grundsatz, dass die Idee durch das Urheberrecht ge-
schützt sei, während ein Patent eine technische Erfin-
dung voraussetzt. Diesem Grundsatz handelt die Praxis
der Erteilung von Patenten mit Wirkung auf Computer-
programme zuwider. Die Anzahl der allein vom Euro-
päischen Patentamt erteilten softwarebezogenen Patente
liegt nach Schätzungen im hohen fünfstelligen Bereich.
Wir wollen diese vor allem in den USA grassierende,
mittlerweile aber auch beim Europäischen Patentamt im
hohen fünfstelligen Bereich vermutete Praxis der Ertei-
lung von Patenten auf triviale Ideen, die keine techni-
sche Lösung darstellen, aus Europa zurückdrängen. Be-
reits 2005 stellte der Deutsche Bundestag einen
gemeinsamen Antrag für die Wiederherstellung der
Rechtssicherheit aus Ansprüchen an das Urheberrecht.
Wir freuen uns, dass es nun zu einer erneuten Initiative
derselben Fraktionen aus CDU/CSU, FDP, Grünen und
uns kommt, die wirtschaftliche Verwertung von Soft-
ware den Urhebern zu ermöglichen, ohne dass sie von
Patentrechten Dritter unterlaufen wird. Die 2005 ge-
plante Richtlinie der EU-Kommission, gegen die der da-
malige Antrag zielte, wurde nie umgesetzt. Seither
herrscht ein nahezu unveränderter, jedenfalls aber unge-
klärter Zustand, der dringend behoben werden muss.
Die Rechtspolitiker unserer vier Fraktionen fordern
außerdem eine wissenschaftliche Evaluation der Ertei-
lungspraxis von Softwarepatenten beim Europäischen
Patentamt, die von den Gepflogenheiten nationaler Pa-
tentämter häufig stark abweicht. Manchmal siegt die
Vernunft, wie bei der jüngst beschlossenen Aufhebung
des Patentes für die Apple-Wischtechnik durch das Bun-
despatentgericht in München; aber es gibt Tausende ähn-
licher Fälle, die einer Überprüfung bedürfen.
Jimmy Schulz (FDP): Heute sprechen wir über ein
Thema, das mir besonders am Herzen liegt. Bereits vor
zehn Jahren habe ich meine erste Rede auf einer Demon-
stration gegen Softwarepatente gehalten. Es freut mich
deswegen sehr, dass wir den von mir und Günter Krings
erarbeiteten Antrag heute hier diskutieren. Besonders
freue ich mich auch, dass die SPD und Bündnis 90/Die
Grünen diese Initiative aktiv mittragen. Alle Fraktionen
haben mittlerweile erkannt, dass das Problem der Soft-
warepatente noch immer nicht gelöst ist. Jetzt haben wir
die Chance, dem Thema im Parlament neuen Schwung
zu geben!
Das Thema Softwarepatente wurde zum ersten Mal
publik, als auf EU-Ebene Vorgaben des Europäischen
Ministerrats diskutiert wurden, mit dem Ziel, die Paten-
tierung von softwarebezogenen Lösungen zu legitimie-
ren. Bereits 2003 und 2004 gab es in ganz Europa große
Demonstrationen sowie eine Onlinedemo und eine Peti-
tion gegen das Vorhaben des EU-Ministerrats. Aller-
dings ist die FDP schon seit viel längerer Zeit hiermit
befasst.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29445
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Die Gefahr, dass eine Legalisierung von Ideenmono-
polen entsteht, trifft den Kern des liberalen Gedankens.
Bereits 2001 hat sich die FDP mit dem Thema be-
schäftigt. Auf ihrem 52. Bundesparteitag, 4. bis 6. Mai
2001, wurde beschlossen: „Die Entwicklung in den USA
zeigt schon heute deutlich, dass die Patentierung von
Software sich negativ auf die Entwicklung neuer Pro-
dukte und Geschäftsmodelle auswirken kann. Denn ein-
zelne Softwarepatente können im Bereich der sogenann-
ten Individualsoftware ganze Märkte blockieren.“ Diese
Aussage gilt heute noch immer.
Im November 2004 hat die FDP Bayern meinen An-
trag mit Unterstützung einer Stellungnahme des Euro-
päischen Parlaments und gegen den EU-Ministerrat auf
ihrem Landesparteitag mit überwältigender Mehrheit
verabschiedet. Der Antrag forderte, der Freiheit von
Kommunikation Vorrang einzuräumen, und erkannte die
Notwendigkeit, Patente zu beschränken, um Innovation
und freien Wettbewerb zwischen Softwareunternehmen
zu gewährleisten.
Auch die Liberalen im Europäischen Parlament und
im Deutschen Bundestag haben gegen das Vorhaben des
EU-Ministerrats gekämpft. Und zwar mit großem Er-
folg! Im Februar 2005 wurde ein interfraktioneller An-
trag im Bundestag verabschiedet, und am 6. Juli 2005
scheiterte die EU-Richtlinie endgültig im Europäischen
Parlament. Insgesamt haben 648 von 680 Abgeordneten
gegen die Richtlinie gestimmt – ein solches Ergebnis im
Europäischen Parlament sagt einiges aus.
Obwohl der Bundestag bereits 2005 die Bundesregie-
rung aufgefordert hat, die Patentierungspraxis des Euro-
päischen Patentamts, EPA, einzudämmen, hat sich die
Lage nicht verbessert. Im Gegenteil: Immer noch wer-
den, insbesondere vom EPA, softwarebezogene Patente
sehr großzügig erteilt. Auch der Bundesgerichtshof hat
sich in seinen letzten Urteilen der großzügigen Patentie-
rungspraxis des EPA angenähert.
Computerprogramme als solche dürfen laut Deut-
schem und europäischem Patentschutz nicht patentiert
werden. Urheberrechtliche Verwertungsrechte aus dem
Urheberrechtgesetz stellen sicher, dass Softwareent-
wicklungsunternehmen ihre wirtschaftlichen Erträge er-
halten. Allerdings hat die unklare Definition der Techni-
zität – also: die softwarebasierte Lösung muss ein
konkretes technisches Problem mit konkreten techni-
schen Mitteln lösen, und die Lösung muss neu sein – zu
immer großzügigeren Urteilen des Bundesgerichtshofs,
BGH, und immer großzügigerer Erteilung des EPA ge-
führt. Zum Beispiel hat der BGH 2010 entschieden, dass
auch rein konzeptionelle Überlegungen unter bestimm-
ten Umständen ein technisches Problem lösen können
und somit prinzipiell schutzwürdig sind. Abgesehen da-
von, dass dieses Urteil sehr besorgniserregend ist, hat es
zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit und einer Aus-
hebelung der wirtschaftlichen Verwertungsrechte der
Softwareentwickler geführt.
Es hat auch zu vielen sogenannten Trivialpatenten ge-
führt. Beispiele sind der Onlinedruckauftrag, Web-to-
Print, der Link auf Bild, Vorschaufenster, der Waren-
korb, elektronischer Warenkorb, oder auch das bekannte
Beispiel des Fortschrittsbalkenpatents. Und es gibt noch
viel mehr Beispiele! Solche Patente würden zwar oft in
einem Rechtsstreit bestehen können; allerdings haben
kleine und mittlere Unternehmen nicht die finanziellen
Mittel, gegen ein Patent zu klagen. Zusätzlich sind lang-
jährige Verfahren im technologischen Bereich sehr
schädlich. Ein gutes Beispiel ist das Verfahren Print24
GmbH und unitedprint.com AG gegen Vistaprint Tech-
nologies ab dem Jahr 2006. Das Patent wurde schließlich
2008 aufgehoben, aber der Schaden war schon angerich-
tet. Ein großer Anteil der vom EPA erteilten softwarebe-
zogene Patente gehört ausländischen Großunternehmen.
Monopolstellungen und Wettbewerbsverzerrungen sind
die Folge! Die vor allem in den USA stattfindenden Pa-
tentstreitigkeiten bezüglich Smartphonefunktionen las-
sen auch negative Folgen für die deutsche Wirtschaft be-
fürchten.
Softwarepatente für Computerprogramme als solche,
Geschäftsmethoden und Algorithmen sind abzulehnen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich glaube, dass
Patente grundsätzlich einen wichtigen Baustein in der
Forschung und Produktentwicklung zum Schutz der
Rechte darstellen. Patente können sinnvoll sein, wenn
hohe Entwicklungskosten entstehen und Nachahmungs-
kosten niedrig sind. Allerdings ist das im Softwarebe-
reich nicht der Fall. Das Urheberrecht bietet hier den
richtigen Schutz – es schützt das fertige Produkt und
nicht die Methode oder sogar ein Geschäftsmodell. Ohne
bürokratische Schritte oder weitere Kosten wird ein
gleichberechtigter Marktzugang und Wettbewerb für alle
Teilnehmer gesichert. Im Bereich der Softwareentwick-
lung hat sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland
ein reichhaltiger und gut funktionierender Markt kleiner,
mittelständischer und großer Unternehmen herausgebil-
det. Diese sichern ihre Rechte an den entwickelten Pro-
grammen über das vorhandene Urheberrecht. Eine zu-
sätzliche, marktverzerrende und innovationshemmende
Regelung für Softwarepatente sehe ich sehr kritisch.
Auch die gerade abgeschlossene Enquete-Kommis-
sion „Internet und digitale Gesellschaft“ hat in ihrer Pro-
jektgruppe „Arbeit, Wirtschaft, Green IT“ empfohlen,
„zu evaluieren, ob die Ziele des Gesetzgebers, auch vor
dem Hintergrund der Erteilung von Trivialpatenten,
entsprechenden Eingang in die Rechtsprechung gefun-
den haben. Sollte dies nicht der Fall sein, sind gesetz-
geberische Maßnahmen vorzunehmen, um eventuelle
Rechtsunsicherheiten und wirtschaftliche Gefahren ins-
besondere für kleine und mittlere Unternehmen auszu-
schließen …“ Dies unterstützt unsere Forderung an die
Bundesregierung, „sich auf europäischer Ebene dafür
einzusetzen, eine unabhängige wissenschaftliche Eva-
luierung der Entscheidungspraxis der Patentämter, ins-
besondere des EPA, durchzuführen“.
Ich möchte abschließend gerne zwei weitere wichtige
Forderungen des Antrags betonen. Zuerst zur Definition
der Technizität. Es wäre sinnvoll, die Technizitätsdefini-
tion um folgende Klarstellung zu ergänzen: Nur wenn
die softwarebezogene Lösung von einer mechanischen
oder elektromechanischen Komponente ausgeführt wer-
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den kann, ist sie patentierbar. Wenn die Lösung nur von
einem Computer ausgeführt werden kann, ist sie rein
softwarebezogen und nicht patentierbar. Diese sinnvolle
Ergänzung der Definition würde zu erheblich mehr
Rechtssicherheit für Softwareentwickler führen.
Der zweite wichtige Punkt ist, dass im Softwarebe-
reich die Nutzung flexiblerer Lizenzen oder Open
Source Software wichtig ist für Innovation – also für die
Weiterentwicklung von Software. Deswegen muss gesi-
chert werden, dass Softwareentwickler ihre Werke unter
Open-Source-Lizenzbedingungen veröffentlichen kön-
nen. Das stellt das Urheberrecht sicher; es ist aber oft mit
einer Patentierung unvereinbar. Das langfristige Ziel
wäre in diesem Sinne, wie im Antrag formuliert, dass
„ein möglichst umfassendes patentrechtliches Interope-
rabilitätsprivileg europaweit normiert wird“.
Und zum Schluss kann ich nur noch die Wichtigkeit
der IT-Branche, die laut BITMi zu 85 Prozent in mittel-
ständischen Unternehmen stattfindet, betonen. Wir soll-
ten auf diese Branche hören; denn, wie die FDP schon
2001 erkannt hat, ist „die Innovationsfähigkeit der Soft-
wareindustrie künftig mitentscheidend für das Schicksal
der Volkswirtschaften“ (FDP BPT 2001).
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Nicht für alle politi-
schen Probleme haben wir die komfortable Situation, die
Auswirkungen der Alternative beim Blick über einen
Ozean direkt vor Augen zu haben. Bei Softwarepatenten
ist es so. Die Absurditäten von Patentstreitigkeiten vor
US-amerikanischen Gerichten kann jeder tagtäglich in
der Zeitung nachverfolgen, ob sich nun Google mit Mi-
crosoft oder mit Apple vor Gericht trifft, ob kleinere
Konkurrenten ausgeschaltet werden, ob Unternehmen
andere Unternehmen nur wegen deren Patentportfolios
als Schutzwall gegen Klagen kaufen.
Aber auch im Alltag vieler Menschen schlagen sich
die Auswirkungen dieses Patentsystems nieder. Wer
heute etwa ein Smartphone mit dem Betriebssystem ei-
nes bestimmten Anbieters kauft, bezahlt die Betriebssys-
teme anderer Anbieter aufgrund gerichtlicher Vergleiche
und Entscheidungen in relevanter Höhe mit.
Softwarepatente dienen in der Regel nicht der Vorfi-
nanzierung neuer Innovationen, sondern der Sicherstel-
lung der eigenen Marktposition. Sie sollen verhindern,
dass andere Entwickler überhaupt in die Nutzung und
Weiterentwicklung bestimmter Anwendungen eintreten
können. Diese Funktion befördert Innovationen nicht,
sondern blockiert diese eher. Besonders die Konzepte
freier und offener Software werden durch Patente behin-
dert. Für Kreative, die Software entwickeln und bauen,
und für ihre Auftrag- und Arbeitgeber würde eine sol-
che Situation eine starke Rechtsunsicherheit bedeuten.
Kaum ein Entwickler kann bei der Entwicklung kom-
plexer Softwareanwendungen realistischerweise ein-
schätzen, wann er ein Patent im Softwarebereich ver-
letzt. Die Patentrecherche ist aufwendig und sehr teuer
und führt trotzdem nur selten zum Ziel. Denn diese
Frage entscheiden zum Schluss zumeist Gerichte, die ih-
rerseits nicht immer ausreichend technisch kompetent
sind, um triviale von relevanten Patenten zu unterschei-
den. Dazu kommt eine expansive Eigendynamik des Pa-
tentwesens, das sich in der Regel aus den Gebühren
selbst finanziert.
Dieses absurde System der Abschottung vernichtet
Milliardenwerte, etwa wenn Firmen nur noch sogenann-
tes „Geistiges Eigentum" besitzen und als Geschäftsmo-
dell Innovatoren auf eine unberechtigte Nutzung verkla-
gen. Eine Studie der Universität Boston geht von einem
volkswirtschaftlichen Schaden durch diese sogenannten
Patenttrolle im Softwaresektor von 20 Milliarden Dollar
jährlich aus. Aber auch die ganz normalen Auseinander-
setzungen zwischen IT-Firmen schaden der volkswirt-
schaftlichen Weiterentwicklung.
Weil Softwarepatente Innovationsbremsen sein kön-
nen, soll der uns hier vorliegende Antrag von vier Frak-
tionen die bisherige Ablehnung dieser Patente auf euro-
päischer Ebene bestätigen und vor allem präzisieren.
Das Problem: Das bisherige grundsätzliche Verbot ist
derart weich formuliert, dass das Europäische Patentamt
trotzdem bisher mehrere zehntausend Patente im Soft-
warebereich erteilt hat. So dürfen Patente, die Soft-
wareentwicklungen eine „technische Verbindung“ nach-
weisen, nach dem geltenden deutschen und europäischen
Recht erteilt werden. Diese Technizität ist in der Recht-
sprechung immer wieder weit ausgelegt worden. Die
vorliegende Initiative will diese Erweiterung der Paten-
tierbarkeit von Software nun wieder einhegen und den
Begriff „Technik“ klarer definieren. Das wäre sicher ein
erster Schritt, wenn er denn gelänge. Wir fragen aber
auch: Was spricht eigentlich gegen ein umfassenderes
Verbot von Softwarepatenten? Die Probleme etwa für
die Entwickler von softwaregestützten Steuerungsmodu-
len von Geräten und Maschinen dürften gering sein, da
diese Software ohnehin eng mit der Hardware verbun-
den ist. Wir kämen jedoch durch ein echtes Verbot um
die bereits erwähnte Eigendynamik des Patentwesens
herum, die jede Regulierung zu erweitern und zu umge-
hen sucht. Dies würde innovative Dynamik freisetzen,
die derzeit in Tricks zur kreativen Auslegung des Pa-
tentrechts investiert wird.
Was im Antrag zudem fehlt, ist ein Verweis auf die
angemessene Vergütung der Kreativen. Die Regelung
von Software im Urheberrecht sollte nicht nur der Ab-
schottung gegen Ansprüche dienen, sondern auch Ver-
pflichtung zu einer guten Bezahlung der oft freiberuflich
Tätigen in der Softwarebranche sein. Hier könnten sich
zumindest die einen Mindestlohn fordernden Unter-
zeichnerinnen des Antrags noch stärker engagieren.
Ein zweiter fehlender Punkt wäre eine präzisere Be-
schreibung der Zweckbindung bei Überlassung von Nut-
zungsrechten. Es ist das gute Recht der Urheberinnen
und Urheber, selbst über die weitere Nutzung ihrer Ar-
beitsergebnisse zu entscheiden.
Trotzdem ist diese gemeinsame Initiative ein guter
Schritt in die richtige Richtung, der nur ohne unsere Un-
terschrift hier eingebracht wird, weil Union und FDP
sich selbst bei Zukunftsthemen nicht von den Reflexen
des Kalten Krieges lösen können.
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Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Einzelentwickler und Unternehmen riskieren bei
der Entwicklung neuer Software durch eine heute in Tei-
len unklare Rechts- und eine häufig unüberschaubare Pa-
tentlage unbeabsichtigt, die Patente Dritter zu verletzen.
Anders als das Urheberrecht, das eine konkrete Pro-
grammierung schützt, ist der Patentschutz wesentlich
weiter gehender, indem er auch Ideen schützt, ganz un-
abhängig von der konkreten Umsetzung in ein bestimm-
tes Programm.
Aufgrund schneller Innovationszyklen, einer ganz er-
heblichen Anzahl von gewährten Softwarepatenten und
der unklaren Formulierung vieler Patentansprüche ist es
für zahlreiche, vor allem kleine und mittlere Unterneh-
men heute praktisch ausgeschlossen, die derzeitige Pa-
tentlage zu überblicken. Gilt dies mittlerweile sogar für
große Unternehmen mit eigenen – oftmals auf das Paten-
recht spezialisierten – Rechtsabteilungen, gilt es für
kleine und mittlere Unternehmen umso mehr. Die Folge
einer oftmals unüberschaubaren Patentlage sind die Pa-
tentklagen, von denen wir regelmäßig lesen können. Die
immer weiter ausufernden Patentstreitigkeiten im Markt
der Smartphones und Tablets sind Zeuge dieser Entwick-
lung und gleichzeitig nur die Spitze des Eisbergs.
Während es sich große Unternehmen eventuell sogar
leisten können, angesichts – oftmals nur schwer zu veri-
fizierenden – Patentansprüchen Dritter und angesichts
der Unwägbarkeit eines langwierigen Rechtsstreits Pa-
tentlizenzgebühren oftmals auch dann zu zahlen, wenn
ein entsprechender Anspruch durchaus zweifelhaft ist,
können dies kleine und mittelständige Unternehmen
ohne große Rechtsabteilungen nicht. Die direkte Folge
der derzeitigen, oftmals völlig unüberschaubaren Patent-
lage ist ein parasitäres System sogenannter Patenttrolle.
Die Auswirkungen auf die Verbraucherpreise liegen auf
der Hand.
Als Grüne streiten wir daher seit langem für Offenheit
statt Patentkriege. Seit Jahren setzen sich meine Fraktion
und ich gegen Softwarepatente ein. Als Grüne lehnen
wir die Patentfähigkeit von softwarebezogenen Lösun-
gen ab. Dies gilt für Software, softwarebasierte Verfah-
ren sowie für neue Eigenschaften von Computern, wenn
diese augenscheinlich nur durch ein neues Programm be-
wirkt werden. Wir setzen uns dafür ein, dass die Urhe-
berrechte der Programmierer und Programmiererinnen
vor der wirtschaftlichen Entwertung durch Patentan-
sprüche Dritter geschützt werden. Wir fordern daher,
die Erteilung von softwarebezogenen Patenten zu ver-
bieten sowie ihre rechtliche Durchsetzbarkeit im Verlet-
zungsprozess zu unterbinden.
Auch vor dem Hintergrund so manch anderer Diskus-
sionen, die wir in dieser Legislatur in diesem Hohen
Haus geführt haben, waren wir hocherfreut, als sich ab-
zeichnete, dass wir in diesem Bereich eine interfraktio-
nelle Initiative, die der immer weiter ausufernden Paten-
tierung im Softwarebereich klare Grenzen aufzeigt,
gemeinsam vorlegen. Unsere gemeinsame Initiative mit
dem Titel „Wettbewerb und Innovationsdynamik im
Softwarebereich sichern – Patentierung von Computer-
programmen effektiv begrenzen“ liegt nun vor. Dass es,
wie bereits in der vergangenen Legislatur auch in dieser
Legislatur gelungen ist, tatsächlich hier erneut eine inter-
fraktionelle Initiative zu verabschieden, freut uns sehr.
Die heute vorliegende Initiative ist gewiss auch ein
Stück weit der guten Zusammenarbeit im Rahmen der
Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-
schaft“ zu verdanken, die sich nicht nur zuvor bereits in
einer eigenen Projektgruppe sehr intensiv mit den Frage-
gestellungen, die nun auch Gegenstand des gemeinsa-
men Antrags sind, auseinandersetzte, sondern sich zu-
dem – ebenso interfraktionell – bereits gegen die immer
weiter ausufernde Patentierung im Softwarebereich aus-
sprach.
Doch nun zur Initiative selbst. Sicher hätte man, hätte
man eine eigene Initiative vorgelegt, manches anders
formuliert. Dennoch können wir mit dem nun vorliegen-
den Ergebnis, auch vor dem Hintergrund der eigenen Be-
schlüsse, die wir als Partei zum Thema Softwarepatente
bereits mehrfach beschlossen haben, sehr gut leben. So
ist es uns Grünen gelungen, die ohnehin schon in die
richtige Richtung zielende Initiative an entscheidenden
Stellen weiter zu verbessern und so manche Formulie-
rung zu konkretisieren. Das freut uns.
Bedauernswert finden wir es, dass es aufgrund einer
Weigerung der Koalition erneut nicht gelungen ist, auch
die letzte bislang nicht auf dem Antrag stehende Frak-
tion mit auf die gemeinsame Initiative zu nehmen. Das
hatten wir angeregt und sind nach wie vor der Meinung,
dass das von der Initiative ausgehende Signal ein noch
stärkeres gewesen wäre.
Der interfraktionelle Antrag trägt den Titel „Wettbe-
werb und Innovationsdynamik im Softwarebereich si-
chern – Patentierung von Computerprogrammen effektiv
begrenzen“. Im Titel wird die Intention des Antrags be-
reits deutlich. In der Initiative stellen wir gemeinsam
fest, dass innovative, leistungsfähige und sichere Infor-
mationssysteme heute eine „unverzichtbare Grundlage
der Wissens- und Informationsgesellschaft“ sind.
Weiter verweist die Initiative darauf, dass das deut-
sche Patentgesetz, PatG, und das Europäische Patent-
übereinkommen, EPÜ, der Schutzregelung von Software
über das Urheberrecht Rechnung tragen, indem sie Com-
puterprogramme „als solche“ vom Patentschutz ausneh-
men. Trotz dieser eigentlichen Intention, hierauf macht
unser Antrag aufmerksam, werden und wurden in der
Praxis – insbesondere vom Europäischen Patentamt,
EPA – wiederholt Patente mit Wirkung auf Computer-
programme erteilt, bei denen die Patentierung von Leh-
ren zur reinen Datenverarbeitung in einer nur formalen
Einkleidung als „technische Verfahren“ oder „technische
Vorrichtungen“ erfolgte und entsprechende Ansprüche
auch explizit auf diese Verfahren bzw. Vorrichtungen re-
alisierenden Computerprogramme erhoben werden.
Hierzu ist kritisch anzumerken, dass auch der Bun-
desgerichtshof, BGH, in Referenzurteilen wiederholt die
Patentfähigkeit softwarebezogener Lehren in weiten Tei-
len anerkannt und die Technizitätsanforderung als Krite-
rium für eine Patentierbarkeit weit ausgelegt hat, womit
sich der Bundesgerichtshof der großzügigeren Patentie-
rungspraxis des Europäischen Patentamtes – leider, muss
29448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
(A) )
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man in diesem Zusammenhang sagen – sukzessive ange-
nähert hat. Dies ist umso bedauerlicher, als dass die Pra-
xis, softwarebezogene Patente zu erteilen, im Wider-
spruch zu dem 1991 mit der Richtlinie 1991/250/EWG
eingeschlagenen Weg des „copyright approach“ steht
und mit dem in der Richtlinie niedergelegten Willen des
europäischen Gesetzgebers nicht in Übereinstimmung zu
bringen ist.
Hierdurch entsteht nicht nur eine erhebliche Rechts-
unsicherheit für die betroffenen Unternehmen, sondern
genauso für die Entwicklerinnen und Entwickler, welche
faktisch die Verwertungsrechte an ihren selbst geschaffe-
nen Computerprogrammen verlieren, wodurch unkalku-
lierbare Kosten- und Haftungsrisiken bei der wirtschaft-
lichen Verwertung entstehen.
Auch verweisen wir in der vorliegenden Initiative da-
rauf, dass patentbehaftete Bestandteile von Softwarelö-
sungen mit den Lizenzbedingungen der überwiegenden
Open-Source-Software grundsätzlich unvereinbar sind
und Monopolisierungstendenzen im Softwaresektor mit
entsprechend negativen Folgen sowohl für die Innova-
tionsdynamik als auch für den Arbeitsmarkt einhergehen.
Das Ansinnen, die bestehenden Defizite hinsichtlich
der Unterbindung selbstständiger Programmansprüche,
der Gewährleistung der praktischen Anwendbarkeit des
urheberrechtlich verankerten Interoperabilitätsprivilegs,
des Schutzes von Softwareentwicklungen unter Lizenz-
modellen freier und Open-Source-Software und der Un-
terbindung der Patentierung von softwarebasierten Ge-
schäftsmethoden im Rahmen eines Richtlinienentwurfes
des Europäischen Parlamentes und des Rates über die
Patentierbarkeit computerimplementierter Erfindungen
(KOM(2002)92) zu beheben, blieb leider erfolglos.
Somit bleibt nach Meinung aller antragstellenden
Fraktionen die Aufgabe bestehen, dem „copyright ap-
proach“ aus der Softwarerichtlinie auf europäischer
Ebene die gehörige Geltung zu verschaffen und die ent-
sprechenden gesetzlichen Konkretisierungen auch im
deutschen Recht vorzunehmen. Dementsprechend for-
dert die vorliegende Initiative, zu gewährleisten, dass die
wirtschaftlichen Verwertungsrechte des Softwarewerkes
im Urheberrecht geschützt bleiben und nicht durch Soft-
warepatente Dritter leerlaufen, weiter sicherzustellen,
dass Softwarelösungen auf dem Gebiet der reinen Daten-
verarbeitung, der softwarebasierten Wiedergabe von In-
formationen und von programmgestützten Steuerungs-
aufgaben ausschließlich urheberrechtlich geschützt
werden, und dass darüber hinaus kein Patentschutz für
abstrakte Lösungen auf diesen Gebieten gewährt wird,
des Weiteren Nutzungs- und Verbotsrechte für soft-
warebasierte Lösungen auch weiterhin urheberrechtlich
zu regeln, den patentrechtlichen Schutz auf softwareun-
terstützbare Lehren zu beschränken, bei denen das Com-
puterprogramm lediglich als austauschbares Äquivalent
eine mechanische oder elektromechanische Komponente
ersetzt, wie zum Beispiel eine softwarebasierte Wasch-
maschinensteuerung ein elektromechanisches Pro-
grammschaltwerk aus drehbaren Walzen, die Steue-
rungsschaltkreise für einzelne Waschprogrammschritte
aktivieren, ersetzen kann, und schließlich sicherzustel-
len, dass der Softwareentwickler sein Werk auch unter
Open-Source-Lizenzbedingungen rechtssicher veröf-
fentlichen kann.
Hinsichtlich einer etwaigen neuen Initiative zu einer
Reform des Urheber- oder Patentrechts auf europäischer
Ebene, die als notwendig erachtet wird, fordern wir die
Bundesregierung des Weiteren gemeinsam auf, darauf
hinzuwirken, dass die Definition des technischen Bei-
trags möglichst konkret gefasst und eine Definition des
Begriffs „Technik“ in die bestehenden Regelungen auf-
genommen wird. Durch diese Definition muss sicherge-
stellt werden, dass Computerprogramme „als solche“,
Geschäftsmethoden und Algorithmen zukünftig nicht
patentiert werden können, wodurch der patentrechtliche
Schutz auf softwareunterstützbare Lehren beschränkt
werden soll, bei denen das Computerprogramm lediglich
als austauschbares Äquivalent eine mechanische oder
elektromechanische Komponente ersetzt. Des Weiteren
fordern wir die Bundesregierung gemeinsam dazu auf,
darauf hinzuwirken, dass ein möglichst umfassendes pa-
tentrechtliches Interoperabilitätsprivileg europaweit nor-
miert wird, und sich dafür einzusetzen, dass alternative
Entwicklungskonzepte wie insbesondere Open-Source-
Projekte durch patentrechtliche Bestimmungen mög-
lichst nicht beeinträchtigt werden. Darüber hinaus muss
sich die Bundesregierung, so der Wille aller Fraktionen,
auf europäischer Ebene dafür einsetzen, eine unabhän-
gige wissenschaftliche Evaluierung der Entscheidungs-
praxis der Patentämter, insbesondere des Europäischen
Patentamts durchzuführen und zu guter Letzt darauf hin-
wirken, dass Abweichungen in der Erteilungspraxis zwi-
schen dem EPA und den nationalen Patentämtern zu-
künftig unterbleiben und Erteilungen von Patenten für
softwareunterstützbare Lehren vermieden werden.
Dass der Rechts- und Wirtschaftsausschuss am
13. Mai gemeinsam eine Anhörung zur vorliegenden Ini-
tiative durchführen werden, begrüßen wir ausdrücklich,
bekommt das Thema doch so noch einmal die Aufmerk-
samkeit, die es verdient.
So erfreulich es ist, dass es auch in dieser Legislatur
gelungen ist, erneut eine gemeinsame Initiative vorzule-
gen, so deutlich sagen wir an dieser Stelle, dass wir von
der nächsten Bundesregierung erwarten, dass sie in die-
sem Bereich die notwendigen Korrekturen auf nationaler
Ebene selbst vornimmt und entsprechende Initiativen auf
europäischer Ebene anstößt.
Anlage 16
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Parlamentsbeteili-
gung bei globaler Umwelt-Governance verbes-
sern (Tagesordnungspunkt 18)
Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Wir sprechen
heute über das Thema, welche Rolle dem Deutschen
Bundestag bei internationalen umweltpolitischen Konfe-
renzen beigemessen wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29449
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Die größten Herausforderungen unserer Zeit, wie
etwa der Klimawandel, die Erhaltung der Artenvielfalt
oder die Ressourcenschonung, sind globale Herausfor-
derungen. Sie müssen deshalb auch in einem globalen
Maßstab bewältigt werden. Deshalb sind diese interna-
tionalen Großkonferenzen, wie sie in regelmäßigen Zy-
klen stattfinden, auch so wichtig. Wir benötigen interna-
tionale und globale Antworten auf diese wichtigen
Zukunftsfragen. Die Welt muss an einem Tisch zusam-
menkommen, diese Probleme besprechen und Lösungen
erarbeiten. Auch wenn der Aufwand enorm ist und nicht
immer die gewünschten Ergebnisse erzielt werden, führt
an dieser Verfahrensweise kein Weg vorbei.
Klar ist auch, dass die internationale Politik in erster
Linie Aufgabe der Regierungen ist. Es stellt sich also die
Frage, welches Engagement für die nationalen Parla-
mente in diesem globalen Prozess vorgesehen ist. Inner-
halb der Europäischen Union gibt es klare gesetzliche
Vorgaben über die Parlamentsbeteiligung. Wir haben
diese im Zusammenhang mit der europäischen Staats-
schuldenkrise gerade neu justiert.
Solche klaren Beteiligungsvorgaben gibt es aber auf
der Global-Governance-Ebene unter den umweltpoliti-
schen Konventionen nicht. Eine umfassende Beteili-
gungspflicht des Parlaments hängt letztlich vom Good-
will der Bundesregierung und deren Informationspolitik
ab. Unbestritten ist allerdings, dass die Ergebnisse der
internationalen Konferenzen regelmäßig Eingang in die
deutsche Rechtsordnung finden. Hier sind Parlament
und Ausschüsse in der entscheidenden Funktion. Des-
halb ist deren frühe Einbindung und aktive Teilnahme an
diesen Prozessen von großer Bedeutung.
Ich selbst war bislang bei den Klimakonferenzen in
Kopenhagen, Cancún, Durban und zuletzt in Doha dabei
und begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich die
wertvolle Informationspolitik des Bundesumweltminis-
teriums. Hervorheben möchte ich insbesondere Bundes-
umweltminister Peter Altmaier: Er hat die Mitglieder des
Deutschen Bundestages vor, während und nach der Kon-
ferenz umfassend informiert und eingebunden und aktiv
den Austausch gesucht. Ich denke, die Beteiligten aller
Fraktionen können mir hier zustimmen.
Zuletzt wurde nun darüber diskutiert, ob die Teil-
nahme an solchen Konferenzen im originären Interesse
des gesamten Deutschen Bundestages liegt. Ja, dies ist
der Fall! Ich möchte hier am Beispiel der Klimakonfe-
renzen zwei Beispiele nennen, weshalb dies so ist.
Erstens. Der Austausch mit den Parlamentariern an-
derer Länder ist enorm wertvoll. Man gewinnt neue
Sichtweisen und ein tieferes Verständnis für bestimmte
Problemlagen. Daraus erwachsen wiederum neue Lö-
sungsmöglichkeiten, die in nationalen Parlamenten ent-
schieden werden. Der auf diesen Konferenzen stattfin-
dende Austausch ist für die „Politik zu Hause“
unersetzlich. Ich möchte es an einem Beispiel deutlich
machen: Wir hatten zahlreiche Gespräche mit Vertretern
aus anderen Ländern, die heute schon massiv vom Kli-
mawandel betroffen sind. Sie haben uns ganz konkrete
Auswirkungen geschildert. Mit aus diesen Gründen ha-
ben wir im Deutschen Bundestag die Weichen auch im
Bereich der Klimafinanzierung und Entwicklungszu-
sammenarbeit so gestellt, dass die Anpassung an den
Klimawandel ebenso ernst genommen wird wie die Be-
kämpfung des fortschreitenden Klimawandels selbst.
Zweitens. Der Deutsche Bundestag hat die deutsche
Energiewende und den Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien entschieden. Diese Entwicklung hat eine enorme in-
ternationale Aufmerksamkeit erfahren. Die Welt schaut
auf Deutschland und will wissen, wie der Umbau der
Energieversorgung auf regenerative Energien innerhalb
unserer Industrienation vonstattengeht. Wenn es uns als
Abgeordneten gelingt, diese Entscheidung auch im inter-
nationalen Maßstab zu begründen, kann der eingeschla-
gene Weg verstärkt auch in anderen Staaten Schule ma-
chen. Aus der Energiewende können sich im Übrigen
auch ungeheure wirtschaftliche Chancen für unser Land
ergeben. Dies betrifft sowohl den Export dieser Techno-
logien als auch die Sicherung der Arbeitsplätze in die-
sem Bereich.
Ich plädiere dafür, dass die Umweltpolitiker der Frak-
tionen auch künftig die Möglichkeit seitens des Bundes-
tages erhalten, an den Konferenzen unter den internatio-
nalen Konventionen teilzunehmen. Es ist im originären
Interesse der deutschen Politik, und es ist aus demokrati-
schen, aber auch aus sachlichen Gründen geboten. Ich
werbe deshalb um Ihre Zustimmung.
Josef Göppel (CDU/CSU): Ich freue mich sehr,
dass wir heute endlich einen interfraktionellen Antrag
zur besseren Beteiligung des Bundestags in der globalen
Umweltpolitik beraten und beschließen können. Zur gu-
ten Regierungsführung gehört heute unbestritten die Be-
teiligung gewählter Abgeordneter an internationalen
Entscheidungen der Regierungsvertreter. Das verlangen
wir von den Entwicklungsländern, und deswegen muss
dies auch für unser eigenes Regierungshandeln gelten.
Bei den Euro-Rettungsschirmen hat sich der Bundestag
diese Mitwirkung erfolgreich erkämpft.
Was den meisten Verhandlungen zum internationalen
Klimaschutz immer noch fehlt, ist die Einbindung der
gewählten Volksvertreter. Während die Zusammenarbeit
zwischen Bundestag und EU klar geregelt ist, fehlt eine
ausreichende Einbindung bei vielen Entscheidungen auf
UN-Ebene. Hier bleibt den nationalen Parlamenten oft
nur die Möglichkeit, internationale Beschlüsse ohne jede
Änderung zu ratifizieren.
Ich meine deshalb, dass wir in der globalen Umwelt-
politik mehr Demokratie brauchen. Der Deutsche Bun-
destag und damit die Wählerinnen und Wähler müssen
die internationalen Beschlüsse stärker mitbestimmen
können.
Meine eigenen Erfahrungen bei der Teilnahme an den
UN-Klimakonferenzen sind positiv. Gerade das direkte
Gespräch mit Vertretern anderer Länder hilft dem gegen-
seitigen Verständnis. Hier sprechen wir bilateral oder
multilateral über die Gründe für Entscheidungen, über
die Möglichkeiten der Umsetzung und der effektiven
Zusammenarbeit. Hier lernen wir Parlamentarier an ganz
konkreten Beispielen, wo der Schuh drückt und welche
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Maßnahmen Erfolg versprechen. Ähnliches gilt auch für
den Austausch bei Delegationsreisen in andere Länder
und beim Besuch ausländischer Parlamentarier in
Deutschland.
Viele Maßnahmen, die wir im Bundestag beschließen,
haben Auswirkungen auf andere Staaten und umgekehrt.
Deshalb ist es wichtig, dass wir gut informiert und ein-
gebunden sind.
Unser gemeinsamer Antrag gibt der Bundesregierung
klare Aufgaben auf den Weg, um das Ziel von mehr Be-
teiligung der gewählten Volksvertreter in der globalen
Umweltpolitik zu erreichen. Ganz ausdrücklich möchte
ich mich hier noch einmal beim Umweltministerium für
die frühzeitige und ausführliche Information bei den
Verhandlungen zur UN-Klimarahmenkonvention bedan-
ken. Dies ist ein Beispiel für gute Zusammenarbeit, dem
nach unserem heutigen Beschluss hoffentlich auch der
Ältestenrat des Bundestages folgt.
Frank Schwabe (SPD): Umweltverschmutzung
macht nicht an von Menschen gezogenen Grenzen halt.
Lösungen und Umweltpolitiken müssen deswegen im-
mer international gedacht werden. Gerade in der Klima-
politik, für die ich zuständig bin, werden wir nur Erfolg
haben, wenn möglichst viele Länder mitmachen. Dies
gilt natürlich auch für die internationalen Verhandlungen
zum Schutz der Biodiversität, den Rio-Nachfolgever-
handlungen und die vielen weiteren Konferenzen zu
Umweltproblemen.
Heute existieren über 1 000 multilaterale Umweltab-
kommen, darunter fast 500 zwischenstaatliche Verträge,
knapp 400 Änderungsabkommen und beinahe 200 Pro-
tokolle. Dazu gehören neben der Klimarahmenkonven-
tion sowohl die Biodiversitäts-Konvention als auch das
Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht
oder das Übereinkommen der Vereinten Nationen zur
Bekämpfung der Wüstenbildung. Zu den Protokollen
zählen unter anderem das Kioto-Protokoll, welches seit
1997 die UNFCCC ergänzt, das Montreal-Protokoll der
multilateralen Ozonpolitik und schließlich das Carta-
gena-Protokoll sowie das Nagoya-Protokoll zum Schutz
der Artenvielfalt.
Als Mitglied des Deutschen Bundestages ist mir na-
türlich bei Verhandlungen und Abschlüssen von interna-
tionalen Abkommen die Beteiligung des Parlamentes
wichtig. Während wir als Bundestag bei Diskussionen
auf europäischer Ebene durch klare Regelungen einge-
bunden sind, können wir beim Abschluss internationaler
Abkommen nur der Ratifizierung zustimmen oder diese
ablehnen. Wobei die Mehrheit des Hauses niemals ein
durch die eigene Regierung verhandeltes Abkommen
verweigern wird.
Der Antrag, den wir heute interfraktionell eingebracht
haben, beleuchtet die Beteiligung des Bundestages bei
internationalen Verhandlungen und zeigt Lösungen auf,
wie das Parlament besser beteiligt werden kann. Dabei
geht es nicht nur um die intensive und frühzeitige Be-
richterstattung der Bundesregierung über kommende
und laufende Verhandlungen im Rahmen der Vereinten
Nationen, sondern auch um die Präsenz von Abgeordne-
ten des Deutschen Bundestages bei Regierungs- und Par-
lamentarierkonferenzen zur Umwelt- und Nachhaltig-
keitspolitik.
Dass diese Präsenz immer noch keine Selbstverständ-
lichkeit ist, zeigt die Klimakonferenz in Doha, die im
letzten Dezember stattgefunden hat. Zwar waren Mit-
glieder des Deutschen Bundestages vor Ort, es gab je-
doch keine Delegationsreise. Das Präsidium des Deut-
schen Bundestages erteilte den Mitgliedern des
Umweltausschusses keine Reisegenehmigung für eine
Ausschussreise. Es sei eine Regierungskonferenz, auf
der Parlamentarier nicht dabei sein müssten, so die Be-
gründung. Auch wenn die Entscheidung schlicht dem
Geldmangel am Ende eines Jahres geschuldet sein mag,
so ist sie doch irgendwie symbolhaft für den Stellenwert
des Klimaschutzes. Dabei reisen viele Länder mit gro-
ßen Delegationen an. Parlamentarier sind ganz selbstver-
ständlich dabei, um die nationalen Positionen zu erklä-
ren und in den Meinungsaustausch zu treten. Und
ausgerechnet die Anwesenheit deutscher Parlamentarier
soll überflüssig sein? Es soll keine Notwendigkeit beste-
hen, die „Energiewende“ zu erklären, deutsche Klima-
schutzprojekte in der ganzen Welt zu bewerben und an-
dere Länder zu mehr Engagement im Klimaschutz zu
bewegen – oder auch die deutsche Position direkt beein-
flussen und bewerten zu können?
Einige Mitglieder des Bundestages waren dann doch
vor Ort in Doha – finanziert über die einzelnen Fraktio-
nen. Doch uns ist klar geworden, dass wir zu diesem
Thema eine Entscheidung brauchen, damit klar ist, wie
Parlamentarier bei Regierungsverhandlungen beteiligt
werden. Dabei geht es nicht nur um die Präsenz auf den
Konferenzen, sondern auch um Informationspflichten
der Bundesregierung, um die Förderung des Austau-
sches mit Abgeordneten anderer Parlamente und auch
um die Berücksichtigung der Empfehlungen und Wün-
sche der zuständigen Ausschüsse und Gremien des Deut-
schen Bundestages. All diese Punkte spricht unser inter-
fraktioneller Antrag an. Er stellt die Beteiligung des
Parlamentes bei internationalen Verhandlungen zur Um-
weltpolitik auf eine neue Grundlage. Ich freue mich sehr,
dass es möglich ist, dass wir hierzu interfraktionell eine
Meinung haben und eine gemeinsame Position gefunden
haben.
Bei den Regierungskonferenzen sind Parlamentarier
– und auch Michael Meyer – kein schmückendes Bei-
werk, sondern führen von morgens bis abends wichtige
Gespräche und Verhandlungen. In Doha hatten wir zum
Beispiel Gesprächstermine mit Ministern aus Kolum-
bien, Peru und El Salvador, mit Parlamentariern aus
Großbritannien, Italien, Dänemark, Brasilien und Boli-
vien, internationalen Vertretern der am wenigsten entwi-
ckelten Länder, der russischen Zivilgesellschaft usw.
Wir müssten 15 bis 20 Reisen in die einzelnen Länder
unserer Gesprächspartner unternehmen, um all diese Ge-
spräche führen zu können und all die wichtigen Erkennt-
nisse und Informationen zu erhalten. Es ist deutlich
günstiger, dies alles konzentriert auf einer Konferenz zu
machen. Da es auf internationalen Klimakonferenzen
nicht nur um den weltweiten Klimaschutz, sondern auch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29451
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um zentrale Fragen der Weltgemeinschaft und um viele
wirtschaftliche Fragen geht, sind auf den Konferenzen
nicht nur die Verhandler der Regierungen anwesend,
sondern natürlich sind auch Parlamentarier, Umwelt-
und Entwicklungsverbände sowie Gewerkschaften,
Wirtschaftsverbände und Unternehmen dabei. Gerade
für Vertreterinnen und Vertreter kleiner Länder sind
diese Konferenzen wichtig, um Gespräche mit möglichst
vielen Delegationen zu führen.
Seit acht Jahren bin ich nun in meiner Fraktion für die
internationale Klimapolitik zuständig und war auf all
den Klimakonferenzen. Aus eigener Erfahrung weiß ich,
wie wichtig eine neue Regelung zur Beteiligung des Par-
lamentes ist. Deshalb möchte ich herzlichst um Zustim-
mung für unseren Antrag werben.
Michael Kauch (FDP): Globale Probleme müssen
global gelöst werden. Das gilt gerade für die Umwelt-
und Nachhaltigkeitspolitik. Denn etwa der Klimawandel
und seine Folgen machen keinen Halt vor Staatsgrenzen,
und Verursacher und Geschädigte sind oft Kontinente
voneinander entfernt. Auch der Meeresschutz ist ein
Feld, in dem nationale Maßnahmen kaum greifen.
Vor diesem Hintergrund haben sich für mehr Umwelt-
schutz und Nachhaltigkeit Strukturen und Prozesse inter-
nationaler Politik oberhalb der nationalstaatlichen Ebene
entwickelt: als Global Governance.
Wir alle kennen die Beispiele überstaatlicher Zusam-
menarbeit: Die UN-Klimarahmenkonvention, UNFCCC,
das Übereinkommen über die biologische Vielfalt, CBD,
das Washingtoner Artenschutzübereinkommen, CITES,
der Nachfolgeprozess zur Rio-Konferenz über nachhal-
tige Entwicklung und die Aarhus-Konvention über die
Beteiligung der Öffentlichkeit in Umweltfragen.
Staatenübergreifend werden auf Grundlage internatio-
naler Konventionen Verhandlungsprozesse entwickelt,
deren Entscheidungen die nationale und europäische
Umweltpolitik erheblich beeinflussen. Verbandsklage-
recht und Emissionshandel sind zwei Beispiele, wo Glo-
bal Governance unmittelbare Auswirkungen auf die eu-
ropäische und deutsche Rechtsordnung hatte. Das ist
richtig und wichtig. Globaler Umweltprobleme muss
sich die Staatengemeinschaft gemeinsam annehmen.
Allerdings findet sich hier ein Wermutstropfen: So-
wohl der Deutsche Bundestag als auch das Europäische
Parlament werden oft genug vor Ergebnisse von Ver-
handlungen der Regierungen gestellt, zu denen sie nur
noch Ja oder Nein sagen können. Und hier stellt sich die
Demokratiefrage. Denn die Ablehnung der Ratifizierung
kommt aus übergeordneten politischen Gründen in der
Regel nicht infrage.
Das kann und darf nicht so bleiben, wollen wir nicht
die Akzeptanz dieser Prozesse und ihrer Ergebnisse aufs
Spiel setzen. Entscheidungen im Rahmen der EU zeigen,
dass es auch anders geht. Dort ist der Deutsche Bundes-
tag durch klare gesetzliche Regelungen in die Entschei-
dungsprozesse eingebunden. Die Mitwirkungsrechte
wurden deutlich gestärkt. Wir brauchen auch bei interna-
tionalen Entscheidungsprozessen im Umweltbereich
mehr Demokratie und die Möglichkeit, aktiv Einfluss zu
nehmen.
Deshalb fordern wir fraktionsübergreifend, dass das
Parlament, namentlich die zuständigen Ausschüsse des
Deutschen Bundestages, regelmäßig, selbstständig, früh-
zeitig und umfassend über kommende und laufende Ver-
handlungen zur Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik im
Rahmen der Vereinten Nationen informiert werden. Als
gelungenes Beispiel will ich die Informationspolitik des
Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Re-
aktorsicherheit über Verhandlungen unter der UN-Kli-
marahmenkonvention nennen.
Wir fordern weiter, dass Empfehlungen und Wünsche
dieser Ausschüsse und Gremien im Verhandlungspro-
zess erkennbar berücksichtigt werden.
Neben formalen Informations- und Beteiligungsrech-
ten kann das Parlament aber auch eine wichtige Funktion
zum Gelingen von UN-Prozessen für mehr Umwelt-
schutz und Nachhaltigkeit übernehmen – sehr wohl auch
in dem Sinne, die Verhandlungslinie der Bundesregie-
rung zu unterstützen.
Erforderlich ist dazu ein direkter fachlicher Aus-
tausch mit Abgeordneten anderer Parlamente. Es ist gut
und wichtig, von Angesicht zu Angesicht miteinander zu
reden, Standpunkte auszutauschen und Verständnis für
die eigenen Positionen zu vermitteln. Abgeordnete, die
weniger an formelle Verhandlungspositionen gebunden
sind als die Regierungsvertreter, können auf Kompro-
misse hinwirken, können ein Gespür entwickeln für die
politischen Bedürfnisse der Verhandlungspartner. Sie
können den öffentlichen Diskurs in ihren Heimatländern
beeinflussen – und letztlich auch das Regierungshandeln
des entsprechenden Landes. Deshalb ist es ein Gewinn
für Deutschland und seine progressive Haltung in der
Umweltpolitik, wenn deutsche Abgeordnete auf interna-
tionaler Ebene präsenter sind als bisher.
Foren für solchen Austausch unter Abgeordneten sind
zum Beispiel die Parlamentarierdialoge von GLOBE,
Global Legislators Organisation for a Balanced Environ-
ment, EUFORES, European Forum for Renewable
Energy Sources, und des internetbasierten Climate Par-
liament. Es ist gut, dass diese Bundesregierung solche
internationalen Foren seit dieser Wahlperiode auch erst-
mals aktiv fördert.
Ein zentrales Forum zum Dialog, aber auch zur Ein-
bindung der Abgeordneten des Bundestages in konkrete
Verhandlungsprozesse sind Regierungs- und Parlamen-
tarierkonferenzen zur Umwelt- und Nachhaltigkeitspoli-
tik. Auf den Regierungskonferenzen kann es noch wäh-
rend des Verhandlungsprozesses zu Rückkopplungen mit
den zuständigen Fachpolitikern der Fraktionen kommen.
Deshalb ist die Teilnahme von Abgeordneten etwa an
der UN-Klimakonferenz im Interesse des Deutschen
Bundestages. Dies war zwischen den Fachausschüssen
und dem Präsidium des Bundestages zuweilen strittig.
Dieser Beschluss des Plenums, den wir heute treffen,
stellt klar: Die Reisen sind im Interesse des Bundestages
und sind im Grundsatz zu genehmigen.
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Denn durch die Teilnahme von Delegationen des
Deutschen Bundestages bei Regierungskonferenzen un-
ter der UNFCCC und des CBD sowie im Rahmen des
UN-Nachhaltigkeitsprozesses wird es ermöglicht, dass
die zuständigen Fachausschüsse Einfluss nehmen kön-
nen – Einfluss auf Entscheidungen, die der Deutsche
Bundestag am Ende in die deutsche Rechtsordnung um-
setzen wird.
Wir sollten die Arbeit, die wir in den vergangenen
Jahren gewonnen haben, fortsetzen, im Interesse unseres
Landes wie auch im Interesse der internationalen Staa-
tengemeinschaft. Wie ich bereits anfänglich sagte: Um-
weltprobleme machen vor Staatsgrenzen keinen Halt,
und sie erfordern internationale Zusammenarbeit. Ge-
fragt sind gemeinsame Lösungen. Es ist an uns, die not-
wendigen Weichenstellungen für einen erfolgreichen
Dialog zu setzen.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Zunächst
möchte ich begründen, warum wir uns bei diesem An-
trag, dem wir inhaltlich weitgehend zustimmen, enthal-
ten.
Diese Initiative zur Parlamentsbeteiligung in UN-Pro-
zessen ist ein fraktionsübergreifender Gruppenantrag.
Hier geht es um die Einbeziehung des gesamten Parla-
ments, nicht nur der fünf bürgerlichen Parteien. In alter
Kalte-Kriegs-Manier wurde die Linke jedoch bei diesem
Antrag ausgeschlossen. Das ist so lächerlich wie absurd,
dass wir selbstverständlich einem auf einer solchen
Grundlage erarbeiteten Dokument nicht zustimmen wer-
den.
23 Jahre nach der Einheit sollten sich die anderen Par-
teien eigentlich langsam daran gewöhnt haben, dass es in
Deutschland nun eine gesamtdeutsche linke Partei gibt.
Aber Ewiggestrige und Arroganz bei Union, FDP, SPD
und Grünen führen hier zu Ignoranz. Das ist zugleich ein
Fingerzeig darauf, wie ernst es diese Parteien nehmen,
wenn es darum geht, eine Vielfalt von Meinungen pro-
duktiv nutzbar zu machen. Gerade bei Themen wie Klima-
schutz und biologische Vielfalt, wo es besonders geboten
erscheint, Parteigrenzen auch einmal zu überspringen.
Hier wird gerade von SPD und Grünen immer viel Wind
gemacht. In der Realität grenzen sie regelmäßig den Wil-
len von gut 5 Millionen Wählerinnen und Wählern aus.
Zum Inhalt kann ich es kurz machen: Selbstverständ-
lich müssen Bundestagsabgeordnete weiterhin zu UN-
Regierungskonferenzen fahren können. Das ist kein von
den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern finanzierter
Tourismus, wie bei manch anderer Reise von Abgeord-
neten gelegentlich vermutet wird. Ganz im Gegenteil. Es
gibt aus meiner Sicht kaum andere derart fruchtbare und
effiziente Parlamentsreisen wie die zu solchen Gipfeln.
Zum einen, weil es die im Antrag erwähnte Beteili-
gungslücke gibt. Während die Beziehungen und Beteili-
gungsrechte zwischen deutschem Parlament, Bundesre-
gierung und Europäischer Union mit Verträgen geregelt
sind, geht der Wille und die Kontrolle des Bundestages
bei Verhandlungen auf UN-Ebene eigentlich nur sehr
indirekt in die jeweiligen Verhandlungen ein, und zwar
über das Handeln der Bundesregierung. Hier gab es
bislang ein informelles Korrektiv: Abgeordnete der fe-
derführenden Ausschüsse waren häufig Bestandteil der
jeweiligen deutschen Delegation. So hat das Bundes-
umweltministerium immer sehr kollegial Abgeordnete
des Umweltausschusses in die UN-Klimaverhandlun-
gen integriert. Mit gutem Grund, denn die Entscheidun-
gen etwa in Kioto oder Marrakesch hatten tiefgreifende
Auswirkungen auf die europäische und deutsche Kli-
magesetzgebung.
Aber genau dieses Korrektiv will das Präsidium des
Bundestages am liebsten abschaffen. Regierungskonfe-
renzen seien, wie der Name schon sagt, Konferenzen
von Regierungen, so die seltsam formale Begründung.
Da sollten Abgeordnete zu Hause bleiben oder auf ei-
gene Kosten fahren. Ich denke, hier bestehen vielleicht
beim Präsidium einige Defizite bezüglich der Rolle und
Funktion solcher Konferenzen.
Zum anderen sind viele Regierungskonferenzen ein
informeller Treffpunkt von Parlamentarierinnen und Par-
lamentariern aus aller Welt. Gerade Entwicklungsländer
haben in den letzten Jahren Ihre Parlamentsdelegationen
deutlich aufgestockt. Denn mit vergleichbar wenig Auf-
wand können sie hier in einer Woche Dutzende Gesprä-
che mit Abgeordneten und NGOs anderer Länder
durchführen: gut vorbereitet in Besprechungsräumen,
verabredet oder auch spontan auf den Fluren oder in der
Cafeteria. Auch wir deutschen Abgeordneten haben
diese Chancen umfangreich genutzt. Vergleichbares als
Einzelreisen zu organisieren, wäre extrem aufwendig
und gerade für Parlamentarierinnen und Parlamentarier
aus dem Süden finanziell gar nicht zu stemmen.
Aus diesem Grund müssen Delegationsreisen des
Bundestages zu Regierungskonferenzen wieder möglich
sein. Insofern müsste sich der Kern des Antrags eigent-
lich an die Spitze des Bundestages selbst richten. Denn
die Bundesregierung ist hier weniger das Problem.
Natürlich sollten auch die zuständigen Ministerien die
genannten Abläufe weiter unterstützen und sie dort ver-
bessern, wo es in der Vergangenheit Probleme gab.
Nach dem Antrag soll die Bundesregierung zudem
„Empfehlungen und Wünsche der zuständigen Aus-
schüsse und Gremien des Deutschen Bundestages er-
kennbar im Verhandlungsprozess berücksichtigen“. Das
unterstützen wir natürlich, obwohl offenbleibt, wie so et-
was im Einzelfall konkret zu handhaben wäre.
Dr. Hermann E. Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vor zwei Tagen ist mit der Abstimmung zum Backloa-
ding-Vorschlag im Europaparlament eine wichtige Frage
der Umwelt-Governance gescheitert. Die Verhinderung
der Reform des Emissionshandels ist der Tiefpunkt der
europäischen Klimapolitik. Diese Abstimmungspleite ist
aber auch der Höhepunkt des klimapolitischen Schei-
terns unserer Kanzlerin.
Denn anscheinend hatte Angela Merkel keine Lust
darauf, die Kabbeleien ihrer Minister Altmaier und
Rösler zu beenden und stattdessen für eine gemeinsame
Positionierung der Regierung zum Emissionshandel zu
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sorgen. Einst hat sich Angela Merkel als Klimakanzlerin
feiern lassen. Solange aber Frau Merkel beim Klima-
schutz bremst und blockiert, statt das Klima zur Chefin-
nensache zu machen, so lange schreitet der Klimawandel
mit seinen fatalen Folgen weiter voran, und Deutschland
und Europa sind als klimapolitischer Vorreiter ausge-
bremst.
Mit Blick auf den uns vorliegenden Antrag zur Um-
welt-Governance gibt es heute ausnahmsweise einmal
etwas Positives zu berichten – auch das ist möglich.
Fraktionsübergreifend wurde festgehalten, dass zum ei-
nen die Bedeutung internationaler Umwelt-Governance
stark zugenommen hat. Denn nur so kann auf die He-
rausforderungen der Umweltpolitik in einer globalisier-
ten Welt reagiert werden. Zum anderen wurde von den
Fraktionen festgestellt, dass wir „vor diesem Hinter-
grund ... auch im Blick auf die internationalen Entschei-
dungsprozesse im Umweltbereich mehr Demokratie und
ihre aktive Beeinflussung“ durch den Deutschen Bun-
destag brauchen. Ein Erfolg, über den wir Grüne aller-
dings gerne noch etwas hinausgegangen wären mit mehr
Konkretion und Verbindlichkeit.
Zunächst hätten wir Grünen uns bei einem solchen
Antrag die Einbeziehung der Fraktion der Linken ge-
wünscht. So wäre es möglich gewesen, ein noch stärke-
res politisches Signal zu setzen.
Auch die Beteiligung von Abgeordneten in Regie-
rungs- und Parlamentarierkonferenzen über den UN-
Prozess hinaus kommt uns in diesem Antrag zu kurz.
Dies vernachlässigt die Bedeutung wichtiger Konferen-
zen wie IRENA oder dem Weltwasserforum.
Die im Antrag aufgeführte Mitsprachemöglichkeit
des Deutschen Bundestages lässt die ausreichende Weite
und Verbindlichkeit vermissen. Hier wäre eine stärkere
und ausdrücklich genannte Orientierung an den Verfah-
ren der EU wünschenswert.
Und – wie so häufig – nicht zuletzt wurde auf die
Frage „Wer trägt die Kosten?“ nur ausweichend einge-
gangen. Hier wäre uns die Nennung der zuständigen
Ressorts ein wichtiges Ziel.
Dies alles sind Aufgaben, die wir in die nächste Le-
gislaturperiode mitnehmen werden. Um diesen Fort-
schritt zu einem wirklichen Erfolg für mehr Demokratie
in der internationalen Umweltpolitik zu machen!
Zuletzt sei mir aber noch eine doch recht kritische
Anmerkung zu der Praxis der Parlamentsbeteiligung bei
Umwelt-Governance durch diese Bundesregierung er-
laubt. Während wir hier heute die Verbesserung der Par-
lamentsbeteiligung bei globaler Umwelt-Governance
fordern, will Schwarz-Gelb dem Bundestag die Ratifi-
zierung der zweiten Verpflichtungsperiode des Kioto-
Protokolls in dieser Legislaturperiode verweigern und
damit den internationalen Klimaschutz auf Eis legen. Ich
halte dies schlichtweg für einen Skandal!
Noch ungeheuerlicher wird dies, wenn man sich die
Argumente der Bundesregierung für diese Verzöge-
rungstaktik anhört. Genannt wird der Grundsatz der Dis-
kontinuität und dass man abwarten wolle, wie die EU die
Lasten durch das Kioto-Protokoll aufteilen wolle. Tat-
kraft und Ehrgeiz in der Klimapolitik sieht anders aus,
meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb! So ist
keine Klimapolitik zu machen.
Die Backloading-Pleite im Europaparlament hat viel-
mehr gezeigt: Was wir in der Klimapolitik stärker als je
zuvor brauchen, ist eine Vorreiterrolle Deutschlands. Mit
nationalen, europäischen und internationalen Klimaini-
tiativen. Geben Sie sich daher einen Ruck, Frau Merkel,
und leisten Sie einen Beitrag zu wahrer Parlamentsbetei-
ligung: Lassen Sie diesem Haus in dieser Legislatur-
periode das Ratifizierungsgesetz zum Kioto-Protokoll
zur Abstimmung zukommen!
Anlage 17
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Entwurf eines Gesetzes zur Beseitigung so-
zialer Überforderung bei Beitragsschulden
in der Krankenversicherung
– Antrag: Keine überhöhten Säumniszu-
schläge bei Beitragsschulden
(Tagesordnungspunkt 22)
Karin Maag (CDU/CSU): Eine der ganz großen ge-
sundheitspolitischen Leistungen der Großen Koalition
war die Versicherungspflicht für alle. Unter anderem ist
damit eine Kündigung wegen Beitragsrückständen nicht
mehr möglich.
Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde
zum 1. April 2007 geregelt, dass sich alle, die einmal
Mitglied der GKV waren oder ihr zuzuordnen sind, bei
einer Krankenkasse versichern müssen. Zum 1. Januar
2009 wurde diese Regelung ergänzt: Wer nicht der GKV
zuzuordnen war, musste sich ab sofort in der PKV absi-
chern.
Um zu verhindern, dass es insbesondere für freiwillig
Versicherte attraktiv werden könnte, zulasten der Soli-
dargemeinschaft keine Beiträge zu zahlen und stattdes-
sen Schulden in Kauf zu nehmen, haben wir damals ge-
meinsam in der Großen Koalition die hohen
Säumniszuschläge eingeführt. Die damit verknüpften
Erwartungen haben sich allerdings nicht erfüllt.
Zudem hat die Rückkehr der betroffenen „Nichtversi-
cherten“ in die gesetzliche Krankenversicherung einen
hohen Preis. Es geht nicht nur um die Säumniszuschläge
sondern auch darum, dass bereits bei Versicherungsbe-
ginn für den vergangenen Zeitraum ohne Versicherungs-
schutz eine entsprechende Beitragsforderung entsteht.
Diese Fehlentwicklung gilt es nun zu korrigieren. Un-
ser Entwurf sieht vor, dass für freiwillig Versicherte so-
wie für vormals Nicht-Versicherte in der gesetzlichen
Krankenversicherung künftig nur noch der reguläre mo-
natliche Säumniszuschlag in Höhe von monatlich einem
Prozent des rückständigen Betrags gilt. Damit werden
die Versicherten nicht nur vor weiterer Überforderung
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geschützt. Ihnen wird damit auch der Abbau entstande-
ner Beitragsschulden erleichtert.
Der Gesetzentwurf enthält zudem eine Klarstellung
im SGB V, dass sogenannte Halteeffekte bei der Kalku-
lation von Wahltarifen nicht durch die Krankenkassen
berücksichtigt werden dürfen.
Ich will mich hier aber vor allem auf die Situation in
der PKV und den Notlagentarif konzentrieren. Kollege
Spahn hat zur GKV das Notwendige ausgeführt.
Seit der Einführung der Krankenversicherungspflicht
im Jahr 2009 für alle sind die Beitragsrückstände und die
Nichtzahler auch Thema in der PKV. Nach Angaben des
PKV-Verbandes haben sich die Verluste von rund
155 000 Nichtzahlern, die länger als drei Monate im
Zahlungsrückstand sind, bereits auf 745 Millionen Euro
summiert. Gerade junge Selbstständige, die sich bei Ge-
schäftsgründung übernommen hatten, machen in der
PKV das Gros der Nichtzahler aus. Auch den vielen
kleinen Selbstständigen, den Kioskbesitzern und Knei-
penwirten, die wirtschaftliche Engpässe meistern müs-
sen und deshalb auch ihrer Beitragsverpflichtung nicht
nachgekommen sind, geben wir eine Perspektive.
Die Versicherten der PKV schützt künftig dieser Not-
lagentarif mit einer deutlich niedrigeren Prämie besser
vor Überforderung.
Nach einem obligatorischen Mahnverfahren werden
die säumigen Zahler gegebenenfalls in diesen Notlagen-
tarif überführt; ihr bisheriger Versicherungsvertrag ruht
währenddessen. Gleichzeitig bleibt ihre Versorgung bei
akuten Erkrankungen sichergestellt.
Die seitherige Rechtslage, dass PKV-Versicherte in
den Basistarif überführt werden, wenn sie ihre Beitrags-
schulden innerhalb eines Jahres nicht begleichen kön-
nen, ist den Versicherten keine Hilfe. Aufgrund der wei-
terhin hohen Beiträge kam es häufig zu weiterer
Überschuldung, das heißt die bisherige Regelung erfüllt
ihren Zweck nicht. Dies ändert der neue Notlagentarif.
Im Notlagentarif entfallen Risikozuschläge, Leis-
tungsausschlüsse und Selbstbehalte. Unter der Fachauf-
sicht des Bundesministeriums der Finanzen geben wir
dem PKV-Verband auf, Art, Umfang und Höhe der Leis-
tungen des Notlagentarifs festzulegen.
Altersrückstellungen werden im Notlagentarif nicht
gebildet. Sogar weitergehend werden bis zu 25 Prozent
der monatlichen Prämie durch Entnahmen aus der Al-
tersrückstellung geleistet. Damit erreichen wir, dass die
Prämie circa 100 Euro bis 120 Euro niedriger ausfällt als
in einem regulären Tarif.
Die Motivation und die Möglichkeit, vorhandene
Rückstände abzubauen, wird für Betroffene damit deut-
lich erhöht, ja erst möglich gemacht.
Für Versicherte, deren Vertrag nur die Erstattung ei-
nes Prozentsatzes der entstandenen Aufwendungen ge-
währt, sieht der Notlagentarif Leistungen in Höhe von
20, 30 oder 50 Prozent der versicherten Behandlungs-
kosten vor.
Auf der Leistungsseite bleibt es im Notlagentarif wie
bisher bei der Behandlung von akuten Erkrankungen und
Schmerzzuständen.
Die Versicherten werden auch in diesem nicht einfa-
chen Verfahren nicht alleine gelassen, sondern umfäng-
lich und zeitnah über diese Veränderungen informiert.
Ziel der geplanten Neuregelung im Versicherungsver-
trags- sowie im Versicherungsaufsichtsgesetz ist natür-
lich auch der Schutz der übrigen Beitragszahler in der
privaten Krankenversicherung. Es wird so ein weiterer
Prämienanstieg verhindert, der durch die Zahlungsunfä-
higkeit einer wachsenden Zahl von Versicherten bei
gleichzeitiger Inanspruchnahme aller versicherten Leis-
tungen droht. Denn diese Beitragsverluste sind von den
übrigen, vertragstreuen Versicherten wirtschaftlich mit-
zutragen. Jeder Beitragsausfall geht zulasten der Mittel,
die zur Senkung und Stabilisierung der Beiträge im Alter
zusätzlich zu den Altersrückstellungen zur Verfügung
stehen. Das Nichtzahlerproblem ist damit auch ursäch-
lich für Beitragssteigerungen.
Alles in allem schützen wir die Menschen vor Über-
forderung, die ohne ihr Zutun in eine wirtschaftliche
Schieflage gekommen sind. Wir zeigen eine Perspektive
auf, die allen Versicherten, unabhängig ob GKV- oder
PKV-versichert zugutekommt. Anders als im SPD-Vor-
schlag wird niemand ausgegrenzt. Uns liegt jeder Versi-
cherte unabhängig von der Art seiner Versicherung glei-
chermaßen am Herzen.
Jens Spahn (CDU/CSU): Heute ist ein guter Tag für
die Bürgerinnen und Bürger. Mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Beseitigung so-
zialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Kran-
kenversicherung machen wir einen weiteren wichtigen
Schritt auf dem Weg, jeder Bürgerin und jedem Bürger
einen Zugang zu einem bezahlbaren Krankenversiche-
rungsschutz, auch in individuell finanziell schwierigen
Zeiten, zu ermöglichen. Mit dem GKV-Wettbewerbsstär-
kungsgesetz haben wir bereits zu Zeiten der großen Ko-
alition im Jahr 2007 den Weg zu einer Absicherung im
Krankheitsfall für alle eröffnet. Seit diesem Zeitpunkt ist
ein Ausschluss aus der Krankenversicherung bei Nicht-
zahlung der Beiträge nicht mehr möglich.
Gleichzeitig wurde jedem erstmals die Möglichkeit
eröffnet, in sein ursprüngliches Versicherungssystem zu-
rückzukehren. Dabei sahen wir damals die Notwendig-
keit im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung,
bei der es sich um eine solidarische Versicherung han-
delt, einen hohen Säumniszuschlag einzurichten, um
Missbrauch entgegenzuwirken. Denn das Ziel der Absi-
cherung in einem Solidarsystem kann nicht zur Folge ha-
ben, dass der Versicherungsschutz erst dann gesucht
wird, wenn es zum Krankheitsfall kommt. Eine solidari-
sche Versicherung beinhaltet den Grundsatz, dass Ge-
sunde für Kranke und Gutverdienende für Geringverdie-
nende einstehen, mit dem Ziel, jeden vollumfänglich im
Falle einer Erkrankung abzusichern. Dieser Grundge-
danke beinhaltete auch die Regelung, dass bei einem
späteren Eintritt in das Versicherungsverhältnis der Bei-
trag rückwirkend ab dem 1. April 2007 zu zahlen ist.
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Wir stehen zu diesen gesetzlichen Regelungen und se-
hen auch weiterhin die Notwendigkeit einer Absiche-
rung im Krankheitsfall für jeden. Dennoch haben wir im
Laufe der Zeit feststellen müssen, dass immer mehr Ver-
sicherte mit der Nachzahlung von Beiträgen, insbeson-
dere aufgrund der hohen Säumniszuschläge, die 60 Pro-
zent im Jahr betragen, dem avisierten Ziel der
Beitragszahlung nicht mehr nachkommen können. Vor
diesem Hintergrund werden wir mit dem vorgelegten
Gesetzentwurf die Säumniszuschläge auf nicht gezahlte
Beiträge von 5 Prozent auf künftig 1 Prozent reduzieren.
Damit soll den rund 638 000 Mitgliedern der gesetzli-
chen Krankenversicherung, die derzeit mit ihren Bei-
tragszahlungen im Rückstand sind oder als sogenannte
Nichtversicherte gelten, die Rückkehr zum vollen Leis-
tungsanspruch in der gesetzlichen Krankenversicherung
gewährt werden. Denn ein Großteil dieser Betroffenen
ist durchaus gewillt, die säumigen Beträge zurückzuzah-
len; durch die ständige Erhöhung aufgrund der hohen
Säumniszuschläge kommen sie aber aus ihrer Situation
nicht heraus.
Wir sind uns aber auch bewusst, dass das Problem der
säumigen Beiträge und der Nichtversicherten nicht aus-
schließlich dem hohen Säumniszuschlag geschuldet ist.
Denn auch wenn wir diesen für die Zukunft reduzieren,
bleiben die hohen Forderungen der letzten Jahre beste-
hen. Auch dieses Problem werden wir im Rahmen des
parlamentarischen Verfahrens zu diesem Gesetzentwurf
beraten. Darüber hinaus werden wir die Beitragsbemes-
sung von freiwillig versicherten Mitgliedern in der ge-
setzlichen Krankenversicherung, was vorrangig Selbst-
ständige betrifft, prüfen, um auch für diesen
Versichertenkreis das Ziel einer bezahlbaren, aber
gleichzeitig im Sinne der Solidarversicherung leistungs-
gerechten Beitragsbemessung zu erzielen.
Nicht nur die Solidargemeinschaft der GKV, auch die
Versicherten bei den privaten Krankenversicherungen
haben immer mehr mit Beitragsrückständen zu kämpfen.
Da wir das Ziel der Absicherung im Krankheitsfall
selbstverständlich auch für Versicherte der privaten
Krankenversicherung gesetzlich vorgegeben haben, wer-
den wir auch in diesem Bereich einen sogenannten Not-
lagentarif einführen. In diesen werden die Versicherten
nach einem gesetzlich festgelegten Mahnverfahren über-
führt. Gleichzeitig erhalten sie aber die Option der Rück-
kehr in ihren ursprünglichen Versicherungsvertrag. Mit
dieser Maßnahme schützen wir die Beitragsschuldner in
der PKV vor finanzieller Überforderung, gewährleisten
aber gleichzeitig, dass das Kollektiv der Versichertenge-
meinschaft finanziell nicht belastet wird und die Rück-
kehr in den Ursprungstarif wieder realisiert wird.
Dieser Gesetzentwurf bedeutet keine Rolle rückwärts,
sondern er beinhaltet wichtige Maßnahmen zur Erlan-
gung des, wie ich glaube, unumstrittenen Ziels, dass jede
Bürgerin und jeder Bürger einen umfänglichen Kranken-
versicherungsschutz haben sollte.
Dr. Karl Lauterbach (SPD): Das Thema, zu dem wir
heute beraten, bedeutet für viele Menschen in Deutsch-
land ein großes Armutsrisiko. Gründe für ein Leben am
Existenzminimum oder an einer Privatinsolvenz sind
heutzutage nicht mehr nur eine Wirtschaftskrise oder
persönliche Schicksale, sondern immer öfter auch Schul-
den bei der Krankenversicherung. Für viele Menschen,
gerade für junge, mutige Selbstständige, aber auch für
ältere Menschen, die ihren Ruhestand hart erarbeitet ha-
ben, kann die private Krankenversicherung schnell zur
Schuldenfalle werden. Bei Säumniszuschlägen in Höhe
von 5 Prozent im Monat – das sind mit Zinseszins rund
80 Prozent im Jahr – können so in kurzer Zeit riesige
Schuldenberge in fünf- bis sechsstelliger Höhe entstehen.
Diesen Wucher darf sich keine einzige Bank erlauben – die
gesetzlichen Krankenkassen müssen dies aber tun.
Schlimmer noch steht es um Versicherte in der priva-
ten Krankenversicherung. Bei jungen Selbstständigen,
die hart daran arbeiten, ihre Träume zu verwirklichen
und Existenzen aufzubauen, übersteigen die Beiträge oft
unerwartet die finanziellen Kapazitäten. Viele Rentne-
rinnen und Rentner geraten wegen ihrer hohen Beiträge
in Altersarmut. Der neue Notlagentarif, den die privaten
Versicherungsunternehmen jetzt einführen müssen, hilft
gerade den häufig betroffenen Rentnerinnen und Rent-
nern kaum. Die hohen Beitragsschulden bleiben beste-
hen, chronische Erkrankungen werden aber nicht mehr
behandelt. So wird die private Krankenversicherung für
viele Rentnerinnen und Rentner, die die hohen Prämien
von 800 Euro und mehr im Monat nicht bezahlen kön-
nen, nicht nur zum Armutsrisiko, sondern gefährdet auch
ihre Gesundheit. Beinahe täglich erhalte ich Zuschriften
von verzweifelten Bürgerinnen und Bürgern, die keinen
Ausweg aus der Schuldenfalle mehr sehen und vor allem
die Hoffnung verloren haben, die Hoffnung auf Hilfe
von der Regierung und die Hoffnung auf eine solidari-
sche Lösung. Das kann und darf so nicht weitergehen. Es
geht hier um Existenzen, um die Gesundheit der Bürge-
rinnen und Bürger und vor allem um die Sicherstellung
des Zugangs zum Gesundheitswesen für jeden Einzel-
nen. Keiner darf künftig aus dem System fallen, und kei-
nem darf eine notwendige Behandlung verwehrt werden.
Um das Problem zeitnah und kurzfristig zu lösen, hal-
ten wir die Senkung der Säumniszuschläge im Gesetz-
entwurf auf die Höhe von 1 Prozent pro Monat richtig.
Damit wird eine Forderung aus unserem Antrag erfüllt.
Allerdings greift der Gesetzentwurf der Koalitionsfrak-
tionen viel zu kurz. Wir halten darüber hinaus auch eine
Begrenzung der Rückwirkung für sinnvoll. Verschuldete
Bürgerinnen und Bürger sollen die Chance bekommen,
aus der Schuldenfalle herauszukommen, um so auch ge-
gebenenfalls eine Rückkehr in eine reguläre Erwerbstä-
tigkeit zu ermöglichen. Hier sollte künftig eine einheit-
liche Regelung für die private und die gesetzliche
Krankenversicherung gelten. Dabei wird ein Monatsbei-
trag für jeden angefangenen Monat der Nichtversiche-
rung fällig und ab dem sechsten Monat der Nichtversi-
cherung ein Sechstel eines Monatsbeitrags. Für die
vorhandenen Altfälle, bei denen sich bereits Schulden
im fünf- bis sechsstelligen Bereich angesammelt haben,
muss unbedingt eine sozialpolitische Lösung gefunden
werden. Hier ist es unabdingbar, dass nachzuzahlende
Beiträge angemessen ermäßigt werden, in besonders
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schwerwiegenden Fällen sogar gänzlich von einer Ein-
treibung abgesehen wird.
Eine langfristige und vor allem solidarische Lösung
kann hier aber einzig und allein die Bürgerversicherung
sein, um für alle Bürgerinnen und Bürger einen zuverläs-
sigen und sicheren Zugang zum Gesundheitswesen zu
gewährleisten; denn die Absenkung des Säumniszu-
schlags und die Einführung des Notlagentarifs lösen
nicht die strukturellen Probleme des zweigeteilten, unge-
rechten Versicherungssystems. Die Bürgerversicherung
ist eine klare, gute und vor allem die einzige Alternative
zum bisher bestehenden Versicherungssystem.
Wir wollen nicht, dass es Menschen in der Bundesre-
publik gibt, die aufgrund von Beitragsschulden bei ihrer
Krankenkasse Privatinsolvenz anmelden müssen und nur
noch einen eingeschränkten Zugang zu einer notwendi-
gen medizinischen Versorgung haben. Es ist Aufgabe
der Politik, Menschen aus der Schuldenfalle zu helfen
und ihnen wieder Hoffnung zu geben. Keiner sollte da-
für bestraft werden, in wirtschaftliche Probleme bei ei-
ner Selbstständigkeit zu geraten oder nach einer Schei-
dung oder im Alter überhöhte Beiträge nicht zahlen zu
können. Keiner darf künftig aus dem System fallen.
Harald Weinberg (DIE LINKE): Viel Schatten und
wenig Licht steckt in diesem schwarz-gelben Gesetzent-
wurf. Ich fange mit dem Schatten an, um zum Schluss
noch ein kleines Lob übrig zu haben.
Der Notlagen- oder Nichtzahlertarif, den die Bundes-
regierung gemeinsam mit den Lobbyisten der privaten
Krankenversicherung hier ausgetüftelt hat, schafft ein
neues Gesundheitsprekariat.
Es ist ja nicht so, dass ich die bestehenden Regelun-
gen gut finde. Momentan ist es so, dass Privatversi-
cherte, zum Beispiel kleine Selbstständige, die die stän-
dig steigenden Beiträge nicht mehr aufbringen können,
bei zwei Monatsbeiträgen Zahlungsverzug nur noch
stark abgespeckte Leistungen bekommen. Sie bleiben
trotzdem ein Jahr voll zahlungspflichtig und kommen
dann in den Basistarif. Dort geht es dann gleich mit der
Verschuldung weiter, denn die Versicherung verlangt
Beiträge von über 600 Euro im Monat.
Die Bundesregierung tut nun so, als ob sie den Ver-
sicherten helfen wolle. Dabei setzt sie nur das um, was
die private Krankenversicherung ihr in die Feder dik-
tiert hat. Die noch bestehende Regelung ist nämlich
ein Problem für die PKV. Sie darf – richtigerweise –
die säumigen Beitragszahler seit 2009 nicht mehr ein-
fach rauswerfen, sondern ist gesetzlich gezwungen,
den Versicherungsschutz der Menschen, die sich in
ihre Obhut begeben haben, aufrechtzuerhalten.
Wir können mittlerweile feststellen: Mit einkom-
mensunabhängigen Beiträgen geht das nicht. Menschen,
die in eine finanzielle Notlage kommen und zudem noch
Beitragssteigerungen aufgedrückt bekommen, können
nicht entsprechend ihrem Krankheitsrisiko bezahlen. Die
Lösung der Bundesregierung und der PKV-Lobby ist
simpel: Die Beiträge werden auf rund 100 Euro gesenkt,
dafür bekommen die Versicherten aber auch nur noch
Leistungen auf Entwicklungsland-Niveau. Nur noch bei
Schmerzzuständen und akuten Krankheiten gibt es eine
Versorgung.
Ich bin mir sicher: Es wird Gerichtsverfahren geben,
die Menschen mit chronischen Krankheiten wie HIV,
Hepatitis oder Diabetes anstrengen müssen, um über-
haupt versorgt zu werden. Klar ist: Früherkennung von
Krankheiten wird nicht mehr bezahlt. Man nimmt diesen
prekär versicherten Menschen bewusst Gesundheits-
chancen und nimmt hin, dass Zehntausende kleine Selb-
ständige sich in dieser billigen Krankenversicherung
vierter Klasse einrichten müssen. Es werden zwar finan-
zielle Verpflichtungen von den Betroffenen genommen,
aber auf Kosten der notwendigen medizinischen Versor-
gung. Ich bin bereits gespannt auf die sicher kommen-
den Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Das
hat letztes Jahr entschieden, dass Asylbewerber nicht
weniger Anspruch auf das Existenzminimum haben als
Menschen mit festem Aufenthaltsstatus. Es wäre nur
konsequent, wenn dieses Urteil auch auf die Gesund-
heitsversorgung ausgeweitet würde, denn auch die ge-
hört zum Existenzminimum klar dazu.
Der PKV nutzt diese Regelung, weil sie dann erstens
weniger uneinbringliche Forderungen abschreiben muss,
zweitens nicht so viele Versicherte in den von den Versi-
cherungskonzernen ungeliebten Basistarif abwandern,
drittens weil im Nichtzahltarif im Gegensatz zu heutigen
säumigen Beitragszahlern keine Alterungsrückstellun-
gen aufgebaut werden müssen, sondern bestehende
Rücklagen abgeschmolzen werden und zusätzlich zu den
Beiträgen auf das Konto der Versicherung gebucht wer-
den.
Kurzum: Dieser Tarif nutzt der PKV und schadet der
Gesundheit der Versicherten und ihrer Angehörigen. Die
Linke lehnt ihn deshalb klar ab. Für uns besteht die ein-
zig sinnvolle Lösung darin, Beiträge zu verlangen, die
sich nach dem tatsächlich erzielten Einkommen richten.
Das ist mit der Privatversicherung nicht zu machen. Des-
halb wollen wir die Abschaffung der Privatversicherung
und die Schaffung einer solidarischen Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung, in der alle versichert sind.
Besser, aber nicht gut ist das, was die Bundesregie-
rung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung
mit diesem Gesetzentwurf unternimmt. Hier werden die
Säumniszuschläge von 5 Prozent im Monat (!) auf 1 Pro-
zent gesenkt. Inklusive Zinseszins ist das eine Absen-
kung von etwa 79 Prozent im Jahr auf 12,7 Prozent. Das
wird vielen helfen, das ist ein guter Schritt, beseitigt
aber nicht das Grundproblem. Denn weiterhin werden
von vielen Versicherten, insbesondere Selbstständigen,
Beiträge verlangt, die sie nicht zahlen können. Auch
hier wieder unsere Forderung: Alle sollen entsprechend
ihres tatsächlichen Einkommens Beiträge zahlen müs-
sen. Dann gäbe es das Problem der Beitragsschulden
nicht, und es wären dann auch keine Zinsen zu zahlen.
Die dritte Regelung, die zu den Wahltarifen, begrüßen
wir, auch wenn die Bundesregierung ganz andere
Gründe dafür hat. Worum geht es? Krankenkassen bieten
Wahltarife an, zum Beispiel Beitragsrückerstattungsta-
rife. In diesen bekommen Versicherte Geld zurück, wenn
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sie das Glück haben, mindestens ein Jahr lang keinen
Arzt zu brauchen. Das widerspricht der Solidarität in der
gesetzlichen Krankenversicherung. Denn das Geld fehlt
in der Versorgung der Kranken. Die Kassen müssen
zwar nachweisen, dass die Tarife nicht von den anderen
Versicherten quersubventioniert sind, sie müssen sich
also selbst tragen. In diesem Nachweis waren die Kassen
aber sehr erfinderisch. Sie können über die zu erwar-
tende Änderung der Versichertenstruktur, dass sie also
durch diese Tarife mehr Gesunde versichern werden und
damit weniger Geld ausgeben müssen, diesen Nachweis
führen. Krankenkassen sollen aber für Kranke da sein,
nicht für Gesunde. Im Endeffekt fehlt also trotzdem das
Geld. Das wird nun geändert, und das ist gut so.
Das reicht aber nicht aus, dass wir diesem Gesetzent-
wurf zustimmen könnten. Da müsste sich in der parla-
mentarischen Beratung noch viel ändern und da fehlt mir
der Glaube.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Strafzinsen von 5 Prozent pro Monat oder 60 Prozent pro
Jahr für freiwillig Versicherte und zuvor Nichtversi-
cherte haben nach der Analyse der Koalition „das Pro-
blem der Beitragsrückstände eher verschärft“. Welch
eine Erkenntnis sechs Jahre nach ihrer Einführung! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen Sie die Wu-
cherzinsen der Krankenkassen auf rückständige Beiträge
also abschaffen. Das ist das Gute an Ihrem Entwurf. Al-
les andere gehört in die Tonne bzw. deutlich nachgebes-
sert.
Denn Sie suchen weder nach einer Lösung für die
Beitragsschulden – für bisherige und künftige –, noch
kümmern Sie sich um die angesammelten Zinsschulden.
Ein Leichtes wäre es, für die Beitragsschulden eine Re-
gelung aus der PKV zu übernehmen, wie es der vorlie-
gende SPD-Antrag fordert. Danach müssten die Versi-
cherten die Beiträge rückwirkend nur für die ersten sechs
Monate zahlen, ab dem siebten Monat nur noch jeweils
ein Sechstel des Monatsbeitrags. Offensichtlich haben
Sie aber kein Interesse daran, eine gelungene Regelung
auch einmal vom PKV-System ins GKV-System zu
übertragen, sondern nur umgekehrt. Ich kann Ihnen sa-
gen: Viel häufiger werden Sie die Möglichkeit nicht ha-
ben, denn viele gelungene Regeln gibt es im PKV-Sys-
tem nicht. Die Forderungen im SPD-Antrag sind zu
ergänzen um eine angemessene Regelung für die ange-
sammelten Schulden aus Beiträgen und Zinsen. Das
sollte man nicht dem Gutdünken der Krankenkassen
überlassen.
Ein neuer Notlagentarif der PKV soll die Zahlungs-
moral der Versicherten erhöhen und die Versicherungs-
unternehmen finanziell entlasten. Auch hier denken Sie
weder an die Versicherten noch nachhaltig. Denn wenn
keine Altersrückstellungen mehr aufgebaut und sogar
die bisher angesparten Altersrückstellungen im Not-
lagentarif abgeschmolzen werden, dann schaffen Sie ein
neues Problem. Die Altersrückstellungen reichen schon
heute nicht aus, Prämiensteigerungen im Alter zu ver-
meiden. Das Versprechen einer „demografieresistenten
PKV“ ist nichts als ein Luftschloss. Das System der Al-
tersrückstellungen versagt bereits heute; also wird sich
deren Abschmelzung für die betroffenen Versicherten
dramatisch auswirken. Sie geraten in einen Teufelskreis;
am Ende sind sie womöglich auf Jahre gefangen in ei-
nem Notlagentarif, in dem nur die Notfälle bezahlt wer-
den – das sind dann amerikanische Verhältnisse.
Sie nehmen also der PKV ein Finanzierungsproblem
ab, nicht aber den Versicherten. Ihr selbstformuliertes
Nachhaltigkeitsziel, allen Versicherten einen finanzier-
baren umfassenden Leistungskatalog zu ermöglichen,
verfehlen Sie auf ganzer Linie: Weder für die heutigen
noch für die künftigen Beitragsschuldner haben Sie eine
Lösung – für die Betroffenen ist Ihr Gesetzentwurf eine
einzige Enttäuschung.
Ihre Klientelpolitik für die private Versicherungsbran-
che toppen Sie noch durch den Ausschluss von Halteef-
fekten in der Kalkulation von Wahltarifen der Kranken-
kassen. Das würde die Attraktivität der GKV für hohe
Einkommen senken. Wettbewerb also nur dort, wo er
nicht zulasten der PKV geht? Auch Sie haben wohl in-
zwischen gemerkt, dass die PKV ohne solche Schutz-
zäune nicht mehr überlebensfähig ist.
Wir wollen keinen Biotopschutz für die PKV, sondern
eine nachhaltige und gerechte Finanzierung für alle Ver-
sicherten. Deshalb setzen wir auf die Bürgerversiche-
rung!
Ulrike Flach, Parl. Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Gesundheit: Mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf geht diese Koalition ein Thema an, das – lassen
Sie mich das betonen – mittlerweile wohl über die Frak-
tionsgrenzen hinweg als Problem erkannt worden ist: die
Beitragsschulden in der Krankenversicherung. Hier be-
steht dringender Handlungsbedarf, und wir sind fest ent-
schlossen, jetzt zu angemessenen Lösungen zu kommen.
Die Wurzeln des Problems liegen – auch das muss
man so deutlich sagen – in einer anderen Wahlperiode:
Hintergrund war die grundsätzlich sinnvolle Einführung
der Versicherungspflicht für Personen ohne anderweiti-
gen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall mit
dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz. Ab April 2007
konnten Betroffene in der gesetzlichen Krankenversi-
cherung nach Verlust ihres Versicherungsschutzes wie-
der dorthin zurückkehren. In der PKV gilt die Versiche-
rungspflicht seit Januar 2009.
Um seinerzeit zu verhindern, dass Versicherte zwar
den vollen Versicherungsschutz genießen, aber keine
Beiträge entrichten, wurden Regelungen getroffen, die
entsprechende Anreize zur Beitragszahlung setzen soll-
ten. Diese Regelungen haben sich teilweise als nicht
zielführend erwiesen. Sie haben vielmehr dazu beigetra-
gen, dass sich bei einem kleinen Teil der Versicherten
hohe Beitragsschulden gebildet haben.
Lassen Sie sich mich eines vorneweg und ganz un-
missverständlich sagen: Selbstverständlich wollen wir,
dass alle Versicherten ihre Beiträge zahlen – darauf ist
eine Versichertengemeinschaft auch angewiesen. Und es
ist nach unserer Auffassung auch sachgerecht, dass je-
mand, der keine Beiträge zahlt, nicht den vollen Versi-
cherungsschutz erhält.
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Aber die Anreize, Beiträge zu entrichten, dürfen nicht
dazu führen, dass Menschen, die sich in einer vorüberge-
hend schwierigen finanziellen Situation befinden – den-
ken Sie an den kleinen Selbstständigen mit unstetigen
Einnahmen – Beitragsschulden aufbauen, die sie auch
dann nur schwer abbauen können, wenn es ihnen finan-
ziell wieder etwas besser geht. Anders gesagt: Die An-
reize zur Beitragszahlung dürfen nicht ein Auslöser für
eine Verschärfung oder gar Verstetigung der Notlage
sein.
Ein zentraler Aspekt im Bereich der gesetzlichen
Krankenversicherung waren hier sicherlich die erhöhten
Säumniszuschläge in Höhe von fünf Prozent. Das damit
verfolgte Ziel, dass die Beiträge ordnungsgemäß gezahlt
werden sollen, will ich dabei gar nicht in Abrede stellen.
Aber wir müssen heute ganz klar feststellen: Dieser
erheblich erhöhte Säumniszuschlag hat dieses Ziel nicht
nur nicht erreicht, sondern im Gegenteil zur Verschlim-
merung des Problems bei den Betroffenen geführt. Die
Betroffenen können oft nur verminderte oder sogar gar
keine Beiträge zahlen. Deshalb machen wir das jetzt
rückgängig.
Der Gesetzentwurf sieht also vor, dass für freiwillig
Versicherte sowie für nachrangig Versicherungspflich-
tige in der gesetzlichen Krankenversicherung anstelle
des auf fünf Prozent erhöhten Säumniszuschlags künftig
nur noch der reguläre monatliche Säumniszuschlag in
Höhe von einem Prozent des rückständigen Betrags gilt.
Damit wird ein erster wesentlicher Schritt unternommen,
um die finanzielle Überforderung bei Beitragsschulden
in der gesetzlichen Krankenversicherung zu beseitigen.
Ich gehe davon aus, dass diese Maßnahme einhellig be-
grüßt wird.
Im Bereich der privaten Krankenversicherung galt
seit Einführung der Versicherungspflicht, dass Verträge
säumiger Beitragszahler ruhend gestellt bzw. auf ein
Notfallniveau herabgesetzt wurden. Nach Ablauf eines
Jahres wurden sie dann in den Basistarif überführt. Da-
mit wurden säumige Beitragszahler in der Praxis jedoch
nicht wirksam vor weiterer Verschuldung geschützt. Die
hohen Beiträge des Basistarifs haben hier im Gegenteil
zu einem schnelleren Anwachsen der Beitragsschulden
geführt.
Der Gesetzentwurf sieht nun die Einführung eines
Notlagentarifs in der privaten Krankenversicherung vor.
Beitragsschuldner in der PKV werden nach Durchfüh-
rung eines gesetzlich festgelegten Mahnverfahrens in
diesen Notlagentarif überführt; ihr bisheriger Versiche-
rungsvertrag ruht währenddessen.
Die Prämie im Notlagentarif wird mit vermutlich
rund 100 bis 120 Euro je Versichertem deutlich niedriger
ausfallen als eine durchschnittliche Prämie in einem re-
gulären Tarif. Dabei wird für alle Versicherten im Not-
lagentarif eine einheitliche Prämie kalkuliert. Alterungs-
rückstellungen werden nicht aufgebaut. Der Versicherte
wird damit seiner Beitragspflicht leichter nachkommen
können und so besser vor Überforderung geschützt.
Durch die Neuregelungen wird es den Versicherten
zudem deutlich erleichtert, nach Zahlung aller ausste-
henden Beiträge wieder in ihre ursprünglichen Tarife zu-
rückzukehren – ohne Gesundheitsprüfung, ohne zusätz-
liche Risikozuschläge. Dies ist für die Betroffenen eine
ganz wichtige Perspektive.
Zudem wird künftig unbürokratisch und verbindlich
für alle Versicherungsunternehmen festgelegt, welche
Leistungen zu erbringen sind, wenn der volle Versiche-
rungsschutz ruht. Streitfälle, wie sie heute vereinzelt auf-
treten, werden damit künftig ausgeschlossen.
Insgesamt dürfen wir feststellen, dass wir mit den
vorgeschlagenen Regelungen des Gesetzentwurfs sicher-
stellen, dass zukünftig jeder, der – aus welchem Grund
auch immer – über einen bestimmten Zeitraum seine
Beiträge nicht entrichten konnte, vor untragbarer Ver-
schuldung geschützt wird. Bereits heute existierende
Möglichkeiten zur Vereinbarung von Ratenzahlungen
bei bestehenden Beitragsschulden haben sich als sinn-
voll erwiesen und gelten weiter. Außerdem ist es immer
wieder wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch künftig
alle Menschen in Deutschland die medizinischen Leis-
tungen erhalten, die sie benötigen.
Damit ist aber – auch das muss man offen sagen –
noch nicht die schwierigere Frage beantwortet, wie sinn-
vollerweise mit dem Problem der Altschulden umgegan-
gen werden soll. Daher werden wir im Gesetzgebungs-
verfahren Maßnahmen prüfen, um das Problem bereits
bestehender Beitragsschulden anzugehen. Dabei wird
nach Lösungen gesucht, welche die Belange der – in un-
terschiedlicher Weise – betroffenen Versicherten stärker
berücksichtigen, aber auch die Belange der Versicherten-
gemeinschaften nicht außer Acht lassen. Ein radikaler
und gänzlich undifferenzierter Schuldenschnitt, wie er
bisweilen vorgeschlagen wird, kann meines Erachtens
nicht die Lösung sein.
Mit einem reinen Schuldenerlass insbesondere von
ausstehenden Krankenversicherungsbeiträgen würden
wir allen Bürgerinnen und Bürgern nicht gerecht, die
ihre Beiträge immer rechtzeitig und ordnungsgemäß
zahlen. Das Gleiche gilt aber auch gegenüber jenen, die
es unter zum Teil großen persönlichen Anstrenungen ge-
schafft haben, ausstehende Beiträge nachzuzahlen. Eine
Solidargemeinschaft beruht maßgeblich auf der Bereit-
schaft ihrer Mitglieder, sich an die Regeln zu halten. Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf sorgen wir dafür, dass
die Sanktionsmechanismen, die beim Regelverstoß grei-
fen, wieder verhältnismäßig sind.
Ich freue mich auf konstruktive Beratungen im Aus-
schuss.
Anlage 18
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
die Bundesförderung der Investitionen in den
Ersatz der Schienenwege der öffentlichen nicht
bundeseigenen Eisenbahnen im Schienengüter-
fernverkehrsnetz (Tagesordnungspunkt 26)
Ulrich Lange (CDU/CSU): Der Schienenverkehr hat
in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt eine wich-
tige Funktion für die gesamte Gesellschaft. Der Trans-
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port von Menschen, aber auch von Gütern ist eine wich-
tige Leistung für unsere Wirtschaft. Je freizügiger und
großzügiger die Möglichkeiten sind, desto besser für die
gesamte Gesellschaft.
Für Deutschland als Exportnation ist eine gut ausge-
baute Verkehrsinfrastruktur überlebensnotwendig. Maß-
nahmen zugunsten einer exzellenten Verkehrsinfrastruk-
tur sind Investitionen in unsere Zukunft, weil gut
ausgebaute und vernetzte Verkehrswege das Rückgrat
unserer Exportwirtschaft sind. Je ungehinderter und
schneller die Waren an die Zielorte gelangen können,
desto günstiger ist dies für die Produzenten und desto
konkurrenzfähiger ist der Wirtschaftsstandort Deutsch-
land.
Die Eisenbahn als besonders umweltfreundliches Ver-
kehrsmittel muss in die Lage versetzt werden, eine füh-
rende Rolle bei der Bewältigung der ständig wachsenden
Nachfrage nach Güterfernverkehrsleistungen zu über-
nehmen. Bislang erfolgte die Förderung auf der Grund-
lage des Bundesschienenwegeausbaugesetzes, das aber
nur eine Förderung der Investitionen bundeseigener Ei-
senbahnen vorsieht.
Jetzt gehen wir einen Schritt weiter und wollen mit
dem Schienengüterfernverkehrsnetzförderungsgesetz,
SGFFG, die Förderung des Bundes auf die nicht bun-
deseigenen Schienenwege ausdehnen. Aus meiner
Sicht ist dieser Schritt dringend notwendig.
Der Gesetzentwurf dient der Ermächtigung des Bun-
des, Investitionen in Ersatz der Schienenwege der öf-
fentlichen NE-Bahnen zu fördern. Der Bund verschafft
sich damit die Möglichkeit, Redundanzen für den Schie-
nengüterfernverkehr zu schaffen und den Verkehrsnut-
zen der Schieneninfrastruktur der Eisenbahnen des Bun-
des zu verstärken. Da dem Schienenfernverkehr nur mit
leistungsfähigen Schienenwegen gedient ist, werden im
Gesetzentwurf Mindestvoraussetzungen festgelegt.
Der Bund gewährt auf Antrag Zuwendungen auf der
Basis von Zuwendungsbescheiden nach dem Zuwen-
dungsrecht des Bundes. Bewilligungsbehörde ist das Ei-
senbahn-Bundesamt, EBA. Fördergrundlage ist das Ge-
setz; es wird keine Verordnung oder Förderrichtlinie
unterlegt.
Wie läuft die Förderung ab?
Der Bund gewährt nicht rückzahlbare Baukostenzu-
schüsse in Höhe von 50 Prozent der jeweiligen per Zu-
wendungsbescheid genehmigten Investitionssumme.
Der Bund finanziert ebenfalls anteilig mit 50 Prozent
die zuwendungsfähigen Planungskosten, sofern die ge-
samten Planungskosten 13 Prozent an der Gesamtinves-
titionssumme nicht übersteigen.
Die Finanzierung erfolgt mit nicht rückzahlbaren
Baukostenzuschüssen als Anteilfinanzierung im Wege
der Projektförderung.
Der Zuwendungsempfänger muss nachweisen, das
vollständige Eigentum an den geförderten Anlagen zu
halten.
Ich gebe zu, ich hätte mir noch eine weitergehende
Förderung gewünscht, aber wir sind ja erst am Anfang
dieses Gesetzgebungsverfahrens, und ich habe die Hoff-
nung, dass im Rahmen der anstehenden parlamentari-
schen Beratungen eine intensive Prüfung der einzelnen
Modalitäten erfolgt und an der einen oder anderen Stell-
schraube gedreht wird, auch um die Umsetzung der För-
derung für die NE-Bahnen praktikabler zu machen.
Jetzt möchte ich die Opposition dazu auffordern, die-
sem Gesetzentwurf zuzustimmen, damit die NE-Bahnen
ertüchtigt werden und in das Gesamtnetz des Schienen-
güterverkehrs integriert werden können.
Martin Burkert (SPD): Ungewöhnlich aber wahr: An
erster Stelle hätte ich ein Lob an die Bundesregierung
und den eingebrachten Gesetzentwurf zur „Bundesförde-
rung der Investitionen in den Ersatz der Schienenwege
der öffentlichen nicht bundeseigenen Eisenbahnen im
Schienengüterfernverkehrsnetz“ ausgesprochen, wenn die
25 Millionen Euro nicht an anderer Stelle der Schiene
entzogen worden wären.
Ein Lob habe ich aber für die Erkenntnis, dass die
Schiene das umweltfreundlichste Verkehrsmittel ist und
nun auch eine erste, kleine Anerkennung im Handeln der
aktuellen Bundesregierung gefunden hat. Gerade der
Schienengüterverkehr ist gelebte Elektromobilität –
heute schon. Deswegen sind die bereitgestellten 25 Mil-
lionen Euro für die Förderung von nicht bundeseigenen
Eisenbahnen für den Schienengüterfernverkehr ein rich-
tiger und wichtiger Ansatz. Mit den im Gesetzentwurf
festgeschriebenen Verpflichtungsermächtigungen für die
Jahre ab 2014 wird auch für eine Kontinuität in der För-
derung gesorgt. Das ist ein wichtiger Schritt, um den
Schienengüterverkehr zu stärken.
Die Bundesregierung trägt mit der Mittelbereitstel-
lung für nicht bundeseigene Infrastrukturen im Bundes-
haushalt auch ansatzweise der Tatsache Rechnung, dass
sowohl der Personenverkehr als auch der Güterverkehr
in den nächsten Jahren massiv steigen wird. Verkehrs-
wissenschaftler gehen davon aus, dass beim Schienengü-
terverkehr mit einer Steigerung der Verkehrsleistung von
65 Prozent zu rechnen ist.
Gerade der Containerumschlag an den deutschen See-
häfen wird massive Steigerungsraten zu verzeichnen
haben. Denken Sie nur an den weltweit größten See-
hafenbahnhof Hamburg oder an den JadeWeserPort Wil-
helmshaven. Wenn die neue Containerschiffsklasse mit
rund 18 000 Containern Fracht die Häfen anlaufen, ist
eines klar: In Deutschland brauchen wir für den Abtrans-
port von Gütern aus den Häfen eine gut funktionierende
und für die Zukunft gerüstete Schieneninfrastruktur.
Dazu gehören auch die Strecken, die von nicht bun-
deseigenen Eisenbahnunternehmen betrieben werden.
Diese bewirtschaften inzwischen mehr als 10 Prozent al-
ler deutschen Schienenwege, was einer Streckenlänge
von rund 4 000 Kilometern entspricht. Circa 65 Prozent
dieser Strecken werden ausschließlich vom Güterverkehr
genutzt. Wie man sehen kann, ist dies kein unbedeuten-
der Teil für den Schienengüterverkehr. Im Gesetzent-
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wurf selbst wird angeführt, dass rund 200 Unternehmen
als mögliche Zuwendungsempfänger in Betracht gezo-
gen werden können. Dies verdeutlicht nicht nur, dass in
Deutschland der Wettbewerb auf der Schiene funktio-
niert, sondern auch, dass von dem Gesetzentwurf zur
Förderung der Schienenwege der öffentlichen nicht bun-
deseigenen Eisenbahnen für den Schienengüterfernver-
kehr ein breites Spektrum an Unternehmen profitieren
kann; denn eines muss uns bewusst sein: Eisenbahnin-
frastrukturunternehmen leisten einen wesentlichen Bei-
trag zum Funktionieren ganzer Wirtschaftsräume.
Ich möchte dies konkret an einem Beispiel verdeut-
lichen. In Oberfranken gibt es eine Firma, die Walzdraht
herstellt. Dieser wird über den Streckenabschnitt Strul-
lendorf–Schlüsselfeld dem Netz der Deutschen Bahn AG,
DB AG, zugeführt. Der besagte Streckenabschnitt ist seit
2007 von der DB-AG-Tochter DB NETZ an einen priva-
ten Infrastrukturbetreiber verpachtet. Der Zustand der
circa 32 Kilometer langen Strecke ist jedoch sehr be-
denklich. Nicht zuletzt zeigt sich dies darin, dass die
Strecke seit Monaten gesperrt ist und der komplette Gü-
terverkehr von der umweltfreundlichen Schiene auf die
Straße verlagert wurde. Es fehlte an der finanziellen Un-
terstützung, um die nötige Instandhaltung zu gewährleis-
ten. Bereits seit dem Jahr 2010 habe ich versucht, durch
Gespräche mit allen Beteiligten, sei es mit der betroffe-
nen Firma, dem Landkreis, dem Freistaat Bayern oder
dem Bund, namentlich dem Bundesverkehrsministe-
rium, eine Lösung dieser Problematik herbeizuführen.
Nun bin ich persönlich froh, dass mit dem vorliegen-
den Gesetz ein Baukostenzuschuss in Höhe von 50 Pro-
zent gewährleistet werden kann. Jedoch halte ich die in
§ 1 Abs. 4 angeführten Kriterien in der Gesamtheit noch
für diskutierenswert. Die Regelgeschwindigkeit von
40 Stundenkilometern schließt von vornherein viele
nicht bundeseigenen Infrastrukturbetreiber aus. So fallen
zum Beispiel Häfen und Rangierbahnhöfe weg. Gerade
diese Abschnitte von Güterverkehrsketten sind extrem
wichtig, und die Instandhaltung dieser Infrastrukturen ist
essenziell.
Auch die durchgängig zulässige Radsatzlast von
22,5 Tonnen, Streckenklasse D 4, schließt viele Strecken
aus. Vielmehr sollte dies als Zielvorgabe gelten. Gerade
für regionale Wirtschaftszentren ist das ein verheerendes
Zeichen und gegen das Prinzip „mehr Güter auf die
Schiene“, das auch immer wieder von der Bundesregie-
rung angeführt wird. Das Kriterium: „auf denen in den
letzten drei Jahren vor Antragstellung Schienengüter-
fernverkehr stattgefunden hat“ ist kritisch zu bewerten.
Dadurch werden neu gegründete Eisenbahnverkehrs-
unternehmen benachteiligt, und der Anreiz, Güter auf
die Schiene zu verlagern, wird klar unterbunden.
Welche Bedeutung die in § 1 Abs. 3 angeführte Defi-
nition von Schienengüterfernverkehr hat, wird sich noch
zeigen müssen. Zu überlegen ist grundsätzlich, ob eine
solche Klassifizierung überhaupt sinnhaft ist.
Ich begrüße es sehr, dass in dem uns vorliegenden
Gesetzentwurf nach der Verbandsanhörung und Stel-
lungnahme des Bundesrates aus dem ursprünglichen
Gesetzentwurf das Förderkriterium über das unbelastete
Eigentum der nicht bundeseigenen Eisenbahnen wegge-
fallen ist.
Mit dem Eisenbahn-Bundesamt wurde auch die rich-
tige Behörde zur Prüfung der Förderfähigkeit von
Schienenwegen der öffentlichen nicht bundeseigenen Ei-
senbahnen für den Schienengüterfernverkehr gewählt.
Jedoch muss eines deutlich werden: Nur wenn das Ei-
senbahn-Bundesamt mehr Personal bekommt, kann es
seine vom Gesetzgeber definierten Aufgaben umfäng-
lich leisten. Aus diesem Grund appelliere ich an die
Bundesregierung, das Eisenbahn-Bundesamt mit genü-
gend Personal auszustatten, damit alle Aufgaben durch
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geleistet werden
können.
Nicht zuletzt wird mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf der Tatsache Rechnung getragen, dass die DB AG
bis heute Eigentümerin eines Großteils der nicht bundes-
eigenen Güterverkehrsstrecken ist und damit der Bund
seiner grundsätzlichen Verantwortung zur Gewährleis-
tung des Eisenbahnnetzes nachkommt.
Die SPD Bundestagsfraktion bewertet das Gesetz als
einen positiven Ansatz, jedoch wollen wir im weiteren
parlamentarischen Verfahren Nachbesserungen errei-
chen.
Werner Simmling (FDP): Ein weiteres verkehrspo-
litisches Projekt dieser Koalition ist auf den Weg ge-
bracht: Der Verkehrsträger Schiene wird weiter gestärkt;
denn mit diesem Gesetzentwurf wird endlich der rechtli-
che Rahmen geschaffen, um die Finanzierung für den
Erhalt von nicht bundeseigener öffentlicher Eisenbahn-
infrastruktur zu ermöglichen.
Die Einbindung einer sicheren und nutzungsfähigen
Schieneninfrastruktur der nicht bundeseigenen Güter-
bahnen in das gesamte Schienengüterverkehrsnetz ist
unser Ziel. Hiermit wird ein zusätzlicher infrastrukturel-
ler Baustein gelegt, um den bedeutsamen volkswirt-
schaftlichen und ökologischen Schienengüterverkehr zu
stärken; denn es ist in manchen Fällen sinnvoller, ein
Teilstück privater Schienenstrecken zu ertüchtigen, um
einen positiven Effekt im Gesamtnetz zu bewirken, als
mit sehr viel mehr Aufwand zusätzliche Bundesschie-
nenwege zu schaffen. Es geht dabei vor allem um Ergän-
zung und Lückenschlüsse im Gesamtnetz.
Dieses Gesetz berücksichtigt die technischen Erfor-
dernisse an ein modernes, belastbares Schienengüterver-
kehrsnetz ebenso wie es die Besonderheiten der nicht
bundeseigenen Eisenbahnen für den Schienengüterver-
kehr in Deutschland beachtet. So wird klar definiert,
dass förderungswürdige Schienenwege den Belastungen
des Güterverkehrs mit einer Radlast von 22,5 Tonnen
und einem Fahrzeuggewicht je Längeneinheit von
8 Tonnen pro Meter standhalten müssen. Schienenstre-
cken, die mit einer zugelassenen Streckengeschwindig-
keit von mindestens 40 Kilometern pro Stunde befahren
werden können, sind ebenso förderungswürdig. Hiermit
wird der Tatsache Rechnung getragen, dass bestimmte
Strecken von nicht bundeseigenen Eisenbahnen auf-
grund der vorhandenen Leit- und Sicherungstechnik
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oder aufgrund der bestehenden Trassierungsparameter
nur mit geringer Geschwindigkeit befahren werden kön-
nen.
Das Gesetz regelt, dass die zur Verfügung gestellten
Mittel für das Streckennetz der nicht bundeseigenen Gü-
terbahnen zweckgebunden verwendet werden sollen.
Außerdem ist vorgegeben, dass Bahnstrecken auch von
anderen Schienenverkehren genutzt werden. Der Gesetz-
entwurf soll damit letztlich auch den Wettbewerb auf der
Schiene stärken.
Die im Rahmen dieses Gesetzes zur Verfügung ste-
henden Bundesmittel leisten somit insgesamt einen Bei-
trag zum Erhalt und zur Erneuerung des gesamten Schie-
nenverkehrsnetzes. Der Verkehrsträger Schiene wird
damit weiter in seiner Bedeutung für eine deutschland-
weite leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur gestärkt.
Wir Liberale unterstützen insgesamt diesen Gesetz-
entwurf; denn er stärkt die infrastrukturellen Rahmenbe-
dingungen für den Wettbewerb im Schienengüterverkehr
ohne die Erfordernisse an ein sicheres und modernes
Schienennetz zu vernachlässigen. Wir freuen uns auf die
hoffentlich konstruktiven Beratungen in den Ausschüs-
sen.
Sabine Leidig (DIE LINKE): Es gibt in Deutschland
nicht nur 33 505 Kilometer Bahnnetz der DB AG, son-
dern es gibt auch viele kleinere Bahnen, die zusammen-
genommen so klein nicht sind: Mit immerhin 4 300 Ki-
lometern machen sie gut 11 Prozent des gesamten
Netzes aus. Die Verkehrsleistung, die diese Bahnen er-
bringen, hat in den letzten Jahren erfreulicherweise stark
zugenommen.
Anders als die DB AG erhalten diese Bahnen jedoch
bislang kein Geld aus Bundesmitteln für Investitionen in
ihre Strecken, obwohl viele von ihnen eine wichtige
Rolle insbesondere für den Schienengüterverkehr spie-
len. Wir alle wissen: Es muss mehr Verkehr von der
Straße und aus der Luft auf die Schiene verlagert wer-
den, und dafür muss unser Bahnnetz an vielen Stellen
ausgebaut werden. Gerade die nicht bundeseigenen Bah-
nen könnten wichtige zusätzliche Trassen bieten. Daher
ist es aus Sicht der Bundestagsfraktion Die Linke über-
fällig, diesen Bahnen ebenfalls Mittel für Ersatzinvestiti-
onen in ihre Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.
Diese Gelder können dabei helfen, Bahnkapazität auszu-
bauen und damit mehr Güter- und teilweise auch mehr
Personenverkehr abzuwickeln.
Dies kann aus unserer Sicht aber nur ein kleiner
Schritt beim Ausbau der Bahn für einen zukünftig wach-
senden Bahnverkehr sein: An vielen Stellen im deut-
schen Bahnnetz gibt es schon jetzt erhebliche Engpässe.
Diese führen dazu, dass die Verlagerung von Verkehr auf
die Schiene überhaupt nicht in dem Maße möglich ist,
wie wir uns dies wünschen würden. Zu diesen Kapazi-
tätsengpässen haben beispielsweise Streckenstilllegun-
gen und der Abbau von Überholgleisen beigetragen, die
ganz besonders in Hinblick auf den geplanten Bahn-Bör-
sengang vorangetrieben worden sind. Seit der Bahnre-
form 1994 sind fast 7 000 km Bahnstrecken stillgelegt
worden, und dies, obwohl wir alle wissen, dass wir die
Bahn für einen nachhaltigen Verkehr der Zukunft ver-
stärkt brauchen. Hier müssen also viele Fehler aus der
Vergangenheit wieder gutgemacht werden.
Oft sind es eher kleine Maßnahmen wie ein zusätzli-
ches Überholgleis oder ein neues Stellwerk, die im
Bahnbetrieb tatsächlich einen großen Nutzen entfalten
könnten, die aber nur schleppend umgesetzt werden.
Oder es könnten stillgelegte Strecken mit einem vertret-
baren Aufwand reaktiviert werden, und Unternehmen
könnten ihre Gleisanschlüsse zurückerhalten, die die DB
AG ihnen in den letzten Jahren gekappt hat. Stattdessen
werden aber immer wieder milliardenteure Neubaustre-
cken geplant und gebaut, die oft einen sehr zweifelhaften
Nutzen haben. Ich erinnere nur an die Neubaustrecke
Wendlingen-Ulm oder die Neubaustrecke durch den
Thüringer Wald. Diese Schnellstrecken dienen nur ei-
nem kleinen Teil der Reisenden und sind für den Güter-
verkehr meist sogar komplett nutzlos, auch wenn in den
Nutzen-Kosten-Berechnungen immer wieder angenom-
men wird, dass diese Strecken auch vom Güterverkehr
genutzt würden, was dann jedoch nicht geschieht. An-
dere, viel wichtigere Ausbauprojekte wie die Rhein-
schiene kommen stattdessen nur langsam voran, obwohl
sie tatsächlich die Netzkapazitäten an entscheidenden
Punkten erhöhen und nicht zuletzt auch Entlastungen für
die Anwohnerinnen und Anwohner schaffen würden.
Außerdem muss auch der Rückzug der Bahn aus dem
Güterverkehr auf kurzen und mittleren Entfernungen
– unter 300 Kilometer – und aus dem Einzelwagenver-
kehr rückgängig gemacht werden. Mit der Fokussierung
der DB AG auf Ganzzüge über große Entfernungen
überlässt die Bahn ganze Transportsegmente dem Stra-
ßengüterverkehr. Stattdessen muss das Gegenteil passie-
ren: Die Bahn muss auch auf kurzen Entfernungen und
für kleinere Einheiten wieder ein attraktives Angebot
bieten, nur so kann deutlich mehr Verkehr auf die Bahn
kommen.
In diesem Sinne sollten wir mehr Geld in die Schie-
neninfrastruktur investieren, sowohl in die NE-Bahnen
als auch in das bundeseigene Netz. Diese Investitionen
müssen aber sinnvoll sein und sich nicht nur an der Ma-
xime „schneller, höher, weiter“ orientieren. Außerdem
muss der Lärmschutz für die Anwohnerinnen und An-
wohner dabei eine zentrale Rolle spielen. Wenn wir un-
seren Verkehr klima- und sozialverträglich umgestalten
wollen, dann brauchen wir mehr Bahn und weniger
Straße und ganz besonders weniger Flugverkehr. Dafür
müssen wir jetzt die richtigen Investitionsentscheidun-
gen treffen, und die stärkere Förderung der NE-Bahnen
ist dazu immerhin ein erster Schritt, dem weitere folgen
sollten.
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Mit dem neuen Gesetz erkennt die Bundesregierung die
sich wandelnden Verhältnisse im Schienengüterverkehr
endlich an: In den letzten 15 Jahren haben sich die Wett-
bewerber der Deutschen Bahn ein Viertel des Marktes
erobert. Sie haben die Krise von 2009 deutlich besser ge-
meistert als der frühere Monopolist, und sie sorgen mit
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dem Wettbewerb für bessere Angebote. Auch mit den
nicht bundeseigenen Bahnen sind Akteure vorhanden,
die ganz wesentlich zur Verlagerung des Güterverkehrs
von der Straße auf die Schiene beitragen. Deswegen ist
es konsequent, diese wichtigen Akteure des Gütertrans-
ports beim Bau und Erhalt ihrer Infrastruktur zu unter-
stützen. Auch die nicht bundeseigenen Bahnen können
mit einem Ausbau ihrer Infrastrukturen Lücken im
Schienennetz der bundeseigenen DB Netz AG schließen
und die Gesamtkapazität für den Gütertransport auf der
Schiene in Deutschland wesentlich steigern. Wir Grüne
begrüßen deswegen grundsätzlich dieses Gesetz. Die
Bundesregierung erfüllt damit eine langjährige Forde-
rung der Grünen, auch wenn die Mittel für die notwendi-
gen Maßnahmen zu gering sind. Die vorgesehenen 25
Millionen Euro müssten nach unserer Auffassung ver-
doppelt werden.
Neben der rein finanziellen Frage kommt es jedoch
vor allem darauf an, die Mittel so einzusetzen, dass sie
möglichst große Wirkung entfalten. Die Nutzung der
Gleise und Anlagen der nicht bundeseigenen Eisenbah-
nen muss sich in ein schlüssiges Gesamtkonzept einfü-
gen. Bei der Mittelvergabe muss darauf geachtet werden,
dass nicht einfach der Erste das Geld bekommt und los-
bauen darf. Wir brauchen vernünftige Kriterien, nach de-
nen die Mittel vergeben werden. Wer den größten Effekt
für das Gesamtnetz erzielen kann, soll vorrangig bauen
können.
Ich bin jedoch skeptisch, ob diese Bundesregierung
das leisten kann. Dazu werden einfach noch immer zu
viele Straßen oder Schienenstrecken mit sehr fragwürdi-
gem Nutzen bevorzugt behandelt. Mittel fließen viel zu
oft dorthin, wo der Einfluss von Lobbys oder cleveren
Bürgermeistern, Landräten und Bundestagsabgeordneten
am stärksten ist. Die laufende Debatte um einen neuen
Bundesverkehrswegeplan zeigt uns, dass hier vieles im
Argen liegt. So wie bisher kommen wir nicht weiter.
Die große Arbeit an einem zukunftsfähigen Gesamt-
verkehrsnetz liegt noch vor uns: Wir müssen endlich
umdenken und dürfen nicht mehr nur in einzelnen Maß-
nahmen denken. Wir brauchen einen vernünftigen An-
satz, wie Menschen und Güter mobil bleiben können.
Deswegen brauchen wir einen Bundesmobilitätsplan,
der unsere Investitionen in die Zukunft des Verkehrs zu-
sammen betrachtet. Es geht nicht darum, wie viele Kilo-
meter Schiene oder Straße wir haben, sondern wie sich
die unterschiedlichen Verkehrsträger gegenseitig sinn-
voll ergänzen.
Hier fügen sich auch die Mittel ein, über die wir heute
sprechen – auch wenn sie gering im Vergleich zu vielen
anderen Investitionsmaßnahmen erscheinen. Denn es
kommt nicht auf die Größe einer Maßnahme an, sondern
auf die Wirkung, die wir mit ihr insgesamt erzielen kön-
nen.
Die Vorarbeiten für einen neuen Bundesverkehrswe-
geplan machen mich eher skeptisch im Hinblick darauf,
ob es hier wirklich zum notwendigen Umschwenken
kommt. Im Gesetzentwurf ist leider nicht erkennbar,
dass die Bundesregierung einen Zusammenhang erkennt
zwischen den vielen verschiedenen Investitionen, mit
denen wir den Verkehr der Zukunft steuern wollen. Des-
wegen laufen wir Gefahr, dass die Mittel – zumindest ein
Teil – nicht die Wirkung entfalten, die möglich wäre.
Dazu brauchen wir ein Umdenken bei der Bundesregie-
rung – oder besser gleich eine neue Bundesregierung.
Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Die
Nachfrage nach Güterverkehrsleistungen in Deutschland
und Europa wächst stetig an. Um diesem Wachstum zu
begegnen, benötigen wir in Deutschland einen leistungs-
fähigen Verkehrsträger Schiene. Daher bedarf die Ver-
fügbarkeit, Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit des
Verkehrsträgers Schiene eines besonderen Augenmerks.
Um die Leistungsfähigkeit des Verkehrsträgers Schiene
im Schienengüterfernverkehr zu steigern, müssen auch
die öffentlichen nicht bundeseigenen Schienenwege ge-
stärkt und in das Schienengüterfernverkehrsnetz einge-
bunden werden.
Deswegen legen wir Ihnen heute den Entwurf eines
Gesetzes über die Bundesförderung der Investitionen in
den Ersatz der Schienenwege der öffentlichen nicht bun-
deseigenen Eisenbahnen im Schienengüterfernverkehrs-
netz vor. Mit diesem Gesetzentwurf wird die Vereinba-
rung im Koalitionsvertrag umgesetzt, die rechtlichen
Voraussetzungen für die Finanzierung nicht bundeseige-
ner Eisenbahninfrastruktur für die Einbindung in das
Schienengüterfernverkehrsnetz zu schaffen. Dieses Ge-
setz zählt sicherlich zu den wichtigen Gesetzgebungs-
vorhaben im Verkehrssektor in dieser Legislaturperiode;
wir schaffen damit eine gesetzliche Regelung über die
Förderung von Investitionen in den Ersatz der Schienen-
wege der öffentlichen nicht bundeseigenen Eisenbahnen
durch den Bund.
Bislang fördert der Bund die Schienenwege auf der
Grundlage des Bundesschienenwegeausbaugesetzes.
Das Bundesschienenwegeausbaugesetz begrenzt die
Förderung auf die Schienenwege der bundeseigenen Ei-
senbahnen.
Mit dem Gesetzentwurf wird der Bund ermächtigt, In-
vestitionen in den Ersatz der Schienenwege der öffentli-
chen nicht bundeseigenen Eisenbahnen zu fördern, die
dem Schienengüterfernverkehr dienen. Dabei ist die
Nutzung der entsprechenden Schienenwege durch den
Personenverkehr oder durch den Schienengüternahver-
kehr nicht ausgeschlossen.
Bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs ließ sich die
Bundesregierung von der Erkenntnis leiten, auf den An-
stieg der weiter anwachsenden Nachfrage nach Güter-
fernverkehrsleistungen in Deutschland und Europa um-
weltgerecht reagieren zu müssen, die öffentlichen nicht
bundeseigenen Schienenwege zu stärken und sie lang-
fristig für den Schienengüterfernverkehr zu sichern. Da-
bei stand der Netzgedanke Pate. Die Verkehrsnutzen der
Schieneninfrastruktur der Eisenbahnen des Bundes und
der nicht bundeseigenen Eisenbahnen lassen sich damit
insgesamt steigern.
Der Netzgedanke setzt voraus, dass die Schienenwege
der nicht bundeseigenen Eisenbahnen, die zur Förderung
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anstehen, bestimmte Leistungsparameter aufweisen.
Orientiert hat sich die Bundesregierung dabei sowohl an
den Leistungsparametern, die die Schienenwege der
bundeseigenen Eisenbahnen im Kernschienenwegenetz
erfüllen, als auch an den Leistungsparametern der im
Zulauf zu den Hauptkorridoren für den Schienengüter-
fernverkehr genutzten Schienenwege.
Dort, wo die vorhandenen Schienenwege der öffentli-
chen nicht bundeseigenen Eisenbahnen sinnvoll und
dauerhaft das bestehende Netz der Eisenbahninfrastruk-
turunternehmen des Bundes durch die Sicherstellung
von Redundanzen ergänzen, die Beförderung über den
gesamten Transportweg sicherstellen und dabei helfen,
den Standardschienengüterfernverkehr in Deutschland
zu verbessern, ergeben sich für den Bund auch Einspar-
potenziale.
Vorschläge der Länder zu dem Gesetzentwurf haben
wir weitestgehend übernommen. So legen wir heute ei-
nen Gesetzentwurf zur Förderung von Investitionen in
die öffentlichen nicht bundeseigenen Schienenwege vor,
der ein wesentlicher Beitrag der Bundesregierung ist, die
Verlagerung von Güterfernverkehrsleistungen von der
Straße auf die Schiene zu ermöglichen.
Der Gesetzentwurf sieht vor, bei der Förderung auf
das bewährte Zuwendungsrecht des Bundes zurückzu-
greifen. Das heißt, die Eisenbahnunternehmen sind ge-
halten, Anträge zu stellen, um Zuwendungen des Bundes
zu erlangen. Das Eisenbahn-Bundesamt als Bewilli-
gungsbehörde prüft die Anträge und erstellt die Zuwen-
dungsbescheide.
Die Bundesregierung hat sich bemüht, das Gesetz so
einfach wie möglich zu gestalten. Auf diese Weise sind
eine Förderrichtlinie oder eine Verordnung entbehrlich.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dem Zuwendungsemp-
fänger nicht rückzahlbare Baukostenzuschüsse zu ge-
währen. Um das Eigeninteresse der Zuwendungsemp-
fänger zu stärken, finanziert der Bund anteilig 50
Prozent der jeweiligen per Zuwendungsbescheid geneh-
migten Investitionssumme. Auch für die zuwendungsfä-
higen Planungskosten ist die Anteilsförderung in Höhe
von 50 Prozent vorgesehen, soweit die gesamten Pla-
nungskosten 13 Prozent der Gesamtinvestitionssumme
nicht übersteigen.
Mit dem Gesetzentwurf beschreitet die Bundesregie-
rung ein neues Fördergebiet, das bislang in erster Linie
den Ländern und den Kommunen vorbehalten ist.
Die für den Bund vollständig neue Aufgabe muss er
mit zusätzlichem Personal bewältigen. Vorgesehen ist
daher, das notwendige zusätzliche Personal über Gebüh-
renerhebung zu finanzieren. Auch hier lässt sich die
Bundesregierung von dem Ziel leiten, effiziente Struktu-
ren zu schaffen und nur dort die freiwillige Förderung
des Bundes einzusetzen, wo Eigeninitiative und der
Wille zum eigenen Mitteleinsatz vorhanden sind.
Ich glaube, wir haben heute einen guten Entwurf vor-
gelegt, und ich freue mich auf zügige parlamentarische
Beratungen.
Anlage 19
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Unterrichtung: Neunzehntes
Hauptgutachten der Monopolkommission 2010/
2011 (Zusatztagesordnungspunkt 6)
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Genau heute vor
sechs Monaten, also vor einem halben Jahr, am 18. Ok-
tober 2012, stand ich an dieser Stelle, um anlässlich der
dritten Lesung der 8. GWB-Novelle die Vorzüge der
neuen GWB-Novelle vorzustellen.
Wie Sie wissen, sind diese Maßnahmen bis heute
nicht in Kraft getreten, weil sich der Vermittlungsaus-
schuss auf Betreiben von SPD und Grünen auf einem
Nebenkriegsschauplatz, nämlich bei der Frage der An-
wendbarkeit des GWB auf die Krankenkassen, nicht mit
uns einigen will. Die Formulierung „Nebenkriegsschau-
platz“ ist bewusst gewählt.
Nebenkriegsschauplatz, weil der Gesetzentwurf der
Bundesregierung bereits im parlamentarischen Verfah-
ren deutlich nachgebessert wurde. Dies, um der Tatsache
Rechnung zu tragen: Krankenkassen sind keine auf Ge-
winn und Aktionärsdividende zielenden, privatwirt-
schaftlichen Unternehmen, sondern haben zum Auftrag,
eine qualitativ hochwertige, bezahlbare und patienten-
orientierte Gesundheitsversorgung flächendeckend zu
garantieren. Dafür sind die gesetzlichen Krankenkassen
auf Kooperationen untereinander angewiesen, auch um
Kosten zu sparen und Doppelstrukturen zu vermeiden.
Dies würden die strengen grundsätzlichen Regeln des
GWB so nicht zulassen. In dem vom Bundestag verab-
schiedeten Gesetz hatten wir deshalb auf Betreiben der
CSU klargestellt, dass die Kartellbehörden bei der An-
wendung der Vorschriften des GWB den im SGB V ver-
ankerten, besonderen Versorgungsauftrag der Kassen
zwingend berücksichtigen müssen. Den gesetzlichen
Krankenkassen ist die Möglichkeit zur Zusammenarbeit
nach der hier gefundenen Formulierung ausdrücklich
eingeräumt.
Seit heute ist das Wort „Nebenkriegsschauplatz“ aber
noch mehr gerechtfertigt, weil wir uns ganz aktuell bei
einer Sitzung der informellen Arbeitsgruppe des Ver-
mittlungsausschusses bereit erklärt haben, auf Kartell-
verbote und Missbrauchsaufsicht bei Krankenkassen zu
verzichten und lediglich Fusionen der Kontrolle durch
das Kartellamt zu unterwerfen.
Als CSU-Abgeordneter räume ich noch einmal klar
ein, dass auch ich Bedenken hinsichtlich der Anwen-
dung von Kartellrecht auf Krankenkassen habe. Ich bin
aber der festen Überzeugung, dass nach dem extrem
weitgehenden Entgegenkommen der Koalition jetzt eine
Formulierung gefunden werden muss, die allen Interes-
sen Rechnung trägt. Wir dürfen das Gesetz nicht an Prin-
zipienreiterei scheitern lassen. Dann tun sich nämlich
ganz andere Hauptkriegsschauplätze auf:
Nur ein paar Beispiele:
Das bis zum 31. Dezember 2012 befristete Verbot des,
auch nur gelegentlichen, Verkaufs von Lebensmitteln un-
ter Einstandspreis in § 20 Abs. 4 Satz 2 Nummer 1 GWB
29464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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ist derzeit aufgehoben. Dieses Verbot des Verkaufs unter
Einstandspreis, also der Verkauf mit einkalkuliertem
Verlust, stellt sicher, dass ein Verramschen der Waren
verhindert wird und kleinere und mittlere Einzelhändler
nicht durch marktstarke Händler schutzlos verdrängt
werden.
In dem Zusammenhang bin ich übrigens im Gegen-
satz zur Monopolkommission genau wie die Bundesre-
gierung der Auffassung, dass aus der geringen Zahl von
eingeleiteten Unter-Einstandspreis-Verfahren nicht ge-
schlossen werden kann, dass die Norm in der Praxis
keine Bedeutung habe. Vielmehr hat die Regelung eine
starke präventive Vorfeldwirkung und schreckt poten-
ziell in Versuchung kommende Unternehmen von vorne-
herein davon ab.
Auch die bis zum 31. Dezember 2012 befristete Aus-
weitung des Schutzbereichs des § 20 Abs. 3 GWB, Ver-
bot des Gewährens von Vorteilen, greift wegen des
Streits im Vermittlungsausschuss derzeit nicht. Nach der
beschlossenen Novelle soll diese Regelung entfristet
werden.
Die Schlussfolgerung der Monopolkommission, „dass
zwar die Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel zu-
genommen hat, ein spürbares Nachlassen der Wettbe-
werbsintensität auf der Handelsstufe aber nicht festzu-
stellen ist“, scheint mir mindestens diskussionswürdig.
Um hier eine bessere Balance zwischen Handel und
Hersteller zu schaffen, haben wir das sogenannte An-
zapfverbot in der 8. GWB-Novelle auch auf große Her-
stellerunternehmen ausgeweitet.
Mit „Anzapfen“ gemeint ist ein Verhalten, bei dem
ein marktstarker Händler seine Marktmacht ausnutzt, um
von seinen Lieferanten Leistungen zu fordern, die sach-
lich nicht gerechtfertigt sind, also beispielsweise unge-
wöhnliche Boni. Selbstverständlich kann auch ein „gro-
ßer“ Hersteller vom Handel „angezapft“ werden, nicht
nur kleine und mittlere. Deswegen soll dieses für die
Nachfrageseite geltende Anzapfverbot nun auch gegen-
über den großen Herstellerfirmen gelten.
Ebenfalls nicht in Kraft: das Verbot der Preis-Kosten-
Schere im Mineralölbereich. Mit der 8. GWB-Novelle
wollen wir das Verbot von Preis-Kosten-Scheren in dem
§ 20 Abs. 4 Satz 2 Nummer 3 GWB in Dauerrecht über-
führen. Auch diese Regelung war bis Ende 2012 befris-
tet. Damit wollen wir sicherstellen, dass große Mineral-
ölkonzerne mit eigenen Raffinerien den Sprit nicht den
eigenen Tankstellen zu einem niedrigeren Preis verkau-
fen als an die anderen Tankstellen.
Die mittelständische Mineralölindustrie und die frei-
en Tankstellen sind schon sehr beunruhigt über die Blo-
ckade der GWB-Novelle im Vermittlungsausschuss.
Wie mir von dort berichtet wird, seien im März 2013
„im Zuge erheblicher Preiskämpfe im Kraftstoffmarkt
vermehrt Preis-Kosten-Scheren feststellbar gewesen“.
Und dem Kartellamt sind die Hände gebunden, weil ihm
schlicht die Rechtsgrundlage fehlt. Ein unhaltbarer Zu-
stand!
Auch bei einer Reihe von Missbrauchsfällen in der
Energiebranche nach § 29 GWB darf das Kartellamt der-
zeit nicht einschreiten und muss einen Missbrauch se-
henden Auges geschehen lassen, sofern vorliegend.
Diese Möglichkeit einer spezifischen Missbrauchs-
aufsicht war auch Ende 2012 ausgelaufen. Auch sie wol-
len wir ebenfalls bis 2017 verlängern.
So beklagte der Präsident des Bundeskartellamts in
der FAZ vom 19. Februar 2013: „Wir können sämtliche
Verfahren der Missbrauchsaufsicht über Heizstrom oder
Wärmepumpen nicht mehr auf den Paragrafen 29 stüt-
zen, weil es ihn nicht mehr gibt. Dabei wäre er außeror-
dentlich hilfreich für unsere Arbeit.“
Mit der Novelle wollen wir außerdem sicherstellen,
dass die bestehenden Bußgeldvorschriften auch nach
Umstrukturierungen, zum Beispiel Fusionen, Ver-
schmelzungen, eines Unternehmens nicht ins Leere lau-
fen. In der Praxis liegt nämlich zwischen Kartellverstoß
und Bußgeldverhängung oft ein erheblicher Zeitraum.
Finden in dieser Zeit Umstrukturierungen in dem Unter-
nehmen statt, das gegen das Kartellrecht verstoßen hat,
zum Beispiel die Aufspaltung in Tochterunternehmen,
stellt sich in der Praxis oft die Frage, unter welchen Vo-
raussetzungen die entstandene Haftung auf das neu orga-
nisierte Unternehmen übergeht.
Um das zu vermeiden, wird das Ordnungswidrigkei-
tengesetz, OWiG, im Rahmen der GWB-Novelle ent-
sprechend angepasst. Wenn das jetzt nicht kommt, gehen
dem deutschen Fiskus und damit den Steuerzahlern Mil-
lionenbußen durch die Lappen. Das kann doch nicht An-
liegen von SPD, Grünen und Linken sein! Ausgerechnet
von Ihnen!
Vor dem Hintergrund rückläufiger Auflagenzahlen er-
weitern wir mit dieser GWB-Novelle den Handlungs-
spielraum kleiner und mittlerer Presseunternehmen. Da-
mit soll den Presseverlagen einerseits der wirtschaftlich
notwendige Strukturwandel erleichtert werden, zum an-
deren der Erhalt einer vielfältigen und lebendigen Pres-
selandschaft in Deutschland gewährleistet werden. Dazu
erhöhen wir die pressespezifischen Aufgreifschwellen
so, dass Fusionen von kleinen und sanierungsbedürfti-
gen Verlagshäusern leichter werden.
Die für den Bereich der Presse im GWB nun neu ge-
schaffenen Instrumente der Bagatellmarktklausel, der
Bagatellanschlussklausel und die Möglichkeit einer Sa-
nierungsfusion, mit der wir nachweislich dauerhaft in ro-
ten Zahlen steckende Verlage durch Fusionen retten wol-
len, bevor sie ganz vom Markt verschwinden, sind gute
und richtige gesetzgeberische Schritte, die Pressevielfalt
vor dem Hintergrund rückläufiger Auflagenzahlen zu er-
halten.
Damit helfen wir Zeitungs- und Zeitschriftenverla-
gen, den Herausforderungen der fortschreitenden Digita-
lisierung mit ihren für die Verlagshäuser elementaren
wirtschaftlichen Auswirkungen gestärkt entgegenzutre-
ten. Auch diese Chance vereiteln die A-Länder mit ihrer
Unbeweglichkeit im Bundesrat.
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Nämliches gilt für den Erhalt des Presse-Grosso-Sys-
tems und damit für die Sicherung der Pressevielfalt in
Deutschland. Um das bewährte System des Presse-
Grosso in Deutschland zu erhalten und für die Zukunft
fitzumachen, verankern wir das Presse-Grosso-System
– bislang ein aus wohlüberlegten Gründen geduldetes
Kartell – erstmalig im GWB. Damit garantieren wir wei-
terhin die Überallverfügbarkeit von allen Zeitungen und
Zeitschriften in Deutschland – auch im ländlichen Raum –
und sichern die Presse- und Verlagsvielfalt in Deutsch-
land durch einen ungehinderten Marktzutritt aller, auch
der kleinen Verlage.
Der geplante Ausstieg eines großen Verlags aus die-
sem System und der daraus resultierende Rechtsstreit
hätten in der Folge dazu geführt, dass es in Deutschland
zu einer Marktkonzentration der Großen gekommen
wäre und dass die flächendeckende Auslage aller Pres-
seerzeugnisse nicht garantiert wäre.
Da die monatelangen Verhandlungen, Gespräche,
Runden Tische und sonstigen Versuche der Bundestags-
fraktionen, den Konflikt im Rahmen freiwilliger Verein-
barungen zu lösen, bis zum Schluss zu keiner Lösung
geführt haben, muss nun der Gesetzgeber einen Rahmen
zur Sicherung der Medienlandschaften in der uns be-
kannten Form setzen – manchmal lässt sich nur durch
Wettbewerb eben nicht alles regeln.
Deswegen wird der Bundesgesetzgeber nun in § 30
GWB in einem neuen Absatz 2 a klarstellen, dass so-
wohl die Presse-Grossisten als auch die Presse-Verlage
gemäß Art. 106 Abs. 2 AEUV mit „Dienstleistungen von
allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“ betraut sind.
Damit können ab sofort sowohl die die Presseverlage
vertretenden Verbände (vor allem der Bundesverband
der Deutschen Zeitungsverleger und Verband Deutscher
Zeitschriftenverleger) auf der einen Seite als auch der
die einzelnen Grossisten vertretende Bundesverband
Presse-Grosso auf der anderen Seite auf Augenhöhe für
ihre Mitgliedsunternehmen Verhandlungen führen und
Branchenvereinbarungen treffen, zum Beispiel über
Handelsspannen, Vergütungen oder Vertriebsgebiete.
Dabei sind sie von den strengen Regelungen des Kar-
tellrechts befreit, um ihrem grundgesetzlich intendierten
Auftrag nachkommen zu können.
All das ist nun gefährdet durch Kleinkrämerei von
SPD und Grünen: Sie gefährden damit den Erhalt der
Pressevielfalt, den Zugang kleinerer Titel und auch klei-
nerer Verlage zu den Lesern an den Kiosken und die flä-
chendeckende Versorgung mit aktuellen Presseproduk-
ten in ganz Deutschland.
Klar ist auch: Dass die SPD-Bundestagsfraktion jetzt
Hand in Hand mit Hamburg gesonderte Gesetzentwürfe
vorgelegt hat, die die oben beschriebenen Regelungen
zur Pressefusionskontrolle und zum Presse-Grosso-Sys-
tem aus dem Gesetzespaket herauslösen, ist ein durch-
sichtiges parteitaktisches Manöver, zeigt aber auch, dass
sie sehr genau wissen, was sie da blockieren.
Sicher wollen auch wir vonseiten der Regierungsfrak-
tionen diese Regelungen. Der SPD geht es aber nicht um
die Sache, sondern nur darum, einen Keil in die Koali-
tion zu treiben, weil sie genau weiß, dass die Union,
mindestens aber die CSU, bei der Krankenkassenthema-
tik nicht voll auf Linie der FDP liegt. Wir lassen uns aber
deswegen nicht auseinanderdividieren. Diesen Köder
schlucken wir nicht!
Die SPD hat es in der Hand, die Kuh im Vermittlungs-
ausschuss vom Eis zu kriegen. Statt Versatzstücke aus
der GWB-Novelle herauszubrechen und uns in Form
von vordergründig gut gemeinten Gesetzentwürfen als
Köder vor die Nase zu halten, sollten die Genossen lie-
ber ihrer politischen Pflicht im Bundesrat bzw. im Ver-
mittlungsausschuss nachkommen: nämlich das Geset-
zespaket passieren zu lassen. Hören Sie auf, Ihre
Verfahrensmehrheit zu instrumentalisieren! Nur sie gibt
Ihnen den Zugriff auf das Gesetz.
Bezeichnend ist ja, dass ausgerechnet die heutige Ge-
sundheitssenatorin für Gesundheit und Verbraucher-
schutz in Hamburg, Cornelia Prüfer-Storcks, zentrale
Kraft beim Widerstand im Vermittlungsausschuss, be-
sonders gegen die Passagen zu den Krankenkassen ist.
Frau Prüfer-Storcks war vorher Vorstandsmitglied der
AOK Rheinland/Hamburg. Ein Schelm, wer Böses dabei
denkt!
So möchte ich an dieser Stelle an die Bundesminister
Dr. Rösler und Bahr von der FDP und an die beteiligten
Länder appellieren, mit allen Kräften eine Lösung zu er-
wirken.
Noch einmal: Dazu liegt unser Kompromissvorschlag
vor, der vorsieht, dass das Kartellverbot und das Verbot
des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung
auf das Verhalten der Krankenkassen untereinander und
zu den Versicherten keine Anwendung finden. Das war
auch eine zentrale Forderung des Bundesrates in seinem
Anrufungsbeschluss.
Lediglich die neuen Vorschriften der Fusionskontrolle
auf Zusammenschlüsse von Krankenkassen sollen laut
dem Kompromissvorschlag abgeschwächt erhalten blei-
ben.
Dazu muss man wissen: Das Bundeskartellamt hat
freiwillige Zusammenschlüsse von gesetzlichen Kran-
kenkassen bereits in der Vergangenheit in über 30 Fäl-
len überprüft. Nun hat aber das Landessozialgericht
Hessen in seinem Urteil vom 15. September 2011 ver-
langt, dass die Kartellaufsicht über die Krankenkassen
durch die Kartellbehörde einer ausdrücklichen gesetzli-
chen Grundlage bedarf. Um nichts anderes geht es jetzt
noch: Eine gesetzliche Grundlage zu schaffen für eine
sowieso schon regelmäßig angewandte Praxis. Das muss
doch möglich sein!
Lassen Sie mich aber noch ein paar andere Punkte be-
leuchten, auf die die Monopolkommission in ihrem
19. Hauptgutachten eingeht:
Die Kommission thematisiert den am 1. Juli 2012 in
Kraft getretenen ersten Glücksspieländerungsstaatsver-
trag durch die Ministerpräsidenten aller Länder – außer
Schleswig-Holstein.
Wie Sie wissen, ist das Glücksspielwesen in Deutsch-
land überwiegend Ländersache. Ich möchte grundsätz-
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lich aber Folgendes anmerken: Die Spielsucht zu be-
kämpfen, ist ja richtig und aller Ehren wert. Aber dass
der Staat meint, alle möglichen Lebensbereiche der Bür-
ger bis ins Detail durchregulieren zu müssen, halte ich
für falsch.
Das betrifft etwa die im Glücksspielstaatsvertrag vor-
genommene Beschränkung der Anzahl der Konzessio-
nen für Anbieter von Sportwetten, aber auch das Vorha-
ben des Bundeswirtschaftsministeriums, im Rahmen der
anstehenden Novellierung der Glücksspielverordnung,
die ja auf Basis der bundesrechtlichen Gewerbeordnung
aufgebaut ist, die Anzahl der Glücksspielautomaten in
einer Gaststätte von bisher maximal drei auf nur noch ei-
nen zu reduzieren. Das beträfe eine Vielzahl von kleinen,
familiengeführten Gaststätten, die das spürbar treffen
würde, wenn entsprechende Kundschaft ausbleibt. Hier
wird das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in keiner Weise
beachtet. Die Glücksspielsucht muss eher mit Aufklä-
rung und Prävention bekämpft werden, nicht durch sol-
che kurz gedachten Vorschriften.
Wie auch die Monopolkommission bin ich der Über-
zeugung, dass mit dem am 8. November 2012 vom Bun-
destag beschlossenen Gesetz zur Einrichtung einer
Markttransparenzstelle für Strom und Gas sowie für
Kraftstoffe mehr Transparenz für die Verbraucher, aber
auch bessere Möglichkeiten für die Bundesnetzagentur
bzw. das Bundeskartellamt geschaffen werden, miss-
bräuchliche Preisbildungen nachzuverfolgen und even-
tuell zu sanktionieren.
In diesem Zusammenhang möchte ich mit Blick auf
die GWB-Novelle anmerken, dass ich – im Gegensatz
zur Monopolkommission – die in der GWB-Novelle ver-
ankerte Verlängerung der speziellen Missbrauchsauf-
sicht für die Energiemärkte um weitere fünf Jahre in § 29
GWB für richtig halte: Auch wenn die Verbraucher
heute die Möglichkeit haben, ihren Strom- oder Gasan-
bieter zu wechseln, so herrscht im Energiebereich fak-
tisch eben noch bei weitem kein „vollkommener“ Wett-
bewerb, wie wir es gerne hätten.
Ein guter Nebeneffekt der Markttransparenzstelle für
Strom und Gas ist sicherlich, dass sich die Bundesnetz-
agentur mit den ihr zugeleiteten Daten ein Gesamtbild
vom Stand der Energiewende machen kann – wertvolle
Daten, die wir sonst nicht hätten.
Die Ansiedlung der Transparenzstelle für Strom und
Gas bei der Bundesnetzagentur und die Ansiedlung der
Stelle für Kraftstoffe beim Bundeskartellamt ist sinnvoll,
zumal die Bundesnetzagentur schwerpunktmäßig mit
Fragen der Energiesicherheit befasst ist.
Eine doppelte Meldepflicht für Daten aus der Ener-
giebranche einmal an die europäische Agentur für die
Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden,
ACER, nach der REMIT-Verordnung und zum Zwei-
ten an die – nationale – Markttransparenzstelle gilt es
in der noch ausstehenden Verordnung zu vermeiden.
Für die Verbraucher sichtbarer und unmittelbar vor-
teilhaft ist die vom Deutschen Bundestag – und zwar von
den Koalitionsfraktionen – gegenüber dem Regierungs-
entwurf nachgeforderte und mittlerweile beschlossene
Markttransparenzstelle für Kraftstoffe. Eine solche
Stelle war im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bun-
desregierung gar nicht vorgesehen!
Viel sinnvoller, als der Mineralölbranche eine wö-
chentliche Meldepflicht aller Tankstellenpreise und der
Mengenzuordnung (wie viel wurde von welcher Sorte
verkauft?) aufzudrücken, was vor allem einen erhebli-
chen administrativen Aufwand bedeutet hätte, ist es, den
Autofahrern die aktuell gültigen Spritpreise in Echtzeit
zur Verfügung stellen zu lassen. Ich sage bewusst „stel-
len zu lassen“, denn wir wollen nicht etablierte Ge-
schäftsmodelle wie clever-tanken.de zerstören, sondern
Betreibern solcher Onlineportale die Daten zur Weiter-
gabe an die Tankstellenkunden zur Verfügung stellen.
Mit der am 21. März 2013 verabschiedeten Verord-
nung zur Markttransparenzstelle für Kraftstoffe haben
die Verbraucher bald also die Möglichkeit, die aktuellen
Spritpreise für Superbenzin und Diesel über ihr Smart-
phone via App oder auf dem Computer im Internet abzu-
rufen. So schaffen wir echte Vergleichsmöglichkeiten für
die Autofahrer, wirken der Preisvolatilität entgegen und
verstärken den Preisdruck auf die Konzerne.
Gleichwohl werden die Endkundenpreise auch durch
die neuen Transparenzvorschriften wohl nicht nachhaltig
gesenkt; auch eine Senkung der Mineralölsteuer würde
sicherlich seine Wirkung verfehlen, denn die markt-
mächtigen Konzerne würden diese Differenz schnell
wieder durch schrittweise Preiserhöhungen kompensie-
ren. Mit den Daten kann allerdings das Bundeskartellamt
– hoffentlich – missbräuchlicher Preisgestaltung entge-
genwirken.
Im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens hat die
Koalition erwirkt, dass auch die Monopolkommission
ein Akteneinsichtsrecht in Bezug auf die an die Stelle
gemeldeten Daten erhält, wie von der Kommission ge-
fordert; damit kann die Kommission ihrer Aufgabe nach-
kommen, die Wettbewerbsentwicklung im Energiesektor
adäquat zu beobachten und zu analysieren.
Die von der Monopolkommission in ihrem 19.
Hauptgutachten gemachte Ankündigung, „künftig die
flächendeckende Konzentrationsberichterstattung zu-
gunsten weniger umfangreicher, jedoch tiefer gehender
empirischer Analysen einzuschränken oder ganz einzu-
stellen“ und somit eine Fokussierung auf einzelne Bran-
chen oder einzelne Fragestellungen vorzunehmen, halte
ich nur für sinnvoll. Nur so ist heute bei dieser komple-
xen Struktur des deutschen Marktes eine adäquate
Marktabgrenzung möglich und sind ergebnisorientierte,
erkenntnisreiche Analysen zu gewinnen.
Die Sektoruntersuchungen des Bundeskartellamts
sind da ein gutes Beispiel. Da muss auch nicht die Linke
pseudojuristische Bedenken äußern, dass die Monopol-
kommission davon nicht abweichen dürfe, wie sie das in
dem uns heute zur Beratung ebenfalls vorliegenden Ent-
schließungsantrag tut.
Der Monopolkommission, einem fachlich hochkarä-
tig besetzten, hochanerkannten Expertengremium, die
Kompetenz auf empirischem Gebiet abzusprechen und
ihr „wiederholt vielfach falsche, nicht glaubwürdige und
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nicht nachprüfbare Ergebnisse zur Verflechtung und
Konzentration der Wirtschaft“ vorzuwerfen, ist nicht nur
eine Anmaßung, sondern eine Frechheit. Wenn es nach
den Linken ginge, hätten wir die größte Verflechtung
überhaupt, nämlich die von Staat und Wirtschaft in einer
gelenkten Planwirtschaft. Dieses Experiment ist klar ge-
scheitert und wird immer wieder scheitern!
Ingo Egloff (SPD): An die Vorliebe der Bundesregie-
rung für monatelanges Nichtstun und dann plötzlich ent-
stehende hektische Betriebsamkeit haben wir uns bei den
verschiedensten Themen in dieser Legislaturperiode ge-
wöhnen müssen. Beim Mietrecht hat es zweieinhalb
Jahre gedauert, bis wir uns im Plenum dann endlich mit
Ihrem Gesetzentwurf befassen konnten. Die GWB-
Novelle, die wir hier im Oktober dann endlich debattiert
haben, lag drei Jahre bei Ihnen auf Eis. So lange haben
Sie gebraucht, bis Sie den Minimalkonsens zwischen
Schwarz und Gelb herstellen konnten, der zur Einbrin-
gung nötig war. In unzähligen weiteren Fällen musste es
nach Monaten der Untätigkeit dann auf einmal hoppla-
hopp gehen, weil die Überschreitung von Fristen drohte.
Mal ging es um die Umsetzung von EU-Recht, mal wa-
ren es Probleme wie der Einsatz von Wachleuten auf
Handelsschiffen, die Ihnen offenbar nicht so präsent
sind, dass sie fristgerecht gelöst werden können – Weih-
nachten kommt bekanntlich auch immer wahnsinnig
überraschend.
Mit Ihrer dürren Stellungnahme zum Hauptgutachten
der Monopolkommission, das wir seit einem Dreiviertel-
jahr kennen, schießen Sie jetzt den Vogel ab. Zwanzig
Seiten füllen Sie damit, zu danken und zu begrüßen, was
immer das Gutachten behauptet. Man wird den Eindruck
nicht los, dass hier nicht die Bundesregierung Stellung
nimmt, sondern ein paar Frühstücksdirektoren müde und
kritiklos den Quartalsbericht ihrer Firma abnicken.
Sie begrüßen zum Beispiel, dass die Monopolkom-
mission etwas begrüßt, nämlich Ihre unsäglichen Bemü-
hungen, über die 8. GWB-Novelle dem Kartellamt eine
wettbewerbsrechtliche Aufsicht über die Krankenkassen
zuzuschanzen – Sozialpolitik über das Instrument des
Kartellrechts. Wie Sie wissen, liegt dieser Tinnef von der
neoliberalen Resterampe der Herren Bahr und Rösler
derzeit im Vermittlungsausschuss, weil der Bundesrat da
noch rechtzeitig einschreiten konnte.
Wo Ihnen „begrüßen“ nicht ausreichend erscheint,
„unterstützen“ Sie – in Textziffer 51 zum Beispiel die
von der Monopolkommission angekündigte „Neuaus-
richtung der Konzentrationsberichterstattung“. Das ist
eine so grobe Irreführung, dass ich hier mit aller Schärfe
dagegen protestiere. Was Sie da unterstützen, ist keine
Neuausrichtung, kein neues Konzept. Sie fordern damit
de facto die Abschaffung der nach § 44 Abs. 1 Satz 1
GWB obligatorischen gesamtwirtschaftlichen Konzen-
trationsberichterstattung.
Ich zitiere: „Nach Auffassung der Bundesregierung
hat die flächendeckende Konzentrationsberichterstattung
in ihrer bisherigen Form nur noch eine sehr geringe wett-
bewerbspolitische Relevanz und selbst sorgfältig berech-
nete Konzentrationsmaße verfügen vor dem Hintergrund
der wettbewerbspolitischen Forschung nur über eine re-
lativ geringe Aussagekraft“. Mit diesem Satz, Herr
Minister, verhöhnen Sie den Deutschen Bundestag. Sie
wissen, dass die verwendete Datenbasis für die Haupt-
gutachten drastisch reduziert wurde, und zwar so weit,
dass keine sinnvollen Aussagen über den Konzentra-
tionsgrad mehr möglich sind. Sie nehmen diese systema-
tischen Fehler klaglos hin. Sie informieren auch den
Bundestag nicht über Ihre Feststellung, dass da etwas
schiefläuft. Aber das unzureichende Ergebnis benutzen
Sie anschließend als Argument, um den Verzicht auf die
– vom Gesetzgeber unmissverständlich geforderte! –
Konzentrationsberichterstattung als verschmerzbar dar-
zustellen. Noch plumper ist da nur der Versuch, uns
weiszumachen, Sie hätten eine Alternative anzubieten:
Branchen- und themenspezifische Einzelanalysen sollen
die gesamtwirtschaftliche Betrachtung ersetzen – für wie
blöd halten Sie uns eigentlich? Die sind doch längst an
anderer Stelle Gegenstand des Gutachtens. Was ist denn
das für ein Ersatz, wenn man von zwei Dingen eins weg-
nimmt und das andere als Ausgleich anbietet?
Geradezu schwindelerregend ist Ihre Begründung,
warum man auf die Erfassung des Konzentrationsgrades
nach Sektoren verzichten könne. Zwar schreiben Sie,
dass nach § 47 Abs. 1 GWB die Statistischen Bundes-
und Landesämter verpflichtet sind, Konzentrationsraten
zu berechnen und der Monopolkommission zur Verfü-
gung zu stellen. Direkt im Anschluss heißt es dann, dies
bedeute noch lange nicht, dass solche Daten auch ver-
wendet werden müssten. Wie dann allerdings Ihre
Erwartung erfüllt werden soll – Zitat –, zusätzliche wett-
bewerbspolitische Erkenntnisse auf der Grundlage
datenbasierter Analysen zu generieren, wenn Ihnen der
Konzentrationsgrad schnuppe ist, können Sie ja im Aus-
schuss versuchen zu erklären. Mir kommt das ein biss-
chen vor wie mittelalterliche Scholastik, die die Welt so
lange umdeutet, bis sie in die Theorie passt, statt mit em-
pirischen Mitteln zu versuchen, mal durch gründliche
Beobachtung dahinterzukommen, wie es um die Ver-
flechtung der Unternehmen und Märkte in Wirklichkeit
bestellt ist.
Ich will Ihnen sagen, was da passiert: Durch diese
Politik der Bundesregierung zieht sich kein roter, noch
nicht mal ein schwarzer, nein, ein quietschgelber Faden.
Die FDP hat schon dafür gesorgt, dass Sie bei der GWB-
Novelle Ihren eigenen Koalitionsvertrag nicht einhalten
konnten: Sie erinnern sich vielleicht noch dunkel daran,
dass Sie ursprünglich mal dem Bundeskartellamt Instru-
mente zur Entflechtung marktbeherrschender Unterneh-
men an die Hand geben wollten? Wenn Sie das nicht aus
der Ruhe bringt, dann wird es Sie vielleicht auch nicht
stören, dass dieselbe FDP nun den Gedächtnisverlust auf
die nächste Stufe bringt. Uns dagegen ärgert es maßlos,
dass hier der Deutsche Bundestag für dumm verkauft
werden soll.
Nimmt man beides zusammen, müssen wir feststel-
len, dass die Bundesregierung gleichermaßen wenig In-
teresse an der Konzentrationsberichterstattung wie an
den Mechanismen zur Entflechtung beherrschender
Marktmacht hat. Wir werden in beiden Fragen nicht
nachlassen, Sie an Ihre Pflichten zu erinnern. Der gesetz-
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geberische Auftrag zur gesamtwirtschaftlichen Konzen-
trationsberichterstattung ist im GWB eindeutig formu-
liert, seine Missachtung ist zugleich eine Kampfansage
an das Parlament, das ihn formuliert hat. Um den
Auftrag zu erfüllen, muss die Monopolkommission die
Verflechtungen der Unternehmen und Märkte einer sek-
torübergreifenden, umfassenden Analyse unterziehen.
Wenn Sie wirklich – wie Sie immerhin selbst schreiben –
den politischen Handlungsbedarf ermitteln wollen, um
die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland in
der Welt betreiben zu können, dann sind Sie mit uns
einer Meinung: Die Monopolkommission muss ihre
Konzentrationsberichterstattung erstens auf geeignete
Daten stützen und zweitens aus dieser Datenbasis ein
Indikatorensystem schaffen, das Gefährdungen des
Wettbewerbs präventiv aufzeigen kann – und nicht erst
im Nachhinein, wenn zufällig eine der branchenspezifi-
schen Einzelanalysen beim Herumstochern im Daten-
salat etwas findet.
Die Monopolkommission ist ein wissenschaftlicher
Sachverständigenrat, dem ausreichend Sachverstand zu-
getraut werden sollte, die Erfordernisse einer systemati-
schen Prüfung wettbewerblich relevanter Märkte zu
erfüllen. Statt sich mit Untersuchungen von Konzentra-
tionsgraden bei Kindergärten, Grundschulen, Gewerk-
schaften und Ähnlichem auszutoben, sollte Sie aller-
dings schleunigst Ihrem eigentlichen gesetzlichen
Auftrag gerecht werden. Wir erwarten von der Bundes-
regierung, dass sie in ihrer Stellungnahme dieser Auffas-
sung Rechnung trägt.
Johanna Voß (DIE LINKE): Wir debattieren heute
über die Monopolkommission. Sie soll einen funktions-
fähigen Wettbewerb schützen und Verstöße dagegen auf-
decken, also Monopole verhindern und Tendenzen da-
hin, und unlauteren Wettbewerb frühzeitig aufdecken.
Das Gutachten liegt seit Juli 2012 vor. Eine ernst-
hafte, dringend notwendige Debatte über die Inhalte so
nah am Ende der Legislatur ist allerdings unwahrschein-
lich. Damit wird eine fundierte Diskussion zur Arbeit
der Monopolkommission zur Wettbewerbspolitik, zur
Unternehmenskonzentration und zum Wettbewerbsrecht
unmöglich. Sie wird ja auch von der Regierungskoali-
tion nicht gewünscht. Das überrascht erst mal, wo doch
die Koalitionsparteien den Begriff „Wettbewerb“ zu je-
der Gelegenheit bemühen, um ihre Politik zu begründen.
Minister Rösler gelingt das in einer 15-Minuten-Rede im
Wirtschaftsausschuss glatt dreißig Mal.
Nun wissen natürlich auch wir, dass dieser Begriff
sehr flexibel eingesetzt wird und damit alles und nichts
begründet werden kann: massive Subventionen zu ver-
teilen und staatliche Garantien zu geben – man etwa
denke an 60 Jahre massive Förderung der Atomkraft.
Keine Kritik! Bei den erneuerbaren Energien und dem
EEG im Verhältnis zur Atomförderung ein verschwin-
dend kleiner Bruchteil: Da wird keine Gelegenheit zur
Diffamierung und Behauptung der Wettbewerbsverzer-
rung ausgelassen.
Keiner wird bestreiten, dass man Wettbewerbsfragen
erst beurteilen kann, wenn man einigermaßen sicher die
Situation auf den Märkten überblickt. Genau dafür gibt
es das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung. Es be-
stimmt, dass die Monopolkommission eine valide ge-
samtwirtschaftliche Konzentrationsberichterstattung
vorlegen muss. Von dieser Pflicht hat sie sich nun
selbst befreit. Das ist ein Skandal.
Im Anhang hat sie eine rechnerisch fehlerhafte CD in
einem nicht weiterverarbeitungsfähigen Format beige-
fügt. Das genügt dem gesetzlichen Anspruch auch nicht.
Und die Bundesregierung hat das akzeptiert und sich zu
eigen gemacht. In ihrer Stellungnahme spricht sie sich
für die Einstellung der gesamtwirtschaftlichen Konzen-
trationsberichterstattung aus. Und das ohne überzeu-
gende rechtliche oder sachliche Gründe. Das reicht
nicht. Weder Monopolkommission noch Bundesregie-
rung sind berechtigt, die Berichterstattung fallen zu las-
sen. Das entspricht nicht dem Gesetzesauftrag.
Die Bundesregierung verweist auf branchen- und
themenspezifische Einzelanalysen. Sie sollen die Ge-
samtanalyse ersetzen. Das ist es aber nicht. Branchen-
wirtschaftliche Analysen können die Gesamtanalyse
bestenfalls ergänzen, aber nicht ersetzen.
Und es ist klar: Die Abgrenzung nach Güter- und
Wirtschaftsbereichen über die amtliche Statistik ist nicht
eins zu eins übertragbar auf die Marktabgrenzung. Das
ist für die Bunderegierung offenbar ein unüberwindbares
Problem. Diese Problematik ist seit Gründung des Statis-
tischen Reichsamtes von 1918 bekannt. Auch gibt es
schon längst Lösungsvorschläge dazu. Es mangelt der
Bundesregierung an Interesse, hier Abhilfe zu schaffen.
Außerdem hat die Monopolkommission die notwen-
dige Datenbasis vor Jahren schon reduziert – man
möchte sagen: willkürlich. Damit wird der gesetzliche
Auftrag seit dieser Zeit nicht mehr erfüllt: nicht im ak-
tuellen Bericht, nicht 2008 und auch nicht 2010!
Die so reduzierte Datenlage führt zwangsläufig zu un-
zureichenden und sogar falschen Ergebnissen zur Kon-
zentration und Verflechtung von Unternehmen und deren
Marktmacht. So wird etwa die Konzentration der zehn
größten Unternehmen im Lebensmitteleinzelhandel mit
65 Prozent angegeben. Tatsächlich beläuft sich deren
Marktanteil nach allen zugänglichen Quellen bereits auf
rund 90 Prozent. Das geht so nicht. Die genauen Ergeb-
nisse der sogenannten Vergleichsrechnung werden von
Monopolkommission und Bundesregierung gegenüber
Parlament und Öffentlichkeit sogar geheimgehalten.
Doch die Monopolkommission ist eben nicht – wie
sie auf ihrer Internetseite schreibt – ein unabhängiges
Beratungsgremium für die Bundesregierung. Nein, laut
Gesetz sind die Adressaten der Gutachten die gesetzge-
benden Körperschaften, die Bundesregierung und die
Öffentlichkeit.
Wenn die Bundesregierung wirklich Gefahren für den
Wettbewerb verhindern will, ist eine gesamtwirtschaftli-
che Konzentrationsberichterstattung grundlegend. Das
ist die Kernaufgabe einer Monopolkommission. Und die
muss erfüllt werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29469
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Dazu braucht es einerseits mehr Mittel und mehr Per-
sonal, mehr kritischen Sachverstand durch eine neue Zu-
sammensetzung der Monopolkommission oder eine ganz
andere Institution. Wir brauchen eine fundierte gesamt-
wirtschaftliche Konzentrationsberichterstattung. Aber
ein Auftragsgutachten des Wirtschaftsministeriums sagt:
„Wir raten davon ab, dass die Monopolkommission im
gegebenen institutionellen Rahmen die KBE, also die
Konzentrationsberichterstattung, zu einem branchen-
übergreifenden Indikatorensystem zur Aufdeckung von
Wettbewerbsverstößen ausbaut. Fraglich ist zudem, ob
ein solches System ordnungspolitisch wünschenswert
ist.“ Sie wollen keinen fairen Wettbewerb.
Stimmen Sie für unseren Entschließungsantrag!
Aber dazu bräuchte es einen Paradigmenwechsel weg
von dem früheren extremen Wettbewerbskonzept der
80er-Jahre des letzten Jahrhunderts der Chicago School.
Dem sind sie verhaftet. Kommen Sie endlich in der
neuen Zeit der erneuerbaren Energien an. Und schützen
Sie zumindest den fairen Wettbewerb!
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es
überrascht schon, wenn die Koalition hier und heute ein
Gutachten zur Debatte aufsetzt, das ein Dreivierteljahr
alt ist. Das Gutachten beschäftigt sich zum Teil mit Ge-
setzen und Themen, die in der dort beschriebenen Weise
längst nicht mehr aktuell sind. Aus den offenen Fragen –
zum Beispiel der richtigen Forderung der Monopolkom-
mission nach einem wirkungsvollen Entflechtungsinst-
rument, das die Koalition auch schon im Koalitionsver-
trag hatte – wird in dieser Legislaturperiode sicher nichts
mehr. Deshalb die Frage: Warum noch die Debatte über
diesen Bericht?
Ich möchte mich deshalb auf einen Punkt konzentrie-
ren, nämlich den Wettbewerb Strommarkt, der im
Hauptgutachten der Monopolkommission wieder brei-
ten Raum einnimmt und auch schon zuvor Anlass für
ein Sondergutachten war.
Wir haben es mit dem Phänomen sinkender Börsen-
preise sowohl im Spot- als auch im Terminmarkt zu tun.
Die Ursachen dieser sinkenden Preise sind erklärbar,
aber darauf will ich hier gar nicht näher eingehen. Der
Preisverfall ist deutlich: von 2008 von 6 Cent pro Kilo-
wattstunde oder darüber auf inzwischen nur 4 Cent pro
Kilowattstunde.
Das Problem ist aber: Diese sinkenden Preise kom-
men bei Privatverbrauchern anders als bei der Industrie
nicht an. Die Privatverbraucher werden nur für die Erhö-
hungen der EEG-Umlage, Netzentgelte usw. zur Kasse
gebeten.
Statt absurder Debatten über eine gesetzliche Decke-
lung der EEG-Umlage und eine Ausbaubremse für er-
neuerbare Energien brauchen wir eine Ursachenanalyse,
wo das Geld aus den gesunkenen Börsenpreisen bleibt.
Die Monopolkommission sieht gesunkene Margen bei –
den Energieversorgern sogar bei den teuren Grundver-
sorgungstarifen – von 35 bis 40 Prozent der Kunden.
Das finde ich erstaunlich, weil man anderes erwarten
würde.
Und tatsächlich, eine aktuelle Studie der Agora Ener-
giewende kommt zum exakt gegenteiligen Ergebnis: Ge-
rade die Margen der Energieversorger in der Grundver-
sorgung sind in den letzten Jahren zum Teil deutlich
angestiegen.
Die fehlende Wechselbereitschaft dieser Kunden führt
dazu, dass sie die höchsten Preise zahlen. Oder anders
formuliert: Gerade diejenigen, die das Geld am knapps-
ten haben – sie sind in der Regel in den Grundversor-
gungstarifen – und, warum auch immer, nicht wechseln
können, zahlen am meisten.
Dagegen zahlen die Kunden, die wechseln, deutlich
geringere Strompreise, und die Margen der Energiever-
sorger sind geringer und auch überwiegend gesunken.
Das zeigt: Wettbewerb wirkt.
Nun müsste es doch eine Herausforderung für uns alle
sein: Wie kriegen wir die große Zahl von Haushalten aus
dieser Grundversorgung in einen Wettbewerbstarif?
Dazu höre ich nichts von der Bundesregierung. Und
auch im Gutachten der Monopolkommission finde ich
dazu nichts, außer einer – auch unzutreffenden – Ana-
lyse der Fakten.
Drei Jahre hat diese Koalition gebraucht, eine Markt-
transparenzstelle einzurichten. Die untersucht jetzt die
Großhandelsbeziehungen im Strom- und Gasmarkt. Das
ist richtig, aber zu wenig: Die Preise für die Endkunden
werden nicht beleuchtet. Für Privatverbraucher ist diese
Stelle bisher kein Ansprechpartner, und das bestätigt un-
sere Kritik an der Einrichtung. Ich hoffe, das ändert sich
noch und hilft gegen die teuren Grundversorgungstarife.
Dieses Beispiel zeigt: Statt einen monatealten Bericht
hier zu debattieren, sollten sich Bundesregierung und
Koalition endlich um ein neues Strommarktdesign küm-
mern, das erneuerbare Energien, Effizienz, Versorgungs-
sicherheit und Wettbewerb mit bezahlbaren Preisen in
Einklang bringt. Dazu gibt es zahlreiche Vorschläge; nur
von dieser Bundesregierung gibt es nichts, die hier
Showdebatten führt, zu wichtigen Fragen aber keine
Antwort und erst recht nicht die Kraft zu einer Lösung
hat.
Ernst Burgbacher, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft und Technologie: Die Mono-
polkommission begrüßt in ihrem 19. Hauptgutachten die
8. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschrän-
kungen ausdrücklich. Besonders hebt sie die Absicht der
Bundesregierung hervor, die Vorschriften des GWB auf
das Verhältnis der gesetzlichen Krankenkassen unter-
einander und zu den Versicherten für entsprechend an-
wendbar zu erklären.
Der Deutsche Bundestag hat die 8. Novelle des Geset-
zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen bereits im Ok-
tober 2012 verabschiedet. Der Bundesrat hat zu dem
Gesetz aber den Vermittlungsausschuss angerufen. Er
blockiert dort seit Monaten wegen der Diskussion über
die Einbeziehung der Krankenkassen in die Wettbe-
werbsregeln das gesamte Gesetz.
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Dadurch werden zum Beispiel auch Regelungen ver-
hindert, die wettbewerbskonforme Preise auf den Strom-
und Gasmärkten sowie auf den Kraftstoffmärkten sicher-
stellen sollen.
Dies gilt etwa für die besondere Missbrauchsaufsicht
im Energiebereich. Sie verleiht den Kartellbehörden
schärfere Instrumente zur Verfolgung von Missbräuchen
durch marktbeherrschende Unternehmen im Bereich der
leitungsgebundenen Elektrizitäts- und Gasversorgung.
Sie ist aber – neben weiteren wichtigen Regelungen –
zum Ende 2012 ausgelaufen. Durch ihren Einspruch tor-
pedieren die Länder ein wirkungsvolles Vorgehen des
Bundeskartellamtes gegen hohe Preise auf den Energie-
märkten. Dies geht zulasten der Verbraucherinnen und
Verbraucher.
Ich bedauere sehr, dass die Sitzungen der informellen
Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses bisher er-
gebnislos geblieben sind. SPD und Grüne wollen wett-
bewerbliche Regelungen für die Krankenkassen auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben. Die Wettbewerbs-
probleme im Gesundheitswesen müssen aber jetzt gelöst
werden. Sie können nicht in die Zukunft vertagt werden.
SPD und Grüne sind offenbar nicht bereit, die vom
Deutschen Bundestag verabschiedete und – abgesehen
vom Gesundheitsbereich – fraktionsübergreifend unter-
stützte GWB-Novelle voranzubringen.
Verbesserungen des Wettbewerbsrechts sind aber nur
im Paket zu haben. Die Länder können sich nicht ein-
zelne Regelungen quasi als Rosinen aus dem Kuchen
picken – und den Rest gegen die Wand fahren. Ich lehne
insoweit eine Herauslösung einzelner Themenbereiche
wie der Pressefusionskontrolle oder des Presse-Grosso
entschieden ab.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
sind zu Kompromissen bei der 8. GWB-Novelle bereit.
Für die weiteren Verhandlungen im Vermittlungsaus-
schuss haben wir einen Kompromissvorschlag vorgelegt.
Nun ist es am Bundesrat, Entgegenkommen zu zeigen
und Mitverantwortung zu übernehmen.
Die 8. GWB-Novelle trägt als Gesamtpaket zur Stär-
kung des Wettbewerbs in Deutschland bei. Ganz im
Sinne der Monopolkommission bitte ich Sie daher, im
Vermittlungsausschuss konstruktiv an einer Lösung mit-
zuarbeiten. Die Bundesregierung ist dazu bereit.
Anlage 20
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Bienen und andere In-
sekten vor Neonicotinoiden schützen (Zusatz-
tagesordnungspunkt 9)
Josef Rief (CDU/CSU): Wir lehnen den Antrag der
Grünen ab. Die Forderung, Neonicotinoide gänzlich zu
verbieten, ist völlig abwegig. Auf das Thema ihres An-
trags sind die Grünen natürlich nicht selbst gekommen.
Er folgt vielmehr einer Anfang des Jahres von der Le-
bensmittelsicherheitsbehörde EFSA veröffentlichten Studie
zu Neonicotinoiden, einer Grundsubstanz verschiedener
Pflanzenschutzmittel. In der Studie werden diese entge-
gen unserer deutschen Forschungsergebnisse kritisch be-
wertet.
Die Europäische Kommission hat darauf hin einen
Vorschlag zum teilweisen Verbot von Neonicotinoiden
vorgelegt. Der Kommissionsvorschlag sieht einerseits
Verbote bei Pflanzen vor, bei denen wissenschaftliche
Ergebnisse in Deutschland keinerlei Beeinträchtigung
der Bienenvölker zeigen. Andererseits sollen aber etwa
bei der Beizung von Wintergetreide die Regelungen we-
niger streng sein als die aktuelle deutsche Rechtslage.
Dies können wir so nicht akzeptieren und lassen uns
auch von der Opposition nicht zu einer unsachlichen
Entscheidung drängen.
Wir unterstützen ausdrücklich die Haltung der Bun-
desregierung, die sich bei den Abstimmungen im Stän-
digen Ausschuss für die Lebensmittelkette und die Tier-
gesundheit, STALUT, bei der EU zum Vorschlag der
Kommission zum teilweisen Verbot der Neonicotinoide
enthalten hat, um ein Verbot zu verhindern. Damit hat
der Kommissionsvorschlag nicht die erforderliche qua-
lifizierte Mehrheit erhalten. Nun muss nachgebessert
werden. Und hier müssen auch unsere Forschungsergeb-
nisse und Ergebnisse aus dem Bienenmonitoring einflie-
ßen.
Meine Damen und Herren von den Grünen, liest man
Ihren Antrag und die Vielzahl und den Umfang Ihrer
Forderungen, so wird nur eines deutlich: Ihnen sind wis-
senschaftliche Erkenntnisse völlig egal. Wenn es nach
Ihnen ginge, würden wir den Pflanzenschutz komplett
einstellen und damit wieder fast auf Erträge von vor 50
Jahren zurückfallen, Erträge, wie sie heute vielleicht im
Ökolandbau attraktiv sind. Sie kennen die Zahlen.
Es ist schön, sich in Deutschland die heile Welt her-
beireden zu wollen. Die Realität sieht aber anders aus.
Weltweit erleben wir ein dramatisches Bevölkerungs-
wachstum. Gleichzeitig rücken große Teile der Bevölke-
rung in Asien auf der Wohlstandsleiter nach oben und
wollen selbstverständlich auch eine Nahrungsmittelver-
sorgung auf europäischem Niveau. Gleichzeitig erleben
wir in Deutschland und weltweit einen starken Druck auf
die Ressource Ackerfläche.
Es muss uns allen klar sein, dass jeder Doppelzentner,
den wir in Deutschland weniger produzieren, importiert
werden muss. Das schwächt nicht nur unsere Selbstver-
sorgung, sondern erhöht die Weltmarktpreise für Nah-
rungsmittel. Wir können uns das sehr gut leisten. Den
wirklich bedürftigen Ländern, denen man auch noch aus
Europa gesteuert eine moderne Landwirtschaft verweh-
ren will, hilft das wenig. Nicht umsonst sagen Experten,
dass die knappe Lebensmittelversorgung ihren Anteil am
arabischen Frühling hatte.
Wollen wir die wachsende Weltbevölkerung auch in
Zukunft ernähren, führt kein Weg an einer modernen,
am Ertrag orientierten Landwirtschaft vorbei. Diese
Probleme einfach zu ignorieren, ist unverantwortlich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013 29471
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Zu einer modernen, ressourcenschonenden, nachhalti-
gen Landwirtschaft zählen wir aber auch einen sorgsa-
men Umgang mit dem Pflanzenschutz. Ein gezielter
verantwortlicher und vor allem wissenschaftsbasierter
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln kann sowohl den
Anforderungen an Pflanzenschutz und Biodiversität als
auch denen des Bienenschutzes gerecht werden.
Die Bundesregierung hat gerade den Aktionsplan
Pflanzenschutz beschlossen, der auf diesem Gebiet
weitere Fortschritte bringen wird. Wir werden mehr
Forschung und Innovation im Pflanzenschutz sehen
und einen besseren Schutz von Gewässern und der bio-
logischen Vielfalt. Das Ziel ist es, die Umweltrisiken
um weitere 30 Prozent zu reduzieren.
Sie sehen: Wir sind bei den Pflanzenschutzmitteln auf
dem richtigen Weg. Wir arten nicht in ideologiegetriebe-
nen Aktionismus aus, sondern gehen die Probleme wis-
senschaftsbasiert an. Und das gilt ganz besonders für den
Schutz der Bienen, die einen hohen Anteil am Erfolg un-
serer Landwirtschaft haben.
Gustav Herzog (SPD): Wir beraten heute den An-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Schutz
der Bienen vor Neonicotinoiden. Wir alle wissen, wie
wichtig unsere Bienen sind – ohne Bienen gefährden wir
empfindlich unsere Nahrungsgrundlage und dabei spre-
che ich von den domestizierten und den wild lebenden
Bienen. Das Leiden der Letzteren wird kaum erfasst,
doch unsere Imkerinnen und Imker berichten uns jähr-
lich von massiven Verlusten, die wir Jahr für Jahr in
Kauf nehmen müssen. Müssen wir das tatsächlich? Da-
rum dreht sich nun die Frage, denn unstrittig ist, dass die
Biene ein wichtiger Indikator für den Zustand unserer
Umwelt ist. Sie steht im Spannungsfeld vielfältiger ne-
gativer Umwelteinflüsse wie Elektrosmog, Luftschad-
stoffe, Mobilfunk, einseitiger Pflanzenbau und nicht zu-
letzt der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Natürlich
kämpft die Biene auch gegen ihre ganz persönlichen
Feinde. Die Varroamilbe ist der prominenteste Vertreter,
doch es gibt weitere natürliche Krankheitserreger, die
die Biene erfolgreich befallen, wenn ihr Allgemeinzu-
stand geschwächt ist. Es ist wie bei uns Menschen eine
ganz einfache Rechnung: Sind wir angeschlagen, hat es
auch ein wenig virulenter Infekt viel einfacher, uns nie-
derzuringen, als wenn wir kerngesund wären.
Das alles wissen wir, und wir unternehmen durchaus
auch weitere Forschungsanstrengungen, um der Sache
weiter auf den Grund zu gehen und Lösungen zu entwi-
ckeln. Dennoch ist keine wesentliche Besserung der
Lage festzustellen. Die Bienen sterben weiter, während
wir um die Frage streiten, ob es wissenschaftlich erwie-
sen ist, dass Pflanzenschutzmittel am jährlichen Bienen-
sterben beteiligt sind oder nicht.
Dass Pflanzenschutzmittel ihren Teil dazu beitragen,
ist für mich unstrittig, wie groß er ist, kann so einfach
nicht festgestellt werden. Dennoch wissen wir seit dem
großen Bienensterben im Rheintal 2008, wie gefährlich
Neonicotinoide sein können! Auch wenn wir über Aufla-
gen versuchen, das Risiko zu mindern, das Gefahrenpo-
tential ist und bleibt enorm. Das rechtfertigt auf jeden
Fall ein temporäres und partielles Verbot durch die EU
im Sinne des vorbeugenden Bienenschutzes, wie es jetzt
vorgesehen ist. Ich könnte mir auch ein Totalverbot von
längerer Dauer vorstellen, um eine sichere Datengrund-
lage zu erhalten und um endgültig klären zu können, wie
groß der Einfluss der Neonicotinoide auf die Biene ist.
Und sicher hätten wir auch Wege gefunden, bereits ge-
troffene Schutzmaßnahmen auch national beizubehalten.
Wir brauchen umfangreiche Untersuchungen, die das
Verbot wissenschaftlich begleiten, um daraus Maßnah-
men abzuleiten. Sollte sich bestätigen, dass diese Mittel
für das massenhafte Sterben signifikant mitbeteiligt sind,
dann müssen diese Mittel geächtet und dauerhaft verbo-
ten werden!
Soweit sind wir mit dem Antrag der Grünen konform,
und bis dahin hätten wir diesem Antrag zugestimmt. Lei-
der soll der Bienenschutz als Vehikel dafür genutzt wer-
den, das Zulassungsverfahren auf den Kopf zu stellen.
Da können wir nicht mitgehen, denn wir halten es für
falsch, die Hersteller aus ihrer Verantwortung zu entlas-
sen, indem wir ihnen die Risikobewertung aus der Hand
nehmen. Ich weiß auch nicht so ganz, wie sich die Grü-
nen das rein praktisch vorstellen. Anstatt dem Hersteller
die Verantwortung für sein Produkt samt Entwicklung,
Prüfung und Bewertung zu überlassen, soll der Staat
diese Arbeit übernehmen und finanzieren? Das ist kaum
leistbar und dient auch nicht wirklich dem Bürokratieab-
bau. Das ist für uns kein hilfreicher und praktikabler
Weg.
Dennoch halten wir weitere Einschränkungen, ver-
bunden mit einer wissenschaftlichen Begleitforschung,
für absolut richtig. Die Ergebnisse müssen wir abwarten,
und sollte sich herausstellen, dass diese Mittel einen si-
gnifikanten Beitrag am Tod unserer Bienenvölker leis-
ten, dann werden weitere Auflagen sicher nicht ausrei-
chen, um unsere Bienenvölker zu schützen.
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir alle wol-
len Wildinsekten sowie Bienen vor Schädigungen durch
Pflanzenschutzmittel schützen.
Dies geschieht auf mehreren Wegen: durch sorgfäl-
tige Zulassungsverfahren, durch Bestimmungen zur An-
wendung von Pflanzenschutzmitteln, durch Ausbildung
der Landwirte, durch Kontrolle der Geräte, mit denen
Pflanzenschutzmittel ausgebracht werden, und durch
Kontrolle der Beizverfahren. Diese Aspekte bleiben im
Antrag der Grünen weitgehend unberücksichtigt.
Doch wir wollen Bienen nicht nur vor einer nicht
sachgerechten Anwendung von Pflanzenschutzmitteln
schützen, sondern auch vor den wirklichen Gefahren für
die Bienenvölker: dem Befall mit der Varroamilbe, dem
Befall durch den Einzeller Nosema, der Amerikanischen
Faulbrut, einer meldepflichtigen Krankheit, die von ei-
nem Bakterium ausgelöst wird.
Deswegen finanziert die christliche-liberale Koalition
seit 2010 gemeinsam mit den Bundesländern das Deut-
sche Bienenmonitoring mit insgesamt 800 000 Euro pro
Jahr. Wie im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft,
Verbraucherschutz gestern berichtet, wurden im vergan-
29472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 234. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 18. April 2013
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genen Jahr 1 106 Bienenvölker von 110 Bienenständen
untersucht. Zentrales Anliegen des DeBiMo ist es, die
Ursachen für Bienenvölkerverluste zu klären. Dazu wer-
den Daten zur Völkerentwicklung, zum Honigertrag, zu
Bienenkrankheiten und Parasitenbefall wie durch die
Varroamilbe sowie imkerliches Management erfasst.
Weiterhin wird das Bienenbrot auf Rückstände von ver-
schiedenen in der Landwirtschaft genutzten Pflanzen-
schutzmitteln, aber auch von Wirkstoffen zur Bekämp-
fung der Varroamilbe untersucht. Das Bienenbrot ist der
Pollen, den die Stockbienen in den Bienenstock eintra-
gen und mit ihrem Speichel vermischen. Durch Fermen-
tation wird der Pollen haltbar. Er dient später der Fütte-
rung der Brut.
Nur über die Kenntnis, wodurch Bienenvölker kon-
kret geschädigt werden, werden Ansätze erkennbar, wie
sie besser zu schützen sind. Deswegen ist das DeBiMo
so besonders wichtig. Die Erkenntnisse aus dem DeBiMo
werden im Antrag nicht berücksichtigt.
Die Zahl der beim Julius-Kühn-Institut gemeldeten
Vergiftungen von Bienenvölkern durch nicht fachge-
rechten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln ist rückläu-
fig. Dies zeigt, dass wir in der Verwendung von Pflan-
zenschutzmitteln auf einem guten Weg sind.
Die Zusammenstellung der Bienenbrotrückstands-
untersuchungen für 2010 zeigt, dass Boscalid, ein Fungi-
zid, der häufigste nachgewiesene Wirkstoff war, dass
Fungizide die häufigste nachgewiesene Wirkstoffgruppe
waren und Thiacloprid, ein Bienen nicht schädigendes
Insektizid, das häufigste Insektizid war und in 57 Pro-
zent der Proben nachgewiesen wurde. Die beiden Neoni-
cotinoide Imidacloprid und Clothianidin wurden dage-
gen nur in Einzelproben gefunden: Imidacloprid wurde
nur in einer und Clothianidin nur in zwei von 518 Bienen-
brotproben nachgewiesen (ADIZ 10/2011).
Die Beschränkung des Antrags der Grünen auf eine
insektizid wirkende Gruppe von Pflanzenschutzmitteln
greift viel zu kurz und liegt fachlich völlig daneben. Die
FDP-Bundestagsfraktion hat in der letzten Legislatur-
periode mit ihrem breitangelegten und sehr anerkannten
Antrag „Schutz der Bienenvölker sicherstellen“ aufge-
zeigt, wie Bienen besser geschützt werden können. Teile
des Antrags sind umgesetzt und zeigen Wirkung.
Der Antrag der Grünen lässt wesentliche wissen-
schaftliche Untersuchungsergebnisse unberücksichtigt.
Es ist schon bemerkenswert, dass in der dreiseitigen An-
tragsbegründung zwar Untersuchungsergebnisse aus den
USA und Italien erwähnt werden, das weltweit hinsicht-
lich Kontinuität und umfassendem Untersuchungsansatz
einmalige Deutsche Bienenmonitoring jedoch nicht er-
wähnt wird.
Weiterhin verwundert, dass nach fünf Jahren steter
Kritik an der EFSA auf einmal deren Vorstellungen völ-
lig unkritisch übernommen werden. Es wird nicht kriti-
siert, dass die EFSA die Ergebnisse des DeBiMo nicht
berücksichtigt. Das heißt doch im Klartext, die Grünen
akzeptieren nur Ergebnisse von Wissenschaftlern, die ih-
nen in den Kram passen, andere nicht. Nach Vorstellung
der Grünen soll Wissenschaft grüne Ideologien bestäti-
gen; die Realität ist den Grünen völlig schnuppe.
Wissenschaftliche Ergebnisse werden von den Grü-
nen nur berücksichtigt, wenn sie sich für eigene Vorstel-
lungen instrumentalisieren lassen. Widersprüche zur ei-
genen Ideologie werden intellektuell nicht verarbeitet.
Bei einer solchen eingeschränkten Sicht auf die Realität
kann Betriebsblindheit nicht ausbleiben.
In den vergangenen Jahren wurde in Deutschland
Raps im Durchschnitt der Jahre auf etwa 1,3 Millionen
Hektar angebaut. Über 90 Prozent des Rapssaatguts wur-
den mit Neonicotinoiden gebeizt. Raps ist in Deutsch-
land die wichtigste Trachtpflanze für Bienen, Rapshonig
ist sehr beliebt. Nach Darstellung des DeBiMo wurde in
der Nachbarschaft von mehr als 60 Prozent der Monito-
ringvölker Raps angebaut. Trotzdem wurden in den ver-
gangenen Jahren in den im Rahmen des Bienenmonito-
rings durchgeführten Untersuchungen des Bienenbrots
neonicotinoide Beizmittel nur in einzelnen Ausnahme-
fällen gefunden.
Das ist ein deutlicher Widerspruch zu der Annahme
des Antrags, dass über die bestehenden Anwendungsbe-
stimmungen für den Einsatz von Neonicotinoiden hinaus
Verbote erforderlich wären. Die auch von der FDP in ih-
rem Antrag geforderten Qualitätskontrollen für gebeiztes
Saatgut haben Wirkung gezeigt. Durch den Anbau von
Raps werden Bienen nicht geschädigt, im Gegenteil:
Raps ist eine wichtige Trachtpflanze für Bienen; der An-
bau von Raps unterstützt somit die Imkerei.
Das von den Grünen geforderte Verbot der Neonicoti-
noide würde den Rapsanbau in Deutschland vermindern;
eine wichtige Trachtpflanze würde verloren gehen.
Beizung von Saatgut mit insektiziden, systemisch
wirkenden Wirkstoffen ist eine effektive Methode, Kul-
turpflanzen vor dem Befall mit Schadinsekten zu schüt-
zen und gleichzeitig Nichtzielorganismen wie Bienen
und Wildinsekten zu schützen. Über die Zertifizierung
der Beizverfahren muss sichergestellt werden, dass die
Beizung sachgerecht erfolgt, der Abrieb gering ist, in
den Boden abgeleitet wird und das Saatgut auch in pneu-
matischen Säverfahren ausgebracht werden kann. Beim
Rapssaatgut ist dies in Deutschland gelungen. Dies zei-
gen unter anderem die Ergebnisse des DeBiMo. Die Zer-
tifizierung von gebeiztem Saatgut hat sich in Deutsch-
land bewährt; sie sollte in Europa als Vorbild genommen
werden.
Landwirtschaft und Imkerei stehen miteinander in
Beziehung. Die Erfordernisse des Pflanzenschutzes in
der Landwirtschaft sollten von Imkern anerkannt wer-
den, genauso wie Landwirte die Erfordernisse des Bienen-
schutzes anerkennen sollten. Nur ein Miteinander führt
in Landwirtschaft und Imkerei zu guten Ergebnissen.
Dazu leistet der vorliegende Antrag der Grünen kei-
nen Beitrag. Die FDP lehnt ihn ab.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Nach einem
gefühlt unendlich langen Winter ist jetzt endlich der
Frühling ausgebrochen. Es blüht, summt und brummt.
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Für Landwirtinnen und Landwirte beginnt eine arbeitsin-
tensive Zeit. Für Imkerinnen und Imker ebenfalls. Ihre
Bienen schwärmen aus und sammeln Pollen. Zum Wohle
ihres Volkes, seiner Königin und natürlich der neuen
Bienengeneration. Damit leisten sie gleichzeitig wich-
tige Arbeit zum Wohle der Menschheit – sie bestäuben
die Kulturpflanzen für eine reiche Ernte und produzieren
Honig für uns. Er gilt als eines der gesündesten Lebens-
mittel überhaupt.
Wir haben also allen Grund zu tiefer Dankbarkeit und
hoher gesellschaftlicher Anerkennung für diesen Beitrag
der Imkerinnen und Imker und ihrer Bienenvölker zu un-
serer Ernährung.
Doch in der Realität wird ihre Arbeit eher als Selbst-
verständlichkeit gesehen. Die Wertschätzung in Sonn-
tagsreden löst sich bei Interessenskonflikten schnell in
Ignoranz auf. Auch wenn es zwischen Bauernhof und
Bienenstock so harmonisch summt, ist unsere Welt für
Bienen und andere Insekten wenig friedvoll. Sie werden
vielfältig bedroht.
Der neue Greenpeace-Bericht „Bye, by Biene“ veran-
schaulicht das Problem in den USA. Dort sind seit dem
Jahr 2004 so viele Honigbienenvölker verloren gegan-
gen, dass in den vergangenen fünfzig Jahren noch nie so
wenige Bestäuber in Kultur gehalten wurden wie aktuell.
In Deutschland ist die Entwicklung nicht so dramatisch.
Vielleicht noch nicht; denn das Problem Bienensterben
kennt auch unsere einheimische Imkerei unterdessen.
Die Ursachen des Bienensterbens sind komplex, und
oft ist es wohl die Summe der schädigenden Einflüsse,
mit der die Bienenvölker nicht mehr fertig werden. Das
heißt, dass wir einen strategischen Ansatz für bienen-
freundliche Maßnahmen brauchen und dass wir gleich-
zeitig an mehreren Schrauben im System drehen müs-
sen. Wird nur eine einzelne Ursache beseitigt, werden
die Probleme weiterbestehen. Das darf aber nicht als
Ausrede dienen, gar nichts zu tun.
Zum Beispiel wären die zur Bedrohung gewordenen
Bienenkrankheiten wie Varroamilbe und Nosema viel-
leicht besser beherrschbar, wenn die Bienenvölker unter
optimalen Lebensbedingungen leben würden. Doch das
Gegenteil ist der Fall.
Wir wissen doch, dass in immer mehr Regionen bie-
nenattraktive Blühpflanzen fehlen. Zumindest wenn man
die gesamte Vegetationsperiode betrachtet. In der Agrar-
landschaft dominieren häufig Raps- oder Maisfelder. Sie
bieten nur kurzzeitig Nahrung; Maispollen ist nicht ein-
mal eine gute. Flächen mit natürlichen blühenden Acker-
kräutern sind selten. Wir brauchen also mehr Bienennah-
rung in der Fläche über die gesamte Vegetationsperiode.
Deshalb fordert die Linke, beispielsweise Blühweiden
oder Ackerrandstreifen wieder fest in die Landbewirt-
schaftung zu integrieren. Sie sollten in der neuen EU-
Förderperiode als sogenannte ökologische Vorrangflä-
chen anerkannt werden, finde ich. Es ist falsch, wenn
Bundesregierung und Bauernverband diese immer wie-
der als „Stilllegungsflächen“ verunglimpfen. Denn ganz
im Gegenteil: Solche Flächen sind weder „still“, noch
produzieren sie nichts. Sie „produzieren“ biologische
Vielfalt und bieten Nützlingen, wie Bienen und anderen
Insekten, Lebensraum und reichhaltiges Nahrungsange-
bot. Die Landwirtschaft profitiert also davon, zumindest
mittelfristig.
Der großflächige und häufige Einsatz von Pflanzen-
schutzmitteln gegen Insektenschädlinge ist ebenfalls ein
Risiko für die Bienenvölker, selbst wenn der Einsatz
nach bestem Wissen und Gewissen erfolgt.
Dabei ist die Wirkstoffgruppe der Neonicotinoide be-
sonders bienengefährlich. In Baden-Württemberg kam
es im April/Mai 2008 nach der Aussaat von mit Clothia-
nidin behandeltem Mais zum größten Bienensterben seit
Jahrzehnten. Rund 700 Imkerinnen und Imker verloren
ihre Bestände ganz oder teilweise; insgesamt waren rund
11 500 Völker betroffen. Pro Imkerei lag der Verlust bei
durchschnittlichen 17 000 Euro.
Auch wenn die technische Ursache dieses Falles be-
hoben wurde, zeigt das Beispiel die große Gefahr der
Verwendung. Denn mit unbekannten Risiken oder Un-
achtsamkeit wird man wohl immer rechnen müssen.
Es gibt zahlreiche Studien, die von hohen akuten und
chronischen Risiken für Bienen und andere Bestäuber
durch Neonicotinoide ausgehen. Es geht eben nicht nur
darum, massives Bienensterben zu vermeiden. Vermie-
den werden müssen auch die Schädigungen der Bienen,
an denen sie nicht gleich sterben. Auch bei Bienen muss
der vorsorgende Schutz ernst genommen werden. Das
heißt, Bienenschädigungen dürfen nicht länger als Kol-
lateralschaden des Insektenschutzes für Pflanzen hinge-
nommen werden. Die Konsequenz wäre, dass besonders
bienengefährliche Wirkstoffe, wie die Neonicotinoide,
nicht mehr verwendet werden.
Selbst die EU-Kommission, die nun wahrlich nicht
als Speerspitze der ökologischen Bewegung gilt, will ab
Sommer 2013 eine zweijährige Anwendungspause für
die meisten Anwendungsbereiche dieser Wirkstoff-
gruppe.
Die Grünen fordern in ihrem Antrag, dass die Bun-
desregierung dem Vorschlag der EU-Kommission zu-
stimmen soll. Für Laien wollen sie diese Wirkstoff-
gruppe ganz verbieten. Darüber hinaus soll das
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi-
cherheit keine befristeten Ausnahmezulassungen für
bienenattraktive Kulturen mehr erteilen dürfen. Das Ri-
sikobewertungs- und Zulassungsverfahren müsse ver-
bessert werden. Diese Forderungen teilt die Linksfrak-
tion.
Aber statt eine weitreichende Anwendungspause von
bienengefährlichen Neonicotinoiden voranzubringen,
blockiert Ministerin Aigner in Brüssel den Vorschlag der
EU-Kommission. Obwohl mir Staatssekretär Dr. Müller
auf eine Anfrage im März mitteilte, dass die Bundesre-
gierung EU-weite Maßnahmen gegen Neonicotinoide
unterstützen wird. Leider hat sich die Bundesrepublik je-
doch im zuständigen Ausschuss für die Lebensmittel-
kette und die Tiergesundheit enthalten. Ihre Forderung
nach Ausnahmen vom Zwei-Jahres-Verbot dieser beson-
ders bienengefährlichen Insektizide, beispielsweise für
bienenunattraktive Pflanzen, ist uns zu weitreichend.
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Der Vorschlag der EU-Kommission, die Anwendungs-
erlaubnis zeitlich befristet auszusetzen, bietet die Gele-
genheit, das Risiko für die Insektenwelt weiter zu un-
tersuchen. Diese Analysen sollten unabhängig und
transparent erfolgen. Wenn selbst die industriefreundli-
che Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit,
EFSA, 2013 in einem Gutachten an der Sicherheit die-
ser Insektizidgruppe zweifelt, mahnt das zur Neonicoti-
noid-Pause.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Das heißt
nicht, dass es danach zwangsläufig zu einem Totalverbot
kommen muss. In England konnten zum Beispiel in ei-
ner neuen Studie keine signifikanten Effekte von Neoni-
cotinoiden auf Sterberate oder Krankheitshäufigkeit bei
Hummelvölkern gefunden werden. Auch die Frage nach
Alternativen im Pflanzenschutz muss beantwortet wer-
den.
Letztendlich geht es vor allem darum, unsere Agrar-
landschaft bienenfreundlicher zu gestalten. Alles, was
diese wichtigen Bestäuberinnen gefährdet, muss redu-
ziert werden. Dazu gehören auch bienengefährliche
Pflanzenschutzmittel und speziell die Neonicotinoide.
Darum stimmt die Linksfraktion dem Antrag der Grünen
zu.
Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach
Atrazin, Glyphosat und vielen anderen Pestizidwirkstof-
fen stehen mit den Neonicotinoiden erneut Pflanzen-
schutzmittel im Fokus der Kritik. Seit Jahren schon ver-
dichten sich die Hinweise, dass diese Wirkstoffgruppe
besonders gefährlich für Bienen und andere Insekten ist.
Die Vergiftung von 12 000 ganzen Bienenvölkern im
Oberrheintal im Jahr 2008 durch Staubabrieb von Mais-
saatgut, das mit dem Neonicotinoid Clothianidin behan-
delt war, ist ein erschreckendes Extrembeispiel.
Doch die Auswirkungen dieser Nervengifte sind nicht
immer sofort sichtbar oder tödlich: Der Toxikologe Dr.
Henk Tennekes hat bereits 2010 belegt, dass die Wir-
kung selbst kleinster Mengen an Neonicotinoiden irre-
versibel ist und die Nervenzellen dauerhaft geschädigt
werden. Das macht Neonicotinoide zu einer tickenden
Zeitbombe, die zum Zusammenbruch ganzer Vogelpopu-
lationen führen kann, die sich von Insekten ernähren.
Bereits Konzentrationen von weniger als einem Milli-
ardstel Gramm pro Biene verursachen subletale, also
nicht akut tödliche Effekte, die das Kommunikations-,
Lern- und Orientierungsvermögen der Tiere stören und
zum Zusammenbruch eines Bienenvolkes führen kön-
nen. Dass europäische Zulassungsverfahren für Pestizide
solche Gefahren nicht aufdecken, ist skandalös und muss
sich dringend ändern!
Selbst die EFSA als EU-Fachbehörde für die Risiko-
bewertung von Pestiziden konnte nicht länger die erdrü-
ckende wissenschaftliche Beweislast ignorieren. Ihre
jüngsten Gutachten zu den drei Wirkstoffen Clothiani-
din, Imidacloprid und Thiamethoxam belegen, dass de-
ren Risiken für Bienen und andere Insekten bislang ex-
trem unterschätzt wurden.
Nach geltendem EU-Recht dürfen Pestizide aber nur
dann in der EU zugelassen sein, wenn sie keine inakzep-
tablen Auswirkungen auf Bienen haben. Wenn nun
selbst die industriefreundliche EFSA vor massiven Risi-
ken durch Neonicotinoide warnt, müssen wir endlich
handeln; dies sehen auch die Agrarminister der Bundes-
länder so! Eine Zustimmung zum Vorschlag der EU-
Kommission für ein Moratorium bei bienenattraktiven
Kulturen ist daher zwingend geboten, wenn wir den ak-
tuellen Stand der Wissenschaft und das Vorsorgeprinzip
ernst nehmen.
Aber was tut die Bundesregierung? In Pressemittei-
lungen heftet sie sich zwar den Bienenschutz ans Revers.
Doch wer gehofft hat, Ministerin Aigner würde sich für
den Kommissionsplan einsetzen, wird enttäuscht. Ihr
Haus ignoriert weitgehend die besorgniserregenden Fak-
ten und handelt nach dem Motto, dass nicht sein kann,
was nicht sein darf.
Der Kommissionsvorschlag, so behauptet das
BMELV, stelle eine Verschlechterung des Status quo des
Bienenschutzes in Deutschland dar, da Wintergetreide
im Brüsseler Plan nicht erfasst sei. Das ist absurd! Zum
einen bleibt das geplante Einsatzverbot in bienenattrakti-
ven Kulturen dringend notwendig für eine deutliche Ver-
besserung des Bienenschutzes. Vor allem aber kann
Deutschland auch in Zukunft strengere Anwendungsbe-
schränkungen erlassen, die über das EU-Niveau hinaus-
gehen. Warum setzt sich die Bundesregierung in Brüssel
dann nicht für eine Ausweitung des Kommissionsvor-
schlages ein, sondern arbeitet hinter den Kulissen an ei-
ner Mehrheit gegen ihn? Die angeblichen Sorgen der
Bundesregierung um den Bienenschutz sind nichts ande-
res als falsche Krokodilstränen, um von ihrem Ziel abzu-
lenken, im Interesse der Hersteller Einschränkungen bei
Pestiziden zu verhindern.
Dabei stützt sich Schwarz-Gelb gerne auf das Deut-
sche Bienenmonitoring, DeBiMo. Das krankt aber an
grundlegenden methodischen Schwächen, die in Bezug
auf Neonicotinoide besonders deutlich werden. Denn es
kann wesentliche Auswirkungen wie die subletalen Ef-
fekte oder Kombinationswirkungen verschiedener Pesti-
zide gar nicht erfassen. Ein Monitoring kann niemals die
Aussagekraft der experimentellen Studien mit Kontroll-
gruppen erreichen, auf die sich die EFSA stützt. Der
Rückgriff der Bundesregierung auf das DeBiMo gleicht
dabei einer Schutzbehauptung, wie auch die letzte Sit-
zung des Agrarausschusses gezeigt hat: Das Bundes-
landwirtschaftsministerium war dort weder willens noch
in der Lage, aus dem DeBiMo-Zwischenbericht bezüg-
lich Pestizidrückständen konkrete Schlussfolgerungen
oder Konsequenzen zu ziehen. Doch selbst die wenigen
Daten des Zwischenberichts geben Anlass zur Sorge:
Über 90 Prozent der Bienenbrotproben sind mit mehr als
fünf verschiedenen Pflanzenschutzmittelwirkstoffen be-
lastet. Hinzu kommt eine steigende Belastung durch
Wirkstoffe aus der Rapsblütenspritzung.
Bienen und ihr gesundheitliche Situation sind ein
wichtiger Indikator dafür, wie es um zahlreiche Arten
wilder Bestäuber, Schmetterlinge und unsere Ökosys-
teme insgesamt bestellt ist.
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Auch aus wirtschaftlichen Gründen ist Handeln zum
Schutz der Bestäuber dringend geboten. Der geschätzte
Wert der Bestäubungsleistungen beträgt allein für die
EU circa 15 Milliarden Euro pro Jahr. Hinzu kommen
die unbezahlbaren und kaum bezifferbaren Ökosystem-
dienstleistungen wie der Erhalt der Artenvielfalt, da sehr
viele Wildpflanzen für ihr Überleben auf Insektenbe-
stäubung angewiesen sind. Selbst wenn man Zahlen der
Industrie glaubt, beläuft sich der Bestäubungswert auf
ein Vielfaches der angeblichen Kosten durch ein Verbot
der Saatgutbehandlung mit Neonicotinoiden. Studien aus
Italien und Großbritannien zeigen außerdem, dass ein
Verzicht auf die Beizung nicht mit Ertragseinbußen ver-
bunden sein muss.
Eine Szene im Dokumentarfilm „More than honey“
zeigt chinesische Wanderarbeiter, die mit dem Pinsel in
der Hand mühsam Blüte für Blüte von Apfelbäumen be-
stäuben. In der betroffenen Region Chinas gibt es seit
Maos Zeiten keine Bienen mehr, weil diese durch Pesti-
zide vernichtet wurden, die anstelle der ausgerotteten
Spatzen gegen Schädlingsplagen eingesetzt wurden.
Diese Geschichte lehrt uns: Eine Landwirtschaft, die
keine Rücksicht und keinen Raum für Natur lässt, ist
nicht zukunftsfähig.
Das Moratorium für Neonicotinoide ist ein wichtiger
Meilenstein für den Bienenschutz. Die zwei Jahre müs-
sen genutzt werden, um möglichst umfassend die ökolo-
gischen Risiken der Neonicotinoide zu klären und genau
zu prüfen, in welchen Bereichen eine Anwendung von
Neonicotinoiden noch vertretbar ist. Generell gehört die
hohe Abhängigkeit der konventionellen Landwirtschaft
von Pflanzenschutzmitteln auf den Prüfstand. Wir for-
dern daher von der Bundesregierung, ein umfassendes
Konzept für einen Komplettausstieg aus den Neonicoti-
noiden zu erarbeiten. Ministerin Aigner ist gut beraten,
dem jüngsten Beschluss der Agrarministerkonferenz zu
folgen, die diese Forderung ebenfalls erhebt.
Vor allem aber muss die Bundesregierung jetzt in
Brüssel dem Vorschlag der EU-Kommission für ein An-
wendungsmoratorium für Neonicotinoide zustimmen.
Daran werden wir sie messen. Und daran wird sich zei-
gen, ob die öffentlichen Bekenntnisse der Bundesregie-
rung zum Bienenschutz ernst zu nehmen sind.
Anlage 21
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu dem Antrag: Konsequente Umset-
zung des Public Corporate Governance Kodex
(Zusatztagesordnungspunkt 10)
Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Mit dem Public
Corporate Governance Kodex, kurz Public Kodex, hat
die Bundesregierung 2009 privaten Unternehmen mit
überwiegender Bundesbeteiligung eine Richtschnur für
gute Unternehmensführung an die Hand gegeben. Der
Kodex beansprucht für sich, wesentliche Bestimmungen
geltenden Rechts zur Leitung und Überwachung von
Unternehmen, an denen die Bundesrepublik Deutsch-
land beteiligt ist, sowie nationale und international an-
erkannte Standards guter und verantwortungsvoller Un-
ternehmensführung zu enthalten. Er spiegelt also
gesetzliche Regelungen ebenso wider wie Empfehlun-
gen und Anregungen.
Der Public Kodex lehnt sich in großen Teilen an die
Formulierungen des privatwirtschaftlichen Deutschen
Corporate Governance Kodex an. Im Vergleich wird im
Public Kodex jedoch berücksichtigt, dass die zahlrei-
chen nicht börsennotierten Unternehmen, an denen der
Bund beteiligt ist, im Gegensatz zu den großen börsen-
notierten Gesellschaften sehr unterschiedliche Struktu-
ren haben. Wir finden von Großunternehmen bis zu
kleinen Zweckgesellschaften unterschiedlichste Rechts-
formen. Gerade diese Bandbreite verdeutlicht auch den
Sinn eines Public Corporate Governance Kodexes, der
eine flexiblere und individuellere Handreichung für eine
gute Unternehmensführung erlaubt.
Als Zielsetzung formuliert der Public Kodex insbe-
sondere eine bessere Leitung und Überwachung der Un-
ternehmen durch dessen Organe und eine bessere und
wirtschaftlichere Erfüllung der durch die Unterneh-
mensbeteiligung verfolgten Absichten. Konkret werden
verbesserte Arbeitsstrukturen und -prozesse der Unter-
nehmensorgane, die Rechnungslegung und Transpa-
renzkriterien genannt.
Zur Transparenz gehört in besonderem Maße auch die
Vergütung der Geschäftsführung und der Mitglieder des
Überwachungsorgans eines Unternehmens.
Die Gesamtvergütung jedes Mitglieds der Geschäfts-
führung soll individualisiert, aufgeteilt nach erfolgsun-
abhängigen, erfolgsbezogenen und Komponenten mit
langfristiger Anreizwirkung, unter Namensnennung in
allgemein verständlicher Form im Corporate-Gover-
nance-Bericht dargestellt werden. Diese Veröffentli-
chungspflicht berührt dabei das grundgesetzlich ge-
schützte Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Gleichwohl lässt sich in der Güterabwägung die Frage
zu Recht zugunsten eines Bedürfnisses auf Transparenz
entscheiden.
Die Transparenz ist erforderlich, da es sich bei den
Vergütungen um den Einsatz öffentlicher Mittel handelt.
Auf diese Weise wird dem Informationsbedürfnis der
Öffentlichkeit Rechnung getragen und gleichzeitig die
Möglichkeit geschaffen, die Zahlungen zu vergleichen.
Der Public Corporate Governance Kodex formuliert
dieses Bedürfnis nach Transparenz als Empfehlung. So
heißt es entsprechend: „Die Gesamtvergütung soll …
dargestellt werden.“
Dieses Konstrukt der Empfehlung hat zwei Gründe:
erstens die bereits angesprochene Bandbreite an unter-
schiedlichen Unternehmensformen und -arten, an denen
der Bund beteiligt ist; zweitens bereits existierende, aus-
drückliche Regelungen, die einer Umsetzung rechtlich
im Wege stehen.
Entsprechend wurden die Empfehlungen unter Zu-
grundelegung der Rechtsverhältnisse bei Kapitalgesell-
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schaften entwickelt, um sie bei anderer Rechtsform auch
auf andere körperschaftliche Struktur- und Organverhält-
nisse übertragen zu können. Mit dieser Berücksichtigung
rechtsform- sowie unternehmensspezifischer Bedürf-
nisse trage der Kodex zur Flexibilisierung und Selbstre-
gulierung bei. Die Unternehmen könnten explizit von
den Empfehlungen abweichen, seien aber verpflichtet,
dies jährlich in ihrem Corporate-Governance-Bericht
– im sogenannten Comply-or-Explain-Mechanismus –
offenzulegen, heißt es im Kodex.
Die Frage der Vergütungen ist dabei besonders sensi-
bel. Das verdeutlicht auch der Antrag der Grünen, der im
Titel zwar auf die Umsetzung des Public Corporate
Governance Kodex im Ganzen abhebt, inhaltlich jedoch
ausschließlich auf die Vergütungsfrage rekurriert.
In der Tat fallen bei der Durchsicht des aktuellen Be-
teiligungsberichtes des Bundes vom Februar 2013 einige
Unternehmen auf, die die Vergütungen ihrer Geschäfts-
führungen, Vorstände und gegebenenfalls Aufsichtsräte
nicht oder nicht individuell ausweisen. Wie bereits aus
den diversen Antworten des Parlamentarischen Staatsse-
kretärs beim Bundesminister der Finanzen, des Kollegen
Kampeter, hervorgeht, liegen dafür insbesondere zwei
Gründe vor:
Zum einen können Betroffene, deren Vertragsverhält-
nisse vor der Umsetzung des Public Corporate Gover-
nance Kodex geschlossen wurden, ihr Einverständnis
zur Offenlegung verweigern. Zum anderen muss für alle
Mitglieder der Geschäftsführung die Zustimmung vor-
liegen, da ein Geschäftsführer mit einem Altvertrag auf-
grund der Regelung des § 286 Abs. 4 des Handelsgesetz-
buches eine individualisierte Offenlegung verhindern
kann, wenn sich aus anderen Angaben Rückschlüsse auf
die eigenen Bezüge ergeben können. Entsprechend des
Comply-or-Explain-Mechanismus ist dies etwa dem Be-
teiligungsbericht auch deutlich und für jede Beteiligung
des Bundes ersichtlich zu entnehmen.
Pacta sunt servanda – daran kann auch ein Grünen-
Antrag nichts ändern. Die Zeit wird hier die Dinge je-
doch in unser aller Sinne regeln. Satzungsänderungsver-
fahren zur Verankerung des Public Kodex, die sukzes-
sive Anpassung der Anstellungsverträge und weitere
Neuverträge werden das zeigen.
Ihrem Antrag heute zuzustimmen, hätte hingegen le-
diglich den Effekt von weißer Salbe.
Ebenso wohlfeil ist Ihre Forderung, auch bei Minder-
heitsbeteiligungen – allein der Beteiligungsbericht listet
hier 646 mittelbare Beteiligungen mit einem Nennkapi-
tal von über 50 000 Euro und mit über 25 Prozent An-
teilsbeteiligung auf – auf die Umsetzung des Public Ko-
dex hinzuwirken. Auch das ist längst Realität und wird
im Rahmen der Einwirkungsmöglichkeiten der Verant-
wortlichen so gehandhabt. Auch hier ist der Antrag der
Grünen ein Placebo ohne Effekt.
Aus diesen Gründen plädiere ich für die Ablehnung
des Antrags.
Ingo Egloff (SPD): Der hier vorliegende Bericht und
die Entscheidung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie über die Frage des Public Kodex und der
Verankerung desselben in den Unternehmen des Bundes
oder solchen mit Bundesbeteiligung zeigt, dass die Re-
gierungsfraktionen wieder einmal wohltönenden Ankün-
digungen keine Taten folgen lassen.
Allein die Tatsache, dass wir ewig lange gebraucht
haben, um den Antrag zu behandeln und ihn dann ein-
fach abzulehnen, zeigt, dass hier nicht mit dem nötigen
Nachdruck gearbeitet wird. Zwar ist uns bewusst, dass es
hier Persönlichkeitsrechte zu beachten gilt, aber hier ist
eine Abwägung vorzunehmen. Denn wenn der Staat in
Form des Privatrechts handelt oder an privaten Unter-
nehmungen beteiligt ist, dann besteht ein Anspruch der
Öffentlichkeit darauf, hier Auskunft darüber zu erlan-
gen, wie die Gehalts- und Bezahlungsstruktur ist.
Natürlich kann man dies auch in den Satzungen der
Unternehmen verankern und individualrechtlich mit den
Betroffenen vereinbaren, um hier rechtliche Zweifel zu
beseitigen. In Zeiten, in denen über Vorstandsvergütun-
gen öffentlich heftig gestritten wird, in denen man davon
ausgehen muss, dass es insbesondere auf Vorbildfunktio-
nen des Staates ankommt, kann man dieser Entwicklung
staatlicherseits nicht mehr mit rechtlichen Begründun-
gen ausweichen. Wer bei privaten Unternehmen Publizi-
tät fordert, die Einhaltung von Compliance-Richtlinien
etc., der kann sich als öffentliche Hand derartigen Forde-
rungen nicht verweigern. Deshalb ist das Abstimmungs-
verhalten der Regierungskoalition nicht verständlich.
Die SPD-Fraktion unterstützt den Ursprungsantrag
der Grünen, weil es hier aufseiten des Staates Bewegung
geben muss.
Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Wir beraten hier
die Beschlussempfehlung und den Bericht des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem An-
trag „Konsequente Umsetzung des Public Corporate
Governance Kodex“ von Bündnis 90/Die Grünen. Der
Public Corporate Governance Kodex des Bundes,
PCGK, enthält Bestimmungen zur Leitung und Über-
wachung von Unternehmen, an denen der Bund betei-
ligt ist. Ziel dieses Kodex ist es, die Unternehmen
transparenter und Entscheidungen nachvollziehbarer zu
gestalten. Der PCGK bezieht sich auf Unternehmen,
die juristische Personen des Privatrechts sind und an
denen der Bund mehrheitlich beteiligt ist. Verfügt der
Bund nicht über eine Mehrheitsbeteiligung an einem
Unternehmen, kann diesem die Beachtung des PCGK
nur empfohlen werden.
Da die Grünen an der äußerst erfolgreichen Ausge-
staltung dieses Kodex durch die schwarz-gelbe Bundes-
regierung keinen Anstoß nehmen können, ist der einzige
teilweise nachvollziehbare Anwurf, dass der Kodex
nicht schnell genug in allen Mehrheitsbeteiligungen des
Bundes umgesetzt worden sei. Es gab hier mehrfach Be-
richte der Bundesregierung über die Umsetzung des
PCGK. Doch haben wir bei den Mehrheitsbeteiligungen
des Bundes den PCGK weitgehend umgesetzt. Die letz-
ten offenen Fragen, so die Offenlegung der Vergütung
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der Geschäftsführung, der Vorstände und der Aufsichts-
räte, können spätestens ab dem Geschäftsjahr 2013 be-
antwortet werden.
Erfreulich ist auch, dass bei den meisten Beteiligun-
gen unseres liberal geführten Wirtschaftsministeriums
– Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH, Deutsche
Energie-Agentur GmbH, High-Tech Gründerfonds, Ger-
many Trade and Invest, WIK GmbH, Wismut GmbH –
der PCGK bereits ausnahmslos umgesetzt worden ist.
Unsere erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist und bleibt ein
wichtiges Signal und Vorbild auch für alle rein privat-
wirtschaftlich organisierten deutschen Unternehmen.
Auch der Wunsch der Grünen, den Kodex bei Min-
derheitsbeteiligungen des Bundes mit der Brechstange
durchzusetzen, ist wieder ein Wunschtraum von aus-
ufernden staatlichen Regelungsfantasien und ist nicht
mit der Realität in der Geschäftswelt vereinbar. Aller-
dings haben die Bemühungen des Bundes zur Umset-
zung der Transparenzvorgaben des Kodex auch bei den
Minderheitsbeteiligungen zu einer verbesserten Offenle-
gung zumindest der Gesamtvergütungen geführt.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist
somit gegenstandslos oder hat sich bereits selbst über-
lebt. Der Public Corporate Governance Kodex des
Bundes ist weitgehend umgesetzt. Insbesondere die
Gesamtvergütungen werden nahezu flächendeckend of-
fengelegt. Dies ist ein wichtiger Schritt hin zu Transpa-
renz und dem Nachvollziehen von Entscheidungen bei
den Mehrheitsbeteiligungen des Bundes. Deshalb ist
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie nicht nur nachvollziehbar, son-
dern auch die einzig richtige Entscheidung für die
Schaffung von mehr Transparenz bei den Unterneh-
mensbeteiligungen des Bundes. Dies unterstützen wir
nachdrücklich.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Beteiligung der öf-
fentlichen Hand an Unternehmen bringt eine besondere
Verantwortung mit sich. Die Bürgerinnen und Bürger ha-
ben das Recht auf Transparenz und Kontrolle der Unter-
nehmen und auf Rechenschaft über die Verwendung der
öffentlichen Gelder. Dazu gehört auch die Vergütung der
Geschäftsführung sowie der Vorstände und Aufsichts-
ratsmitglieder. In diesem Sinne können wir dem Antrag
der Grünen zustimmen.
Für die Führung eines Unternehmens im Interesse der
Öffentlichkeit reicht das allerdings nicht aus. Wir brau-
chen endlich eine Änderung des Aktienrechts. Auf-
sichtsratsmitglieder des Bundes müssen „im Namen der
Bundesregierung“ oder „im Namen des Bundes“ han-
deln. Das „Gemeinwohl“ muss Vorrang vor den Unter-
nehmensinteressen bekommen. Derzeit sind – so der
Bundesgerichtshof – die Aufsichtsratsmitglieder im
Falle vorliegender kollidierender Interessen zwischen
Gemeinwohl und Unternehmenswohl nämlich in erster
Linie dem Wohl des Unternehmens verpflichtet.
Der Public Corporate Governance Kodex wurde von
einigen Bundesländern übernommen und soll auch für
kommunale Unternehmen gelten. Öffentliche Dienstleis-
tungen und Güter sind das Fundament einer Gesell-
schaft, in der alle Menschen an gesellschaftlichen Pro-
zessen teilhaben können. Über den engen Begriff der
Daseinsvorsorge hinaus gibt es weitere Aspekte für öf-
fentliche Leistungen: als Schutz vor privater Einfluss-
nahme wie zum Beispiel im Bereich der Kindertagesstät-
ten und Schulen, um Aspekte aus dem sozialen oder
ökologischen Bereich ausreichend zu berücksichtigen
oder auch einfach als Recht der Kommune, sich wirt-
schaftlich zu betätigen.
Kommunale Unternehmen sind vielfach Vorausset-
zung für eine dezentrale, bürgernahe, soziale und um-
weltverträgliche Politik, allerdings keine Garanten dafür.
In vielen gemischtwirtschaftlichen Unternehmen be-
schränken sich die Kommunen auf ihre Rolle als Dividen-
denempfänger, ohne Mitentscheidungsrechte einzufordern.
Statt ihre Beteiligungen als reine Vermögensverwaltung
zu verstehen, sollten die Kommunen sie durch gutes und
transparentes Management zur politischen Steuerung im
Sinne des Gemeinwohls nutzen. Deshalb müssen Trans-
parenz und demokratische Kontrolle ausgebaut werden.
Hier kann der Public Corporate Governance Kodex als
Richtschnur, als Mindeststandard für die Leitung und
Kontrolle öffentlicher Unternehmen zugrunde gelegt
werden. Wie die Präambel des Kodex fordert, hätte ein
kommunales Unternehmen dann wenigstens jährlich of-
fenzulegen, wo und warum es von den Empfehlungen ei-
nes solchen Kodex abweicht.
Aber auch auf Landesebene und bei kommunalen
Unternehmen gilt: Transparenz kann nur ein Schritt zu
einer echten demokratischen Kontrolle sein. Die Trans-
parenz und demokratische Kontrolle öffentlicher Unter-
nehmen sowie ihre Rolle für den sozial-ökologischen
Umbau muss durch die gewählte Rechtsform, die Fest-
legung des Unternehmenszieles sowie die Zusammen-
setzung von Aufsichtsräten und Beiräten, ihre Verpflich-
tung auf das Gemeinwohl sowie die Einführung eines
Initiativrechtes sichergestellt werden. Die Bürgerinnen
und Bürger müssen an der Entwicklung der Strategie öf-
fentlicher Unternehmen beteiligt werden, sei es über
Bürgerversammlungen, Bürgerhaushalte oder andere
Formen direkter Demokratie.
Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN): Mit unserem Antrag „Konsequente Umset-
zung des Public Corporate Governance Kodex“ setzen
wir uns für eine schnelle und umfassende Umsetzung
von Leitlinien zur guten Unternehmensführung, des soge-
nannten Public Corporate Governance Kodex, in allen
Bundesbeteiligungen ein.
Betriebe mit Beteiligung des Bundes sollen grund-
sätzlich eine Vorbildrolle einnehmen. Gerade von ihnen
kann man erwarten, dass sie die obligatorischen Grund-
sätze guter Unternehmens- und Beteiligungsführung um-
setzen. Das ist bislang nur langsam passiert. Seit der Ver-
abschiedung im Sommer 2009 kommt die Umsetzung
der Empfehlungen aus dem Public Kodex zwar voran, es
gibt aber nach wie vor Unternehmen in Bundesbesitz,
die den Public Kodex noch nicht in ihren Satzungen ver-
ankert haben bzw. die Gehälter von Geschäftsführerin-
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der Überschrift „Unternehmer Staat“ über vielfältige
Fehlentwicklungen in öffentlichen Unternehmen, die re-
gelmäßig finanzielle Folgen für die Eigentümerinnen
und Eigentümer und im Zuge dessen natürlich auch für
deren Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und Gläubiger
haben.
Deshalb soll sich die Bundesregierung dafür einset-
zen, dass in allen Satzungen der Unternehmen mit Mehr-
heitsbeteiligungen des Bundes schnellstmöglich der Pu-
blic Corporate Governance Kodex des Bundes verankert
wird. Davon ausgenommen sind börsennotierte Unter-
nehmen, denn für sie gilt der Deutsche Corporate Gover-
nance Kodex.
Wir wollen für die Zukunft, dass bei allen Änderun-
gen der Verträge der Mitglieder der Geschäftsführung,
der Vorstände und Aufsichtsräte sowie bei sämtlichen
Neuanstellungen von Geschäftsführerinnen und Ge-
schäftsführern, Vorständen und Aufsichtsräten festge-
setzt wird, dass deren Vergütung unter Berücksichtigung
der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und der zu
dieser Frage ergangenen einschlägigen Rechtsprechung
auf gesetzlicher Grundlage grundsätzlich transparent
und in namentlicher Aufzählung offengelegt wird.
Im Public Kodex ist die Offenlegung der Vergütung
von Geschäftsführern und Vorständen als Empfehlung
enthalten. So ist eine Abweichung vom Kodex möglich,
die lediglich im jährlichen Corporate-Governance-Be-
richt vermerkt werden muss. Die Zahl der Unternehmen,
die die Bezüge der Vorstände und Aufsichtsräte tatsäch-
lich individuell veröffentlichen, zeigt, dass eine freiwil-
lige Empfehlung zu kurz greift. Als Anteilseigner kann
der Bund maßgeblich darauf hinwirken, wie und ob der
Public Corporate Governance Kodex umgesetzt wird,
und für eine klare gesetzliche Offenlegungspflicht der
überwiegt grundsätzlich das Interesse der Beteiligungs-
verwaltung, der Steuerzahler und der Öffentlichkeit da-
ran, über die Verwendung der eingesetzten öffentlichen
Mittel Rechenschaft zu erhalten, gegenüber den dadurch
betroffenen Persönlichkeitsrechten und einem mögli-
chen Bedürfnis nach Geheimhaltung. Betriebe mit Betei-
ligung des Bundes sollen grundsätzlich eine Vorbildrolle
einnehmen und die obligatorischen Grundsätze guter
Unternehmens- und Beteiligungsführung umsetzen.
In der Antwort auf meine schriftlichen Fragen 454
und 455 vom Februar letzten Jahres beruft sich das Bun-
desministerium der Finanzen auf laufende Satzungsän-
derungverfahren, in denen der Kodex dann verankert
werden solle. Seit der Verabschiedung im Sommer 2009
kommt die Umsetzung der Empfehlungen aber nicht
schnell genug voran. Nach den Informationen der Ant-
wort auf diese Fragen weisen nur 17,5 Prozent der staat-
lich kontrollierten Betriebe die Bezüge der Vorstände in-
dividuell aus. Daher sollen die für die Führung der
Beteiligung zuständigen Bundesministerien darauf hin-
wirken, bei den Unternehmen, die die Regelwerke noch
immer nicht angepasst haben, schnellstmöglich eine Sat-
zungsänderung zugunsten der Einbindung des Public
Kodex zu erwirken.
Als damals noch relativ frisch dazugekommene Ab-
geordnete war mein Wunsch, den Public Kodex bis Ende
des Jahres 2012 umgesetzt zu sehen, wohl etwas sehr op-
timistisch. Die Mühlen der Demokratie mahlen langsam.
Insofern hoffe ich, dass der Antrag nun sinngemäß
schnellstmöglich angenommen und umgesetzt wird. Für
die Bundesregierung handelt es sich dabei um einen ge-
ringen Aufwand, von dem die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler einen nachhaltigen Mehrwert haben. Des-
halb hoffe ich auf die Zustimmung des Hauses.
(Cnen und Geschäftsführern, Vorständen und Aufsichts-
räten noch nicht individualisiert veröffentlichen.
Der Public Kodex orientiert sich inhaltlich an der ak-
tuellen gesetzgeberischen Situation, enthält aber darüber
hinaus noch Anregungen und Empfehlungen, die sich
zum Beispiel auf die Zusammensetzung von Aufsichts-
räten oder die transparente, individualisierte Offenle-
gung von Vorstandsgehältern beziehen. Es geht darum,
zu verhindern, dass eine mangelhafte Unternehmens-
überwachung und -leitung zu eigentlich vermeidbaren fi-
nanziellen Belastungen oder gar Unternehmenszusam-
menbrüchen führt. Nicht umsonst berichtet der Bund der
Steuerzahler in seinem alljährlichen Schwarzbuch unter
Vergütung sorgen. Nur so kann die Unternehmensfüh-
rung und -überwachung ehrlich, konsequent und trans-
parent gestaltet werden.
Die öffentliche Bekanntmachung von individuell zu-
ordenbaren Vergütungen stellt zwar einen rechtferti-
gungsbedürftigen Eingriff in Art. 8 EMRK bzw. das
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der
Betroffenen dar. Die einschlägigen Gerichte betonen al-
lerdings die Umsetzbarkeit des Transparenzanspruches,
soweit besondere privatheitsschützende Elemente beach-
tet werden.
Im Falle von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung
ertrieb: Bundesanzeiger Verlagsge
234. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
ZP 2 Regierungserklärung zur Finanzhilfe für Zypern
TOP 4 Quote in Führungsgremien
TOP 42, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 43, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 5 Aktuelle Stunde zum Kampf gegen Steuerhinterziehung
TOP 3 Enquete – Internet und digitale Gesellschaft
TOP 6 Teilzeitarbeit und Arbeit auf Abruf
TOP 5 Schutz vor unseriösen Geschäftspraktiken
TOP 8 Wohn- und Mietensituation von Studierenden
TOP 9 Tourismus im ländlichen Raum
TOP 10 Befristete Arbeitsverträge in der Wissenschaft
ZP 6 Gutachten der Monopolkommission
TOP 12, ZP 7, 8Menschenrechtslage in der Westsahara
TOP 13Zusammenarbeit in EU-Angelegenheiten (EUZBBG)
TOP 14 Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben
TOP 15 Altersgeld für freiwillig ausscheidende Beamte
TOP 25 Gesellschaftliche Vielfalt in der Bundeswehr
TOP 17 Begrenzung der Patentierung von Software
TOP 18 Parlamentsbeteiligung bei globaler Umwelt-Governance
TOP 19 Behinderungskompensierende Technologien
TOP 20 Förderung der elektronischen Verwaltung
TOP 21 Förderung Einfacher Sprache in Deutschland
TOP 22 Beitragsschulden in der Krankenversicherung
TOP 23 Teilhabe am Sport für Menschen mit Behinderungen
TOP 26 Investitionen in Ersatz von Schienenwegen
TOP 29 Rücknahme von Energiesparlampen
TOP 28 Familienpflegezeit für Bundesbeamte
TOP 27 Fortsetzung der Braunkohlesanierung
TOP 30 Professorenbesoldung
ZP 9 Schutz von Bienen und anderen Insekten
TOP 32 Neuregelung des gesetzlichen Messwesens
TOP 31 Volksabstimmungen bei Änderung der EU-Verträge
TOP 34 Übertragung gerichtlicher Aufgaben auf Notare
ZP 10 Public Corporate Governance Kodex
TOP 35 Rechte von ausländischen Arbeitnehmern
TOP 33 Produkte mit geregelter Mindestnutzungsdauer
Anlagen