Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001
        Vizepräsidentin Anke Fuchs
        20655
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        2) Anlage 8
        3) Anlage 91) Anlage 7
        Berichtigung
        207. Sitzung, Seite IV Anlage 2 und 20495 (D); erster Satz: Statt
        „Dr. Edith Niehuis“ ist „Gudrun Schaich-Walch (BMG)“ zu lesen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20657
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 13.12.2001
        Gila DIE GRÜNEN
        Behrendt, Wolfgang SPD 13.12.2001*
        Berninger, Matthias BÜNDNIS 90/ 13.12.2001
        DIE GRÜNEN
        Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 13.12.2001**
        Dr. Blank, CDU/CSU 13.12.2001**
        Joseph-Theodor
        Bulling-Schröter, Eva PDS 13.12.2001
        Frankenhauser, CDU/CSU 13.12.2001
        Herbert
        Friedrich (Altenburg), SPD 13.12.2001
        Peter
        Hauer, Nina SPD 13.12.2001
        Hauser (Bonn), CDU/CSU 13.12.2001
        Norbert
        Hempelmann, Rolf SPD 13.12.2001
        Hiksch, Uwe PDS 13.12.2001
        Dr. Hoyer, Werner FDP 13.12.2001
        Imhof, Barbara SPD 13.12.2001
        Dr. Jens, Uwe SPD 13.12.2001
        Jünger, Sabine PDS 13.12.2001
        Kraus, Rudolf CDU/CSU 13.12.2001
        Dr. Küster, Uwe SPD 13.12.2001
        Lippmann, Heidi PDS 13.12.2001
        Lörcher, Christa fraktionslos 13.12.2001*
        Michels, Meinolf CDU/CSU 13.12.2001
        Mosdorf, Siegmar SPD 13.12.2001
        Nahles, Andrea SPD 13.12.2001
        Dr. Pfaff, Martin SPD 13.12.2001
        Rübenkönig, Gerhard SPD 13.12.2001
        Schenk, Christina PDS 13.12.2001
        Schlee, Dietmar CDU/CSU 13.12.2001
        Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 13.12.2001
        Hans Peter
        Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 13.12.2001
        Christian
        Siemann, Werner CDU/CSU 13.12.2001
        Simmert, Christian BÜNDNIS 90/ 13.12.2001
        DIE GRÜNEN
        Stünker, Joachim SPD 13.12.2001
        Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 13.12.2001
        Türk, Jürgen FDP 13.12.2001
        Wieczorek-Zeul, SPD 13.12.2001
        Heidemarie
        * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
        sammlung des Europarates
        ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlametnarischen Ver-
        sammlung der NATO
        Anlage 2
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zurBeratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
        zur Änderung und Ergänzung vermögensrecht-
        licher und anderer Vorschriften (Zweites Ver-
        mögensrechtsergänzungsgesetz – 2. VermRErgG)
        (Tagesordnungspunkt 11)
        Hans-Joachim Hacker (SPD): Der Deutsche Bun-
        destag hat sich seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober
        1990 in einer Vielzahl von Fällen mit der Regelung der so
        genannten offenen Vermögensfragen befasst. Die Novel-
        lierung des Vermögensrechts war infolge der notwendi-
        gen Verzahnung von Regelungsbereichen des Vermö-
        gens- und Entschädigungsrechts nicht einfach. Leider
        – auch das muss einmal gesagt werden – sind die verab-
        schiedeten Gesetze für die Betroffenen nur noch schwer
        zu überschauen. Aber bei aller Kompliziertheit der Mate-
        rie ist und bleibt der Gesetzgeber gefordert, erneut zu no-
        vellieren, wenn offensichtlich ein Klarstellungserforder-
        nis besteht oder Regelungslücken geschlossen werden
        müssen.
        Diesem Erfordernis entspricht der von der Bundesre-
        gierung vorgelegte Entwurf eines Zweiten Vermögens-
        rechtsergänzungsgesetzes. Es hat sich gezeigt, dass ge-
        setzliche Regelungen zum Teil missverständlich
        formuliert wurden. Dieser Zustand soll durch den Gesetz-
        entwurf beseitigt werden und im Übrigen sollen unbillige
        Rechtskonstellationen zugunsten von Anspruchsberech-
        tigten verbessert werden.
        entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlagen zum Stenographischen Bericht
        Es geht konkret um die Änderung des Gesetzes zur
        Regelung offener Vermögensfragen, des Entschädigungs-
        gesetzes, des Ausgleichsleistungsgesetzes und des NS-
        Verfolgtenentschädigungsgesetzes.
        Ich kann nicht auf alle, schon gar nicht auf die ledig-
        lich redaktionellen Änderungen gesetzlicher Normen ein-
        gehen. Ich will daher nur die wichtigsten Ziele, die dem
        Gesetzentwurf zugrunde liegen, ansprechen.
        Eine solche Frage sehe ich in der Änderung des § 2
        Abs. 1 des Vermögensgesetzes. Bislang haben Berech-
        tigte wegen der Erbausschlagung keine vermögensrecht-
        lichen Ansprüche, wenn eine Vermögensschädigung den
        Erblasser getroffen hatte. Dieses ist offenkundig unbillig
        und wird von den Berechtigten als Weiterbestehen einer
        so genannten kalten Enteignung empfunden.
        Die vorgesehene rechtliche Regelung hebt diese Be-
        nachteiligung auf, ohne dass andere Privatpersonen aus
        einer etwaigen Berechtigtenstellung verdrängt würden.
        Im Weiteren: Bereits in der Vergangenheit hat es im
        Zusammenhang mit der Novellierung des Vermögensge-
        setzes eine Diskussion zu der Frage von Ansprüchen auf
        Bruchteilseigentum gegeben. Die dies betreffende Rege-
        lung im § 3 Abs. 1 des Vermögensgesetzes bedarf einer
        Klarstellung, wie das Erfordernis „mehr als den fünften
        Teil der Anteile“ zu verstehen ist, wenn Beteiligungen an
        Unternehmen bei einem Berechtigten zusammentreffen.
        Die Bundesregierung will mit dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf klarstellen, dass Anteile an verschiedenen
        Mutterunternehmen zu addieren sind, wenn sie heute in
        einer Hand zusammenfallen. Dieses ist konkret bei An-
        sprüchen der Rechtsnachfolger der früheren Weimarer
        Gewerkschaften der Fall, die von den Nazis enteignet
        worden sind und deren Vermögen dem NS-Staat einver-
        leibt wurde. Die von der Bundesregierung vorgeschla-
        gene Lösung führt in der Konsequenz und der Intention
        des Vermögensgesetzes folgend zu einer Wiedergutma-
        chung von NS-Unrecht. Dieser Ansatz wird von der SPD-
        Bundestagsfraktion nachdrücklich unterstützt.
        Genauso unterstützen wir die vorgesehene Änderung
        des § 31 Abs. 1 Buchstabe c des Vermögensgesetzes, wo-
        nach zukünftig ein Erbschein, der für die Geltendma-
        chung vermögensrechtlicher Ansprüche benötigt wird,
        generell gebührenfrei sein soll. Bislang gilt diese Rege-
        lung bereits für Fälle der NS-Verfolgung und ich finde es
        richtig, dass der Regelungsbereich auch auf vermögens-
        rechtliche Ansprüche außerhalb des § 1 Abs. 6 des Ver-
        mögensgesetzes ausgedehnt wird, weil in diesem Bereich
        auch eine Wiedergutmachung für Unrecht erfolgt.
        Die vorgesehene Regelung des § 4 Abs. 1 des Vermö-
        gensgesetzes, wonach künftig die Teilrestitution nicht
        mehr ausgeschlossen sein soll, weil der Zugang zum öf-
        fentlichen Verkehrswegenetz fehlt, greift auf eine be-
        währte Regelung im § 27 des Sachenrechtsbereinigungs-
        gesetz zurück.
        Im Gesetzentwurf wird erneut die Opfergruppe der
        Zwangsausgesiedelten angesprochen. Sie sind zu Recht
        als Opfer von DDR-Verwaltungsunrecht rehabilitiert
        worden und erhalten ihr Vermögen nach den Bestimmun-
        gen des Vermögensgesetzes zurück. Bereits bei zurück-
        liegenden Gesetzesnovellierungen sind im Wege der
        Klarstellung Unbilligkeiten beseitigt worden. Mit der vor-
        gesehenen Änderung des § 6 Abs. 1 Satz 2 des Entschädi-
        gungsgesetzes erfolgt die notwendige Klarstellung hin-
        sichtlich der Anrechnung erhaltener Gegenleistungen der
        Betroffenen, um eine doppelte Erfassung zu vermeiden.
        Sie sehen, auch elf Jahre nach der Wiedervereinigung
        bieten das Vermögensgesetz und die anderen von der No-
        vellierung betroffenen Gesetze interessanten juristischen
        Diskussionsstoff, vor allen Dingen für die Berichterstat-
        ter. Ich bin mir sicher, dass das Bundesjustizministerium
        uns in bewährter Weise mit Fachkompetenz zur Seite ste-
        hen wird.
        An dieser Stelle richte ich einen Appell an den Bun-
        desrat, das Gesetzgebungsverfahren zu unterstützen. Die
        Ablehnung des Gesetzentwurfes durch den Bundesrat
        sollte nicht das letzte Wort sein; denn mit der beabsich-
        tigten Regelung wird für die betroffenen Berechtigten ma-
        terielle Gerechtigkeit geschaffen, die schwerer wiegt als
        eine in Kauf zu nehmende zusätzliche Belastung der Ver-
        waltung. Bei der Beratung zur Änderung der beiden SED-
        Unrechtsbereinigungsgesetze im Vermittlungsausschuss
        am 6. Dezember 2001 haben die Länder dokumentiert,
        dass ihnen Gerechtigkeit wichtiger ist als der Abbau von
        Verwaltungskapazitäten. Dieser Grundsatz sollte auch für
        den Regelungsbereich des vorliegenden Gesetzentwurfes
        gelten.
        Andrea Voßhoff (CDU/CSU):Wieder einmal hat die
        Bundesregierung die rechtspolitische Wundertüte geöff-
        net und präsentiert uns erneut nach der Devise „alle Jahre
        wieder“ – denn das letzte Mal ist gerade ein Jahr her – ei-
        nen bemerkenswerten Fächer von Änderungen im Ver-
        mögensgesetz und im Entschädigungs- und Ausgleichs-
        leistungsgesetz. Es fällt mir dazu der schon oft stra-
        pazierte Ausspruch der rot-grünen Bundesregierung zu
        Beginn der Legislaturperiode ein, man wolle „nicht alles
        anders, aber vieles besser“ machen. Ich wollte dieses Ver-
        sprechen eigentlich nicht weiter zitieren; vorliegender
        Gesetzentwurf zwingt aber dazu, auf diese vollmundige
        Aussage nochmals einzugehen. Denn besser kann man es
        kaum darstellen, wie die Rechtspolitik von Rot-Grün zur
        Salamitaktik degradiert wird. Besser kann man es kaum
        darstellen, wie Rot-Grün Rechtsklarheit und Rechtsfrie-
        den in den Eigentumsfragen der neuen Länder zusätzlich
        strapaziert. Besser kann man es kaum darstellen, wie sich
        die vom Kanzler Schröder versprochene Chefsache „Auf-
        bau Ost“ offenbar in einer Arbeitsbeschaffungsmaß-
        nahme für die Vermögensämter erschöpft.
        Bereits mit dem Vermögensrechtsergänzungsgesetz
        aus dem Jahr 1999 haben wir uns mit umfangreichen Än-
        derungen des Vermögensgesetzes beschäftigt und mit
        dem Grundstücksrechtsänderungsgesetz aus dem Jahr
        2000 ebenfalls. Jedesmal warnten die Länder vor dem
        immensen Verwaltungsmehraufwand für die Vermö-
        gensämter. Insbesondere beim Grundstücksrechtsände-
        rungsgesetz haben wir dies auch in der damaligen An-
        hörung von Vertretern der Vermögensämter gehört, die
        mit mehr als deutlichen Appellen auf die Bearbeitungssi-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120658
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        tuation hingewiesen haben. Nun sollte materielle Ge-
        rechtigkeit nicht an dem zur Umsetzung erforderlichen
        Verwaltungsmehraufwand scheitern – gar keine Frage!
        Aus dem Rechtsgedanken der aktuellen Entscheidung
        des Bundesverfassungsgerichtes zu den so genannten
        „kalten Enteignungen“ mag man auch über die Auswei-
        tung der Rechtsnachfolge bei der Geltendmachung von
        Restitutions- bzw. Entschädigungsansprüchen nachden-
        ken. Die dazu in diesem Entwurf vorgeschlagene Rege-
        lung ist deshalb sicher auch diskussionswürdig. Änderun-
        gen aber, die im Jahre elf nach der Wiedervereinigung
        vorgenommen werden, zudem die Vermögensämter alles
        in allem bereits einen hohen Erledigungsaufwand aus-
        weisen, sollten mit besonderem Augenmerk bedacht wer-
        den; denn sie beeinträchtigen durch erneute Ausdehnung
        der Rechtsfolgen den Rechtsfrieden und die Rechtsklar-
        heit in den neuen Ländern. Letztere ist durch die komple-
        xen Regelungen des Vermögensrechtes eh nur schwer
        auszumachen und sollte deshalb durch weitere Änderun-
        gen nicht noch mehr beeinträchtigt werden.
        Außerdem sollten wir immer auch ein Ziel im Auge ha-
        ben, den Abschluss der Vermögensauseinandersetzung in
        den neuen Ländern und damit das Ende der notwendigen
        Sonderregelungen. Daran kann und muss man mit Vorlage
        dieses Gesetzentwurfes teilweise erhebliche Zweifel ha-
        ben. Zwar heißt es in der Begründung des Entwurfes, es
        handele sich um Klarstellungen und in Einzelfällen um ge-
        rechtere Lösungen bestehender Rechtsfolgen. Das klingt
        gut, bei näherer Betrachtungsweise wird deutlich, was
        Rot-Grün aber damit meint. Denn allein mit dem erneuten
        Anlauf, nämlich der Bündelung von Splitteranteilen an
        Unternehmen, starten sie nichts anderes, als den erneuten
        Versuch einer gezielten Ausweitung der Restitution, von
        der ja wohl augenscheinlich insbesondere gewerkschafts-
        eigene Immobiliengesellschaften profitieren würden.
        Dieses Ansinnen ist ja nicht neu, auch wenn die Um-
        setzung diesmal in leicht abgewandelter Form erfolgt.
        Bereits mit dem Grundstücksrechtsänderungsgesetz ist
        ein solcher Versuch gestartet worden, letztlich dann aber
        im Vermittlungsausschuss im September 2000 geschei-
        tert.
        Die Damen und Herren von den Regierungsfraktionen
        sind offenbar sehr hartnäckig, wenn es um eine bestimmte
        Gruppe von Restitutionsberechtigten geht, nämlich den
        Gewerkschaften. Ich will ja gar nicht in Abrede stellen,
        dass eine solche Ausweitung der Restitution auch be-
        gründbar wäre. Aber wie viele Restitutionsbegehren, die
        uns von anderen Betroffenen immer wieder erreichen,
        wären es dann auch? Ich erinnere aber auch an die Aus-
        führungen der Sachverständigen in der damaligen An-
        hörung. Sie warnten vor den verwaltungstechnischen
        Auswirkungen einer solchen Regelung, deren Erledigung
        die Vermögensämter noch über Jahrzehnte beschäftigen
        würde.
        Auch wenn Sie die Anforderungen an die Bündelung
        von Splitteranteilen an Unternehmen diesmal etwas höher
        gesetzt haben, die Hemmnisse im Grundstücksverkehr und
        die finanziellen Auswirkungen zu Lasten der ostdeutschen
        Wohnungswirtschaft dürften evident sein. Dies belegen
        bereits jetzt entsprechende Schreiben der betroffenen
        Wohnungswirtschaft. Es mutet auch schon befremdlich an,
        wenn offenbar der Staatsminister Schwanitz im Februar
        2001 die Landesregierungen auffordert, die offenen Ver-
        mögensfragen des Entschädigungsgesetzes bis zum Ende
        des Jahres 2003 abzuarbeiten und Sie mit diesem Gesetz-
        entwurf gleichzeitig nichts unversucht lassen, mit neuen
        Rechtsänderungen die zuständigen Ämter nicht nur rechts-
        politisch in Atem zu halten, sondern sie über Jahre hinaus
        erneut zu belasten.
        Darüber hinaus verweist die Bundesregierung selbst
        hinsichtlich der Kostenfolge dieses Gesetzesentwurfes
        auf Mehrbelastungen für die kommunalen Haushalte hin.
        Bei der Interessenabwägung darf auch die Belastbarkeit
        der Kommunen nicht endlos ausgedehnt werden. Auch
        die von Ihnen beabsichtigte Erweiterung der Auskeh-
        rungspflicht von Nutzungsentgelten in § 7 des Vermö-
        gensgesetzes der Wohnungswirtschaft gegenüber den Re-
        stitutionsberechtigten wird die Wohnungswirtschaft in
        Millionenhöhe belasten.
        Im Übrigen müssen Sie auch noch die Frage beant-
        worten, warum Sie diese Änderungen nicht auch bereits
        in den bereits genannten Gesetzesinitiativen miteinge-
        bracht haben. Allein die sicher für Betroffene erfreuliche
        Absicht, Erbscheine kostenfrei zu stellen, dürfte ja wohl
        nicht erst jetzt notwendig geworden sein. Darüber hinaus
        betreffen die Gegenstandswerte von Erbscheinen in der
        Regel den gesamten Nachlass und dabei muss es sich ja
        nicht nur um Restitutionsansprüche handeln.
        Es ist schon auch bemerkenswert, wie einmütig der Bun-
        desrat diesen Gesetzentwurf komplett abgelehnt hat und
        wie beratungsresistent die Bundesregierung in ihrer Ge-
        genäußerung darauf reagiert hat. Wir werden uns daher mit
        der von der Bundesregierung behaupteten Regelungsnot-
        wendigkeit dieser Detailänderungen in den Beratungen
        auseinander zu setzen haben. Größtenteils überzeugen die
        geltend gemachten Argumente nicht, denn sie stehen in kei-
        nem Verhältnis zu den zu erwartenden Folgen.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN: Der Entwurf des Zweiten Vermögensrechtsergän-
        zungsgesetzes sieht zahlreiche Einzeländerungen von
        Vorschriften des Vermögens- und Entschädigungsrechts
        vor. Es enthält auch Änderungen des Ausgleichsleistungs-
        und des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes.
        Es handelt sich um eines der vielen – es ist sicherlich
        nicht das letzte – Korrekturgesetze zu der insgesamt nicht
        gelungenen Regelung des Vermögensrechts in den neuen
        Ländern. Hier hat sich die Regierung Kohl ein juristisch
        von Anfang an mangelhaftes Denkmal gesetzt. Leider ist
        es zu spät für eine grundlegende Neugestaltung insge-
        samt. Nach elf Jahren bleibt nur die Möglichkeit der Kor-
        rektur der Korrektur.
        Die Gesetze, über die wir heute sprechen, haben nicht
        den Beifall des Bundesrates gefunden. Für die Verwaltun-
        gen ist es offenbar sehr schwer, die notwendigen Neurege-
        lungen in der Praxis umzusetzen. Das gilt vor allem für
        laufende oder bereits abgeschlossene Verfahren. Die Bun-
        desregierung hat Recht, wenn sie in ihrer Gegenäußerung
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        feststellt, dass die Belange der materiellen Gerechtigkeit
        und der Arbeitsbelastung für die Verwaltung gegeneinan-
        der abgewogen werden müssen. Die allzu sehr am Wohl
        der Verwaltung orientierten Bedenken des Bundesrates
        müssen dazu zunächst konkretisiert und belegt werden.
        Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ent-
        schädigung bei kalten Enteignungen muss in der weiteren
        Diskussion berücksichtigt werden.
        Wir halten unsere Kritik an dem Prinzip „Rückgabe
        vor Entschädigung“ voll aufrecht. Das war eine Fehlent-
        scheidung. Die Alteigentümer wurden und werden zu Un-
        recht bevorzugt. Aber dennoch: Die abgenötigte Erbaus-
        schlagung darf nicht anders behandelt werden als eine
        Enteignung. Das hat das höchste deutsche Gericht auch so
        festgestellt. Die Fragwürdigkeit der Generalentscheidung
        des damaligen Gesetzgebers ist keine Rechtfertigung für
        eine willkürliche Differenzierung. Gleiches darf nicht un-
        gleich behandelt werden.
        Die Notwendigkeit gesetzlicher Klarstellungen er-
        gibt sich beispielsweise aus dem vorgesehenen neuen
        Abs. 2 des § 6 des Entschädigungsgesetzes. Die gel-
        tende Regelung ist für die geplagten Opfer der Zwangs-
        aussiedlung aus den Grenzgebieten mehr als misslich.
        Sie lässt in der Tat eine doppelte Anrechnung der ge-
        währten Gegenleistungen an den Betroffenen zu. Dieses
        Ergebnis ist nicht hinnehmbar. Wir wissen doch alle, in
        welchem Zustand die Betroffenen ihr Eigentum zurück-
        bekommen haben. Wenn sie die Entschädigungsleistun-
        gen zurückzahlen müssen, dann muss klar sein, dass sie
        nur an den Entschädigungsfonds zahlen und an niemand
        anderen.
        Selbstverständlich müssen im weiteren Gang der Be-
        ratungen Vorbehalte des Bundesrates geklärt werden. Ob
        es beispielsweise wirklich unumgänglich ist, an der ge-
        planten Gebührenbefreiung für die Erbscheinerteilung
        in den verbleibenden vermögensrechtlichen Verfahren
        festzuhalten, wird noch zu klären sein. Der Verweis auf
        die Sonderregelung nach dem Bundesentschädigungsge-
        setz für NS-Opfer als Begründung für die Gebührenfrei-
        heit für Alteigentümer sollte im Lichte der Ausführun-
        gen in der Stellungnahme des Bundesrates noch einmal
        überdacht werden. Es gibt einiges zu beraten. Fangen
        wir an!
        Rainer Funke (FDP): Der vorliegende Entwurf eines
        Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung vermö-
        gensrechtlicher Vorschriften wird im Grundsatz von der
        FDP-Fraktion begrüßt. Es hat sich in der Tat gezeigt, dass
        mit dem zurzeit geltenden Vermögensrecht Wertungswi-
        dersprüche festzustellen sind, die zu unbilligen Ergebnis-
        sen zulasten der Alteigentümer führen und demgemäß be-
        seitigt werden müssen.
        Dennoch wird bei der Beratung im Rechtsausschuss
        gründlich zu prüfen sein, wie die Auswirkungen der No-
        vellierung, insbesondere auf die Wohnungswirtschaft und
        dort besonders auf die kommunale Wohnungswirtschaft
        sein werden. Dies gilt besonders für die Regel der Addi-
        tion von Kleinstbeteiligungen beim so genannten doppel-
        ten Durchgriff. Diese Zusammenzählung von Kleinstbe-
        teiligungen war in der Vergangenheit letztlich auch im
        Vermittlungsausschuss gescheitert, wie wir meinen, auch
        zu Recht.
        Wir sind jedoch durchaus bereit, die Frage der materi-
        ellen Berechtigung entsprechender Zuordnungen zu prü-
        fen, wollen aber auch sichergestellt haben, dass die kom-
        munale Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern
        hierdurch nicht benachteiligt wird. Wir werden jedoch
        auch dem Vorwurf nachgehen, dass durch die vorgese-
        hene Zurechnung eine bestimmte Gesellschaftsgruppie-
        rung bevorzugt werden soll.
        Natürlich werden wir auch das ablehnende Votum des
        Bundesrates in unsere Überlegungen mit einbeziehen,
        wenn wir zurzeit auch nicht nachvollziehen können,
        warum die Alteigentümer nach den Vorstellungen des
        Bundesrates benachteiligt werden sollen. Insoweit scheint
        uns der Lösungsansatz der Bundesregierung zu Art. 1 Nr. 1,
        also die Änderung des § 2 Abs. 1 Satz 1 des Vermögens-
        gesetzes, konsequenter zu sein. Aber auch hier möchten
        wir eine genaue Prüfung im rechtstatsächlichen Bereich
        vorgenommen sehen.
        Die vorgesehene Klarstellung in Art. 1 Nr. 7, die die
        Verringerung von Gebühren für Erbscheinerteilungen be-
        trifft, wird von uns begrüßt. Dies gilt insbesondere des für
        die Bemessung des Gegenstandswertes maßgeblichen Be-
        wertungszeitpunktes. Hier hat es sehr unterschiedliche
        Rechtsprechungen gegeben und aus Gerechtigkeitsgrün-
        den kann nur der Wert der Ausgleichsleistungen zugrunde
        gelegt werden, denn sonst könnte die Gebühr für Erb-
        scheinerteilung höher sein als die tatsächlich zugrunde
        gelegte Ausgleichsleistung.
        Im Gesetzgebungsverfahren sollte im Übrigen geprüft
        werden, ob eine Regelung aufgenommen werden kann,
        dass der Erwerb nach § 3 Ausgleichsleistungsgesetz von
        der Grunderwerbsteuer befreit ist.
        Wir begrüßen, das dieser vorliegende Gesetzentwurf
        noch in dieser Legislaturperiode in das Bundesgesetzblatt
        gebracht werden soll. Dabei ist sicherlich auch noch der
        Widerstand des Bundesrates zu überwinden. Ich hoffe
        sehr, dass sich dabei der Bundesrat nicht nur von fiskali-
        schen Gesichtspunkten leiten lässt, sondern auch stärker
        als in seiner bisherigen Stellungnahme von Gerechtig-
        keitsüberlegungen.
        Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Der Berg der Änderungen
        und Ergänzungen der Regelungen, mit denen die Eigen-
        tumsordnung der DDR in den Geltungsbereich des BGB
        überführt werden soll, wird immer höher. Wenn ich es rich-
        tig sehe, gab es zum Vermögensgesetz bisher zwei Vermö-
        gensrechtsänderungsgesetze, ein Vermögensrechtsanpas-
        sungsgesetz, ein Vermögensrechtsbereinigungsgesetz und
        ein Vermögensrechtsergänzungsgesetz. Von den vielen be-
        gleitenden Gesetzen und Verordnungen rede ich erst gar
        nicht. Das Ganze hat beinahe den Umfang des BGB ohne
        dessen immanente Logik. Selbst Experten haben Mühe,
        den Durchblick zu behalten. Für die Betroffenen ist das
        Paragraphengestrüpp undurchdringlich – und schon des-
        halb völlig ungeeignet, die innere Einheit Deutschlands
        voran zu bringen. Nun soll noch ein zweites Vermögens-
        rechtsergänzungsgesetz hinzukommen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120660
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Die letzte Ursache für den Wirrwarr ist der verhäng-
        nisvolle Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“, dem
        nicht nur die Koalitionsfraktionen, sondern auch die SPD-
        Fraktion zugestimmt haben. Die derzeitige Justizministe-
        rin, Frau Däubler-Gmelin, hielt den Grundsatz damals für
        „vernünftig“. Aber der „Fluch der bösen Tat“ verfolgt uns
        bis heute. Ich weiß, dass der Grundsatz nicht mehr rück-
        gängig zu machen ist. Aber ich muss daran erinnern. Ein
        gerechter Ausgleich zwischen Alteigentümern und Er-
        werbern und der Rechtsfrieden sind immer noch nicht
        hergestellt.
        Nun stehen wir vor der Situation, dass sich die Bun-
        desregierung die Ablehnung ihres Gesetzentwurfs durch
        den Bundesrat eingehandelt hat. Ich frage mich, wie
        schlecht das BMJ mit seinen Partnern in Berlin und den
        ostdeutschen Bundesländern zusammen gearbeitet hat,
        dass es zu dieser Situation kommen konnte. Der Bundes-
        rat hat aus meiner Sicht durchaus Gründe für seinen Be-
        schluss. Die von der Regierung vorgeschlagenen Neue-
        rungen führen in der Tat zu einer beträchtlichen Mehr-
        belastung der Ämter zur Regelung offener Vermögensfra-
        gen. Der Bundesrat sieht auch keine inhaltliche Notwen-
        digkeit dafür. Die Bundesregierung hält dagegen, die
        „materielle Gerechtigkeit“ und die Vermeidung von Un-
        billigkeit für die Alteigentümer wiege schwerer als die Ar-
        beitsbelastung der Verwaltung.
        Nun soll der Bundestag entscheiden, wer Recht hat.
        Das Gefeilsche im Vermittlungsausschuss ist schon vor-
        programmiert. Die Kompromisse werden wieder nicht zu
        einer abschließenden Regelung führen. Ein Arbeitsbe-
        schaffungsprogramm für Richter und Rechtsanwälte!
        Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht mit sei-
        nem Beschluss vom 10. Oktober in einem Punkt ein
        klärendes Wort gesprochen und uns – wie nicht selten –
        ein Stück Arbeit und Entscheidung abgenommen. § 1
        Abs. 3 des Entschädigungsgesetzes ist nach diesem Be-
        schluss verfassungswidrig und nichtig. Bürger, die ein
        Grundstückserbe wegen dessen Überschuldung ausge-
        schlagen haben, erwerben einen Entschädigungsan-
        spruch. Ich halte das für eine angemessene Entscheidung,
        weil ich weiß, welche panische Angst manchen DDR-
        Bürger befiel, wenn die Erbschaft eines überschuldeten
        Mietsgrundstücks auf sie zuzukommen drohte. Ein sol-
        cher Bürger soll gerechter- und billigerweise eine Ent-
        schädigung erhalten.
        Wir werden im Rechtsausschuss Gelegenheit haben,
        mit Betroffenen und Experten Genaueres zu beraten. Ich
        habe noch erheblichen Klärungsbedarf, bevor ich meine
        endgültige Position festlege.
        Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
        Justiz: Der heute in erster Lesung zu beratende Gesetz-
        entwurf betrifft Regelungen auf dem Gebiet der offenen
        Vermögensfragen in den neuen Bundesländern. Mit dem
        Entwurf werden vor allem zwei Anliegen verfolgt, näm-
        lich zum einen dort Klarstellungen vorzunehmen, wo sich
        gezeigt hat, dass missverständliche Formulierungen ver-
        mögensrechtliche Verfahren behindern oder zu unzutref-
        fenden Ergebnissen führen können und zum anderen ge-
        rechtere Lösungen zu ermöglichen, wo die geltenden
        Regelungen in Ausnahmekonstellationen für Alteigentü-
        mer zu unbilligen Entscheidungen führen.
        Ich möchte vorweg betonen, dass die Bundesregie-
        rung natürlich an einer zügigen Bearbeitung der vermö-
        gens- und entschädigungsrechtlichen Verfahren sehr
        interessiert ist. Dem Bundesrat ist insofern uneinge-
        schränkt zuzustimmen. Zügig werden die Verfahren aber
        nur dann abgeschlossen, wenn über die Entscheidungen
        der Vermögensämter möglichst wenig Streitigkeiten ent-
        stehen. Denn diese können sich über Jahre hinziehen und
        belasten Rechtssuchende, Behörden und Gerichte glei-
        chermaßen. Solche Streitigkeiten sollen die vorgeschla-
        genen Klarstellungen und Verbesserungen verhindern
        helfen.
        Weil die zügige Abwicklung der Verfahren vor allem
        dazu dient, Rechtsfrieden und materielle Gerechtigkeit
        herzustellen, ist eine Selbstkontrolle der vermögens-
        rechtlichen Vorschriften auch noch heute geboten, wo
        der größere Teil der Verfahren bereits abgeschlossen ist.
        Ich kann daher nicht verstehen, dass der Bundesrat die
        Priorität offenbar allein in der Verfahrenserledigung
        sieht und selbst dann kein Verständnis für unsere Vor-
        schläge zeigt, wenn sie in diesem sensiblen Bereich al-
        lein der Vermeidung von ungerechten Verfahrensergeb-
        nissen dienen.
        Wenn gesetzliche Regelungen zu widersprüchlichen
        oder unbilligen Ergebnissen für die Alteigentümer führen,
        muss der Gesetzgeber prüfen, ob und wie eine Korrektur
        vorgenommen werden kann, auch wenn sich die Verwal-
        tung dann in Randbereichen auf eine geänderte Rechts-
        lage einstellen muss.
        Ich möchte das an zwei Beispielen verdeutlichen:
        Erstens. Die Praxis hat über Fälle zu entscheiden, in
        denen einem Alteigentümer zu DDR-Zeiten zunächst
        ein Grundstück durch unlautere Machenschaften entzo-
        gen worden ist. Der selbe Eigentümer hatte nun außer-
        dem noch ein Mietshaus. Nach seinem Tode hat der
        Erbe die Erbschaft ausgeschlagen, weil die nicht kos-
        tendeckenden Mieten zu einer Überschuldung geführt
        hatten. Nach § 1 Abs. 2 des Vermögensgesetzes erhält
        der anspruchsberechtigte Erbe heute zwar das Miets-
        haus zurück. Im Übrigen bleibt es aber bisher bei den
        Wirkungen der Erbausschlagung, sodass er nicht als
        Rechtsnachfolger des ursprünglichen Eigentümers an-
        gesehen wird. Das bedeutet, dass er keine Wiedergut-
        machung für die Vermögensschädigung erhält, die
        seinem Rechtsvorgänger aufgrund unlauterer Machen-
        schaften in der DDR zugefügt worden waren. Das zu-
        erst dem Erblasser entzogene Grundstück bekommt er
        deshalb nicht zurück.
        Ich denke, dieses Ergebnis kann man dem Betroffenen
        nur schwer erklären. Mit der in § 2 Abs. 1 des Vermö-
        gensgesetzes vorgeschlagenen Änderung wollen wir dies
        korrigieren.
        Zweitens. Teilgrundstücke sollen künftig auch dann
        an die Alteigentümer zurückgegeben werden können,
        wenn sie nicht mit dem öffentlichen Wegenetz verbunden
        sind.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20661
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bekommt
        der Alteigentümer unter Umständen einen Teil eines ur-
        sprünglichen Gesamtgrundstücks nicht zurück, weil
        dieser Teil vom öffentlichen Wegenetz durch einen
        Grundstücksstreifen abgetrennt wird. Die Gerichte sehen
        hier einen Fall der rechtlichen Unmöglichkeit der Rück-
        gabe. Den abgetrennten – hinteren – Grundstücksteil be-
        hält nach dieser Rechtsprechung derjenige, der durch die
        DDR-Schädigung begünstigt worden war; das ist regel-
        mäßig die öffentliche Hand.
        In der Sachenrechtsbereinigung wird ein solches Pro-
        blem gelöst: Das Sachenrechtsbereinigungsgesetz gibt
        dem Hinterlieger einen Anspruch auf Einräumung einer
        Dienstbarkeit. Ich meine, es liegt hier nahe, auf dieses In-
        strument zurückzugreifen: nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Vermö-
        gensgesetz (neu) soll künftig die Rückgabe nicht mehr an
        der fehlenden Anbindung zum öffentlichen Wegenetz
        scheitern.
        Berechtigte Interessen der geschädigten Alteigentü-
        mer dürfen nicht allein deshalb unberücksichtigt bleiben,
        weil sonst eine zusätzliche Arbeitsbelastung für die Ver-
        waltungsbehörden entsteht. Es ist vielmehr geboten, die
        Belange der materiellen Gerechtigkeit einerseits und der
        Arbeitsbelastung der Verwaltung andererseits gegenei-
        nander abzuwägen. Dies haben wir im vorliegenden Ent-
        wurf getan. Wir haben Vorschläge unterbreitet, die einer-
        seits Ergebnisse vermeiden, die für die Alteigentümer un-
        billig oder nicht mehr nachvollziehbar sind und die
        andererseits nicht dazu führen, dass auf die Behörden
        eine unvertretbare Mehrbelastung zukommt.
        Es trifft zu, dass der vorliegende Entwurf Vorschläge
        aufgreift, die nicht neu in der Diskussion sind. Dazu ha-
        ben wir uns aber veranlasst gesehen, weil es um die Wie-
        dergutmachung von NS-Unrecht geht. Ich meine die Er-
        gänzung der Regelung zum so genannten doppelten
        Durchgriff. Hier sollen in verstärktem Maße verfolgungs-
        bedingt entzogene Anteile an Mutterunternehmen addiert
        werden können. Diese Regelung wirkt sich sicher für die
        gewerkschaftlichen Nachfolgeorganisationen – BIO –
        aus, bezieht aber alle NS-Verfolgten ein.
        Die vorgeschlagene Regelung ist ein Kompromiss zwi-
        schen den berechtigten Anliegen der NS-Verfolgten und
        dem Vertrauen der Verfügungsberechtigten – vor allem
        der Wohnungswirtschaft – darauf, dass überhaupt keine
        Addition kleinerer Anteile erfolgen werde: Die Anteile an
        verschiedenen Unternehmen sollen nur dann addiert wer-
        den, wenn der NS-Verfolgte auch ohne diese zusätzlichen
        Anteile schon einen Anspruch auf Einräumung von
        Bruchteilseigentum hatte. Sie werden diesem ohnehin
        bestehenden Anspruch also nur hinzugezählt. Für die Ver-
        fügungsberechtigten wird damit sichergestellt, dass Ver-
        mögenswerte, die bislang völlig frei von Restitutionsan-
        sprüchen waren, restitutionsfrei bleiben. Das gilt auch in
        allen Fällen, in denen die Restitution schon bestandskräf-
        tig abgelehnt wurde. Ein Wiederaufgreifen dieser abge-
        schlossenen Verfahren wird es aufgrund der vorgeschla-
        genen Regelung daher nicht geben. Damit wird zur
        Planungssicherheit für die Wohnungswirtschaft beige-
        tragen.
        In einem anderen – ebenfalls schon bekannten – Be-
        reich haben wir den bereits diskutierten Regelungsvor-
        schlag in seinem Anwendungsbereich stark einge-
        schränkt: Es geht um die Erweiterung der Verpflichtung
        zur Herausgabe von Nutzungen auch dann, wenn das
        Mietgrundstück nach dem Investitionsvorranggesetz ver-
        wendet wird. Mit der Beschränkung auf die Verfahren
        nach § 21 und § 21 b Investitionsvorranggesetz sind wir
        der Wohnungswirtschaft entgegen gekommen. Zugleich
        drängt sich aber in diesen Verfahren die Parallele zur
        Rückgabe nach dem Vermögensgesetz auf, weil auch hier
        im Ergebnis eine Rückübertragung auf den Alteigentü-
        mer erfolgt, nur eben in einem anderen Verwaltungsver-
        fahren.
        Auch bei diesen InVorG-Verfahren besteht die Gefahr,
        dass sie sich länger hinziehen. In der Zwischenzeit ver-
        fallen die Häuser, wenn die Mieten nicht reinvestiert wer-
        den. Dem Alteigentümer werden dann nicht nur die Miet-
        erträge vorenthalten, sondern er erhält sein Haus auch
        noch wertgemindert zurück. Diese Schieflage wollen wir
        beseitigen.
        Die Belastung der Wohnungsbauunternehmen durch
        diese Neuregelung hält sich in Grenzen, weil der An-
        spruch binnen eines Jahres nach bestandskräftiger Fest-
        stellung der Berechtigung geltend zu machen ist. In vie-
        len Verfahren aus der Vergangenheit ist diese Frist bereits
        verstrichen.
        Abschließend zum Vermögensgesetz möchte ich da-
        rauf aufmerksam machen, dass inzwischen auch allein der
        Zeitablauf nach der Wiedervereinigung rechtliche Ände-
        rungen dringend fordert. In immer mehr Fällen kann eine
        Wiedergutmachung nicht mehr gegenüber den Geschä-
        digten selbst erfolgen, weil diese vorher versterben. Denn
        wider Erwarten sind elf Jahre nach der Vereinigung noch
        immer nicht alle Rückübertragungsverfahren entschieden
        worden, von den Entschädigungsverfahren ganz zu
        schweigen. Unter diesen Umständen ist nicht länger ver-
        tretbar, dass die Rechtsnachfolger eines verstorbenen
        SBZ- oder DDR-Geschädigten auch noch Gebühren dafür
        zahlen müssen, um sich dafür legitimieren zu können, das
        Verfahren bis zu einer Entscheidung weiter zu führen, die
        eigentlich der Geschädigte selbst hätte erhalten sollen.
        Es ist nach § 31 Abs. 1 c Vermögensgesetz bereits gel-
        tendes Recht, dass NS-Verfolgte einen Anspruch auf Er-
        teilung beschränkt kostenfreier Erbscheine haben. Wenn
        sich Rechtsnachfolger allein durch die Höhe der Ge-
        bühren davon abschrecken lassen, das Verfahren weiter zu
        führen, kann dadurch sogar verhindert werden, dass eine
        Wiedergutmachung überhaupt erfolgt. Das kann nicht
        richtig sein; deshalb sollen in diesen Fällen für die DDR-
        Geschädigten dieselben Regeln wie für NS-Verfolgte gel-
        ten und auch für sie die Erteilung des Erbscheins kosten-
        frei erfolgen.
        Der Gesetzentwurf enthält ferner Regelungen für das
        Entschädigungsgesetz. Hier werden vor allem Klar-
        stellungen zu den Berechnungs- oder Anrechnungs-
        grundlagen bei der Bemessung von Entschädigungsleis-
        tungen getroffen. Diese greifen zum Teil eine bereits
        zwischen Bund und Ländern abgestimmte Verwaltungs-
        praxis auf.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120662
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor
        angedrohten und vorgetäuschten Straftaten (Ta-
        gesordnungspunkt 12)
        Hermann Bachmaier (SPD):Wir sind uns sicherlich
        darüber einig, dass diejenigen, die unter Ausnutzung der
        Ängste und Sorgen der Menschen als so genannte Tritt-
        brettfahrer gefährliche Straftaten vortäuschen und die Be-
        völkerung in Angst und Schrecken versetzen, empfindlich
        bestraft werden müssen. Die bislang vorliegenden Urteile
        zeigen, dass die Justiz mit kriminellen Trittbrettfahrern
        auch nicht gerade zimperlich umgeht. Das ist auch gut so.
        Freiheitsstrafen, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wer-
        den, sind an der Tagesordnung. Allerdings haben die bis-
        herigen Urteile auch gezeigt, dass der in § 126 StGB ge-
        setzte Strafrahmen durchaus ausreicht, um strafrechtlich
        angemessen zu reagieren. Schließlich kommt bei Strafta-
        ten dieser Art auch noch die Anwendung weiterer Straf-
        vorschriften wie die des § 145 d StGB, also das Vortäu-
        schen einer Straftat, die Körperverletzungsdelikte und
        auch der Bedrohungstatbestand des § 241 StGB in Be-
        tracht. Zusammengenommen reicht unseres Erachtens
        nach bisherigen Erfahrungen das vorliegende strafrechtli-
        che Instrumentarium aus, um auf diese gefährlichen und
        verwerflichen Straftaten angemessen zu reagieren. Ent-
        scheidend ist aber in diesen Fällen, dass Täter, die gewis-
        senlos Straftaten vortäuschen, um andere in Angst und
        Schrecken zu versetzen, schnell gefasst und auch zügig vor
        Gericht gestellt werden. Dies ist dank der gründlichen Ar-
        beit der Polizei auch in vielen, wenn nicht gar den meisten
        Fällen geschehen, obwohl die Täter in aller Regel unter
        dem Schutz der Anonymität ihr hässliches Handwerk be-
        treiben. Nicht vergessen darf man natürlich auch, dass den
        Betroffenen dann, wenn die Täter gefasst sind, ein um-
        fangreiches zivilrechtliches Instrumentarium zur Verfü-
        gung steht, um angemessenen Schadenersatz bis hin zu re-
        lativ hohen Schmerzensgeldern zu erlangen. Gerade in
        derartigen Fällen neigen unsere Zivilgerichte nicht dazu,
        Schmerzensgelder allzu knapp zu bemessen. Auch die ho-
        hen Kosten, die der öffentlichen Hand durch den Schutz
        der Betroffenen, kostenintensive Polizeieinsätze und be-
        trächtlichen Aufwand für Gutachten entstehen, können ge-
        genüber den Tätern geltend gemacht werden. Die meisten
        Polizeigesetze enthalten hierzu ausdrückliche Regelun-
        gen. Danach sind die Verantwortlichen zum Ersatz aller
        der Polizei entstandenen Kosten verpflichtet. Hierzu
        zählen auch die entstandenen Auslagen. Diese Auslagen
        umfassen alle durch den Einsatz entstandenen Kosten. Sie
        schließen auch alle Leistungen ein, die der Polizei im Zu-
        sammenhang mit den von ihr getroffenen Maßnahmen an
        Dritte gezahlt werden müssen.
        Wir sind deshalb der Meinung, dass die bisherigen In-
        strumentarien tragfähig genug sind, um gegen verantwor-
        tungslose Trittbrettfahrer so energisch vorzugehen, dass
        sich eine Nachahmung nicht empfiehlt. Wer die ohnehin
        vorhandenen Ängste und Sorgen der Menschen noch da-
        durch steigert, dass er weiteren Schrecken durch vor-
        getäuschte Gefahren verbreitet, kann keine Nachsicht für
        sich in Anspruch nehmen. In diesen Fällen müssen Poli-
        zei und Justiz unnachsichtig ihrer Aufgabe nachkommen.
        Wir sollten uns aber auch davor hüten, den Menschen
        vorzugaukeln, dass eine Anhebung des bisherigen Straf-
        rahmens auf bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe schon ge-
        eigenet wäre, Abhilfe und hinreichende Abschreckung zu
        schaffen. Wichtig ist, die Täter schnell zu fassen und vor
        Gericht zu stellen und sie so zu bestrafen, wie dies bis-
        lang meines Erachtens in hinreichendem Umfange ge-
        schehen ist. Wenn potenzielle Täter wissen, dass sie mit
        unnachsichtiger Ahndung und mit erheblichen Schaden-
        ersatzansprüchen zu rechnen haben, werden sie vielleicht
        doch noch von ihren kriminellen und zynischen Vorha-
        ben abgehalten. Wer allerdings den Eindruck zu er-
        wecken versucht, wie Sie dies in der Überschrift Ihres
        Gesetzentwurfes zum Ausdruck bringen, dass man nur
        den Strafrahmen des § 126 StGB erweitern muss, um die
        Bevölkerung zu schützen, der streut den Menschen Sand
        in die Augen. Ich glaube, Sie wären gut beraten, endlich
        einmal darüber nachzudenken, dass man mit rein symbo-
        lischen strafrechtlichen Verschärfungen herzlich wenig
        bewirken kann. Die notwendigen Stragesetze haben wir.
        Es gilt, die Täter zu fassen und sie zur Verantwortung zu
        ziehen. Dennoch werden wir Ihren Gesetzentwurf gründ-
        lich, zügig und auch unvoreingenommen prüfen und
        beraten und deshalb selbstverständlich auch der heute
        vorgesehenen Überweisung an den zuständigen Rechts-
        ausschuss und den mitberatenden Innenausschuss zu-
        stimmen.
        Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Es liegt schon eine
        Weile zurück, als in Deutschland Trittbrettfahrer auf das
        Wohlwollen ihrer Mitbürger rechnen konnten. Das war
        vor gut fünf Jahrzehnten, als man in Berlin und in den an-
        deren vom Krieg zerstörten Städten auf die Trittbretter der
        Waggons aufsprang, um in überfüllten Zügen aufs Land
        zu fahren, und dies nicht zum Vergnügen, sondern eher als
        Überlebensstrategie. Doch dies ist Geschichte. Inzwi-
        schen sind nicht nur die Züge schneller und komfortabler
        geworden, die Trittbretter sind mehr oder weniger ver-
        schwunden, aber der Begriff hat sich gehalten. Heutzu-
        tage ist der Trittbrettfahrer aber zum Synonym für eine
        ganz besondere Spezies Mensch geworden. Dies sind
        Männer und Frauen, die ein klammheimliches Vergnügen
        dabei empfinden, mit der Sorge und Furcht ihrer Mitbür-
        ger ein übles Spiel zu treiben. Dies sind Männer und
        Frauen, die einen Kick aus ihrer anonymen Macht gewin-
        nen, ihre Mitbürger in Angst und Panik zu versetzen. Dies
        sind Männer und Frauen, die eine Straftat nachahmen
        oder – was noch häufiger der Fall ist – dies zumindest vor-
        täuschen oder androhen. Diese besondere Spezies unserer
        Mitbürger braucht ein klares Stoppsignal. Und dieses
        Stoppsignal wollen wir als CDU/CSU mit dem vorliegen-
        den Gesetzentwurf setzen.
        Sicherlich gibt es den Trittbrettfahrer nicht erst seit
        dem 11. September dieses Jahres. Jeder Kommissar, der
        einen Kindermörder sucht, kennt die Spinner und Wich-
        tigtuer, die weitere Taten ankündigen. Und auch die Feu-
        erwehrleute kennen seit Jahren den falschen Alarm bei
        Nacht.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20663
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        Nach spektakulären Verbrechen oder Katastrophen
        taucht halt – und nicht nur in unserem Land – diese be-
        sondere Spezies der Trittbrettfahrer auf. Und aus diesem
        Grund gibt es in unserem Strafgesetzbuch nicht erst seit
        gestern auch den § 126 und den § 145 d.
        Viele Bürger empfinden den 11. September aber auch
        an diesem Punkt als Zäsur. Früher war man sicherlich et-
        was geneigter, Nachsicht zu üben, und die Höchststrafe
        für die „Störung des öffentlichen Friedens durch An-
        drohung von Straftaten“ wurde kaum verhängt. Die Be-
        reitschaft unserer Mitbürger, nach dem 11. September
        anonyme Briefe, gefüllt mit Puderzucker, Milzbrand-
        Drohungen per Telefon oder falsche Notrufe „lustig“ zu
        finden und diese nur als schlechten Scherz abzutun, ist in-
        zwischen aber bei null angekommen. Die Botschaft ge-
        genüber Politik und Justiz ist klar und eindeutig: Null To-
        leranz gegenüber Trittbrettfahrern!
        Die Drohung eines jungen Mannes aus Nordrhein-
        Westfalen „Das World Trade Center ist weg – jetzt ist
        Frankfurt dran“ wurde vor kurzem mit acht Monaten Ge-
        fängnis geahndet. Ich kenne keinen, der Kritik an diesem
        Urteil übt. Wer auf dem Trittbrett eines Zuges namens
        „Terrorismus“ mitfährt, der darf sich nicht wundern, wenn
        er von den Gegenmaßnahmen, den Zug aufzuhalten, auch
        etwas abbekommt. Und für alle potenziellen Nachahmer
        lautet die Botschaft ganz eindeutig: Null Toleranz gegen-
        über Trittbrettfahrern!
        Aber zur ehrlichen Bestandsaufnahme der Gegenwart
        gehört auch die klare Erkenntnis, dass die bisherige Straf-
        androhung – vielleicht auch die Praxis im Justizalltag –
        offensichtlich nur unzureichend die erhoffte Ab-
        schreckungswirkung entfaltet hat. Anders lässt es sich
        sonst kaum erklären, dass seit Einführung des Sondermel-
        dedienstes für Milzbrandverdachtsfälle über 4 000 Ver-
        dachtsfälle bis zum heutigen Tage gemeldet wurden. Lei-
        der sind es keine Einzelfälle, sondern offenbar ein
        Massenphänomen, dass verantwortungslose Menschen
        Briefe oder Pakete mit weißen, pulverförmigen Substan-
        zen füllen, um beim Empfänger den Anschein zu er-
        wecken, er setze sich einer Milzbrandgefahr aus. Diese
        verantwortungslosen Zeitgenossen treiben nicht nur ihre
        Mitbürger in Angst und Schrecken, sondern lösen auch
        – wie wir in den letzten Monaten gesehen, erlebt und er-
        litten haben – Großeinsätze von Polizei und Feuerwehr
        aus, die ebenso unser aller Steuergeld kosten, wie die Un-
        tersuchungen in den Speziallaboren. Der Polizei, der Feu-
        erwehr und allen anderen, die über viele Wochen ganz
        außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt waren und in
        dieser Zeit weit mehr als nur ihre Pflicht taten, sei von die-
        ser Stelle ganz herzlich gedankt.
        Der Schaden beschränkt sich aber nicht nur auf den öf-
        fentlichen Bereich. Wenn Bürokomplexe, Bahnhöfe oder
        Flughäfen geschlossen werden müssen, sind Tausende
        von Mitbürgern hiervon betroffen und selbstverständlich
        auch materiell wie immateriell geschädigt worden.
        Ich glaube, die Sozialschädlichkeit dieses Verhaltens
        ist uns allen in den vergangenen Wochen verstärkt wieder
        bewusst geworden. Und die „Störung des öffentlichen
        Friedens“ – wie es im Gesetz heißt – ist mehr als offen-
        sichtlich von den Trittbrettfahrern gewollt und verursacht
        worden.
        Als Christdemokraten wollen wir aus der unheilvollen
        Serie von Vorfällen dieser Art die Konsequenzen ziehen.
        Wir wollen gegen diejenigen, die man verharmlosend als
        Trittbrettfahrer bezeichnet, härter vorgehen. Wer in der
        gegenwärtigen Situation Straftaten androht oder vor-
        täuscht, seine Mitbürger in Angst und Schrecken versetzt,
        Feuerwehrleute und Polizeibeamte bindet und diese damit
        von ihren eigenen Aufgaben abhält, der begeht kein Ka-
        valiersdelikt mehr, sondern der entfaltet – ich sage dies
        ganz klar und eindeutig – eine kriminelle Energie, die
        auch hart bestraft werden muss. Unser Gesetzentwurf
        sieht daher vor, die Strafdrohung des § 126 StGB zu er-
        höhen. Unser Entwurf bringt deutlich zum Ausdruck, dass
        Delikte von solch hoher Sozialschädlichkeit schwerer ge-
        ahndet werden müssen, als dies der bisherigen Praxis ent-
        spricht. Bisher waren diese Taten im Höchstmaß mit ge-
        ringerer Strafe bedroht als ein Ladendiebstahl nach § 242
        StGB oder eine Sachbeschädigung nach § 303 StGB. Und
        das wollen wir ändern.
        Thüringen hat parallel im Bundesrat einen Gesetzes-
        antrag eingebracht, der nicht nur eine Anhebung der
        Strafandrohung auf fünf Jahre, sondern auch die Ein-
        führung einer Mindeststrafe von einem Jahr vorsieht. Da-
        mit wird aus einem Vergehen ein Verbrechen. Dies hätte
        auch zur Folge, dass bereits der Versuch einer solchen
        Straftat oder die Verabredung von mehreren Personen zu
        einer solchen Tat verfolgt werden kann, ohne dass dies im
        Gesetz ausdrücklich erwähnt sein muss. Ich werbe sehr
        dafür, dass wir in den Ausschußberatungen uns darüber
        verständigen sollten, ob eine solche Charakterverschie-
        bung vom Vergehen zum Verbrechen für dieses Delikt
        sinnvoll ist.
        Leider haben nicht nur wir es mit den unverantwortli-
        chen Aktionen der Trittfahrer zu tun. Auch unsere Nach-
        barn trifft es – und sie handeln. Bis jetzt droht in
        Großbritannien Trittbrettfahrern, die weißes Pulver ver-
        schicken und damit einen Milzbrand-Alarm auslösen, im
        Höchstfall eine Haftstrafe von sechs Monaten. Das briti-
        sche Anti-Terrorismus-Gesetz sieht nun Haftstrafen in
        Höhe von bis zu sieben Jahren für Trittbrettfahrer vor.
        Eine entsprechende Novelle hat bereits Österreich verab-
        schiedet und eine Erhöhung der Strafandrohung vorge-
        nommen.
        Ich hoffe, dass wir in diesem Hause zügig unseren Ge-
        setzentwurf beraten werden. Unsere Mitbürger erwarten
        es, dass wir bald den Trittbrettfahrern dieses eindeutige
        Stoppsignal setzen.
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die so genannte Trittbrettfahrerei der letzten Wochen und
        Monate ist eine widerwärtige Begleiterscheinung der
        schrecklichen Terrorakte vom 11. September. Wir sind
        uns darin wohl alle einig: Vorgetäuschte Anthrax-Briefe
        oder unwahre Bombendrohungen sind kein schlechter
        Witz! Sie versetzen Menschen unnötig in Angst und
        Schrecken und sie verursachen extreme Kosten für das
        Gemeinwesen. Deshalb muss klar sein: Trittbrettfahrerei
        verdient eine harte und zügige Bestrafung durch unsere
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120664
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        Justiz. Genau das geschieht auch: Vereinzelte Gerichts-
        entscheidungen in den vergangenen Wochen haben ge-
        zeigt, dass die geltende Rechtslage durchaus ausreicht,
        um den Tätern angemessen und schmerzhaft ihr Unrecht
        vor Augen zu führen.
        Deshalb ist Ihr Gesetzentwurf, den Sie uns vorgelegt
        haben, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
        Union, schlichtweg überflüssig. Es ist ja bei Ihnen im
        Übrigen auch immer dasselbe Ritual: Bei den Straftaten,
        die gerade in der Öffentlichkeit – aus welchen Gründen
        auch immer – in aller Munde sind, fordern Sie immer so-
        gleich eine Erhöhung der Strafrahmen. Als ob das ir-
        gendetwas bringen würde! Legen Sie doch endlich mal
        Ihre populistischen Reflexe ab! Gaukeln Sie doch den
        Menschen nicht vor, dass den Gerichten in diesem Land
        angeblich der angemessene Strafrahmen für die Ahndung
        dieser Delikte fehlt! Das stimmt einfach nicht und Sie
        wissen das auch! Ich kann Ihnen nur sagen: Gesetzent-
        würfe dieser Natur sind schlichtweg unseriös und die Be-
        fassung damit ist eine Zeitverschwendung für uns Parla-
        mentarier!
        Unser Strafgesetzbuch enthält für solche Trittbrettfah-
        rer-Handlungen – je nach den Umständen des Einzelfal-
        les – eine ganze Reihe von einschlägigen Straftatbestän-
        den mit teilweise erheblichen Strafandrohungen: Der
        § 126 Abs. 1 beispielsweise sieht für eine Störung des öf-
        fentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten eine
        Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis. Nach Abs. 2 der-
        selben Vorschrift wird die friedensstörende Vortäuschung
        der rechtswidrigen Tat eines anderen ebenso mit bis zu
        drei Jahren Haft bestraft. Diese Freiheitsstrafe kann auch
        demjenigen blühen, der nach § 145 d Strafgesetzbuch eine
        Straftat vortäuscht. Der Straftatbestand der Bedrohung in
        § 241 Strafgesetzbuch ermöglicht ebenfalls eine Haft bis
        zu einem Jahr. Oft sind gleich mehrere dieser Tatbestände
        in Tateinheit verwirklicht.
        Den Tätern blüht ja nicht nur die strafrechtliche Ahn-
        dung. Trittbrettfahrerei kann auch verdammt teuer
        werden. Denn neben den strafrechtlichen Konsequenzen
        drohen den Trittbrettfahrern zivilrechtliche Schadenser-
        satzansprüche und überdies die öffentlich-rechtliche Kos-
        tenersatzpflicht für den unbegründeten Einsatz von Poli-
        zei und anderen Behörden. Ich empfehle zum Beispiel da
        mal einen Blick in die diversen Polizeigesetze der Länder,
        die insoweit ausdrückliche Regelungen enthalten, zum
        Beispiel Art. 9 Abs. 1 BayPAG in Verbindung mit § 1 Nr. 1
        BayPolKV.
        Das Problem bei der Trittbrettfahrerei ist also nicht die
        fehlende Sanktionsmöglichkeit, wie uns dies heute die
        Union vorgaukeln will. Die Schwierigkeit besteht für die
        Strafverfolgungsbehörden vielmehr darin, der Täter über-
        haupt habhaft zu werden. Denn bei einem absenderlosen
        Brief gefüllt mit Waschpulver verlaufen die Ermittlungen
        meist im Sande. Da hilft das Schrauben an der Strafrah-
        men-Schraube überhaupt nichts!
        Jörg van Essen (FDP): Das Unwesen der Trittbrett-
        fahrer ist leider nicht neu. Schon seit vielen Jahren erre-
        gen wir uns über Trittbrettfahrer, die in spektakulären Ent-
        führungsfällen versuchen, das Lösegeld zu ergaunern.
        Im aktuellen Zusammenhang mit den Milzbrandfällen
        hat das Problem mit den Trittbrettfahrern allerdings eine
        neue, erschreckende Dimension erhalten. Polizei, Feuer-
        wehr, Katastrophenschutz, Labore und Institute werden
        durch immer neu auftauchende vorgetäuschte Milzbrand-
        fälle regelrecht lahm gelegt. In unerträglicher Weise wird
        hier mit den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger ge-
        spielt. Die Sicherheitsdienste werden dringend gebraucht,
        um der neuen Sicherheitslage in Deutschland angemessen
        zu begegnen. Dieser Aufgabe können sie aber nur unzu-
        reichend gerecht werden, da viele Ressourcen für die
        Milzbrandverdachtsfälle gebraucht werden. Diese
        Einsätze sind nicht nur mit einem hohen Personalaufwand
        verbunden, sondern darüber hinaus auch mit erheblichen
        Kosten.
        Der Staat muss gegenüber diesen Tätern angemessen
        reagieren. Trittbrettfahrer müssen die ganze Härte der
        Gesetze zu spüren bekommen. Unsere Rechtsordnung
        sieht dafür insgesamt mehrere Möglichkeiten vor. Zum
        einen können gegenüber diesen Tätern Schadensersatz-
        ansprüche geltend gemacht werden. Dies schließt auch
        die Kosten für den Einsatz von Polizei und anderen
        Behörden mit ein. Zum anderen gibt es im Strafrecht zahl-
        reiche Tatbestände, die gegenüber Trittbrettfahrern zur
        Anwendung kommen können. Ich denke hier beispiels-
        weise an die Störung des öffentlichen Friedens durch
        Androhung von Straftaten, das Vortäuschen einer Straftat
        oder an die Bedrohung. Das Strafrecht bietet also durch-
        aus geeignete Antworten, um dem Problem der Trittbrett-
        fahrer zu begegnen.
        Das schnelle Rufen nach einer Erhöhung des Straf-
        rahmens ist hier fehl am Platze und wird dem Problem nur
        unzureichend gerecht. Wir brauchen in diesen Fällen
        vielmehr eine schnelle Verurteilung der Straftäter. Das be-
        schleunigte Verfahren eignet sich hierfür besonders. Nur
        wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, wird sie weitere
        Nachahmungstäter abschrecken. Verurteilungen zu mehr-
        monatigen Freiheitsstrafen ohne Bewährung sind der
        richtige Weg. Wichtig ist, dass hier die Bürgerinnen und
        Bürger mit den Organen des Staates gemeinsam bekun-
        den, dass das Vortäuschen einer widerwärtigen Straftat
        keinerlei Billigung durch die Gesellschaft erfährt. Die
        Medien können durch zurückhaltende Berichterstattung
        zusätzlich helfen.
        Wenn CDU/CSU in ihrem Gesetzentwurf dennoch
        eine Erhöhung des Strafrahmens fordern, müssen sie
        schlüssig darlegen, wie sie die unabhängigen Richter
        dazu zwingen wollen, den Strafrahmen in seiner Er-
        höhung auch anzuwenden. Alle Erfahrungen sprechen
        dagegen. Es handelt sich um einen absolut untauglichen
        Vorschlag.
        Dr. Evelyn Kenzler (PDS):Mit den Ängsten von Men-
        schen zu spielen ist perfide und durch nichts zu recht-
        fertigen. Ganz gleich aus welchen Motiven, mit welchen
        Mitteln und welchen Zielen verharmlosend als Tritt-
        brettfahrer bezeichnete Täter ihre Mitmenschen in Angst
        und Schrecken versetzen: Auch Pseudo-Terroristen sind
        konsequent zur Verantwortung zu ziehen. Ich teile inso-
        fern voll und ganz die Sorge der CDU/CSU-Fraktion,
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20665
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        die in ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Doch
        wie leider so oft, geht unsere Meinung über die vernünf-
        tige Behandlung bzw. Lösung eines Problems ausei-
        nander.
        Zu dem vorliegenden Gesetzentwurf kann ich kurz ge-
        fasst nur sagen: Problem benannt, in der Lösung verrannt
        und bei den Alternativen ohne Fantasie. Apropos Fanta-
        sie: Fällt Ihnen denn bei gesellschaftsschädlichem Ver-
        halten immer nur die Straferhöhung ein? Sollte eine
        christliche und soziale Partei vor das Strafen nicht
        zunächst andere sozialintegrative Überlegungen und Vor-
        schläge stellen? Eine geänderte sozialethische Bewer-
        tung, von der Sie in ihrem Entwurf sprechen – wenn dies
        überhaupt zutrifft –, muss doch nicht zwangsläufig zu
        schärferen Strafrechtssanktionen führen.
        Da die CDU/CSU in Sachen Finanzen sich traditionell
        für überaus kompetent hält: Wieso schreiben Sie in Ihrem
        Gesetzentwurf, dass seine Umsetzung keine Kosten ver-
        ursachen würde? Von den Vertretern Ihrer Partei wird
        doch immer wieder darauf hingewiesen, wie hoch die
        Kosten für den Strafvollzug sind. Wenn es um Ausländer
        geht, die in deutschen Strafvollzugsanstalten einsitzen,
        höre ich stets diesen Hinweis mit erhobener Stimme.
        Oder geht es Ihnen mit der vorgeschlagenen Strafer-
        höhung nur um Abschreckung? Dann muss ich aber lang-
        sam zu dem Schluss kommen, dass sich die CDU/CSU
        – zumindest in der Rechtspolitik – als Abschreckungs-
        partei geriert.
        Ich bin der Meinung, dass unsere Rechtsordnung ein
        ausreichendes Instrumentarium an Kriminalstrafen als
        auch zivilrechtliche Schadenersatzregelungen für solche
        Fälle bereithält. Polizei und Justiz haben bislang unter
        Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, schnell und an-
        gemessen zu reagieren. Auch wenn ich nicht davon über-
        zeugt bin, dass hohe Strafen potenzielle Nachahmungs-
        täter abschrecken, möchte ich aber keine Zweifel
        aufkommen lassen, dass in solchen Fällen eine empfind-
        liche Bestrafung erfolgen muss. Nicht zuletzt sollen die
        Täter sowohl für alle Schäden als auch für die angefal-
        lenen Kosten der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr auf-
        kommen.
        Aber abgesehen von den notwendigen rechtlichen Re-
        aktionen ist eine öffentliche Ächtung solcher Handlungen
        nicht minder wichtig. Ich würde mir wünschen, dass
        insbesondere die Medien durch eine verantwortungs-
        bewusste Berichterstattung mit dazu beitragen, Nachah-
        mungstaten tendenziell zu verhindern. Da in der Vergan-
        genheit auch Jugendliche mehr oder weniger unbedarft
        Einzelne oder gar die Öffentlichkeit aus unterschied-
        lichsten Motiven „erschreckt“ haben, müssen aber auch
        die Eltern und Lehrer gerade in diesen Tagen ihre Verant-
        wortung wahrnehmen. Sie sollten überzeugend deutlich
        machen, dass anonyme Drohungen mit Angst- und
        Schreckenspotenzial keine Dummejungenstreiche oder
        alberne Mädchenscherze sind.
        Ob das Strafrecht diese Tätergruppe abschreckt, halte
        ich für sehr zweifelhaft. Aber vielleicht schreckt sie die
        CDU/CSU.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – des Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des
        Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen so-
        zialen Jahres und anderer Gesetze (FSJ-För-
        derungsänderungsgesetz – FSJGÄndG)
        – Antrag: Deutschland braucht gesetzliche
        Rahmenbedingungen für einen allgemeinen
        Freiwilligendienst
        (Tagesordnungspunkt 13 und Zusatztagesord-
        nungspunkt 17)
        Dieter Dzewas (SPD):
        „Ich kann besser mit Menschen umgehen, habe ge-
        lernt, sie zu verstehen und auf sie einzugehen. Die
        Achtung vor dem Menschen steigt, auch die Achtung
        vor dem Alter und das Umgehen mit dem Tod. Ich
        habe gelernt, andere Meinungen zu tolerieren.“
        So lautet die deutliche Aussage einer Absolventin eines
        freiwilligen sozialen Jahres, nachzulesen in der „Untersu-
        chung zum Freiwilligen Sozialen Jahr“, die vom Bundes-
        familienministerium 1998 – und zwar noch vor dem Re-
        gierungswechsel – veröffentlicht wurde.
        Freiwilliges Engagement ist eines der Fundamente, auf
        denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Eine zivile bür-
        gerliche Gesellschaft hat ohne das ehrenamtliche und frei-
        willige Zutun ihrer einzelnen Mitglieder keine Zukunft.
        Gerade im Internationalen Jahr der Freiwilligen sollten
        wir uns das vor Augen führen.
        Die Studie „Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürger-
        schaftliches Engagement“ von 1999 fördert zutage: Be-
        sonders junge Mitbürgerinnen und Mitbürger zwischen
        14 und 24 Jahren sind mit 37 Prozent überdurchschnittlich
        oft und gerne freiwillig engagiert. Das zeigen auch die
        Zahlen: Etwa 13 000 junge Menschen leisten jedes Jahr
        ein freiwilliges soziales oder freiwilliges ökologisches
        Jahr.
        Etwa 91 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
        eines freiwilligen Jahres beurteilen ihr Jahr als sehr posi-
        tiv oder positiv. Auch das ist in der Studie zum FSJ nach-
        zulesen. Für fast alle Jugendlichen ist der Freiwilligen-
        dienst richtungsweisend für ihre soziale Kompetenz und
        die berufliche Entwicklung.
        Wir können sehen, dass junge Freiwillige in ihrer über-
        wältigenden Mehrheit sehr zufrieden mit dem FSJ und
        FÖJ sind. Das zeigt auch, dass die Nachfrage nach Frei-
        willigenplätzen seit Jahren das Angebot übersteigt. Wir
        sehen darin aber keinen Grund sich auszuruhen. Stattdes-
        sen wollen SPD und Bündnis 90/Die Grünen das Engage-
        ment junger Mitbürgerinnen und Mitbürger weiter
        fördern. Das von uns eingebrachte FSJ-Förderungsände-
        rungsgesetz unterstützt junge Leute beim freiwilligen En-
        gagement.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120666
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        Wir flexibilisieren die Dauer des Dienstes, dessen
        Höchstdauer 18 Monate (12 + 6) beträgt, und ermöglichen
        die Ableistung in zeitlichen Abschnitten von mindestens
        3 Monaten innerhalb eines Gesamtzeitraums von 2 Jah-
        ren. Die Förderung des Freiwilligendienstes im Ausland
        erweitern wir auf Länder außerhalb Europas.
        Wir erhöhen die berufsqualifizierende Bedeutung des
        freiwilligen Jahres. Mit dem In-Kraft-Treten unseres FSJ-
        Förderungsänderungsgesetzes erhalten Freiwillige nach
        Ableistung des Dienstes ein Zeugnis mit der Aufnahme
        berufsqualifizierender Merkmale ihrer Tätigkeit.
        Wir stärken die Freiwilligendienste und machen sie at-
        traktiver:
        Erstens. Wir erweitern die Möglichkeiten, in welchen
        Bereichen sich junge Freiwillige engagieren können. Wir
        öffnen neben den klassischen Bereichen wie sozialen
        Dienstleistungen, dem Gesundheits- und Pflegebereich
        auch die Felder Kultur, Sport, Denkmalpflege und Ju-
        gendhilfe. Im kulturellen Bereich heißt das beispielsweise
        die Hilfe in Bibliotheken, Musikinitiativen oder Museen,
        in der Denkmalpflege die Unterstützung restaurativer und
        pflegender Maßnahmen.
        Für viele junge Männer und Frauen sind die neu auf-
        genommen Bereiche eine echte Alternative zum klassi-
        schen FÖJ oder FSJ. Viele Jugendliche sind gerne im
        sportlichen Umfeld zuhause und mit gesteigerter Freude
        in diesen Bereichen aktiv. Wir zeigen mit der Ausweitung
        der Dienste auch unsere Anerkennung der Leistungen.
        Zudem machen wir als Gesellschaft deutlich, dass wir
        junge engagierte Menschen brauchen und schätzen.
        Auch die Flexibilisierung der Dienste und die Ableis-
        tung in Blöcken von 3 Monaten innerhalb eines Zeitraums
        von 2 Jahren erhöht deren Attraktivität. Gerade junge
        Menschen fühlen sich oft überfordert, wenn man ihnen
        eine Dienstzeit von 12 Monaten anbietet. Viele reagieren
        reserviert angesichts dieses langen Zeitraums, einige ste-
        hen ihm gar ablehnend gegenüber, obwohl sie das Enga-
        gement selbst befürworten. Die Antwort darauf heißt
        Flexibilisierung, und diese erfolgt in Absprache mit den
        Einsatzstellen.
        Zweitens. Wir ersetzen das Mindestalter für die Ableis-
        tung eines freiwilligen Jahres durch den Zeitpunkt des
        Endes der Vollzeitschulpflicht. Das bedeutet, dass nun
        auch Absolventen von Haupt- und Realschulen nahezu
        unmittelbar nach ihrer Schulzeit ein FSJ oder FÖJ begin-
        nen können.
        Drittens. Mit dem neuen § 14c Zivildienstgesetz regeln
        wir, dass anerkannte Kriegsdienstverweigerer in Zukunft
        nach ihrer Anerkennung ein freiwilliges soziales oder
        freiwilliges ökologisches Jahr als Ersatz für den Zivil-
        dienst ableisten können. Auch hier gilt: Das FSJ kann in
        den Bereichen liegen, die beispielsweise im kulturellen
        oder sportlichen Spektrum liegen. Voraussetzung ist eine
        mindestens 2 Monate längere Verpflichtung als bei Zivil-
        dienstleistenden. Bevor nun die Einwände kommen: Die
        Plätze für Zivildienstleistende in Freiwilligendiensten
        werden zusätzlich zu den schon vorhandenen angeboten.
        Es wird kein Gerangel um freie Plätze geben.
        Viertens. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf treten
        wir in der Frage der Konversion des Zivildiensts von der
        Phase des Redens in die Phase des Handelns.
        Mit der Ermöglichung, FSJ und FÖJ anstelle des Zivil-
        dienstes zu leisten, erhöhen wir die Attraktivität der Frei-
        willigendienste.Wir bewegen uns weg vomCharakter des
        verordneten Dienstes wie dem Wehrdienst oder dem Zi-
        vildienst und öffnen neue Felder, die auch individuelle in-
        teressenorientierte Schwerpunktsetzungen zulassen.
        Mit einigen Sätzen möchte ich noch auf den mitzube-
        ratenden Antrag der FDP-Fraktion eingehen. Dieser ist in
        seiner Form eher eine beliebige Ansammlung von Allge-
        meinplätzen und sicher keine Alternative zum vorliegen-
        den Gesetzentwurf. Für zukünftige Vorhaben enthält er
        aber einige diskussionswürdige Vorschläge, die allerdings
        mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission „Zukunft
        des Bürgerschaftlichen Engagements“ abgeglichen wer-
        den sollten.
        Unser Gesetzentwurf dagegen ist ein Angebot an junge
        Menschen, an eine gesellschaftlich engagierte Genera-
        tion, an junge Leute, die etwas bewegen wollen, sich ein-
        bringen möchten und dafür wertvolle Zeit opfern. Und ich
        denke, es herrscht Konsens im ganzen Hause: Wir müssen
        junge Freiwillige mit aller Kraft unterstützen.
        Thomas Dörflinger (CDU/CSU): 34 Prozent aller
        Deutschen über 14 Jahre engagieren sich in irgendeiner
        Form ehrenamtlich. Die Debatte, die wir heute über die
        Zukunft der Freiwilligendienste führen, ist für die CDU/
        CSU-Bundestagsfraktion daher auch Anlass, zunächst an
        die vielen Bürgerinnen und Bürger ein herzliches Wort
        des Dankes und der Anerkennung zu sagen.
        Alle Parteien in diesemHohen Haus haben ein gemein-
        sames Ziel, nämlich die Bürgerinnen und Bürger, die sich
        fürGemeinschaft undGesellschaft einbringenmöchten, in
        ihremBemühen zu stärken und zu ermutigen und daneben
        die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass möglichst
        viele andere es ihnen gleichtun. Die Erwartungen sind
        – auch mit Blick auf das, was Rot-Grün 1998 in ihre Ko-
        alitionsvereinbarung hineingeschrieben haben – groß. In
        diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass die Bun-
        desregierung erst nach massivem Druck aus der Opposi-
        tion dazu bereit war, bei der Übungsleiterpauschale eine
        Verbesserung in die Wege zu leiten und nun nach langem
        Warten die versprochenen Verbesserungen bei den Frei-
        willigendiensten versucht inAngriff zu nehmen.
        Es ist richtig und zwischen Regierung und Opposition
        unstrittig, die gesetzlichen Bestimmungen zum Freiwilli-
        gen Sozialen und zum Freiwilligen Ökologischen Jahr un-
        ter einem Dach zusammenzufassen und die Regelungen
        zu vereinheitlichen. Dies ist auch ein Beitrag zu mehr
        Transparenz und Effizienz und findet durchaus unsere
        Unterstützung. Trotzdem bietet der Gesetzesentwurf, den
        uns die Bundesregierung heute vorlegt, in mehrfacher
        Hinsicht Anlass zur Kritik.
        Da ist zunächst die Absicht, FSJ und FÖJ zukünftig
        auch als geleisteten zivilen Ersatzdienst nach dem Zivil-
        dienstgesetz anzuerkennen; eine auf den ersten Blick viel-
        leicht einleuchtende Regelung, die aber in mehrfacher
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        Hinsicht mit Problemen behaftet ist. Lassen Sie mich auf
        einige Punkte detailliert eingehen:
        Erstens. Sie vermengen zwei Dinge miteinander, die
        von ihrer Grundstruktur zu unterschiedlichen Gebieten
        gehören, nämlich Pflicht- und Freiwilligendienst. Es wird
        gleich deutlich werden, dass wir auf mehreren Feldern in
        die Bredouille geraten.
        Zweitens. Nur anerkannte Wehrdienstverweigerer
        kommen in den Genuss dieser neuen Regelung. Wer sein
        FSJ oder sein FÖJ vor der Musterung leistet, kann seinen
        Beitrag für die Gesellschaft nicht als Zivildienst anerken-
        nen lassen. Dies wird insbesondere für Absolventen der
        Hauptschule zutreffen.
        Drittens. Würden wir eine pure Regelung für die Frei-
        willigendienste treffen, wäre es in der Tat zu begrüßen,
        dass dieser Dienst auch in kulturellen oder sportlichen Be-
        reichen oder zum Beispiel in der Denkmalpflege erbracht
        werden kann. Wir waren uns aber über die Fraktionsgren-
        zen in der Diskussion über die Zukunft des Zivildienstes
        einig, dass der Zivildienst zukünftig insbesondere auf den
        Dienst am Menschen konzentriert werden solle. Da aber
        die genannten Bereiche zukünftig auch für den Zivildienst
        Anrechnung finden sollen, ist klar: Diesen Konsens ver-
        lassen Sie mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf, und
        dies findet unsere Zustimmung nicht.
        Viertens. Die Anerkennung von FSJ und FÖJ als Zivil-
        dienst wirft ganz offensichtlich ein Problem in der ren-
        tenversicherungsrechtlichen Gestaltung auf, da der Zivil-
        dienstleistende in der gesetzlichen Rentenversicherung
        de jure als „Beschäftigter“, der junge Mann im FSJ aber
        als „Auszubildender“ behandelt wird, was mit unter-
        schiedlichen Entgeltpunkten in der Rentenversicherung
        seinen Niederschlag findet. Nun hätte man das auf die ein-
        fachste Art lösen können, indem man dem jungen Mann
        im FSJ einfach für die Zeit, in der er sich im Zivildienst
        befindet, auch den rentenrechtlichen Status eines
        Zivildienstleistenden zuerkannt hätte. Dies hätte freilich
        zur Folge gehabt, dass die Rentenversicherungsbeiträge
        des Zivildienstleistenden im FSJ auch vom Bund hätten
        getragen werden müssen. Sie haben mit dem heute vorge-
        legten Gesetzesentwurf die andere Variante gewählt: Der
        Zivildienstleistende im FSJ verbleibt zwar im Status des
        Freiwilligen, erhält aber die Rentenversicherungsbeiträge
        nur in der Höhe, die auch der Zivildienstleistende, der sich
        nicht im FSJ befindet, erhält. So wälzen Sie einen Teil der
        Rentenversicherungsbeiträge für die Zivildienstleisten-
        den, die eigentlich der Bund zu tragen hätte, auf die Kasse
        der gesetzlichen Rentenversicherung ab. Dies werden wir
        nicht mittragen.
        Gerade an dem letzten Punkt zeigt sich, dass die Ver-
        mengung von Freiwilligendiensten und Zivildienst nicht
        der richtige Weg ist. Nicht nur wegen der gerade geschil-
        derten rentenversicherungsrechtlichen Problematik im
        Zivildienst, sondern auch, weil zukünftig ein Freiwilli-
        gendienst erster Klasse und ein Freiwilligendienst zweiter
        Klasse entsteht – je nachdem, ob ein junger Mann sich
        entscheidet, sein FSJ entweder als Zivildienst anerkennen
        zu lassen oder aber nicht.
        Lassen Sie mich einen weiteren Kritikpunkt nennen,
        den ich bereits im Ausschuss angesprochen habe:
        Die insbesondere von Rot-Grün immer und immer
        wieder geforderte Gleichbehandlung von Wehr- und Zi-
        vildienst findet mindestens an einer Stelle nicht statt. In
        der derzeit gültigen Fassung des Wehrpflichtgesetzes ist
        die Einberufung zur Bundeswehr frühestens nach Voll-
        endung des 17. Lebensjahres möglich. So steht es in § 5
        Abs. 1 a. Im nun zur Änderung anstehenden § 2 Abs. 4 des
        „Gesetzes über die Verweigerung des Kriegsdienstes mit
        der Waffe aus Gewissensgründen“ soll jedoch geregelt
        werden, dass der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung
        schon sechs Monate vor Ablauf des 17. Lebensjahres ge-
        stellt werden kann.
        Ein letzter Punkt. Die Kosten für die öffentlichen
        Haushalte werden von Ihnen auf dem Titelblatt der
        Drucksache 14/7485 mit ,,Keine“ angegeben. Meine dies-
        bezügliche Frage im Ausschuss blieb durch die Ministe-
        rin und die anwesenden Mitarbeiter des Hauses unbeant-
        wortet. Sie selbst schreiben aber in der Begründung zu
        Art. 3 Nr. 2 Abs. 4 des Gesetzentwurfs, dass der Zuschuss
        an die Träger, die Zivildienstleistende im Rahmen des ge-
        planten § 14 c Zivildienstgesetz, also im FSJ oder FÖJ
        einsetzen, oftmals nicht kostendeckend sei, weswegen der
        Zuschuss entsprechend der Kostenentwicklung im Zivil-
        dienst jährlich angepasst werden könne. Also so ganz
        kann das mit der Haushaltsneutralität nicht übereinstim-
        men. Hier hätten wir gerne etwas Genaueres gehört.
        Die vereinbarte Anhörung im nächsten Jahr und die
        Beratungen im Ausschuss bieten Gelegenheit, notwen-
        dige Verbesserungen am Entwurf vorzunehmen. Die
        CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist hierbei zu einer kon-
        struktiven Mitarbeit bereit.
        Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Zukunft unseres Landes und unserer Demo-
        kratie wird wesentlich davon abhängen, ob sich in unse-
        rem Land eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt.
        Freiwilliges Engagement ist der „soziale Kitt, der die Ge-
        sellschaft zusammenhält.
        Im Internationalen Jahr der Freiwilligen ist die Verbes-
        serung der Rahmenbedingungen für freiwilliges Engage-
        ment durch die Bundesregierung angesagt. Freiwilliges
        Engagement von Jugendlichen darf nicht länger ausge-
        bremst werden. Gerade dies leistet die Novelle, und das
        sage ich hier insbesondere an die Adresse der FDP, die
        sich die Konzepte von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem
        Antrag zu Eigen gemacht hat. Bislang war mir diese in-
        haltliche Übereinstimmung noch nicht bekannt.
        Es gibt für das Freiwillige soziale und ökologische Jahr
        mindestens doppelt bis dreifach so viele Bewerber und
        Bewerberinnen, die sich bundesweit oder international
        engagieren wollen, wie Plätze vorhanden sind. Wir wer-
        den mit der Umsetzung des FSJ/FÖJ-Gesetzes hierfür ei-
        nen vernünftigen Rahmen schaffen, der die positiven For-
        derungen der Länder beinhaltet und noch darüber hinaus
        geht.
        Bei aller Euphorie über das freiwillige Engagement der
        Bürger und Bürgerinnen bleibt es für uns wichtig, dass
        diese freiwillige Tätigkeit arbeitsmarktneutral wirkt.
        Wenn wir von den Menschen Engagement fordern, ist der
        Staat in der Verantwortung, ihnen dafür einen Rahmen zu
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        bieten. Junge Freiwillige müssen zusätzlich zum grund-
        sätzlichen Bedarf der Träger beschäftigt werden. Alles an-
        dere hätte aus jugendpolitischer Sicht nachhaltig negative
        Konsequenzen. Bündnis 90/Die Grünen lehnen es ab, Ju-
        gendlichen im Namen des Gemeinwohls das Gefühl zu
        geben, als „billige Arbeitskraft“ oder eben als „sozialer
        Ausfallbürge“ missbraucht worden zu sein.
        Grundlage des Gesetzes ist für Bündnis 90/Die Grünen
        der Lerncharakter des freiwilligen Jahres. Für uns steht
        fest, dass Jugendliche nach der Schule bis zu ihrem 27. Le-
        bensjahr in sozialen und ökologischen Bereichen ein so-
        zial abgesichertes freiwilliges Jahr machen können. Die
        Öffnung für die Einsatzfelder Kultur und Sport sollen
        ebenfalls im Gesetz festgelegt werden.
        Freiwillige brauchen einen Status. Also ist ihre Absi-
        cherung in der Sozialversicherung unabdingbar. Für die
        Auslandsdienste ist es unabdingbar, die Träger einzubin-
        den, sie aber nicht zusätzlich zu belasten. Für Freiwillige
        im In- und Ausland gilt, dass das Kindergeld weiter be-
        zahlt wird.
        Die Erfahrung und Kompetenz, die Jugendliche im
        freiwilligen Jahr erhalten, soll nachvollziehbar werden.
        Deshalb wollen wir ein Zertifikat, das ihre Arbeit doku-
        mentiert.
        Parallel zur praktischen Erfahrung gibt es einen fest-
        gelegten Rahmen von pädagogischer Begleitung und Pro-
        jektarbeit, der von den Jugendlichen selbst bisher als sehr
        positiv bewertet wird. Die einheitliche Regelung der In-
        und Auslandstätigkeiten in unterschiedlichen Bereichen
        gewährt den Jugendlichen die Chance, ihre Erfahrungen
        gleichwertig zu sehen und zu nutzen. Die schulische Vor-
        bildung darf hier kein Kriterium sein.
        Freiwilliges Engagement bedeutet für viele Jugendli-
        che praktische Erfahrung und Orientierung bei der späte-
        ren Berufswahl. Die Anerkennung des freiwilligen Diens-
        tes als Zivildienst soll es jungen Männern ermöglichen
        Erfahrungen zu sammeln, ohne dem Zwangscharakter des
        Zivildienstes zu unterliegen.
        Für uns ist es wichtig, dass hier eine gangbare Per-
        spektive für die Konversion des Zivildienstes geschaffen
        wird. Dabei ist festzustellen, dass einerseits im sozialen
        Sektor Arbeitsplätze geschaffen werden müssen und an-
        dererseits das soziale Engagement der Zivildienstleisten-
        den durch die freiwillige Tätigkeit erhalten bleibt.
        Die Chancen des freiwilligen Engagements im Ausland
        liegen in den Erfahrungen der Jugendlichen mit Erinne-
        rungsarbeit. Junge Menschen, die mit Holocaust-Überle-
        benden arbeiten oder wichtige Aufgaben in Gedenkstätten
        übernehmen, die in interkulturellen Einrichtungen in Is-
        rael, in Polen, in Tschechien oder in Bosnien arbeiten, leis-
        ten mit ihrem Freiwilligendienst einen entscheidenden
        Beitrag zur Demokratisierung unserer Gesellschaft.
        Über die Unterstützung der Länder freuen wir uns
        bei der Umsetzung des Gesetzes außerordentlich. Bünd-
        nis 90/Die Grünen sehen in den Ländervorschlägen auch
        dasAngebot, die Schaffung neuer Stellen zu unterstützen.
        Junge Freiwillige sind – und da herrscht Einigkeit zwi-
        schen Bund und Ländern – wichtige Multiplikatoren und
        Multiplikatorinnen auf dem Weg zu einer starken Zivilge-
        sellschaft, die sich demokratischen Werten verpflichtet
        und damit dem Rassismus, dem Antisemitismus und
        rechtsradikalen Tendenzen Widerstand entgegensetzen.
        Ina Lenke (FDP): Die Bundesregierung ist mit dem
        großen Versprechen angetreten, eine bessere Förderung
        von Freiwilligendiensten auf den Weg zu bringen. Übrig
        geblieben sind Änderungen zum freiwilligen sozialen
        Jahr und zum freiwilligen ökologischen Jahr. Das ist zu
        wenig. Die Staatssekretärin hat die Vorlage lediglich als
        „ersten Schritt“ bezeichnet. In dieser Legislaturperiode
        drückt sich also die Bundesregierung vor einer konzep-
        tionellen Neugestaltung gesetzlicher Rahmenbedingun-
        gen für einen allgemeinen Freiwilligendienst.
        Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition verbessert
        in einigen Punkten den gesetzlichen Rahmen zur Ableis-
        tung eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres.
        Die FDP begrüßt, dass FSJ und FÖJ Ersatz zum Zivil-
        dienst sein werden. Bessere Rahmenbedingungen für all-
        gemeine Freiwilligendienste und bürgerschaftliches En-
        gagement werden durch diesen Gesetzentwurf jedoch
        nicht geschaffen. Angesichts der gebotenen Diskussion
        um die Aussetzung der Wehrpflicht und dem damit zur
        Disposition stehenden Zivildienst gilt es, einen gänzlich
        neuen Rahmen für freiwilliges bürgerschaftliches Enga-
        gement zu schaffen.
        Was die Änderungen für einen freiwilligen Dienst im
        Ausland angeht, werden wir bei der Anhörung Anfang
        nächsten Jahres besonders nachfragen, ob die vorgeschla-
        genenRegelungen ausreichend sind.Wie sich der Entwurf
        auf die Erteilung von Visa- und Arbeitserlaubnisse sowie
        steuerrechtlich in außereuropäischen Gastländern aus-
        wirkt, ist derzeit unklar.Weil der Entwurf die vollständige
        Sozialversicherungspflicht fordert, könnten in einigen
        Gastländern Komplikationen auftreten. Auch, dass die
        Vor- und Nachbereitung und Sprachkurse nur hier im In-
        land durchgeführt werden sollen, halte ich im Rahmen
        von internationalen Begegnungen für nicht praktikabel.
        Die FDP hat heute einen eigenen Antrag eingebracht,
        der unsere Position aufzeigt. Wir wollen, dass rechtliche
        Grundlagen für einen allgemeinen Freiwilligendienst in
        Deutschland geschaffen werden, die grenzüberschrei-
        tende Freiwilligendienste besonders für junge Menschen
        zur Stärkung von Toleranz, Solidarität und Partizipation
        im Rahmen eines europäischen Aufbauwerks erleichtern,
        rechtliche und institutionelle Hindernisse abbauen und
        das gemeinschaftliche Aktionsprogramm „Jugend“ ent-
        sprechend dem Beschluss des Europäischen Parlaments
        und des Rates unterstützen, sowie den Beschluss Nr. 1
        686/98/EG der Europäische Union umsetzen.
        Freiwilliges Engagement muss sich für die Freiwilli-
        gen, aber auch für die Dienststellen lohnen. Dazu sollen
        auf Trägerseite Verwaltungshindernisse und Kostenfakto-
        ren abgebaut werden, aufseiten der Freiwilligen nicht nur
        für Ableistende eines freiwilligen sozialen oder ökologi-
        schen Jahres, sondern für alle freiwilligen Engagierten ihr
        mindestens einjähriger Dienst als Zivildienst anerkannt,
        Fortbildungsmöglichkeiten geschaffen und Qualifikatio-
        nen zertifiziert werden. Auf internationaler, dabei beson-
        ders auf europäischer Ebene sind Regelungen zu schaffen,
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        die es Freiwilligen im In- und Ausland ermöglichen, sich
        unbürokratisch überall zu engagieren.
        Ich fordere die Bundesregierung auf: Überprüfen Sie
        Ihren zaghaften Gesetzentwurf und schaffen Sie endlich
        Regelungen, die freiwilliges Engagement tatsächlich at-
        traktiv machen und ihnen Anerkennung zuteil werden
        lassen!
        Monika Balt (PDS): Bürgerschaftliches Engagement
        und Freiwilligenarbeit sind zweifelsfrei wichtig für die
        Entwicklung der Zivilgesellschaft. Durch den persönli-
        chen Einsatz leisten junge Freiwillige einen wichtigen
        Beitrag zur Verbesserung des sozialen Klimas und über-
        nehmen Verantwortung über den eigenen Lebensraum
        hinaus. Der vorliegende Gesetzesentwurf zielt auf eine
        Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Freiwilli-
        gendienste im freiwilligen sozialen und ökologischen
        Jahr.
        Nun betonen Sie immer wieder, meine Damen und
        Herren von der Regierungskoalition, dass das freiwillige
        Engagement gegen Erwerbsarbeit abzugrenzen sei. Die
        Dienste sollen Lerndienste sein. Wenn dem doch so wäre!
        Nun sind doch die Ursachen, die 1954 zu den Überle-
        gungen eines freiwilligen sozialen Jahres und 1964 zum
        entsprechenden Gesetz geführt haben, nicht behoben.
        Ganz im Gegenteil: Der Mangel an Lehrstellen und Aus-
        bildungsplätzen sowie der Personalmangel im pflegeri-
        schen und sozialen Bereich sind angestiegen. Gleiches
        gilt für das freiwillige ökologische Jahr. Hinzu kommt das
        gravierende Problem der Massenarbeitslosigkeit, bei dem
        kein wirtschaftlicher oder politischer Lösungsansatz er-
        kennbar ist. Um dem Ganzen den sozialen „Sprengstoff“
        zu nehmen, sind das freiwillige soziale und das freiwillige
        ökologische Jahr anstelle arbeitsmarktpolitischer Instru-
        mentarien zur Schaffung von Ausbildungs- und dauerhaf-
        ten Arbeitsplätzen ein idealer Ersatz, der zudem noch die
        Arbeitslosenstatistik schönt.
        Außerdem sind die Stellen des freiwilligen sozialen
        und des freiwilligen ökologischen Jahres sehr niedrig be-
        zahlte und verstärken den Trend zum Niedriglohnsektor.
        Nicht hinnehmbar ist das Vorhaben – wie im Begrün-
        dungsteil des Gesetzentwurfes zu lesen –, das Taschen-
        geld der Freiwilligen auf das Niveau des Kindergeldes ab-
        zusenken.
        Die zeitliche Verlängerung des freiwilligen sozialen
        Jahres liegt sicherlich auch im Interesse der Dienstleis-
        tenden. Allerdings kritisieren wir die Flexibilisierung
        nach Blöcken. Das schafft einen ungerechtfertigten büro-
        kratischen Mehraufwand für die Träger. Die pädagogi-
        sche Betreuung wird aufgrund der Erhöhung der Zahl der
        zu Betreuenden zur Farce.
        Sie wollen die Tätigkeitsfelder der Freiwilligendienste
        ausweiten: auf kulturelle und sportliche Bereiche sowie
        auf den Denkmalschutz. Auf den ersten Blick ist daran
        nichts zu kritisieren. Um das zu finanzieren, wäre es aber
        sinnvoll – so wie es Bündnis 90/Die Grünen wollten, sich
        aber nicht durchsetzen konnten –, die frei werdenden Mit-
        tel des Zivildienstes in den Topf der Freiwilligendienste
        einzustellen.
        Besonders kritisch steht die PDS den Regelungen ge-
        genüber, die aus dem Pflichtdienst Zivildienst auf Frei-
        willigendienste übertragen werden sollen. Damit wird der
        Identität von Freiwilligendiensten und der gesellschaftli-
        chen Anerkennung der Dienste Schaden zugefügt. Das
        grundsätzliche Ziel der Bundesregierung, Freiwilligen-
        dienste zu fördern, wird damit konterkariert. Freiwilli-
        gendienste müssen „freiwillig“ bleiben! Das Bundesamt
        für Zivildienst darf deshalb keinerlei Aufsicht über Frei-
        willigendienste führen können.
        Die Folge dieser Regelungen wird sein, dass es zu ei-
        nem Verdrängungswettbewerb zwischen jungen Frauen
        und zivildienstpflichtigen jungen Männern in den Ein-
        satzstellen und bei den Trägern kommt. Das läuft im Übri-
        gen der Gender-Mainstreaming-Richtlinie der EU zuwi-
        der. Aus unserer Sicht besteht ein erheblicher
        Überarbeitungs- und Korrekturbedarf der vorliegenden
        Gesetzesnovelle.
        Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
        milie, Senioren, Frauen und Jugend: Junge Menschen
        wollen sich freiwillig engagieren.
        Wir wissen, dass 37 Prozent der jungen Menschen in
        Deutschland freiwillig engagiert sind. Das ist überdurch-
        schnittlich viel im Vergleich zu den anderen Altersgrup-
        pen. Das verdient unsere Anerkennung.
        Wir legen deshalb am Ende des Internationalen Jahres
        der Freiwilligen eine Reform und Ausweitung der Frei-
        willigendienste für Jugendliche auf den Tisch. Das heißt:
        Erstens. Wir weiten die Einsatzfelder aus.
        Zweitens. Wir ermöglichen die Freiwilligendienste zu
        gleichen Bedingungen auch im nichteuropäischen Aus-
        land.
        Drittens. Wir geben den Freiwilligendiensten eine Ori-
        entierungsfunktion für einen zukünftigen Beruf.
        Das freiwillige soziale Jahr gibt es seit 1964. Das frei-
        willige ökologische Jahr wurde 1993 eingeführt. Diese
        Freiwilligendienste sind bei den Jugendlichen in den letz-
        ten Jahren immer beliebter geworden. Wir haben die An-
        gebote in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausge-
        weitet: von 7 100 Jugendlichen im Jahr 1993 auf heute
        rund 13 200. Das ist eine Steigerung um 85 Prozent. Aber
        noch immer übersteigt die Nachfrage deutlich das Ange-
        bot. Der Freiwilligendienst in sozialen und ökologischen
        Tätigkeitsfeldern wird von den jungen Menschen genutzt,
        um Einblicke zu bekommen, Erfahrungen zu sammeln
        und mitzuhelfen. Die meisten Teilnehmerinnen und Teil-
        nehmer haben in dieser Zeit den ersten engen Kontakt mit
        dem beruflichen Alltag. Sie lernen das Arbeitsleben ken-
        nen, sei es im Krankenhaus, auf der Pflegestation oder
        beim Schutz des Wattenmeeres. Sie machen wichtige per-
        sönliche Erfahrungen im Umgang mit Menschen.
        Am Ende beurteilen 91 Prozent der Teilnehmerinnen
        und Teilnehmer ihr freiwilliges Jahr mit sehr gut oder gut.
        Für viele junge Leute ist ihre Erfahrung während des
        freiwilligen sozialen und ökologischen Jahres richtungs-
        weisend für ihre berufliche Zukunft.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120670
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        Die Freiwilligendienste helfen also bei der Berufsent-
        scheidung. Deshalb ist es auch so wichtig, dass noch
        stärker berufsorientierende und berufsqualifizierende
        Elemente in die Freiwilligendienste aufgenommen wer-
        den. Die Freiwilligen sollen zukünftig ein Zertifikat er-
        halten, mit dem sie ihre erworbenen Kompetenzen und
        Erfahrungen ausweisen können. Dieses Zertifikat soll
        den Einstieg in die Ausbildungs- und Berufswelt er-
        leichtern.
        Mit dem vorliegenden Gesetz machen wir die Freiwil-
        ligendienste auch flexibler.
        Wir schaffen Möglichkeiten, den Dienst künftig in
        Blöcken, zum Beispiel drei Monate, abzuleisten, inner-
        halb einer Spanne von 24 Monaten. Auch eine freiwillige
        Verlängerung um bis zu sechs Monate über die Höchst-
        dauer von zwölf Monaten hinaus wird möglich. So sollen
        junge Menschen in die Lage versetzt werden ihr freiwilli-
        ges Engagement so zu gestalten, dass es in ihre persönlich
        Lebensplanung hineinpasst.
        Ich habe bereits darauf hingewiesen: In den letzten Jah-
        ren hatten wir immer mehr Bewerberinnen und Bewerber
        als Plätze beim freiwilligen sozialen und ökologischen
        Jahr. Das werden wir ändern. Wir werden im nächsten
        Jahr die Zahl der Plätze für die beiden Freiwilligendiens-
        te um 50 Prozent erhöhen und mit 5 Millionen Euro zu-
        sätzlich ausstatten. Das ist eine deutliche Steigerung.
        Wir werden die Einsatzfelder für die Freiwilligendienste
        erweitern. Künftig kann das freiwillige soziale Jahr auch
        in der Jugendarbeit des Sports, in Verbänden und Vereinen
        absolviert werden.
        Außerdem haben wir im September diesen Jahres ein
        Modellprojekt „Freiwilliges Soziales Jahr im kulturellen
        Bereich“ begonnen.
        Mit dem vorliegenden Gesetz berücksichtigen wir
        auch das große Interesse von Jugendlichen, einen freiwil-
        ligen Dienst im Ausland zu absolvieren.
        Seit 1993 kann der Freiwilligendienst auch im europä-
        ischen Ausland abgeleistet werden.
        Wir werden die Freiwilligendienste künftig zu den
        gleichen Bedingungen auch in außereuropäischen Län-
        dern ermöglichen. Damit fördern wir die Weltoffenheit
        und den Dialog zwischen den Kulturen, die wir in unserer
        Gesellschaft brauchen.
        Mit dem neuen Gesetz stellen wir die jungen Men-
        schen, die ihr freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr
        im Ausland ableisten, denen im Inland gleich. Sie erhal-
        ten die gleiche Absicherung in der Sozialversicherung
        und bei der Zahlung von Kindergeld.
        Bei derWeiterentwicklung der Freiwilligendienste ist
        unser Ziel, die Dienste für alle Jugendlichen bereitzu-
        stellen und ihnen die tatsächliche Teilnahme durch ge-
        eignete Angebote zu ermöglichen. So wollen wir, dass
        in Zukunft die Absolventen von allen Schularten, vor al-
        lem auch Hauptschulabsolventen, eine größere Rolle
        spielen. Deshalb ist künftig der Schulabschluss Voraus-
        setzung für den Zugang und nicht mehr das Mindest-
        alter.
        Lassen Sie mich abschließend noch auf Folgendes hin-
        weisen: Wir wollen den Zivildienst und die Freiwilligen-
        dienste in Zukunft stärker miteinander verzahnen. Des-
        halb wird das Zivildienstgesetz künftig vorsehen, dass
        anerkannte Kriegsdienstverweigerer anstelle des Zivil-
        dienstes auch ein freiwilliges soziales oder freiwilliges
        ökologisches Jahr neuer Prägung ableisten können.
        Der vorliegende Gesetzentwurf entwickelt den Frei-
        willigendienst für Jugendliche weiter und gibt ihm neue
        Impulse. Er wird damit den unterschiedlichen Interessen-
        lagen von Jugendlichen gerecht und trägt dazu bei, die
        Rahmenbedingungen für freiwilliges Engagement in un-
        serem Land zu verbessern.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zurBeratungdesAntrags: Zusagen zumglobalen
        HIV/Aids- und Gesundheitsfonds einhalten und
        Aidsimpfstoffforschung stärker fördern
        (Tagesordnungspunkt 14)
        Frank Hempel (SPD): Jede Minute infizieren sich
        mehr als 10 Menschen mit dem HI-Virus. Jeden Tag ster-
        ben mehr als 8 000 Menschen an den Folgen von Aids;
        jede Minute stirbt ein Kind daran. Wir alle sind uns wohl
        einig über die Dringlichkeit, diese Epidemie mit allen uns
        zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen und hof-
        fentlich bald zu besiegen.
        Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Unsere Auf-
        gabe muss es sein, diesen Weg so kurz wie möglich zu hal-
        ten. Der Fokus liegt hierbei, der globalen Problemlage
        angemessen, auf den Ländern des südlichen Afrikas, die
        besonders unter der Belastung durch HIV/Aids zu leiden
        haben: Es handelt sich hierbei sowohl um eine menschli-
        che, als auch um eine ökonomische Tragödie. Doch ge-
        rade in den letzten Monaten ist uns bewusst geworden,
        dass auch die Situation in anderen Regionen der Welt, wie
        zum Beispiel in China, Indien und der GUS – hier beson-
        ders in der Ukraine und in Russland – an Brisanz zuge-
        nommen hat.
        Zu China waren Schlagzeiten zu lesen wie zum Bei-
        spiel. „Am Rand des Abgrunds bricht China mit dem
        Aids-Tabu“ oder „China gibt Aids-Epidemie zu“. Nach
        Jahren der Tabuisierung scheint sich die chinesische
        Regierung der Bedrohung bewusst zu werden. Zwar ist
        die Prävalenzrate aufgrund der hohen Bevölkerungszahl
        – gleiches gilt auch für Indien – relativ gering, doch neu-
        ste Zahlen dokumentieren 600 000 HIV-infizierte Chine-
        sinnen und Chinesen. Mit der Enttabuisierung der Aids-
        problematik sind Staaten wie China und Indien auf dem
        richtigen Weg, den Kardinalfehler der Vergangenheit zu
        vermeiden; nämlich die Epidemie lange zu verheimlichen
        und zu verharmlosen. Wir müssen diese Staaten dabei in-
        tensiv unterstützen und sie auch zu mehr Eigen-
        initiative bewegen.
        Ich möchte nicht zum x-ten Mal gebetsmühlenhaft die
        globalen Statistiken anführen. Diese sind uns gerade jetzt,
        zwei Wochen nach dem internationalen Welt-Aids-Tag
        noch im Gedächtnis.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20671
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        Vielmehr frage ich mich, was an dem Antrag der
        CDU/CSU neu ist. Schon Mitte des Jahres hat die Koali-
        tion einen Antrag zur Förderung der Aidsbekämpfung in
        Entwicklungsländern vorgelegt (14/6320 vom 20. Juni
        2001). Dieser fand, bei Enthaltung der CDU/CSU Frak-
        tion, breite Zustimmung in diesem Hause.
        Zudem ist der Zeitpunkt des CDU/CSU-Antrags aus
        zwei Gründen sehr ungünstig gewählt. Ich möchte ihnen
        auch erläutern warum: Erstens hat die FDP-Fraktion
        schon am 14. November 2001 eine Kleine Anfrage mit der
        Überschrift „Finanzielle Unterstützung für den Global
        and Health Fonds“, Drucksache 14/7516, an die Bundes-
        regierung gestellt, in der einige Fragen aufgeführt sind,
        die ihre Forderungen des Antrags betreffen. Hätten Sie es
        abwarten können, wären sie heute schlauer: Laut einer In-
        formation des Sach- und Sprechregisters des Deutschen
        Bundestages geht Ihnen die Beantwortung schon morgen
        zu. Schauen Sie ruhig noch einmal in Ihre Postfächer, be-
        vor Sie in den wohlverdienten Weihnachtsurlaub fahren.
        Aber aufgrund des schlechten Timings können zwei-
        tens auch hierbei nicht alle Fragen geklärt werden, denn
        dieser 14. Dezember 2001 ist nicht nur in unserem Hause
        ein wichtiges Datum bei der Diskussion der globalen
        Aidsproblematik, sondern auch für die internationalen
        Verhandlungen zum Global Fund to fight Aids, Tubercu-
        losis and Malaria, GFATM. Denn heute ist der letzte Ver-
        handlungstag zum GFATM in Brüssel. Die Ergebnisse der
        Transitional Working Group, TWG, zur Ausgestaltung des
        Fonds werden uns in Kürze vorliegen und die entspre-
        chende Institution, die für die Verwaltung des Fonds ver-
        antwortlich sein wird, soll schon Anfang 2002 ihre Arbeit
        aufnehmen. Alle Verhandlungspartner sind sich der Wich-
        tigkeit und der Dringlichkeit ihrer Aufgabe bewusst und
        sie sind bemüht, noch dieses Jahr Ergebnisse vorzulegen.
        Also liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-
        und FDP-Fraktion, haben sie noch einige Tage Geduld,
        dann werden Sie über die Ergebnisse der Verhandlungen
        informiert werden können und schon bald werden die ers-
        ten Maßnahmen im Rahmen des Global Funds umgesetzt.
        Für alle, die es nicht abwarten können, werde ich vorab
        einige Informationen zum Stand der Verhandlungen ge-
        ben. Diese sind allerdings auf dem Stand des letzten,
        zweiten TWG-Treffens in Brüssel vom 22. bis 24. No-
        vember 2001.
        An den bisherigen Beratungen unter dem von VN-Ge-
        neralsekretär Kofi Annan berufenen Vorsitzenden, dem
        ugandischen Minister Dr. Kiyonga, nehmen Vertre-
        terinnen und Vertreter aus 17 Industrieländern, 11 Ent-
        wicklungsländern, 5 internationalen Organisationen und
        6 Nichtregierungsorganisationen bzw. Wirtschaftsverbän-
        den teil. Verhandlungsgegenstand waren auf der letzten
        Sitzung die Strukturen und Modalitäten des GFATM.
        Hierbei hat man sich auf einen 18-köpfigen Verwaltungs-
        rat unter Teilhabe von Nichtregierungsorganisationen
        geeinigt. Als Trustee des Fonds soll die Weltbank beauf-
        tragt werden. Ausstehende Entscheidungen zur Rechts-
        grundlage, Entscheidungsstruktur, Arbeitsmodalitäten,
        Treuhänderschaft sowie Verantwortlichkeit für die Durch-
        führung und Rechnungslegung – hiermit ist generell die
        Programm- und Finanzverantwortlichkeit gemeint – wer-
        den heute und morgen in Brüssel diskutiert. Aus Sicht der
        deutschen Verhandlungsdelegation besteht bei der Pro-
        gramm- und Finanzverantwortlichkeit noch umfangrei-
        cher Diskussionsbedarf.
        Nun möchte ich Ihnen noch einige wichtige Punkten
        der Verhandlungen erläutern: Das verantwortliche Gre-
        mium-Board soll Entscheidungen grundsätzlich im Kon-
        sens treffen. Die Entscheidungsfindungsmethode wird
        beim jetzt stattfindenden Treffen verhandelt. Über den
        Sitz des neu einzurichtenden Sekretariats, das den Ver-
        waltungsrat bei seiner Arbeit unterstützt, ist noch keine
        abschließende Entscheidung getroffen worden. Zur Dis-
        kussion standen Genf – WHO –, Paris – Weltbankbüro –,
        Südafrika und Belgien. Die Präferenz der Mehrheit der
        Verhandlungspartner und der deutschen Delegation war
        Genf.
        Grundsätzlich sollen aus Mitteln des Fonds hauptsäch-
        lich bestehende nationale Programme und Gesundheits-
        pläne finanziert werden, die Mittelzuweisung soll in Ra-
        ten erfolgen und sich an nachweisbaren Erfolgen
        orientieren. Eine Kofinanzierung der internationalen
        Bemühungen zur Bereitstellung eines Impfstoffs gegen
        die HIV-Infektion wird, entgegen der Verhandlungen im
        Vorfeld, explizit ausgeschlossen. Dies wird zum Beispiel
        von der Deutschen Aids-Stiftung und der International
        Aids Vaccine Initiative grundsätzlich begrüßt. Hiermit
        soll sichergestellt werden, dass der Bereich Prävention
        und Behandlung in Entwicklungsländern, den internatio-
        nal zur Verfügung stehenden Mitteln entsprechend, aus-
        reichend finanziert wird. Somit haben andere Organisa-
        tionen – zum Beispiel oben genannte – den Freiraum, sich
        intensiv für die Förderung einer entwicklungsländerspe-
        zifischen Impfstoffentwicklung einzusetzen.
        Als Antragsteller kommen nur Länder mit bestimmten
        Voraussetzungen infrage. Kriterien werden sein: Armut,
        Prävalenzrate, die potenzielle Verbreitungsgeschwindig-
        keit und die positive Einstellung der Regierung aktiv im
        Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria mitzuwir-
        ken.
        Hiermit wird die Eigenanstrengung der Entwicklungs-
        länder angesprochen, die von der CDU/CSU in ihrem An-
        trag gefordert wird. Dass diese in den bilateralen Projek-
        ten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit schon
        eingefordert wird, können sie voraussetzen. Aber es ist
        gut, dass sie noch einmal darauf hinweisen. Hier scheint
        überfraktionelle Einigkeit zu herrschen. Seien sie gewiss,
        dass dies auch die Kriterien des BMZ sind. Ein weiterer
        Punkt, den Sie in ihrem Antrag in diesem Zusammenhang
        ansprechen, ist Aufklärung und Stärkung des Gesund-
        heitssektors: Würden sie sich die Positionspapiere des
        BMZ genauer anschauen und dies mit den bilateralen Pro-
        jekten vergleichen, könnten sie feststellen, dass diese For-
        derung nur den Status quo wiedergibt. Wenn sie allerdings
        Verbesserungsvorschläge haben, wie man die bestehen-
        den Maßnahmen optimaler umsetzten kann, sind Ihnen
        die Verantwortlichen sicherlich dankbar.
        Der zeitlichen Notwendigkeit Rechnung tragend soll
        nach der 3. Verhandlungsrunde der TWG die Verteilung
        der Finanzmittel schon Anfang 2002 beginnen. Damit es
        nicht zu weiteren Verzögerungen kommt, ist eine Option
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120672
        (C)
        (D)
        (A)
        (B)
        die Förderung bereits bestehender HIV/Aids-, Tuberku-
        lose- und Malaria-Programme von UMAIDS und der
        WHO sowie die sofortige Finanzierung von Programmen
        zum Einsatz von antiviralen Medikamenten. Durch die
        Nutzung vorhandener Strukturen können hohe Imple-
        mentierungskosten eingespart werden.
        Die abschließende Verhandlung findet heute und mor-
        gen in Brüssel statt. Hätten die Damen und Herren der
        CDU/CSU-Fraktion noch einige Tage Geduld gehabt, lä-
        gen uns die Ergebnisse der Abschlussverhandlungen der
        TWG vor und einige Ihrer Einwände wären wahrschein-
        lich obsolet.
        Abschließend werde ich noch Stellung nehmen zu Ih-
        rer Forderung nach mehr Initiative für „Aidswaisen“.
        Vorab möchte ich bemerken, dass diese Bezeichnung für
        viele Kinder und Jugendliche zum Stigma wird. Zwar ha-
        ben auch wir noch vor einem halben Jahr in unserem An-
        trag von „Aidswaisen“ gesprochen, doch wir lernen dazu.
        Lassen sie uns also diese Kinder, wie im EZ-Jagon der
        GTZ üblich, doch besser „Kinder in schwierigen Lebens-
        lagen“ nennen. Denn Kinder und Jugendliche sind nicht
        nur passive Opfer, indem ihre Eltern an durch Aids verur-
        sachten Krankheiten sterben; sie sind ebenso direkt davon
        betroffen. Schon als Säugling werden viele von ihren
        Müttern infiziert. Des Weiteren führen infizierte Blutkon-
        serven oder die Mehrfachnutzung von Spritzen zur Über-
        tragung von HIV. Und vergessen Sie nicht, dass sexuelle
        HIV-Übertragung in vielen Ländern, besonders in Afrika
        südlich der Sahara, aufgrund traditioneller Verhaltenswei-
        sen schon wesentlich früher möglich ist. Besonders
        Mädchen sind davon betroffen, da sie in vielen Regionen
        schon mit zwölf Jahren oder früher verheiratet werden.
        Häufig an wesentlich ältere Männer, die vorher schon
        viele sexuelle Kontakte hatten und dadurch einer höheren
        Infektionsgefahr ausgesetzt waren.
        Um der Gefahr einer „Jugend ohne Zukunft“ entge-
        genzuwirken, müssen wir allen Kindern und Jugendli-
        chen Zukunftsperspektiven bieten. Es ist nicht damit ge-
        tan, sich auf Projekte für „Aidswaisen“ zu beschränken.
        Damit würden wir das Problem eher verschärfen. Ich
        sage ihnen auch warum: Erstens wird mit einer gezielten
        Förderung nur dieser Gruppe von Kindern und Jugendli-
        chen das Schicksal derjenigen völlig ausgeblendet, deren
        Eltern, HIV-infiziert oder nicht, noch leben. Damit über-
        ließen wir die Nicht-Waisen ihrem Schicksal. Doch ge-
        rade Kinder und Jugendliche sind für grundlegende Ver-
        haltensänderungen noch offen. Wogegen sich ihre Väter
        meist sträuben, kann bei der jungen Generation noch Er-
        folg versprechend umgesetzt werden. Mehr Waisenhäu-
        ser zu bauen kann nicht die Lösung sein. Diese immen-
        sen Finanzmittel werden besser in Projekten der Kinder-
        und Jugendförderung eingesetzt, denn hier können sie,
        wie in einem anderen Punkt ihres Antrags ja gefordert,
        präventiv wirken und zur Vermeidung der HIV-Verbrei-
        tung beitragen. Dies ist jedoch schon längst Bestandteil
        der deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit
        des BMZ. Hier tragen Projekte, die Aidsbekämpfung
        nicht im Titel führen, erheblich zur Verbesserung der Si-
        tuation bei. Ich erinnere Sie gerne nochmals an den An-
        spruch der deutschen Entwicklungszusammenarbeit,
        Aidsbekämpfung als Querschnittsaufgabe zu betrachten
        und kann Ihnen versichern, dass dies bereits umgesetzt
        wird. Ein Entwicklungsansatz, der dabei auf einer über-
        geordneten Ebene ansetzt, ist die Gemeindeförderung.
        Teil davon sind integrative Kinder- und Jugendprojekte,
        die auf den ersten Blick nicht primär der HIV/Aids-
        bekämpfung dienen. Doch dies täuscht. Denn die Förde-
        rung von Integration der Kinder und Jugendlichen in be-
        stehenden Gemeindestrukturen verhindert die Isolation
        der „Kinder in schwierigen Lebenslagen“ in Waisenhäu-
        sern. Denn die Nichtaufnahme von Kindern, deren Eltern
        an Aids gestorben sind, durch Verwandte oder Nachbarn
        ist kein Ergebnis des Nicht-Wollens, sondern des Nicht-
        Könnens. Vergessen Sie nicht, dass es sich in den be-
        troffenen Gesellschaften selten um Einzelkinder han-
        delt. Meist sind es fünf, sechs oder mehr Kinder, die
        durch den Tod der Eltern in eine psychisch und materiell
        schwierige Lebenslage geraten. Ist ein Bruder oder
        vielleicht eine Schwester alt genug und durch die mate-
        riellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in
        der Lage, die Geschwister großzuziehen, dann werden
        diese Kinder nicht noch weiter belastet, indem sie aus
        ihrem noch bestehenden Familienverband gerissen
        werden.
        Letztlich ist zu betonen, dass das Thema „Aids-
        bekämpfung in Entwicklungsländern“ nicht nur von uns
        Entwicklungspolitikern immer wieder auf die Tagessord-
        nung gerufen werden muss. Wir brauchen mehr Sensibi-
        lisierung gerade in unserer Bevölkerung für dieses
        Thema, auch wenn bei uns die Infektionsrate stagniert
        oder sogar rückläufig ist. Wir alle leben in „einer Welt“
        und die Zahlen von Neuinfektionen in Osteuropa, insbe-
        sondere im Hinblick auf die EU-Osterweiterung, sollten
        uns mahnen, nicht nachzulassen im weltweiten Kampf ge-
        gen diese Pandemie.
        Dr. Hansjörg Schäfer (SPD): Uns allen ist klar: Die
        Bedrohung durch Aids wird eine der größten Herausfor-
        derungen der Menschheit im 21. Jahrhundert sein. Die ge-
        ringe, offensichtlich sogar abnehmende Sensibilität für
        dieses Problem setzt uns immer wieder in Erstaunen. Ver-
        drängung oder Fehleinschätzung sind die größten Gefah-
        ren im Kampf gegen Aids. Innerhalb von zehn Jahren wird
        die Zahl der Infizierten möglicherweise die Milliarden-
        grenze erreichen – eine Größenordnung, die angesichts
        des menschlichen Leids und der notwendigen medizini-
        schen Versorgung unvorstellbar ist.
        Drei Wege müssen gleichberechtigt gegangen werden:
        erstens Prävention, zweitens Therapie und drittens Imp-
        fung.
        Am weitesten fortgeschritten sind die Möglichkeiten
        der Prävention, das heißt: Aufklärung, Verwendung von
        Kondomen und Gebrauch von sterilen Spritzen. Das Um-
        denken in männlich geprägten Gesellschaften kommt nur
        schwer voran. Gleichwohl liegt in der Prävention zurzeit
        die größte Chance, die Weiterverbreitung in großem Um-
        fang einzudämmen. Dies zeigt vor allem die Entwicklung
        in den westlichen Industrienationen. Dort waren eindeu-
        tig mehr Infektionen befürchtet worden.
        Die Therapie von Aids hat große Fortschritte gemacht.
        Sie ist jedoch immer noch sehr teuer, aufwendig und führt
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20673
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        leider noch nicht zur Heilung. Es ist noch nicht abzuse-
        hen, wann es Therapien geben wird, die zur definitiven
        Genesung führen. Die Diskussion um die Kosten von
        Aidstherapien für die Dritte Welt hat uns alle in den letz-
        ten Monaten beschäftigt. Insbesondere die Schaffung der
        notwendigen Infrastruktur, die wirtschaftlichen Folgen
        der Aids-Pandemie für die Dritte Welt werden uns noch
        sehr lange beschäftigen.
        Der dritte Weg, die Impfung gegen HIV, ist noch lange
        nicht zu Ende. Kein Mensch kann bisher absehen, wann
        uns ein Impfstoff zur Verfügung stehen wird.
        Es ist also eine stark verkürzte Denkweise, allein oder
        vor allem auf die Möglichkeit einer Impfung zu setzen.
        Wer dies tut, erzählt den Menschen die Unwahrheit und
        riskiert unvorstellbares Leid.
        Ich sage noch einmal: Alle drei Wege müssen gleich-
        zeitig gegangen werden. Das hat natürlich auch einen
        großen Einfluss auf die Verwendung der bestehenden
        Ressourcen. Gleichwohl ist selbstverständlich auch die
        Entwicklung eines Impfstoffes von großer Bedeutung,
        weil einzig die Impfung mittelfristig eine realistische
        Chance auf einen Schutz vor einer HIV-Infektion bietet.
        Es muss allerdings auch gewährleistet werden, dass Impf-
        stoffe für die Dritte Welt erreichbar sind.
        Es gibt zurzeit etwa 90 potenzielle Impfstoff-Mög-
        lichkeiten. Es gibt sogar die Aussicht auf einen Mehr-
        fach-Impfstoff, der die Subtypen A und B erreicht. In der
        Bundesrepublik werden zurzeit auch so genannte Aids-
        Vektor-Vakzine getestet. Sie sollen die Vermehrung des
        Erregers im Körper stoppen. Jedoch ist bisher keiner der
        Impfstoffe Garant für einen Schutz. Es kann lediglich der
        Eintritt der Krankheit verzögert werden.
        Der Vorwurf, die Bundesregierung würde sich bei der
        Impfstoffentwicklung nicht ausreichend engagieren, ist
        jedenfalls falsch. Über den Einzelplan 23 wird der Beitrag
        der Bundesrepublik zur Verfügung gestellt – und zwar der
        volle Betrag der zugesagten 300 Millionen DM. Die Ein-
        zahlung in den Fonds erfolgt dann, wenn die Struktur und
        die Arbeitsweise des Globalen Fonds zur Bekämpfung
        von Aids, Tuberkulose und Malaria – kurz: GFATM –
        feststehen. Das wird übrigens in allernächster Zeit passie-
        ren. Es wird den Haushaltsplan 2003 und die Finanzvor-
        ausschau bis 2006 betreffen. In welcher Weise dies pas-
        siert, kann erst nach Abschluss der Verhandlungen fest-
        gelegt werden. Das BMBF wird ab 2002 ein medizini-
        sches Kompetenznetz für zunächst drei Jahre mit 6 Milli-
        onen DM pro Jahr fördern. Darüber hinaus hat das BMBF
        eine Aidsimpfstoff-Initiative mit einem Umfang von
        50 Millionen in den nächsten fünf Jahren gestartet. Die
        Absicht dieser Initiative ist es, Möglichkeiten für eine
        präventive oder eine therapeutische Maßnahme zu finden.
        Bringt dies Erfolg, kann damit auch die Entwicklung ei-
        nes endgültigen HIV-Impfstoffes möglich werden. Die
        Bundesregierung unterstützt darüber hinaus andere For-
        schungsvorhaben im Rahmen der institutionellen Förde-
        rung und im Rahmen der Grundlagenforschung.
        Ich stelle fest: Das Engagement der Bundesregierung
        ist sowohl finanziell als auch inhaltlich optimal. Andere
        Darstellungen sind reine Wichtigtuereien. Ihr Antrag,
        liebe Kollegen von der CDU/CSU, enthält also nichts
        Neues und ist daher unter obiger Rubrik einzuordnen.
        Erika Reinhardt (CDU/CSU): Innerhalb von weniger
        als 20 Jahren ist Aids zur weltweit tödlichsten Infektions-
        krankheit geworden. Jeden Tag sterben mehr als 8 000 Men-
        schen an Aids! Jede Stunde infizieren sich fast 600 Men-
        schen und jede Minute stirbt ein Aidskind. Allein in den
        vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der an
        HIV/Aids-Infizierten von knapp 30 Millionen auf über
        40 Millionen erhöht. Und wenn man bedenkt, dass
        70 Prozent nichts von ihrer Infektion wissen, wird deut-
        lich, wie alarmierend diese Zeichen sind.
        Jede Debatte im Parlament ist ein Stück Bewusstseins-
        bildung. Darüber hinaus liegen uns zahlreiche Beschlüsse
        des Bundestages und Aktionspläne der EU vor. Das heißt,
        an Papieren und guten Absichten mangelt es nicht. Aber
        was ist aus all dem geworden? Wo hat die Bundesregie-
        rung konkret und fassbar gehandelt?
        Frankreich, die USAund Großbritannien haben bereits
        auf der UN-Sondergeneralversammlung im Juni dieses
        Jahres ihre finanzielle Zusage zum dort beschlossenen
        Fonds klar benannt. Die Bundesregierung hat dieses
        Fondsprojekt bislang werbewirksam verkauft, aber kon-
        kret wenig getan. Der Kanzler verkündete im Beisein von
        Kofi Annan Ende Juni 2001 einen deutschen Beitrag in
        Höhe von 300 Millionen DM zum Aidsfonds. Alle Zei-
        tungen haben über diese mit vielen Hoffnungen verbun-
        dene Zusage berichtet. Medienwirksamkeit ist die eine
        Seite, solide verlässliche Politik aber die andere Seite.
        Denn wie sollten wir es sonst werten, wenn gerade einmal
        sechs Monate nach der Ankündigung des Kanzlers wir
        uns alle fragen müssen, wo im Haushalt diese 300 Milli-
        onen DM eigentlich versteckt sind.
        Tatsache ist, dass aktuell im BMZ-Etat ein deutscher
        Beitrag von 10 Millionen Euro ausgewiesen ist. Das sind
        nach Adam Riese 20 Millionen DM und keine 300 Milli-
        onen DM wie angekündigt. Bundeskanzler Schröder und
        Sie, Frau Ministerin, werden international an diesen
        300 Millionen DM gemessen werden. Und wir halten es
        besonders in diesem Falle für Ihre moralische Pflicht, die
        gegebene Zusage einzuhalten.
        Sicher kann man diesen Fonds auch kritisch betrach-
        ten: Sind die Erwartungen zu hoch? Wird es ein bürokra-
        tischer Wasserkopf? Nach welchen Kriterien soll die Mit-
        telvergabe erfolgen? Wird es eine Selbstverpflichtung der
        Länder geben? Oder die ganz konkrete Gefahr, dass bis-
        lang Mittel der bilateralen Aidsbekämpfung in Zukunft
        dem Fonds zugeführt werden, weil es einfach werbewirk-
        samer ist, darf man nicht außer Acht lassen. Es darf auch
        nicht passieren, dass dieser Fonds nach den ersten Ein-
        zahlungen in den folgenden Jahren austrocknet. Das sind
        alles Fragen und Probleme, über die derzeit aktuell in
        Brüssel diskutiert wird. Und ich hoffe im Namen aller Be-
        troffenen, dass in diesen Tagen Entscheidungen fallen, die
        wirkliche Fortschritte für die globale Aidsbekämpfung
        sind.
        In diesem Zusammenhang wiederhole ich eine von uns
        häufig gemachte Forderung: Bei den Regierungsverhand-
        lungen mit den Ländern der Dritten Welt muss das Thema
        Aids ganz oben stehen. Nur wenn es gelingt, bei den Re-
        gierungen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wird es ge-
        lingen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und
        zu Erfolgen zu gelangen.
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        Es ist richtig: Familienplanung, Gesundheit und Aids-
        bekämpfung gehören zusammen. Aber mir fiel auf, dass
        im Haushalt zahlreiche Projekte, die früher in die repro-
        duktive Gesundheit fielen, heute unter der Überschrift
        HIV/Aidsbekämpfung zu finden sind. Aber dem Kind nur
        einen anderen Namen zu geben, ohne die Mittel zu er-
        höhen, nenne ich Etikettenschwindel.
        Ein anderer Punkt ist das Programm mit der Pharmain-
        dustrie zur kostenlosen Abgabe des Aidsmedikaments
        Nevirapin. Wir haben das begrüßt. Aber wie sieht es nach
        einem Jahr der Ankündigungen aus? Das Programm läuft
        mehr als zögerlich, da es in den meisten Staaten – obwohl
        es schon spezifisch ausgesuchte Staaten sind – nicht mög-
        lich ist, eine Tablette oder einen Tropfen der Medizin an
        die Frau und das Kind zu bringen, weil noch immer die
        notwendigen Infrastrukturen fehlen und vorhandene nicht
        entsprechend genutzt werden.
        Der auf der UN-Sondergeneralversammlung Aids ge-
        fasste Beschluss, die Zahl der Neuinfektionen bis 2015
        um ein Viertel zu senken, ist ein ehrenvolles, aber auch
        sehr hohes Ziel, wenn man die rapide Ausbreitung von
        HIV/Aids betrachtet. Ich nenne bewusst noch einmal die
        Zahlen: Jede Stunde infizieren sich fast 600 Menschen. In
        den vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der an
        HIV/Aids-Infizierten von knapp 30 auf über 40 Millionen
        erhöht.
        In Anbetracht der aufgezeigten Probleme bei der Ver-
        abreichung von Nevirapin, angesichts der hohen Zielvor-
        gaben der UN und vor dem Hintergrund der fast unge-
        hemmten Ausbreitung von Aids in den vergangenen vier
        Jahren muss man ehrlich sagen: Alle bislang ergriffenen
        Maßnahmen zur Prävention und Therapie sind wichtig
        und notwendig. Aber das Problem lösen können wir nur
        mit einem wirksamen Impfstoff. Ich bin überzeugt, dass
        wir hier alle einer Meinung sind.
        Es muss endlich einmal bewusst werden: In den letzten
        fünf Jahren hat sich in der Aidsimpfstoffentwicklung
        enorm viel getan. Es stimmt schon lange nicht mehr, dass
        es unmöglich sei, einen Aidsimpfstoff zu bekommen. Ex-
        perten halten es für durchaus realistisch, bis zum Jahre
        2007 einen Impfstoff zu implementieren. Die Forschung
        für den Impfstoff in Entwicklungsländern ist weiter, als in
        Deutschland angenommen wird: Die HIV-Subtypen in
        Entwicklungsländern sind nicht identisch mit den Subty-
        pen in Europa und Nordamerika.
        Die Pharmaindustrie befasst sich aber fast ausschließ-
        lich mit der Suche nach einem Aidsimpfstoff für Europa
        und Nordamerika. Hier spielt der wirtschaftliche Anreiz
        eine zentrale Rolle. Die Sonderarbeitsgruppe Aids bei der
        Weltbank hat deshalb zu Recht von einem Marktversagen
        in der Impfstoffentwicklung gesprochen. Die öffentliche
        Förderung ist unzureichend und die Anreize für private
        Investoren sind zu gering, da die Märkte in den Entwick-
        lungsländern, in denen die Epidemie ihr größtes Ausmaß
        hat, zu geringe Gewinnerwartungen versprechen.
        Von allen öffentlichen Geldern, die für die Aids-
        bekämpfung weltweit ausgegeben werden, fließen nur
        2 Prozent in die Impfstoffentwicklung, von diesen 2 Pro-
        zent wiederum nur ein verschwindend geringer Teil in die
        Entwicklung eines Impfstoffes für Entwicklungsländer.
        Hinzu kommen weitere spezielle Forderungen an einen
        Impfstoff für Entwicklungsländer. Er muss den spezifi-
        schen Bedingungen in Dritte-Welt-Staaten standhalten
        können: Er muss kostengünstig sein, auf die klimatischen
        Bedingungen abgestimmt sein und leicht anwendbar, zum
        Beispiel eine Schluckimpfung.
        Der deutsche Beitrag zur Aidsimpfstoffforschung ent-
        spricht heute weder der Dringlichkeit des Problems, noch
        dem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen
        Gewicht Deutschlands. Denn Fakt ist: Ende 2000 ist die
        Bundesförderung für die Aidsimpfstoffforschung ausge-
        laufen. Wir fordern deshalb in unserem Antrag die Bun-
        desregierung auf, in der Impfstoffforschung für Entwick-
        lungsländer endlich aktiv zu werden. Die Experten sagen
        mir: Wir haben alle Werkzeuge in der Hand, was fehlt,
        sind die Mittel!
        Was wir brauchen, sind: Ein Programm zur Beschleu-
        nigung der Impfstoffentwicklung in Deutschland und ei-
        nen angemessenen Beitrag für die internationale Aids-
        Vaccine-Initiative, die sich der internationalen Forschung
        nach einem Impfstoff für die Entwicklungsländer ver-
        pflichtet hat. Dafür sind insgesamt 50 Millionen DM not-
        wendig. Genau das fordern wir in unserem Antrag.
        Die Welt braucht einen Aidsimpfstoff, denn Therapie
        und Prävention entfalten insbesondere in den Entwick-
        lungsländern nur eine sehr begrenzte Wirksamkeit. Es ist
        fünf vor zwölf. Ein südafrikanisches Sprichwort heißt:
        Der beste Zeitpunkt, einen Baum zu pflanzen, war vor
        15 Jahren; der zweitbeste Zeitpunkt ist heute! Genau so
        verhält es sich mit der weltweiten Aidsepidemie und der
        Impfstoffentwicklung: Sie zwingt uns alle zum sofor-
        tigen Handeln. Ich bitte Sie im Interesse aller Betroffe-
        nen über Parteigrenzen hinweg, unserem Antrag zuzu-
        stimmen!
        Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
        GRÜNEN):HIV/Aids bedroht die öffentliche Gesundheit
        in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Die
        wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung
        ganzer Länder und Generationen ist existenziell gefähr-
        det. Dies ist insbesondere in den afrikanischen Ländern
        südlich der Sahara der Fall. Aber auch in Osteuropa und
        in Asien in Kambodscha, Indien und in China – breitet
        sich HIV/Aids mit rasanter Geschwindigkeit aus.
        Die WHO erwartet, dass im nächsten Jahrzehnt die Le-
        benserwartung in vielen Ländern südlich der Sahara um
        I7 Jahre auf nur 43 Jahren fällt. Mit einer erheblichen An-
        zahl an Aidswaisen erleben diese Länder schon jetzt eine
        Gesellschaftskrise. Ohne eine gesunde, arbeitsaktive Be-
        völkerung sind die Aussichten auf eine tragfähige und er-
        folgreiche soziale und wirtschaftliche Entwicklung so gut
        wie nicht mehr vorhanden.
        Die Dramatik dieser Entwicklung hat UN-Generalse-
        kretär Kofi Annan in diesem Jahr zu einem UN-Aids-Gip-
        fel bewogen und die G 8 hat in Genua die Einrichtung ei-
        nes globalen Gesundheitsfonds zur Bekämpfung von
        HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose beschlossen. Es ge-
        schieht also etwas, und die Bundesregierung beteiligt sich
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20675
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        daran. 300 Millionen DM wurden für den Fonds vorgese-
        hen. Dies ist ein erster bedeutender Schritt, um einen in-
        ternationalen Fonds mit anfänglich 1,5 Milliarden US-
        Dollar einzurichten. Wichtig ist, dass der Fonds
        – vielleicht noch dieses Jahr – als globaler Fonds mit ei-
        ner tragfähigen Struktur eingerichtet wird und dass dann
        die versprochenen Gelder auch zügig eingezahlt werden.
        Der vorgesehene deutsche Beitrag befindet sich in einer
        vergleichbaren Höhe mit anderen europäischen Ländern
        und stellt etwas über 9 Prozent des Gesamtvolumens dar.
        HIV/Aids, aber auch andere Krankheiten wie Malaria
        und Tuberkulose – und dies möchte ich hier noch einmal
        ganz besonders hervorheben, weil wir uns um diese
        Krankheiten bisher viel zu wenig gekümmert haben – be-
        drohen die internationale Gesundheit als ein globales öf-
        fentliches Gut. Mittelfristig hat sich die internationale Ge-
        meinschaft darauf verständigt, die Zahl der TB- und die
        Malariatodesfälle um 50 Prozent zu verringern. Die An-
        zahl der HIV/Aids infizierten Menschen im Alter von 25
        und jünger soll um 25 Prozent gesenkt werden. Um dies
        zu erreichen, ist ein gut ausgestatteter und gut funktionie-
        render Gesundheitsfonds notwendig. Zu den anfänglich
        1,5 Milliarden Dollar werden erhebliche neue Beträge
        hinzukommen müssen.
        Dies kann aber nicht der einzige Beitrag zur Bekämp-
        fung dieser Krankheiten sein. Vor allem die Pharmaunter-
        nehmen sind gefordert, auch einen essenziellen Beitrag zu
        leisten. Die Erforschung von Impfstoffen muss intensi-
        viert und gefördert werden und in den Entwicklungslän-
        der selbst, vor Ort, müssen infrastrukturelle Bedingungen
        geschaffen werden, sodass vorbeugende Maßnahmen
        greifen können und ein besserer Zugang zu Medikamen-
        ten und Gesundheitsversorgung gewährleistet werden
        kann. Lebensverlängernde und lebensrettende Medika-
        mente gegen HIV/Aids sind von zentraler Bedeutung im
        Kampf gegen die Ausmaße der Krankheit. Bei der WTO-
        Ministerkonferenz in Doha wurden hinsichtlich des
        TRIPS-Abkommens Zugeständnisse an diejenigen Län-
        der signalisiert, die einen nationalen Notfall im Bereich
        der öffentlichen Gesundheit nachweisen können. Damit
        soll es erlaubt sein, die restriktiven und teilweise mono-
        polistischen Patentregeln in Einzelfällen aufzuheben und
        billigere Kopieprodukte in den Entwicklungsländern
        selbst herzustellen. Im Falle, dass die Länder nicht über
        eine eigene Pharmaindustrie verfügen, sind die Möglich-
        keiten für den Import von Generika verbessert worden.
        Diese Resultate sind als sehr positiv zu bewerten.
        Es besteht jedoch weiterhin Unklarheit über viele Teil-
        bereiche, zum Beispiel ab wann von einem Notfall die
        Rede sein kann, der US-amerikanische Vorstoß, aufgrund
        weniger Milzbrandfälle den nationalen Notstand ausrufen
        und existierende Patentregeln außer Kraft setzen zu wol-
        len, entfachte heftige Kontroversen. Außerdem bestehen
        Zweifel daran, ob die Signale der WTO-Tagung aus-
        schließlich für die in der Ministererklärung aufgezählten
        Krankheiten gelten.
        Die wirksame Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria
        und Tuberkulose stellt für die internationale Gemein-
        schaft also eine mehrfache Herausforderung dar: Es gilt
        nun für alle Akteure, die ursprünglichen Versprechen ein-
        zuhalten und den globalen Gesundheitsfonds schnell und
        mit ausreichenden Mitteln einzusetzen. Daneben muss
        der Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten billiger
        werden. Nur ein Bündel von verschiedenen Maßnahmen
        kann der weiteren Ausbreitung dieser Krankheiten Ein-
        halt gebieten. Vor Ort kann an wichtige Piloterfahrungen
        der deutschen Entwicklungszusammenarbeit angeknüpft
        werden, zu denen modellhafte Maßnahmen wie die Ver-
        hinderung der Übertragung des Virus von Müttern auf
        Neugeborene in Sub-Sahara Afrika gehören.
        Ina Albowitz (FDP): Die Immunschwächekrankheit
        Aids hat sich zu einer der größten Epidemien in der Ge-
        schichte der Menschheit entwickelt. Damit gehört die
        Bekämpfung des HIV-Virus zu einer der Herausforderun-
        gen des 21. Jahrhunderts.
        Die FDP beschäftigt sich seit langem intensiv mit die-
        sem Thema, was sich zuletzt sowohl in Form eines Antra-
        ges vom 4. Juli – Drucksache 14/6623 – als auch in Form
        einer Kleinen Anfrage vom 13. November – Drucksache
        14/7516 – dieses Jahres an die Bundesregierung zur Un-
        terstützung des Global Aids and Health Fund der Verein-
        ten Nationen ausdrückte. Dabei ist die zunehmende Sorge
        um die Vernachlässigung durch die Bundesregierung bei
        gleichzeitiger Verschärfung der Situation das eigentliche
        Problem bei uns.
        Von weltweit 36 Millionen infizierten Menschen leben
        25,3 Millionen in den Ländern südlich der Sahara. In
        Asien breitet sich die Immunschwächekrankheit vor al-
        lem in Indien und Kambodscha immer schneller aus: Al-
        leine in Indien sind fast 4 Millionen Menschen infiziert.
        Und die Krankheit scheint weiter um sich zu greifen.
        Ein weiteres Land, welches sich in den letzten zehn Jah-
        ren extrem verändert hat, ist China. Marktöffnung führt
        langsam zur gesellschaftlichen Öffnung. Neben der über-
        wiegend positiven wirtschaftlichen Entwicklung machen
        sich auch negative Auswirkungen bemerkbar: Alle 31 chi-
        nesischen Provinzen haben Aidsfälle gemeldet. Anfang
        des Jahres 2000 hatten sich bereits 1,4 Millionen Chinesen
        mit dem Virus infiziert. Angesichts einer Population von
        1,2 Milliarden Menschen handelt es sich noch um einen
        geringen Anteil, könnte man meinen. Betrachtungen der
        letzten zehn Jahre haben jedoch ergeben, dass die Anzahl
        der mit dem HIV-Virus Infizierten von 5 800 Chinesen im
        Jahr 1985 auf 836 000 im Jahr 2000 angestiegen ist. Sollte
        sich Aids in China mit dieser konstanten Geschwindigkeit
        weiter verbreiten, dann würde im Jahre 2010 ein Großteil
        der chinesischen Bevölkerung mit dem Virus infiziert
        sein.
        Ähnlich verhält es sich in Osteuropa. Dort haben Dro-
        genkonsum und ungeschützter Geschlechtsverkehr zu ei-
        nem rasanten Anstieg von HIV-Infektionen gerade bei
        jungen Menschen geführt. Diese Entwicklung hat gravie-
        rende Folgen für unsere Gesellschaft, Politik und Wirt-
        schaft.
        Vor allem Kinder und Jugendliche leiden unter den
        Auswirkungen der Epidemie, da sie häufig infiziert gebo-
        ren werden und damit gar nicht erst das Erwachsenenalter
        erreichen oder schon früh verwaisen. Bei genauerer Be-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120676
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        trachtung fällt zusätzlich auf, dass Frauen und Mädchen
        besonders gefährdet sind. Unter jungen Menschen zwi-
        schen 15 und 24 Jahren ist der Anteil der infizierten
        Mädchen und Frauen doppelt so hoch wie der ihrer männ-
        lichen Altersgenossen. Allein im südlichen Afrika leben
        12,2 Millionen infizierte Frauen im Vergleich zu 10,1 Mil-
        lionen infizierten Männern. Eine der Ursachen hierfür
        liegt oft in den nicht vorhandenen Kenntnissen über Ver-
        hütungsmaßnahmen oder in der mangelnden Verfügbar-
        keit von Kondomen. Für die deutsche Entwicklungspoli-
        tik bedeuten diese Feststellungen, dass Hilfsmaßnahmen
        dringend und nachdrücklich verstärkt werden müssen.
        Genau an dieser Stelle setzt auch der Global Aids and
        Health Fund der Vereinten Nationen mit dem Ziel an, die
        Immunschwächekrankheit Aids bis 2015 zu stoppen. Mit
        300 Millionen DM steht die Bundesregierung hier bereits
        im Wort. Besonders wichtig ist die finanzielle Unterstüt-
        zung der pharmazeutischen Forschung, damit ein wirksa-
        mer Impfstoff gegen das HI-Virus entwickelt werden
        kann. Internationale Zusammenarbeit von staatlichen, in-
        dustriellen und privaten Organisationen ist die Grundlage
        für den Erfolg auf diesem Gebiet.
        Rot-grüner Kurzsichtigkeit entspricht allerdings die
        Tatsache, dass dieser notwendigen Maßnahme im Zusam-
        menhang mit dem Fonds keine Rechnung getragen wird.
        Wie sonst ließe sich erklären, dass keine Gelder aus dem
        Fonds für Forschungszwecke bereitgestellt werden? Soll
        das ehrgeizige Ziel, Aids bis 2015 zu stoppen, erreicht
        werden, muss die Bundesregierung einerseits ihren Ver-
        sprechungen nachkommen und die 300 Millionen DM in
        den Fonds einzahlen. Andererseits muss sich die Bundes-
        regierung aber auch für die finanzielle Unterstützung der
        pharmazeutischen Forschung aus Fondsgeldern stark ma-
        chen. Nur die Kombination aus Projekten zur Bekämp-
        fung der Ausdehnung von Aids und der zukunftsorientier-
        ten pharmazeutischen Forschung kann zum von den
        Vereinten Nationen angestrebten und wünschenswerten
        Ziel führen.
        Carsten Hübner (PDS): HIV/Aids ist unbestritten
        eine der größten Herausforderungen, vor denen viele
        Entwicklungsländer derzeit stehen – insbesondere in
        Schwarzafrika und in Südostasien. 25 Millionen der welt-
        weit rund 36 Millionen HIV-Infizierten leben allein im
        südlichen Afrika. Jährlich kommen noch immer mehrere
        Millionen dazu. Die PDS-Fraktion begrüßt deshalb
        zunächst den Antrag von CDU/CSU – jedoch nicht ohne
        hinzuzufügen, dass die PDS vor einigen Monaten bereits
        einen Entschließungsantrag zu dieser Thematik und ins-
        besondere zu Aidsmedikamenten eingebracht hat, der je-
        doch von allen anderen Fraktionen dieses Hauses abge-
        lehnt wurde. Bei viel Zustimmung können wir dennoch
        nicht alles teilen, was Sie in Ihrem Antrag formuliert ha-
        ben. In Punkt 3 des Forderungsteils haben Sie zum Bei-
        spiel einen „konkreten“ Beitrag im Aidsfonds für die Be-
        treuung von Aidswaisen gefordert. Sie haben Recht, aber
        was bedeutet konkret? So wie Sie es formuliert haben, be-
        deutet es rein gar nichts. Weder geben Sie an, wie hoch die
        Mittel sein sollen noch sagen Sie, welche konkreten
        Schritte folgen müssen. Das Wörtchen „konkret“ hätten
        Sie sich deshalb auch sparen können.
        Meine Kritik bezieht sich aber vor allem auf Punkt 6.
        50 Millionen DM sollen danach in einen Extra-Titel im
        Einzelplan 23 eingestellt werden. Auch daran ist zunächst
        nichts auszusetzen. Wenn dann aber 30 Millionen DM da-
        von in die einheimische Forschung fließen sollen und nur
        20 Millionen in die International Aids Vaccine Initiative
        (IAVI), dann kann ich das nur mit Unverständnis zur
        Kenntnis nehmen. Waren es doch nicht zuletzt unsere
        Pharmakonzerne, die Ihre Patente dazu benutzen wollten,
        den armen Staaten und Kranken des Südens immense Me-
        dikamentenpreise abzuzwingen. Wer die nicht bezahlen
        konnte oder kann, so die Logik dieses Vorgehens, der
        bleibt halt auf der Strecke. Sie werden verstehen, dass ich
        nicht viel davon halte, diesen Firmen nun auch noch wei-
        tere Marktvorteile mittels öffentlicher Subventionen zu
        verschaffen. Viel besser wären diese Mittel für eine be-
        darfsorientierte öffentliche Forschung, am besten in ei-
        nem internationalen gesundheitspolitischen Rahmen, ein-
        gesetzt. Denn nur der, der die Behandlung von Kranken
        im Mittelpunkt seiner Forschungs- und Firmenaktivitäten
        hat und nicht allein seine Marktdominanz und seine Pro-
        fite, kann, ja darf Partner der öffentlichen Entwicklungs-
        zusammenarbeit gegen HIV/Aids sein. Schließlich sind es
        Steuergelder, über die wir hier entscheiden sollen.
        Das Medikament Nevirapine für die Behandlung HIV-
        infizierter schwangerer Frauen sollte gänzlich kostenfrei
        gestellt werden. Es geht jetzt darum, den im März erziel-
        ten Spielraum bei der Lockerung der Patentrechte zu nut-
        zen. Aber auch davon ist leider nichts zu lesen. Deshalb
        hoffen wir, im Rahmen der Beratungen den einen oder an-
        deren Punkt noch zu verändern.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Anträge:
        – Globale Strategie gegen Wassermangel als inter-
        nationales Konfliktpotenzial
        – Wasser als öffentliches Gut und die Bedeutung
        von Wasser in der deutschen Entwicklungszu-
        sammenarbeit
        (Tagesordnungspunkt 15 a und b)
        Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Heute möchte
        ich Sie mit einem trockenen, ernsten Thema kon-
        frontieren, mit einer zentralen Zukunftsfrage: der Versor-
        gung der Menschen mit sauberem Trinkwasser.
        Ein trockenes, ernstes Thema? Alles in allem ist Was-
        ser in unserem Bewusstsein doch eher mit Spaß besetzt.
        Nur – wenn wir über den Tellerrand schauen, über be-
        stimmte Fakten nachdenken, die globale Zukunftsverant-
        wortung in den Blick nehmen, dann wird es ernst, bitter-
        ernst.
        Einige trockene Fakten: Ein Fünftel der Menschheit
        hat heute schon keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
        Kassandra-Prognosen sehen diese Zahl bis 2050 auf ein
        Viertel anwachsen. Bevölkerungswachstum, Verstädte-
        rung, marode Leitungen, Verschmutzung, Übernutzung
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20677
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        des Grundwassers, fortschreitende Wüstenbildung, ineffi-
        ziente Bewässerungslandwirtschaft – Gründe kennen wir
        reichlich!
        Schon heute ist bakteriell verseuchtes Trinkwasser die
        Hauptursache für oft tödlich verlaufende Krankheiten.
        Zwei Millionen Menschen fallen ihnen jährlich zum Op-
        fer, die überwiegende Mehrzahl davon sind Kinder unter
        fünf Jahren. Zahlreiche Millionenstädte verfügen über
        keine oder nur unzureichende Abwassersysteme und
        Kläranlagen. Was das für die Umwelt bedeutet, muss ich
        Ihnen nicht sagen!
        Die Hauptleidtragenden sind wieder einmal Frauen.
        Zehn Kilometer lange Wege zum Wasserholen sind keine
        Seltenheit. Die Frauen könnten diese Zeit produktiver
        nutzen, zum Beispiel für die eigene Aus- und Fortbildung.
        Wassermangel und Dürrekatastrophen verhindern die
        Entwicklung ganzer Regionen. Bereits 1990 stellte der
        damalige UN-Generalsekretär Boutros-Boutros Ghali
        fest, Wasser werde in Zukunft so kostbar sein wie Öl. Als
        Ägypter weiß er, wovon er spricht. Rund 300 Millionen
        Menschen hängen an der Lebensader Nil. In 20 Jahren
        wird sich diese Zahl verdoppelt haben.
        Wenn dann der Sudan und Äthiopien einen größeren
        Anteil des Nilwassers für ihre geplanten Staudammpro-
        jekte einbehalten, gerät das seit 1959 verlässliche Nil-
        wasserabkommen ins Wanken. Heute schon sind die är-
        meren, an entfernteren Feldkanälen liegenden Fellachen
        gezwungen, ihre Felder mit salzhaltigem Drainagewasser
        zu versorgen und manchmal nehmen sie das nicht mehr
        gelassen hin.
        In der Türkei und in China sind durch gigantische Stau-
        dammprojekte – mit all ihren sozialen und ökologischen
        Auswirkungen – regionale und innenpolitische Konflikte
        vorprogrammiert. Soziale Gemeinwesen werden durch
        Umsiedlungen von Menschen in oft unvorstellbarer
        Größenordnung zerstört, Kulturlandschaften unwieder-
        bringlich überflutet. Anrainer der unteren Flussläufe müs-
        sen mit weniger Wasser und damit einhergehend schlech-
        terer Qualität auskommen, von den nicht vorhersehbaren
        Auswirkungen auf die ökologischen und oft auch ökono-
        mischen Strukturen ganz zu schweigen.
        Und wenn einer ganzen Stadt wie Sanaa das Wasser
        ausgeht? In den letzten 30 Jahren ist diese Stadt zu einer
        Millionenstadt angewachsen, die ihre Wasser- und Ab-
        wasserprobleme nicht in den Griff kriegt. Nur 40 Prozent
        der Bewohner sind an die öffentliche Versorgung ange-
        schlossen. Der Rest muss sich über Tankwagen mit ge-
        sundheitlich bedenklichem Wasser eindecken. Fäkalien
        werden hauptsächlich über Sickergruben entsorgt. Die
        knappen Grundwasservorkommen, aus denen sich jetzt
        noch manche Privatbrunnenbesitzer versorgen, sind da-
        mit in naher Zukunft unbrauchbar. Wer kann sich bei uns
        eine solch hoffnungslose Situation vorstellen?
        Aber ohne Hoffnung kann man nicht leben. Es ist mög-
        lich, durch regionale Kooperationen gemeinsame Lösun-
        gen für die Nutzung grenzüberschreitender Gewässer zu
        finden. So werden Konfliktpotenziale zu Entwicklungs-
        potenzialen.
        Zahlreiche Entwicklungsländer zeigen Erfolg verspre-
        chende Ansätze regionaler Wasserkooperation: die Nilan-
        rainerstaatenkonferenz im September 2001 in Bonn, das
        gemeinsame Abkommen zwischen Pakistan und Indien
        zur Nutzung des Indus, Ansätze kooperativer, grenzüber-
        schreitender Gewässernutzung im Nahen Osten. Das alles
        macht Hoffnung.
        Auch von der Bonner Wasserkonferenz gehen wichtige
        Hoffnungssignale in die Welt:
        Erstens. Die Wasserproblematik ist einmal mehr in das
        Bewusstsein der Menschen gerückt.
        Zweitens. Die Konferenz hat den Boden für Johannes-
        burg und das dritte Weltwasserforum in Japan bereitet.
        Drittens. Selbst die Opposition hat mit einem kleinen
        Antrag zur Wasserfrage ihre Kooperation signalisiert.
        Die Bundesregierung allerdings hat die Wasserfrage zu
        einem Schwerpunktthema gemacht. Das ist konkrete Frie-
        dens- und Präventionspolitik. Deutschland ist im Wasser-
        sektor mit bis zu 800 Millionen DM jährlich der größte
        europäische Geber. Aber Geld allein sagt nichts. Neben
        der politischen Dimension müssen auch die ökologischen,
        ökonomischen und sozialen Aspekte globaler Struktur-
        verantwortung beachtet werden.
        Die ökologische Dimension der Wasserfrage liegt in
        der nachhaltigen Bewirtschaftung. Die Kreislaufwirt-
        schaft beim Wassermanagement folgt diesem Prinzip. Ge-
        genwärtig gehen 70 Prozent des weltweiten Süßwasser-
        verbrauchs auf die Landwirtschaft zurück. Hier liegen
        erhebliche Einsparpotenziale. Die „World Commission
        on Dams“ hat Empfehlungen für die Prüfung von
        Staudammprojekten erarbeitet, die endlich Gehör finden
        müssen. Wie viele Konferenzen sind denn noch nötig, um
        diese Erkenntnisse in die Köpfe von Entscheidungsträ-
        gern im Norden und Süden zu transportieren?
        Die ökonomische Dimension wirft die Frage nach der
        Finanzierung auf. Ihr Antrag fordert ganz lapidar ausrei-
        chende Mittel. Was ausreichend wäre, ist allen längst be-
        kannt: 180 Milliarden US-Dollar – jährlich! Mehr als das
        Doppelte des derzeitigen Finanzvolumens. Können Sie
        mir sagen, woher das Geld kommen soll? Lassen Sie Ihre
        Fantasie spielen und nicht nur Ihre omnipotenten An-
        tragsmuskeln!
        Allein durch staatliche Entwicklungspolitik sind die
        fehlenden 100 Milliarden US-Dollar nicht aufzubringen.
        Kann es also ohne verantwortungsvolle Partnerschaft mit
        der Wirtschaft eine Lösung geben, eine Lösung, die den
        Grundsatz beachtet, dass Wasser als öffentliches Gut nicht
        privatisierbar ist?
        Trinkwasser ist wie Atemluft lebensnotwendig. Die
        Grundversorgung mit sauberem Trinkwasser muss ge-
        währleistet sein. Gestärkte, transparente staatliche Institu-
        tionen müssen – und sie tun es in den Entwicklungslän-
        dern bereits – im Einzelfall entscheiden, inwieweit die
        Einbindung privater Investoren sinnvoll ist. Sie ist weder
        unkalkulierbare Gefahr noch Allheilmittel. Alles in allem
        müssen Gebührenerhebungen den sozialen Verhältnissen
        Rechnung tragen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120678
        (C)
        (D)
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        Mit weiblichen Fachkräften, die eine größere Sensibi-
        lität gegenüber frauenspezifischen Problemen beim Um-
        gang mit Wasser erwarten lassen, gelingt es wohl eher, die
        lokale Bevölkerung einzubeziehen und somit die Nach-
        haltigkeit zu gewährleisten.
        Kommen wir nun zur sozialen Dimension. Wasser und
        Armut sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wer
        in Entwicklungsländern arm ist, hat keinen Zugang zu
        sauberem Trinkwasser, muss oft genug sein Wasser an der
        Strasse zu überhöhten Preisen kaufen. Bis zum Jahr 2015
        wollen wir die Armut in der Welt halbieren. Der Schlüs-
        sel dafür ist der Zugang zu sauberem Trinkwasser. Das
        Engagement der Bundesregierung im Wassersektor ist
        also Armutsbekämpfung par excellence. Dezentralisie-
        rung, eigenverantwortliche Bewirtschaftung und Nutzung
        traditionellen Wissens sind die Grundpfeiler dieser Poli-
        tik. So wird die Zivilgesellschaft gestärkt und fit gemacht
        für den Politikdialog in Fragen regionaler Kooperation.
        Ich lade Sie ein, in der Wasserfrage mit uns gemeinsam
        globale Verantwortung zu tragen für eine weitsichtige
        Entwicklungspolitik.
        Petra Bierwirth (SPD): Ein Entspannungsbad am
        Abend, nach dem wohlverdienten Feierabend. Eine Du-
        sche morgens für den Start in einen ereignisreichen Tag.
        Ein oder zweimal im Jahr in den Urlaub. Äpfel aus Italien
        oder Neuseeland, zwei Autos, ein Haus und ein Berg von
        Geschenken unterm Weihnachtsbaum. – Lebensqualität
        nennen wir das.
        Dafür verwenden und verbrauchen wir, circa 20 Pro-
        zent der Menschen der westlichen Wohlstandsgesell-
        schaft, 80 Prozent der natürlichen Ressourcen. Dazu
        gehört auch das Wasser. Scheinbar können wir mit diesem
        Gut ja sorgloser umgehen als andere. Wir haben ja genug
        davon. Für mich ist dies eine trügerische Sicherheit.
        Bedenkt man, dass sich 60 Prozent der nutzbaren
        Trinkwasserreserven in nur zehn Staaten befinden, kann
        ich Herrn Töpfer nur zustimmen, der vor noch nicht allzu
        langer Zeit sagte: „Die Frage, wie wir auf der Welt mit
        dem Wasser umgehen, wird an vielen Orten über Krieg
        und Frieden mitentscheiden“. Allerdings ist für mich der
        Konflikt auf dem Feld der Trinkwasserversorgung schon
        längst ausgebrochen, genauso wie auf dem Feld der Fi-
        nanzen und Gewinne. 600 Milliarden Dollar müssen nach
        Schätzungen der Weltbank in den nächsten zehn Jahren
        investiert werden, um die Wasserver- und Abwasserent-
        sorgung allein nur in den Entwicklungsländern zu sichern.
        Kein Staat, keine Kommune, keine Stadt wird das allein
        realisieren können. Dazu wird natürlich die Zusammenar-
        beit mit privaten Unternehmen erforderlich sein. Diese
        Zusammenarbeit muss aber die Menschen vor Ort mit ein-
        beziehen. Diese Zusammenarbeit muss ins flache Land
        hineinreichen und nicht nur die lukrativen Ballungsräume
        umfassen – eine Zusammenarbeit also ganz im Sinne der
        lokalen Agenda. Leider sehe ich eine solche Entwicklung
        zurzeit nicht gegeben.
        In meinen Augen soll die Wasserwirtschaft nach den
        Vorstellungen einiger weniger ganz andere Wege be-
        schreiten: weg von der kommunalen Mitsprache und ran
        an die Börse! Wasser als Handelsgut und von wenigen be-
        herrscht – und wir Deutschen gehen mal wieder ganz
        vorne weg. Ein Vertreter der CDU im EU-Parlament ist
        zurzeit der lauteste Rufer. Wenn es nach ihm ginge, hätte
        das EU-Parlament schon längst beschlossen, dass die
        Wasserwirtschaft nur noch in private Hände gehört und je-
        der, der es wünscht, irgendwo einen Brunnen bohrt und
        das gewonnene Wasser in eine Sammelleitung einspeist.
        Diese Vorstellung ist jedoch so weit von jeglicher lokalen
        Agenda-Diskussion entfernt wie der Teufel vom Weih-
        wasser.
        Wasser ist kein beliebig handelbares Gut, nicht hier bei
        uns und auch nicht anderswo. Uns muss allen klar sein,
        dass unser Umgang mit Wasser natürlich Auswirkungen
        auf die anderen Regionen der Welt haben wird. Wir müs-
        sen unseren Beitrag zu diesem für uns alle lebenswichti-
        gem Thema leisten, indem wir unser Knowhow in den
        Fragen „Wie schützen wir unser Wasser?“, „Wie bereiten
        wir unser Trinkwasser auf?“, „Wie behandeln wir unser
        Abwasser“ weitergeben.
        Hier liegt das Potenzial und die Aufgabe für uns, Tech-
        nologien zu entwickeln und zu erproben, die an die natür-
        lichen und sozialen Bedingungen anderer Regionen ange-
        passt sind: innovative Technologien und Strategien, die
        Städte und Regionen in die Lage versetzen, ihre Wasser-
        infrastruktur aufzubauen, die vor allem die Menschen
        dauerhaft mit sauberem Trinkwasser versorgt, die das Ab-
        wasser sicher entsorgt. Das ist vorsorgendes und nachhal-
        tiges Handeln. Hier eröffnen sich Chancen für deutsche
        Unternehmen, ganz gleich, ob kommunale oder private.
        Hier liegt unser Beitrag zum Vermeiden von Krisen, zum
        Erhalt des Friedens.
        Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Vom 3. bis zum 7. De-
        zember 2001 hat in Bonn die Internationale Süßwasser-
        konferenz im Sinne einer weltweit nachhaltigen Wasser-
        versorgung stattgefunden. Mit ihrem Empfehlungskata-
        log für die „Rio-plus-zehn“-Konferenz der Vereinten Na-
        tionen in Johannesburg im nächsten Jahr haben die
        2 300 Teilnehmer aus 145 Staaten ein Zeichen für eine ge-
        rechtere Wasserversorgung auf der Welt gesetzt. Die
        CDU/CSU dankt den teilnehmenden Staatsvertretern für
        die konstruktive und engagierte Arbeit. Die Union be-
        grüßt darüber hinaus außerordentlich die Ergebnisse der
        Bonner Verhandlungen.
        Die Internationale Süßwasserkonferenz hat die Bedeu-
        tung des Wassers als lebenswichtige und knappe Res-
        source, aber auch als Konfliktpotenzial klar herausge-
        stellt. Der Zugang zu sauberem Trink- und geeignetem
        Sanitärwasser, über den rund 2 Milliarden Menschen
        nicht verfügen, muss vor dem Hintergrund von Friedens-
        sicherung sowie wirtschaftlicher und sozialer Entwick-
        lung ein zentraler Ansatzpunkt einer internationalen
        Nachhaltigkeitsstrategie sein. Diese Dramatik wird noch
        zusätzlich dadurch verschärft, dass auch circa zwei Milli-
        arden Menschen keinen Zugang zu Energie haben. Die
        Bereitstellung von Wasser und Energie gehört neben der
        Verfügbarkeit von Nahrung zu den existenziellen Fragen
        der Menschheit und damit zu den Grundfragen einer stän-
        dig wachsenden Weltbevölkerung: Die Teilnehmer der
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20679
        (C)
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        Internationalen Süßwasserkonferenz in Bonn haben inso-
        fern gute Voraussetzungen für die Beratungen zur Was-
        serproblematik in Johannesburg im kommenden Jahr ge-
        schaffen, darüber hinaus aber auch einen eindeutigen
        Auftrag erteilt.
        Die CDU/CSU wird durch die Ergebnisse der Süßwas-
        serkonferenz in ihrer Politik bestätigt. Sie hat bereits sehr
        früh und mit Nachdruck auf das Konfliktpotenzial der in-
        ternationalen Wasserversorgung hingewiesen und dieser
        Tatsache mit der Verknüpfung von außen- und sicher-
        heitspolitischen mit umwelt- und energiepolitischen Kon-
        zepten Rechnung getragen. Die Ereignisse vom 11. Sep-
        tember haben die Relevanz einer weitsichtigen und
        umfangseichen Gesamtbetrachtung von außen-, sicher-
        heits-, umwelt- und entwicklungspolitischen Fragestel-
        lungen erneut unterstrichen.
        In dem Antrag „Globale Strategie gegen Wassermangel
        als internationales Konfliktpotenzial“, der dem Deut-
        schen Bundestag in Verbindung mit dem Antrag von SPD
        und Bündnis 90/Die Grünen „Wasser als öffentliches Gut
        und die Bedeutung von Wasser in der deutschen Entwick-
        lungszusammenarbeit“ heute zur Beratung vorliegt, stellt
        die Union daher fünf zentrale Forderungen mit Blick auf
        die „Rio-plus-zehn“-Konferenz in Johannesburg 2002
        auf.
        Die Union spricht sich für die zügige Entwicklung ei-
        ner globalen Strategie mit konkreten Aktionsprogrammen
        für die nachhaltige Wasserpolitik im Rahmen der interna-
        tionalen Staatengemeinschaft aus. Unverzichtbar ist
        ferner ein umfangreicher Know-how- und Kapital-Trans-
        fer im Sinne einer effizienten Wasserbewirtschaftung in
        Regionen ohne ausreichenden Zugang zu Süßwasser. Von
        elementarer Bedeutung ist für die CDU/CSU darüber hi-
        naus die Entwicklung von Vorsorgestrategien und Kri-
        senmanagement bei Dürre und Hochwasserereignissen.
        Die Stärkung der deutschen Verantwortung im Rahmen
        einer koordinierten und engagierten EU-Außenpolitik
        stellt eine weitere Forderung in unserem Antrag dar.
        Schließlich gilt es das internationale Wasserrecht im
        Sinne einer verbindlichen Wassercharta sowie Streit-
        schlichtungsmechanismen im Rahmen einer zu stärken-
        den UNEP weiterzuentwickeln. Gerade die Wasserfrage
        unterstützt alle Bestrebungen zum Aufbau einer wir-
        kungsvolleren „Global Governance“ und macht eine in-
        tensive Beteiligung Deutschlands im Rahmen der inter-
        nationalen Staatengemeinschaft im Sinne einer
        nachhaltigen Entwicklung dringend erforderlich.
        Joachim Günther (Plauen) (FDP): „Wo das Wasser
        endet, endet auch die Welt“ – sagt ein Sprichwort aus den
        Wüstenregionen Usbekistans. Dort, wo Wasserressourcen
        knapp sind, sind auch Nutzungskonflikte vorhersehbar.
        „Der nächste Krieg in der Region des Nahen Ostens
        wird nicht um Öl, sondern um Wasser geführt werden“,
        prophezeite der vormalige UN-Generalsekretär Boutros-
        Boutros Ghali mit Blick auf den Nahen Osten. Nicht nur
        Israel und Jordanien liegen im Streit um das Wasser des
        Jordan, sondern auch die Türkei ist wegen des Euphrat-
        und Tigriswassers mit dem Irak und Syrien im Konflikt.
        Parallele Auseinandersetzungen finden sich in der neuen
        Welt um den Rio Grande, Colorado, vor allem aber in
        Asien: So birgt das Wasser des Indus explosiven Kon-
        fliktstoff zwischen Indien und Pakistan. Gleiches gilt für
        das Wasser des heiligen Flusses Ganges. Das war bereits
        mehrfach Ursache für einen Eklat zwischen Indien und
        seinem östlichen Nachbarn Bangladesch.
        Wasserknappheit ist auch die größte Gefahr für das
        südliche Afrika. In zehn bis 30 Jahren könnten acht Staa-
        ten in der Region extrem bedroht sein, sofern sich nicht
        ein solides Wassermanagement durchsetzt. Gesteigert
        wird das Konfliktpotenzial des Wassers nicht nur durch
        unausgewogene machtpolitische Entscheidungen, son-
        dern vor allem auch durch das hohes Bevölkerungs-
        wachstum. Das bringt einen höheren Wasserbedarf mit
        sich und hat somit somit bereits existente Konflikte ver-
        schärft.
        Das andauernde Bevölkerungs- und Wirtschaftswachs-
        tum wird das Wasser im nächsten Jahrhundert auf jeden
        Fall zum Thema Nummer eins machen. Experten aus ver-
        schiedenen Weltinstituten gingen schon Ende der 80er-
        und Anfang der 90er-Jahre davon aus, dass in Zukunft das
        Wasser die frühere Rolle des Erdöls als Konfliktgrund
        übernehmen würde.
        Nun zum Thema: Wege aus der Wasserkrise. Viele
        Wasserreserven sind aufgebraucht, verschmutzt oder rei-
        chen nicht mehr aus, um die wachsende Nachfrage nach
        Süßwasser zu decken. Mit technischen Mitteln allein,
        zum Beispiel durch Meerwasserentsalzung, kann das Pro-
        blem der unzureichenden Wasserversorgung langfristig
        nicht gelöst werden. Eine zukunftsfähige Wassernutzung
        muss sich daher an den vorhandenen und erneuerbaren
        Wasserressourcen orientieren. Internationale Vereinba-
        rungen sind notwendig, um Konflikte um Wasser zu ent-
        schärfen.
        Wasser ist ein Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung.
        Nachhaltige Entwicklung ist für uns in allen drei Dimen-
        sionen bedeutsam: in der ökonomischen, der sozialen wie
        auch in der ökologischen Dimension. Ohne Fortschritte
        bei der Armutsbekämpfung werden sich viele Länder den
        Umweltschutz nicht leisten können. Umgekehrt werden
        wirtschaftlich leistungsfähige Gesellschaften ohne
        Beachtung der Grenzen des Ökosystems Erde und der Re-
        generationsfähigkeit natürlicher Ressourcen nicht zu-
        kunftsfähig sein. Die Einsicht, dass kein Land zu wirt-
        schaftlichem Wohlstand kommen kann, wenn es Raubbau
        an der Umwelt betreibt oder eine tiefe soziale Spaltung
        zulässt, hat in den vergangenen Jahren an Unterstützung
        gewonnen.
        Nun zu den Globalen Strategien. Gravierender als die
        Misswirtschaft bei der Wasserversorgung in Entwick-
        lungsländern ist die Vergeudung von Wasser in der Land-
        wirtschaft. Die meisten Entwicklungsländer halten an
        dem politischen Ziel einer nationalen Selbstversorgung
        mit Grundnahrungsmitteln fest. Dies führt jedoch zu ei-
        nem unverantwortlichen Ausbau der Bewässerungsland-
        wirtschaft durch die subventionierte Bereitstellung von
        Wasser oder durch Einfuhrhemmnisse für Agrarprodukte.
        Eine verantwortungsvolle Problemanalyse muss daher zu
        dem Schluss kommen, dass die Liberalisierung des Welt-
        handels mit Nahrungsmitteln einen entscheidenden Bei-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120680
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        trag zur Entschärfung regionaler Wasserknappheit liefern
        kann. Hier ist insbesondere die Europäische Union in der
        Pflicht, noch bestehende tarifäre und nicht tarifäre Han-
        delshemmnisse zu beseitigen.
        Parallel zu einer Reform der Agrarlandwirtschaft und
        einer Erhöhung des Einsparpotenzials müssen auch die
        sich aus einer Beteiligung der Privatwirtschaft ergeben-
        den Potenziale für eine Verbesserung der Trinkwasserver-
        sorgung genutzt werden. Auch hierzu ist in dem rot-grü-
        nen Antrag außer dem obligatorischen Verweis auf
        öffentlich-private Partnerschaften nichts zu finden. Ge-
        rade die Privatwirtschaft kann einen ganz wesentlichen
        Beitrag zur Entlastung des Wasserproblems leisten, wenn
        ihr hierfür ausreichend Investitionsanreize geboten wer-
        den. Die erwähnte DIE-Studie zeigt, dass die wenigen
        Beispiele privat betriebener städtischer Wasserversor-
        gung in Entwicklungsländern wie zum Beispiel in Abid-
        jan oder in Buenos Aires zeigen, dass diese Betriebe we-
        niger Wasserausfälle, geringere Leitungsverluste, einen
        besseren Gebühreneinzug und eine größere Kundenzu-
        friedenheit verzeichnen als ihre staatlichen Pendants.
        Carsten Hübner (PDS): Frau Maria Iskandarani vom
        Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung hat unlängst
        in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf verwiesen, dass es
        gerade die ärmsten Bevölkerungsschichten in den Ent-
        wicklungsländern sind, die am meisten für ihr Trinkwas-
        ser zu bezahlen haben. Denn sie sind in der Regel nicht an
        die – oft subventionierte – öffentliche Wasserversorgung
        angeschlossen. Was nichts anderes heißt, als dass die Ar-
        men Wasser bei Händlern zu unkontrollierten, oft hohen
        Preisen kaufen, während die Reichen billiges Wasser aus
        der Leitung zapfen und damit ihre Gärten bewässern.
        Daraus nun den Schluss zu ziehen, man sollte dann
        doch gleich gänzlich auf eine Wasserversorgung durch die
        öffentliche Hand verzichten, geht natürlich in die Irre. Im
        Gegenteil: Worum es im Rahmen internationaler Ent-
        wicklungskooperation verstärkt gehen muss, ist die adä-
        quate und kostengünstige Versorgung gerade der Ärms-
        ten, ist die Versorgung in den Elendsquartieren und im
        ländlichen Raum. Dringliche Aufgabe ist also eine sozial-
        verträgliche Basisversorgung. Und damit ist bekanntlich
        kein Geschäft zu machen – so sehr momentan auch der
        Markt als Allheilmittel und PPP als entwicklungspoliti-
        sche Wunderwaffe gepriesen werden. Warum, belegen
        schon die Zahlen: Nach einer Studie der Unternehmens-
        beratung Helmut Kaiser ist der Wassermarkt der größte
        Markt im Umweltbereich mit den höchsten Ertragspoten-
        zialen und Zuwachsraten von deutlich über 10 Prozent pro
        Jahr. Der Weltmarkt wird sich der Studie zufolge von 265
        Milliarden DM 1998 auf 555 Milliarden DM bis 2015
        mehr als verdoppeln. Und daran wollen die Privaten ihren
        Anteil. Global Players sind vor allem die französischen
        Konzerne Vivendi und Suez. Auf Platz drei liegt seit
        Übernahme des englischen Wasserkonzerns Thames Wa-
        ter die deutsche RWE. Und die erzielt mit ihrer Wasser-
        sparte, die ganze drei Prozent am Umsatz ausmacht, sage
        und schreibe 12 Prozent des Gewinns.
        Es ist also durchaus nachvollziehbar, weshalb sich auf
        der Bonner Wasserkonferenz Anfang Dezember NGOs,
        Naturschutzverbände, Gewerkschaften, aber auch Klaus
        Töpfer als Chef des UNO-Umweltprogramms kritisch
        zum privatwirtschaftlichen Engagement in diesem exis-
        tenziellen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit
        geäußert haben. Denn Liberalisierung und Privatisierung
        führen weltweit zu einem Verlust der demokratisch legiti-
        mierten Kontrolle, begünstigen die Monopolbildung und
        verstärken die Abhängigkeit von ausländischen Kapital-
        gebern. Internationale Konzerne sind ganz wesentlich an
        den Filetstücken interessiert, etwa in den Mega-Städten.
        Zur ländlichen Entwicklung werden sie jedoch keinen
        Beitrag leisten. Machen wir uns nichts vor!
        Bei etwa 1,2 Milliarden Menschen ohne Zugang zu
        sauberem Wasser zu erschwinglichen Preisen ist es Auf-
        gabe der öffentlichen Entwicklungskooperation, dieses
        Feld nicht den Geschäftemachern zu überlassen. Wasser
        ist Lebensgut, nicht Ware. Wir sollten das nicht vergessen.
        Dr. Uschi Eid, Parlamentarische Staatssekretärin im
        Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit
        und Entwicklung: Rund 1,3 Milliarden Menschen haben
        keinen Zugang zu sauberem, unbedenklichem Wasser.
        Außerdem sind circa 2,5 Milliarden Menschen nicht an
        eine brauchbare Abwasserbeseitigung angeschlossen –
        und dies in einer Welt, in der es genug Wasser für alle
        Menschen gibt. Dies kann nicht hingenommen werden!
        Es ist eine Frage des politischen Wollens und Handelns,
        dass wir Wasser gerecht verteilen, dass wir Wasser effizi-
        ent nutzen und dass wir die Belastbarkeit der Ökosysteme
        beachten.
        Deutschland hat in der internationalen Wasserpolitik,
        auch unter dem Gesichtspunkt von Krisenprävention, eine
        Vorreiterrolle übernommen. Wir sind mit 600 bis 800 Mil-
        lionen DM jährlich der größte europäische Geber im
        Wassersektor. Deshalb hatte die Bundesregierung vergan-
        gene Woche auch zur Internationalen Süßwasserkonfe-
        renz in Bonn eingeladen. Über 1 400 Delegierte, Beo-
        bachterinnen und Beobachter aus rund 130 Staaten und
        50 internationalen Organisationen folgten der gemeinsa-
        men Einladung des Umwelt- und des Entwicklungsminis-
        teriums. Besonders möchte ich die über 70 Vertreterinnen
        und Vertreter der Zivilgesellschaft erwähnen – von Nicht-
        regierungsorganisationen, Privatwirtschaft, Gewerkschaf-
        ten, Wissenschaft, Frauen- und Jugendorganisationen, in-
        digenen Volksgruppen und Kommunen –, die bei dieser
        Konferenz intensiv mit den Delegierten darüber disku-
        tierten, wie die Wasserkrise abgewendet werden kann.
        Die Ergebnisse der Süßwasserkonferenz in der letzten
        Woche bestätigen die von der Bundesregierung gesetzten
        Schwerpunkte im Wasserbereich und den in der deutschen
        Entwicklungspolitik eingeschlagenen Weg:
        Erstens. Die Konferenz hat bestätigt, dass die Zusam-
        menhänge von Armut und Wasser stärker in den Blick ge-
        nommen werden müssen. Der Zugang zu Wasser ist eine
        soziale Frage, Wasser und Armut stehen in einem Wech-
        selbezug: Viele Menschen sind arm, weil sie kein Wasser
        haben, vor allem auf dem Lande. Aber noch mehr Men-
        schen haben kein Wasser, weil sie arm sind. Es gilt also,
        entschlossen für die Erreichung des internationalen Ziels
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20681
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        der Halbierung der extremen Armut bis zum Jahr 2015 zu
        arbeiten. Mit dem Armutsbekämpfungsprogramm, das
        alle Politikbereiche in die Pflicht nimmt, hat die Bundes-
        regierung eine wichtige Initiative ergriffen, welche mit
        Nachdruck umgesetzt wird und hilft, die internationalen
        Anstrengungen auch darauf auszurichten, den Anteil der
        Menschen, die keinen Zugang zu sicherem und bezahlba-
        rem Wasser haben, zu halbieren.
        Die Konferenz hat zweitens bestätigt, dass Wasser ein
        großes Potenzial für die Kooperation zwischen Staaten
        und für regionale Entwicklung bietet. Der Nil, der zehn
        Länder von Ägypten und Sudan bis nach Äthiopien und
        Tansania verbindet ist ein gutes Beispiel: Derzeit gibt es
        in dieser politisch instabilen, heterogenen und armen Re-
        gion kaum Dialog oder ökonomische Kooperation zwi-
        schen den Ländern. Das Wasser des Nils ist es, was diese
        gänzlich verschiedenen Staaten derzeit zusammenbringt.
        Eine verstärkte Kooperation am Nil würde sich für alle
        auszahlen, weit über die Frage des Wassers hinaus: eine
        gemeinsame Energieproduktion, eine effiziente landwirt-
        schaftliche Produktion. Gemeinsamer Ressourcenschutz
        und gemeinsame Schifffahrtswege können zur regionalen
        Entwicklung und Integration beitragen. Als Anrainer vie-
        ler europäischer Flüsse – Rhein, Elbe, Oder, Donau – ver-
        fügt Deutschland über eine Menge von Erfahrungen in
        diesen Fragen. Deshalb unterstützt die Bundesregierung
        das Bemühen der Nil-Anrainerstaaten um bessere Koope-
        ration durch Erfahrungsaustausch und Beratung.
        Drittens. Die Konferenz hat sich deutlich für neue Part-
        nerschaften ausgesprochen. Um alle Menschen mit Was-
        ser zu versorgen, sind jährlich rund 180 Milliarden
        US- Dollar erforderlich – es stehen jedoch seitens der öf-
        fentlichen Haushalte und der internationalen Staatenge-
        meinschaft jährlich nur rund 80 Milliarden US Dollar zur
        Verfügung. Um die Finanzierungslücke von 100 Milliar-
        den US Dollar zu schließen, brauchen wir einen aktiven
        Privatsektor, der sich im Wasserbereich engagiert und in-
        ves-tiert. Deshalb bemühen wir uns in der Entwicklungs-
        zusammenarbeit um die Einbeziehung der Privatwirt-
        schaft, auch der deutschen Unternehmen.
        Viertens. Die Konferenz hat auch bestätigt, dass der
        Staat den ordnungspolitischen Rahmen setzen muss, in
        dem sich die Privatwirtschaft bewegen kann. Lassen Sie
        mich eines klar sagen: Eine Privatisierung von Wasser,
        unerschwingliche Wasserpreise für die armen Menschen
        oder die Gefährdung der Wasserressourcen darf es und
        wird es nicht geben. Unsere Entwicklungspolitik hilft un-
        seren Partnerländern dabei, diese zum Teil neuen staat-
        lichen Aufgaben besser und effizienter wahrzunehmen.
        „Wasser, ein Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung“
        so lautete der Titel der Süßwasserkonferenz. Die Konfe-
        renz war Beleg dafür, wie ernst die Bundesregierung das
        Thema der nachhaltigen Entwicklung nimmt. Die Konfe-
        renz hat die Bedeutung von Wasser für die nachhaltige
        Entwicklung illustriert, erneuert und bestätigt. Dies wer-
        ten wir als Bestätigung unserer Entwicklungspolitik, die
        wir im Wasserbereich auf dem erreichten hohen Niveau
        fortführen und verstetigen wollen.
        Der offene und transparente Vorbereitungsprozess, die
        Einbeziehung aller Staaten, Organisationen und Beteilig-
        ten hat erfreulicherweise zu einem offenen und konstruk-
        tiven Dialog geführt, den wir von bisherigen Konferenzen
        nicht kannten. Gerade heute ist diese Art von ernsthaftem
        Dialog entscheidend, denn nur gemeinsam können wir die
        Herausforderung im Wasserbereich meistern.
        Die Konferenz hat weitreichende und innovative Emp-
        fehlungen für den Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung
        im nächsten Jahr in Johannesburg formuliert. Wir werden
        mit unseren Partnern daran arbeiten, dass diese Empfeh-
        lungen in der Praxis, auch nach Johannesburg, umgesetzt
        werden, damit aus Johannesburg ein Gipfel der Aktionen
        und der Umsetzung wird – auch für die Menschen, die
        noch keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset-
        zes zur Änderung schadenersatzrechtlicher Vor-
        schriften
        Christine Lambrecht (SPD):Es ist oft so, dass Dinge
        von großer Tragweite ohne die große Aufmerksamkeit
        stattfinden. So ist das auch mit der Neuregelung des Scha-
        densersatzrechts – dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes
        zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften –,
        das wir heute in der Ersten Lesung beraten. Mit dem Ent-
        wurf wird das europäische Schadensersatzrecht moderni-
        siert und an europäische Standards angeglichen.
        Generell ist uns Sozialdemokratinnen und Sozialde-
        mokraten die rechtliche Besserstellung von Unfallopfern
        ein besonderes Anliegen. Ich habe die Gelegenheit ge-
        habt, bereits am Anfang dieser Legislaturperiode eine An-
        hörung der SPD-Fraktion zur rechtlichen Besserstellung
        von Verkehrsunfallopfern zu leiten. Diese Anhörung hat
        große Resonanz gefunden und viele Anregungen aus der
        Praxis finden sich wieder in dem vorliegenden Entwurf.
        Seit dieser Zeit findet ein Dialog mit den Opferverbänden,
        Versicherungen und Arzneimittelherstellern statt. Mit der
        Neuregelung des Schadensersatzrechts unternimmt die
        rot-grüne Bundesregierung einen entscheidenden Schritt
        zur Verbesserung des Schutzes der Opfer. Vor allem die
        Rechtsstellung von Opfern, die Körper- oder Gesund-
        heitsschäden erlitten haben, wird gestärkt.
        Ein wesentliches Anliegen des Entwurfs ist die Ver-
        besserung der haftungsrechtlichen Situation von Kindern
        im motorisierten Straßen- und Bahnverkehr. Die Alters-
        schwelle für eine Haftung von Kindern im motorisierten
        Verkehr wird von derzeit sieben auf nunmehr zehn Jahre
        heraufgesetzt. Somit wird auch ein Mitverschulden des
        Kindes diesem erst ab zehn Jahren entgegengehalten wer-
        den können.
        Der Entwurf sieht eine Ausweitung von Schmerzens-
        geldansprüchen vor. Ein Anspruch auf Schmerzensgeld
        wird es in Zukunft auch in Fällen der Gefährdungshaftung
        und der Vertragshaftung geben. Der Entwurf sieht eine
        Bagatellgrenze vor, für die es in Zukunft kein Schmer-
        zensgeld geben soll. Hier muss jedoch in den jetzt anste-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120682
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        henden Beratungen beachtet werden, dass dies zu keinem
        Ausschluss von berechtigten Ansprüchen für Verletzun-
        gen führt, die – wenn auch nicht unbedingt nach Art und
        Dauer – nicht unerheblich sind. Hierzu zähle ich zum Bei-
        spiel Verletzungen, die ein Kind durch einen Hundebiss
        erleidet.
        Im Bereich des Schadensersatzrechts soll der Schaden-
        ersatz zukünftig stärker daran ausgerichtet werden, ob
        eine Schadensbeseitigung erfolgt und welchen Weg der
        Geschädigte dafür bestreitet. So soll Umsatzsteuer als
        Schadensbestandteil nur noch dann ersetzt werden, wenn
        und soweit sie zur Wiederherstellung tatsächlich anfällt.
        Einen Anspruch auf den Ersatz einer „fiktiven“ Umsatz-
        steuer wird es nicht mehr geben.
        Der Entwurf für ein neues Schadensersatzrecht sieht
        eigenständige Haftungsbestände für den gerichtlichen
        Sachverständigen und den Halter eines Anhängers vor.
        Die Halterhaftung im Straßenverkehr wird auf sämtli-
        che Insassen eines Kfz ausgeweitet. Diese kann dann
        höchstens durch „höhere Gewalt“ und nicht mehr durch
        ein „unabwendbares Ereignis“ zum Ausschluss führen.
        Auch im Bereich der Arzneimittelhaftung wird es we-
        sentliche Verbesserungen geben. Es muss in Zukunft ver-
        hindert werden, dass in Fällen wie vor Jahrzehnten im
        Contergan-Fall die Primärhaftung der Hersteller nicht
        greift und stattdessen der Staat mit entsprechenden Ent-
        schädigungsgesetzen einspringen muss. Hier muss eine
        Haftung des Herstellers sichergestellt werden. Die Stel-
        lung des Arzneimittelanwenders wird durch eine Beweis-
        lastumkehr und die Stärkung des Auskunftsanspruchs des
        Arzneimittelanwenders gegen pharmazeutische Unter-
        nehmen gestärkt. So werden die typischerweise auftreten-
        den Informationsdefizite von Geschädigten behoben wer-
        den. Der Auskunftsberechtigte ist nämlich nicht in der
        Lage, Wirkungen, Nebenwirkungen und Anzeichen hier-
        für entsprechend einzuordnen.
        Alles in allem kann festgestellt werden, dass die Neu-
        regelung des Schadensersatzrechts, wie sie in dem Ent-
        wurf der Regierung vorliegt, entscheidende Schritte in
        Richtung der rechtlichen Besserstellung von Unfallopfern
        enthält. Ein besonderer Schutz kommt den Schwächsten
        in unserer Gesellschaft, den Kindern zu. Dass die Lobby
        der Kinder in unserem Land nicht sehr groß ist, konnten
        wir auch in der Diskussion um dieses Gesetzesvorhaben
        wieder sehr deutlich merken.
        Ein großes Wochenmagazin war sich nicht zu schade,
        lauthals zu verkünden, dass, wenn dieses Gesetz be-
        schlossen werden würde, künftig bei Verkehrsunfällen
        auch der Schuldlose einen Teil des Schadens mittragen
        müsse. Da hat dann natürlich jeder Autofahrer schon den
        Sonntagsfahrer kommen sehen, der einem die Vorfahrt
        nimmt. Der macht dann den schönen Kotflügel vom ge-
        liebten Auto kaputt und über die ganze Rennerei mit der
        Werkstatt hinaus soll man dann auch noch ein paar Hun-
        derter zur Reparatur dazugeben. Das ist natürlich Unsinn.
        Und gerade dieser Artikel – der übrigens vom betroffenen
        Verband eine Woche später revidiert wurde – gibt einmal
        mehr Anlass zu der Bitte an die Damen und Herren von
        der Presse, ihre Aufgaben der Recherche und Auseinan-
        dersetzung mit einem Thema genau so ernst zu nehmen,
        wie wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere
        Arbeit.
        Im Mittelpunkt der Missverständnisse steht der Begriff
        des „unabwendbaren Ereignisses“, der durch die Beru-
        fung auf „höhere Gewalt“, die auch im Bahnverkehr gilt,
        ersetzt werden soll. Wie ist die derzeitige Rechtslage? Der
        Entlastungsbeweis des unabwendbaren Ereignisses ist an
        strenge Voraussetzungen geknüpft und greift in der Praxis
        selten. Der Autofahrer muss dafür nicht nur „fehlerfrei“,
        sondern absolut „ideal“ gefahren sein.
        Wenn also ein Autofahrer zum Beispiel mit seinem
        PKW ein kleines Kind anfährt, dann haftet er nach stän-
        diger Rechtsprechung auch dann, wenn er lediglich
        Höchstgeschwindigkeit gefahren ist und sich fehlerfrei
        verhalten hat. Er müsste schon nachweisen, dass er mehr
        getan hat, was in den seltensten Fällen gelingt. Das heißt
        in der Konsequenz: Der Fahrer muss nachweisen, dass er
        selbst als Idealfahrer bei Anwendung höchster Sorgfalt,
        Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart den Unfall nicht
        hätte verhindern können. Und das nachzuweisen gelingt
        den Fahrern nur in den seltensten Ausnahmefällen.
        Wir ändern die bestehende Rechtslage, um vor allem
        die Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr zu ver-
        bessern. Denn Kinder sind im Straßenverkehr immer die
        Schwächsten. Deshalb dient die Abschaffung des „unab-
        wendbaren Ereignisses“ dem rechtlichen Schutz von Kin-
        dern im Straßenverkehr. Es wäre nämlich bei der derzeit
        geltenden Rechtslage möglich, dass ein Kind angefahren
        wird und keinen Pfennig Schadensersatz erhält.
        Mit diesem Gesetzentwurf folgen wir den Empfehlun-
        gen des 38. Verkehrsgerichtstages. Auch das Europäische
        Übereinkommen über Straßenverkehr kennt diese Entlas-
        tungsmöglichkeit nicht. Lassen Sie uns den vorliegenden
        Entwurf im Interesse der Betroffenen sachlich beraten.
        Wir sind auf dem richtigen Weg.
        Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Mit der Reform
        des Schadensersatzrechtes greift die Bundesregierung
        eine aus der 13. Legislaturperiode stammende Vorlage
        auf, mit der bereits die Regierung Kohl eine Neuregelung
        auf diesem Gebiet in Angriff genommen hat. Ich freue
        mich, dass sich die Bundesregierung zu diesem
        grundsätzlich richtigen Schritt durchringen konnte.
        Wir von der Union haben seinerzeit vor allem das Ziel
        vor Augen gehabt, das Schadensersatzrecht realitätsnah
        sowie an den heutigen Erfordernissen orientiert festzu-
        schreiben. Von dieser Zielsetzung sollten wir meiner An-
        sicht nach auch heute nicht abweichen.
        Wir müssen bei dieser gesamten Problematik vor allem
        zwei wichtige Gesichtspunkte vor Augen haben. Auf der
        einen Seite ist dies der Anspruch der Bürger und der Wirt-
        schaft auf Rechtssicherheit und zum anderen das
        Bemühen, der Neuregelung eine gewisse Dauerhaftigkeit
        zu geben.
        Wir haben mit dieser, in wesentlichen Teilen auf unse-
        rem früheren Gesetzentwurf beruhenden Vorlage eine
        brauchbare Basis, auf der es gilt ein ebenso solides Bau-
        werk zu errichten. Lassen Sie mich heute in der ersten Le-
        sung schwerpunktmäßig auf die wichtigsten Änderungen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20683
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        und aus unserer Sicht wichtigsten Kritikpunkte des Ent-
        wurfes in Kürze eingehen, da ja die Detailberatung im
        Ausschuss und vor allem in den Berichterstatterge-
        sprächen erfolgen wird.
        Der neue § 84 II des Entwurfes enthält eine Beweiser-
        leichterung in Form einer Kausalitätsvermutung, die dem
        Patienten eine zu begrüßende beweisrechtliche Besser-
        stellung beschert. § 84 II AMG-Entwurf schließt endlich
        die bisher bestehende Regelungslücke in den Fällen un-
        geklärter Kausalität bei der Anwendung mehrerer Arznei-
        mittel. Im Klartext heißt das, dass die Vermutung, eines
        der genommenen Arzneimittel habe die Schädigung her-
        vorgerufen, auch dann gilt, wenn ein gleichzeitig einge-
        nommenes Medikament ebenfalls als Schadensursache in
        Betracht kommt, ohne dass der Betroffene klären kann,
        welches der einzelnen Präparate denn nun konkret scha-
        densursächlich war. Dies ist im Sinne eines umfassenden
        Patientenschutzes grundsätzlich zu begrüßen, freilich
        nicht unproblematisch.
        Was, wenn medizinisch mehrere Medikamente not-
        wendig erscheinen und dann als schadensverursachende
        Medikamente zwei Produkte infrage kommen, von denen
        nur bei einem Präparat die schädliche Wirkung wegen der
        nötigen erhöhten Dosis als vertretbar gewertet werden
        kann? Dann stellt sich für das zweite Medikament, wel-
        ches nicht den Anspruch erheben kann, nur in erhöhter
        Dosis wirken zu können, das Problem, bei ungeklärter
        Schadensursache ohne Regressmöglichkeit für den ge-
        samten Schaden haften zu müssen. Hier bedarf es nach
        meiner Einschätzung noch einer entsprechenden gesetzli-
        chen Regelung. Diese Regelungslücke darf nicht zulas-
        ten der Geschädigten gehen. Zu überlegen wäre mögli-
        cherweise eine solidarische Einstandspflicht der
        pharmazeutischen Unternehmer, insbesondere in den Fäl-
        len, in denen es dem Patienten nicht möglich ist, die an-
        gewandten Präparate namhaft zu machen. Diese Frage
        wird in der weiteren Beratung und sicherlich im Rahmen
        einer Sachverständigenanhörung zu erörtern sein.
        In dem geplanten neuen § 84 III Arzneimittelgesetz
        – AMG – wird die Darlegungs- und Beweislast dafür um-
        gekehrt, dass die feststehenden schädlichen Wirkungen
        eines Arzneimittels ihre Ursache im Bereich der Entwick-
        lung oder Herstellung haben. Danach soll künftig der
        pharmazeutische Unternehmer die Beweislast für den
        Fehlerbereich tragen, was im Klartext heißt, dass er dar-
        legen und beweisen muss, dass die schädliche Wirkung
        des Mittels nicht im Bereich von Herstellung und Ent-
        wicklung liegt. Damit gehen wir einen großen und vor al-
        lem richtigen Schritt in Richtung wirksamer Patienten-
        schutz.
        Doch sollten wir in diesem Zusammenhang eine wei-
        tere Klarstellung in § 84 AMG aufnehmen. Diese betrifft
        die Aufnahme mittelbar Geschädigter in den Schutzbe-
        reich dieses Paragraphen.Auf den ersten Blick ein schein-
        bar nebensächliches Problemfeld, aus meiner Sicht aber
        unumgänglich, umdenWirkungskreis des § 84AMGnicht
        unnötig einzuschränken. Die Gesetzesbegründung sieht
        das zwar bereits vor, doch wäre wünschenswert, hier ein
        klarstellende Ergänzung im Entwurf selbst vorzunehmen.
        Eine erfreuliche Neuregelung erhält das Schadenser-
        satzrecht mit der Einfügung des § 84 a AMG, der dem Pa-
        tienten einen Auskunftsanspruch gegenüber dem Arznei-
        mittelhersteller einräumt. Wir sollten allerdings die Anre-
        gung des Bundesrates aufgreifen und überlegen, was ge-
        tan werden kann, um dem Geschädigten die Durchsetzung
        dieses Anspruches zu erleichtern.
        Für wenig sinnvoll halte ich den in § 84 a I Satz 4
        AMG-Entwurf vorgesehenen Ausnahmetatbestand. Die-
        ser bietet nämlich eine Handhabe, sich aller Auskunfts-
        verpflichtungen zu entledigen, indem man sich als Produ-
        zent hinter Geheimhaltungsinteressen verstecken kann.
        Es dürfte einem Unternehmen nicht schwer fallen, ein
        solches Geheimhaltungsinteresse vor dem Hintergrund
        der internationalen Konkurrenz zu konstruieren.
        Vorgeschlagen wurde von richterlicher Seite hier die
        Einführung einer Abwägungsklausel, um einen sachge-
        rechten Interessenausgleich herbeiführen zu können.
        Diese Abwägung wäre dann von den Gerichten vorzu-
        nehmen, um eine Entscheidung von unabhängiger Seite
        zu garantieren.
        Im Interesse der Waffengleichheit wäre allerdings an-
        zuraten, dem Unternehmen seinerseits einen Auskunfts-
        anspruch gegen den Patienten zukommen zu lassen, da
        sich der überwiegende Teil des Schadensablaufes in der
        Sphäre des Geschädigten abspielt. Ansonsten hätte der
        Hersteller keine Chance, die in § 84 Abs. 2 AMG Entwurf
        vermutete Kausalität zu erschüttern. Die Kausalitätsver-
        mutung würde sich dann in eine bedenkliche Kausalitäts-
        fiktion verwandeln.
        Da die Neuregelung des Schadensersatzrechtes mehr
        umfasst als nur das Arzneimittelrecht, möchte ich noch
        kurz zu Änderungen in anderen Rechtsgebieten Stellung
        nehmen.
        Zur Neuregelung des Schmerzensgeldanspruches im
        Allgemeinen: Wir stehen vor der Frage, ob wir grundsätz-
        lich immaterielle Schäden ersetzen wollen oder nicht. Die
        Schaffung einer einheitlichen Norm für den Ersatz imma-
        terieller Schäden in Form des neu gefassten § 253 BGB ist
        zu begrüßen. Die Befürchtung, dass bei uns dadurch dem
        US-amerikanischen Recht vergleichbare Fälle eintreten
        könnten, halte ich für unbegründet. Des Weiteren er-
        scheint mir die Erstreckung der Gewährung von Schmer-
        zensgeld auch auf Ansprüche aus Gefährdungshaftung
        und die Einbeziehung von vertraglichen Ansprüchen als
        sinnvoll. Die Ausweitung der Halterhaftung auf Kraft-
        fahrzeuge mit Anhängern ist zu begrüßen.
        Bedenklich dagegen erscheint jedoch, den Haftungs-
        ausschluss, der bisher im Falle eines „unabwendbaren Er-
        eignisses“ galt, künftig nur noch im Falle „höherer Ge-
        walt“ vorzusehen. Es ist bereits jetzt in der gerichtlichen
        Praxis schwer zu ermitteln und noch schwerer zu vermit-
        teln, wann ein unabwendbares Ereignis vorliegt, nämlich
        nur dann, wen auch ein besonnener und überdurch-
        schnittlicher Fahrer der Gefahr nicht hätte ausweichen
        können. Jedoch hat diese bisher geltende Regelung den
        Vorteil, dass der Schädiger wenigstens die Chance hatte,
        sich durch einen von ihm zu erbringenden Nachweis zu
        exculpieren. Die geplante Neuformulierung liefert ihn da-
        gegen praktisch der Haftung ohne Entlastungsmöglich-
        keit aus und schafft zudem neue Auslegungsprobleme.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120684
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        Der CDU/CSU-Fraktion ist es ein Anliegen, Kinder im
        Straßenverkehr besser zu schützen und sie bei kinderty-
        pischen Unfällen einerseits von Ansprüchen auf Scha-
        densersatz freizuhalten und ihnen andererseits als Opfer
        einen Schadensersatzanspruch zuzusprechen. Dies gilt
        auch für Hilfsbedürftige und andere Menschen.
        Mit der geplanten Neuformulierung jedenfalls schießt
        die Bundesjustizministerin weit über das Ziel hinaus. Es
        ist nicht gerechtfertigt, den Autofahrer ausnahmslos für
        Schäden haften zu lassen, für die er überhaupt nichts
        kann. Aus diesem Grund muss die geplante Neuregelung
        vorerst auf die erwähnten Fälle beschränkt werden bzw.
        – wie der Bundesrat anregt – es muss geprüft werden, ob
        das Ziel, Kinder, Hilfsbedürftige und ältere Menschen
        besser zu stellen, nicht auf andere Weise ermöglicht wer-
        den kann.
        Begrüßenswert ist die geplante Ausweitung der Halter-
        haftung auf unentgeltlich beförderte Fahrzeuginsassen.
        Damit wird eine Gesetzeslücke in sinnvoller Weise ge-
        schlossen.
        Ebenso findet auch die geplante Erhöhung der Haf-
        tungshöchstgrenzen für die Verletzung bzw. Tötung einer
        oder mehrerer Personen im Straßenverkehr unsere Unter-
        stützung. Angesichts des stetig steigenden Risikos auf un-
        seren Straßen ist hier aus meiner Sicht eine realitätsnahe
        Bewertung der Schadenshöhe unausweichlich. In wel-
        chen Grenzen diese Erhöhung stattzufinden hat, wird si-
        cher noch ausgiebig diskutiert werden müssen; an der
        Zielsetzung jedoch sollte festgehalten werden.
        Eine problematische Thematik im Bereich des
        Schmerzensgeldes betrifft die Entschädigung in Geld für
        die Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Bisher hat der
        Geschädigte zum Beispiel bei rechtswidrigen Abbildun-
        gen oder ehrverletzenden Äußerungen in analoger An-
        wendung des § 1004 BGB einen Anspruch auf Unterlas-
        sung der weiteren Verbreitung, oder, wenn dieses durch
        ein Presseorgan erfolgt, auf Gegendarstellung.
        Ob darüber hinaus jedoch ein Schmerzensgeld verlangt
        werden kann, wird nicht erst seit gestern diskutiert. Das
        Persönlichkeitsrecht wäre lückenhaft geschützt, wenn
        man auf eine Sanktion verzichtet, die aus Sicht des Ge-
        schädigten ein wirksames Mittel zur Wiedergutmachung
        darstellt. In diesem Punkt sollten wir uns auf eine aus-
        drückliche Klarstellung im Gesetz verständigen, so wie
        wir es bei der Reform des Schuldrechts mit der cic und der
        pvv getan haben.
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Rot-grüne Rechtspolitik steht für die Stärkung der Schwa-
        chen durch Recht. Diese Reform des Schadensersatzrech-
        tes ist ein weiterer, eindrucksvoller Beleg hierfür. Wir ver-
        bessern die Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr
        und wir verbessern auch die Rechtslage von Arzneimit-
        telgeschädigten. Überhaupt dient diese Reform der Opti-
        mierung des Opferschutzes; denn durch die Ausweitung
        eines Schmerzensgeldanspruchs auch auf den Bereich der
        Gefährdungs- und Vertragshaftung helfen wir denjenigen,
        deren Körper, Gesundheit, Freiheit oder sexuelle Selbst-
        bestimmung verletzt wird und die zum Beispiel das Ver-
        schulden eines Dritten nicht nachweisen können. Profitie-
        ren werden davon vor allem Menschen, die Opfer von
        schweren Verkehrsunfällen geworden sind.
        Diese Reform des Schadensersatzrechtes ist seit lan-
        gem überfällig. Rot-Grün bringt – wie so oft – endlich das
        zustande, was die Opposition während ihrer Regierungs-
        verantwortung nicht geschafft hat. Wir erhöhen zum Bei-
        spiel in vielen Gesetzen die Haftungshöchstgrenzen: Der-
        artige Anpassungen waren ja dringend notwendig. In
        einigen Gesetzen war dies seit mehr als 20 Jahren nicht
        mehr geschehen. Schwarz-Gelb hat hier geschlafen. Wir
        holen das nach. Bei einzelnen Personenschäden erhöhen
        wir die individuelle Haftungshöchstgrenze um mehr als
        das Doppelte: Während bislang im Straßenverkehrsgesetz
        der Kapitalbetrag für die Tötung oder Verletzung eines
        Menschen bei höchstens 500 000 DM lag, beläuft er sich
        künftig auf 600 000 Euro und 36 000 Euro Jahresrente.
        Das ist nur angemessen. Die Praxis hat schließlich ge-
        zeigt, dass etwa bei einer schwerwiegenden Querschnitts-
        lähmung der Betrag von 500 000 DM angesichts der ho-
        hen Heilungskosten, des eingetretenen Erwerbs- und
        Unterhaltsschadens sowie des Schmerzensgeldes über-
        haupt nicht ausgereicht hat. Zu gering war auch der bis-
        herige Haftungshöchstbetrag bei mehreren Verletzten.
        Wenn sich beispielsweise drei Schwerverletzte bislang
        750 000 DM teilen mussten, war dies eindeutig zu wenig.
        Wir haben deshalb bei einem Gesamtpersonenschaden die
        Grenze jetzt auf 3 Millionen Euro hochgeschraubt.
        Für Opfer von Arzneimitteln schaffen wir mit diesem
        Gesetz endlich die nötigen Haftungserleichterungen. Ein
        Auskunftsanspruch gegen Behörde und Pharmaunterneh-
        men sowie eine angemessene Beweislastumkehr wird es
        den Betroffenen künftig ermöglichen, den Nachweis der
        Kausalität zwischen Präparat und Schaden leichter zu
        führen. Nicht erst der Vorfall Lipobay hat uns daran erin-
        nert, sondern schon seit dem HIV-Bluter-Skandal in den
        80er-Jahren wissen wir, wie schwer es für die Betroffenen
        ist, ihre berechtigten Ansprüche auch tatsächlich gegen
        die potenten Pharma-Unternehmen durchzusetzen.
        Wir als Grüne werden deshalb in diesem Bereich auch
        im Gesetzgebungsverfahren keine Aufweichungen zulas-
        ten der Geschädigten mitmachen: Vorschläge etwa des
        Bundesrates, die Beweislastumkehr für die Erforderlich-
        keit einer Auskunft wieder abzumildern oder sogar dem
        Pharmaunternehmer einen Auskunftsanspruch gegenüber
        dem Patienten einzuräumen, halten wir für verfehlt. Sie
        widersprechen nicht nur dem Geist dieses opferfreundli-
        chen Gesetzes. Sie widersprechen teilweise auch dem,
        was der Bundesrat in der letzten Wahlperiode selbst in sei-
        ner Stellungnahme ausgeführt hat. Man möge sich hierzu
        einmal die Drucksache 13/10766 in aller Ruhe zu Gemüte
        führen.
        Rainer Funke (FDP): Bei dem vorliegenden Entwurf
        eines Schadensersatzänderungsgesetzes handelt es sich
        um eine der wichtigeren Gesetzesvorhaben der Bundes-
        regierung, die auf Überlegungen und Vorarbeiten der ver-
        gangenen Legislaturperiode zurückgreifen. Umso mehr
        verwundert, dass die erste Beratung zu später Stunde mit
        kurzer Rededauer stattfindet, so, als ob es sich um ein
        Gesetz „unter ferner liefen“ handelt. Genauso verwundert
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20685
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        darf man darüber sein, dass diese grundlegenden Ände-
        rungen unseres Haftungsrechts erst nach über drei
        Jahren sozialdemokratischer Führung im Bundes-
        justizministerium vorgelegt werden, nachdem bereits in
        der letzten Legislaturperiode grundsätzliche Diskussio-
        nen um das Haftungsrecht stattgefunden haben.
        In der Sache wird es noch Diskussionen geben müssen.
        Insbesondere, was die Arzneimittelhaftung und die Ein-
        führung eines allgemeinen Anspruchs auf Schmerzens-
        geld auch bei der Gefährdungshaftung anbelangt.
        Die Verbesserung der Rechtsstellung von Kindern bei
        Unfällen im Straßen- und Bahnverkehr dürfte dagegen
        weitestgehend unstreitig sein. Hierbei handelt es sich um
        eine sehr alte Forderung des Verkehrsgerichtstages, die
        nunmehr umgesetzt wird. Die Verschärfung der Kraft-
        fahrzeughalterhaftung muss noch auf ihre tatsächlichen
        Auswirkungen bei der Abrechnung von Kraftfahrzeug-
        schäden überprüft werden. Insbesondere muss untersucht
        werden, ob die bisherige Regelung nicht aufgrund der
        Rechtsprechung ausreicht. Genauere Untersuchungen
        über die Auswirkungen auf die Kraftfahrzeugversiche-
        rung sind dabei mit zu berücksichtigen.
        Zweifellos ist der Schwerpunkt dieses Gesetzesent-
        wurfs die Verschärfung der Arzneimittelhaftung. Auch
        hier muss im einzelnen in den Anhörungen untersucht
        werden, welche Folgewirkungen die Erweiterung der
        Arzneimittelhaftung auf den Produktionsstandort
        Deutschland, auf die Forschung, aber auch auf die Kosten
        der Arzneien hat, denn zweifellos führt eine erweiterte
        Haftung zu höheren Kosten, die auch auf die Allgemein-
        heit umgelegt werden. Die Neugestaltung der Arzneimit-
        telhaftung führt auch zu einem Auskunftsanspruch und
        damit zu einer Verbesserung der Beweissituation eines
        Geschädigten. Dies ist sicherlich auch im Sinne eines ver-
        besserten Verbraucherschutzes. Unverständlich ist je-
        doch, dass dieser Auskunftsanspruch nicht nach dem Vor-
        bild des Umwelthaftungsrechtes gegenseitig ausgestaltet
        ist. Gerade bei der Wirkung von Medikamenten kommt es
        doch nicht nur auf die Arzneien an, sondern auf die Ver-
        hältnisse beim Patienten, zum Beispiel das Zusammen-
        wirken des eingenommenen Medikaments mit anderen
        Medikamenten, oder auch auf den Gesundheitszustand
        des Patienten. Insoweit bedarf es intensiver Beratungen
        und Anhörungen.
        Sowohl im Arzneimittelgesetz, als auch in anderen Ge-
        setzen in denen Gefährdungshaftung vorgesehen ist, sieht
        der vorliegende Entwurf nunmehr die Einführung eines
        verschuldensunabhängigen Schmerzensgeldanspruchs
        vor. Dabei handelt es sich um eine gravierende Änderung
        unseres Schadensersatzrechtes, eine Änderung, die von
        der Rechtsprechung, auch der Wissenschaft mit unter-
        stützt wird. Dabei ist jedoch streitig, wie weit ein entspre-
        chender Schmerzensgeldanspruch gehen soll. So hat der
        62. Deutsche Juristentag 1998 sich dafür ausgesprochen,
        ein Schmerzensgeld im Rahmen der Gefährdungshaftung
        nur bei „schwerwiegenden“ und „dauerhaften“ Körper-
        und Gesundheitsschäden zu gewähren. Gleichzeitig hat er
        die jetzt von der Bundesregierung aufgegriffene Lösung
        ausdrücklich verworfen. Auch hier muss ergebnisoffen im
        Rechtsausschuss diskutiert werden. Die FDP-Fraktion
        sagt insoweit durchaus konstruktive Mitarbeit zu.
        Dasselbe gilt für die Fragen der Änderung der Sach-
        schadensabrechnung in § 249 BGB. Hier müssen Auswir-
        kungen auf die Kraftfahrzeugreparaturwerkstätten
        untersucht werden. Hier kann der geschädigte Kraftfahr-
        zeughalter bei der Geltendmachung seines Schadens die
        16-prozentige Mehrwertsteuer nicht geltend machen,
        wenn er den Schaden – aus welchem Grund auch im-
        mer – nicht bei einer Vertragswerkstatt beseitigen lässt.
        Insgesamt bedauern wir, dass diese grundsätzliche For-
        derung unseres Schadensersatzrechtes in den letzten
        4 Monaten dieser Legislaturperiode unter großem Zeit-
        druck im Rechtsausschuss behandelt werden muss. Dabei
        hat die Bundesregierung alle Zeit gehabt, rechtzeitig ei-
        nen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
        Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Dass die Rechte von
        Menschen gestärkt werden sollen, denen Schaden zuge-
        fügt worden ist, sei es durch Verkehrsunfälle, durch Arz-
        neimittel oder andere Ursachen, kann ich nur begrüßen.
        Abgesehen davon, dass die Regierung verzweifelt ko-
        stengünstige Punkte für den Wahlkampf sammelt, ist das
        Grundanliegen der Frau Bundesministerin der Justiz wohl
        richtig.
        Verbesserungen in der Arzneimittelhaftung zugunsten
        des Geschädigten sind meines Erachtens erforderlich. Es
        gibt in der Tat unverhältnismäßig hohe Hürden im Arz-
        neimittelgesetz, wenn ein geschädigter Bürger gegen ei-
        nen Arzneimittelhersteller einen Schadensersatzanspruch
        durchsetzen will. Wie soll er beweisen, dass der Schaden
        auf Fehler bei der Entwicklung und Herstellung des Arz-
        neimittels und nicht auf Fehler bei der Lagerung und beim
        Versand zurückzuführen ist? Die Umkehr der Beweislast
        ist in diesen Fällen angebracht. Auch die gesetzliche und
        durch den Hersteller widerlegbare Vermutung einer Kau-
        salität zwischen Arzneimittel und eingetretenem Schaden
        ist nach meiner Ansicht vernünftig.
        Die Einführung eines Anspruchs auf Schmerzensgeld
        auch bei Gefährdungs- und Vertragshaftung muss man
        genau prüfen. Eine so weitgehende Änderung des Scha-
        densersatzrechts bedarf einer eingehenden Diskussion
        unter Einbeziehung von Experten, zumal dies mit gra-
        vierenden finanziellen Folgen verbunden ist. Wenn
        zukünftig das Schmerzensgeld auf ihrer Art und Dauer
        nach nicht unerhebliche Verletzungen begrenzt werden
        soll, ist es nur logisch, die Haftungshöchstbeträge deut-
        lich anzuheben, da bisherige Schmerzensgeldbeträge bei
        schweren und schwersten Verletzungen nicht ausrei-
        chend sind.
        Ich kann die Gründe für die vorgeschlagene Herauf-
        setzung der Deliktfähigkeit der Kinder von sieben auf
        zehn Jahre nachvollziehen. Gerade in diesem Alter sind
        die Kinder im Straßenverkehr oft unberechenbar. Hinzu
        kommt, dass die rasante Verkehrsentwicklung in den
        letzten Jahrzehnten ungleich höhere Anforderungen an
        jeden Verkehrsteilnehmer stellt, die Kinder bis zu einem
        bestimmten Alter nicht oder nur begrenzt erfüllen kön-
        nen. Dem sollte der Gesetzgeber Rechnung tragen. Frei-
        lich muss man dann auch die vorsätzliche Herbeiführung
        eines Schadens vom Haftungsausschluss ausnehmen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120686
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        Schließlich erwähne ich als zustimmungsfähig aus
        meiner Sicht die Erhöhung der allgemeinen Haftungs-
        höchstgrenzen. Diese Grenzen sind seit mehr als 20 Jah-
        ren nicht erhöht worden. Bei dem Anstieg aller Kostenin-
        dizes in dieser Zeit ist eine solche Erhöhung überfällig.
        Man wird im weiteren Gesetzgebungsprozess überprü-
        fen müssen, ob die vorgeschlagenen Neuerungen wirklich
        praktikabel sind, sich positiv für den Geschädigten aus-
        wirken und nicht da und dort die Versicherung der la-
        chende Dritte ist. So ist aus meiner Sicht die vorgeschla-
        gene Regelung betreffend die Umsatzsteuer ziemlich
        undurchsichtig. Ich hoffe, dass uns die Koalitionsfraktio-
        nen und die Ministerin dafür ausreichende Zeit geben und
        nicht wieder versuchen werden – wie in zurückliegenden
        Fällen –, diesen umfangreichen und für die Schadenser-
        satzpraxis sehr bedeutsamen Gesetzentwurf in Eile durch-
        zudrücken.
        Meine Fraktion wird an der Vervollkommnung dieser
        Gesetzesinitiative konstruktiv mitwirken.
        Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Mit dem Entwurf
        des Zweiten Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes hat
        die Bundesregierung nach der Schuldrechtsmodernisie-
        rung eine zweite wichtige Reform des Zivilrechts auf den
        Weg gebracht: Das deutsche Schadensersatzrecht wird
        gründlich modernisiert und an die geänderten wirtschaft-
        lichen Verhältnisse angepasst.
        Die Schadensersatzvorschriften im Bürgerlichen Ge-
        setzbuch sind seit ihrem In-Kraft-Treten im Jahr 1900 na-
        hezu unverändert geblieben. Durch den Wandel der letz-
        ten 100 Jahre sind Haftungslücken und Gerechtigkeits-
        defizite aufgetreten, die wir schließen müssen. Dabei geht
        es auch um die Entscheidung von Wertungsfragen:
        Während bisher oftmals der Ausgleich von Vermögens-
        schäden im Vordergrund steht, wollen wir den Ausgleich
        von Personenschäden mehr in den Mittelpunkt des Scha-
        densersatzrechts rücken.
        Diese Ziele erreichen wir vor allem durch die folgen-
        den Neuerungen:
        Erstens: Die haftungsrechtliche Situation von Kindern
        im Straßenverkehr ist zu verbessern.
        Zweitens: Der Anspruch auf Schmerzensgeld muss auf
        Fälle der Gefährdungshaftung und der Vertragshaftung
        ausgedehnt werden.
        Drittens: Die Haftungshöchstgrenzen in Gesetzen mit
        Gefährdungshaftung sind deutlich anzuheben.
        Viertens: Die Arzneimittelhaftung bedarf der Verbes-
        serung.
        Und Fünftens: Die fiktive Abrechnung von Sachschä-
        den soll auf ein vernünftiges Maß reduziert werden.
        Lassen Sie mich auf diese Punkte im folgenden kurz
        eingehen:
        Erstens. Die Verbesserung der haftungsrechtlichen Si-
        tuation von Kindern im motorisierten Straßen- und Bahn-
        verkehr ist ein wesentliches und im Kern wohl auch un-
        streitiges Anliegen des Entwurfs. Derzeit können Kinder
        ab der Vollendung des siebten Lebensjahres haften. Nach
        Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie sind Kinder
        in diesem Alter aufgrund ihrer physischen und psychi-
        schen Fähigkeiten aber noch nicht in der Lage, die beson-
        deren Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu er-
        kennen und sich entsprechend zu verhalten. Dies ist
        frühestens ab Vollendung des zehnten Lebensjahres der
        Fall. Deshalb wird die Altersschwelle für eine Haftung
        und Mithaftung im Straßen- und Bahnverkehr von sieben
        Jahre auf zehn Jahre heraufgesetzt.
        Zweitens. Ein weiteres zentrales Anliegen des Entwur-
        fes ist die Einführung eines allgemeinen Anspruchs auf
        Schmerzensgeld. Bisher besteht ein solcher Anspruch
        grundsätzlich nur dann, wenn den Täter ein Verschulden
        trifft. Im Rahmen einer verschuldensunabhängigen Ge-
        fährdungshaftung, wie zum Beispiel im Straßenverkehrs-
        gesetz, gibt es bislang kein Schmerzensgeld. Das gilt auch
        für den Bereich der Arzneimittelhaftung und hat hier erst
        vor wenigen Monaten im Zusammenhang mit Schäden
        durch das Arzneimittel Lipobay für Aufregung und Un-
        verständnis gesorgt.
        Schmerzensgeldansprüche sollen deshalb auf den Be-
        reich der Gefährdungshaftung und auf den Bereich der
        Vertragshaftung ausgedehnt werden. Das ist zugleich ein
        Beitrag zur Rechtsangleichung in Europa; denn in ande-
        ren europäischen Staaten ist dies längst selbstverständ-
        lich.
        Wenn man nun eine solche Ausweitung des Kreises der
        Anspruchsberechtigten vornimmt, dann muss damit eine
        gewisse Einschränkung in Fällen von leichteren Verlet-
        zungen einhergehen. Ohne eine solche Einschränkung
        würde man erhebliche Mehrkosten für die Versicherten-
        gemeinschaft riskieren. Einen Anspruch auf Schmerzens-
        geld soll es deshalb nur geben, wenn die Verletzung unter
        Berücksichtigung von Art und Dauer nicht unerheblich
        ist. Für Bagatellverletzungen wird es also kein Schmer-
        zensgeld mehr geben. Aber wir halten es für wichtiger, die
        vorhandenen Mittel auf die wirklich Schwerverletzten zu
        konzentrieren, als für jede Schramme ein paar Mark als
        Schmerzensgeld zu gewähren.
        Drittens. Eine weitere wichtige Verbesserung ist die
        Anhebung der Haftungshöchstgrenzen, die in den Geset-
        zen mit einer Gefährdungshaftung vorgesehen sind. Die
        Haftungshöchstgrenzen müssen ausreichen, um auch ei-
        nen durchschnittlichen Großschadensfall abzudecken.
        Dies ist etwa im Bereich des Straßenverkehrsgesetzes
        schon lange nicht mehr der Fall. Dort fand die letzte Er-
        höhung vor mehr als 20 Jahren statt. Deshalb ist eine kräf-
        tige Anhebung notwendig, um die Haftungssummen an
        die zwischenzeitlich eingetretene wirtschaftliche Ent-
        wicklung anzupassen.
        Viertens. Der Gesetzentwurf sieht ferner im Bereich
        der Arzneimittelhaftung erhebliche Verbesserungen für
        diejenigen vor, die durch ein unvertretbares Arzneimittel
        geschädigt wurden. Dem Arzneimittelanwender soll kün-
        ftig ein Auskunftsanspruch gegen den pharmazeutischen
        Unternehmer und gegen die Zulassungsbehörde zustehen.
        Denn der Geschädigte steht hier oft vor der Schwierigkeit,
        dass das pharmazeutische Unternehmen über umfangrei-
        che Informationen über die Art und Häufigkeit von
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        Nebenwirkungen des Arzneimittels verfügt, die er selbst
        nicht kennt. Außerdem wird die Situation des Geschädig-
        ten durch die Einführung von Beweiserleichterungen im
        Bereich der Kausalität verbessert. Damit wird ein Stück
        „Waffengleichheit“ im Arzneimittelhaftungsprozess her-
        gestellt. Ich halte diese Verbesserungen im Interesse der
        Verbraucherinnen und Verbraucher für notwendig aber
        auch für ausreichend.
        Fünftens. Lassen Sie mich nun noch auf die Änderung
        beim Ersatz von Sachschäden eingehen. Hier ist vorgese-
        hen, den Umfang der so genannten „fiktiven Abrechnung“
        einzuschränken. Fiktive Abrechnung kennen wir vor al-
        lem aus dem Bereich der Kfz-Schäden. Der Geschädigte
        legt dem Schädiger nur ein Schätzgutachten über die ver-
        mutlichen Reparaturkosten vor, um sich den geschätzten
        Betrag bar auszahlen zu lassen. Wenn er dann tatsächlich
        keine Reparatur vornimmt, macht er ein gutes Geschäft.
        Denn bei der fiktiven Abrechnung fließen über die ge-
        schätzten Reparaturkosten auch fiktive Umsatzsteueran-
        teile in die Berechnung des Schadens ein. Anders als ein
        Unternehmer muss der Geschädigte diese Umsatzsteuer-
        anteile nicht an das Finanzamt abführen, sondern kann sie
        selbst in die Tasche stecken. Das halten wir nicht für rich-
        tig, denn es führt faktisch zu einer Überkompensation.
        Der Gesetzentwurf sieht deshalb vor, die Umsatzsteuer
        nur so weit zu ersetzen, als sie tatsächlich zur Schadenbe-
        seitigung anfällt. Eine rein fiktive Umsatzsteuer soll nicht
        mehr ersetzt werden.
        Schon in der letzten Legislaturperiode wurde von der
        Vorgängerregierung ein gleichnamiger Gesetzentwurf
        eingebracht, der in Fachkreisen und beim Bundesrat auf
        heftigen Widerstand stieß. Wir haben diesen Entwurf
        gründlich überarbeitet und die ganz überwiegend positive
        Stellungnahme des Bundesrates zeigt, dass wir auf dem
        richtigen Weg sind. Ich bin deshalb optimistisch, dass es
        gelingen wird, den vorgelegten Entwurf zügig zu beraten
        und abzuschließen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs
        – eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffen-
        rechts (WaffRNeuRegG)
        – eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Waf-
        fengesetzes
        (Tagesordnungspunkt 17 a und b)
        Ernst Bahr (SPD): Die Neuregelung des Waffenge-
        setzes wird seit langem gefordert und gleichzeitig heftigst
        bekämpft; denn einerseits sehen die Befürworter der Re-
        form derzeit vor allem Schwierigkeiten darin, das gel-
        tende Waffenrecht bundeseinheitlich und wirksam anzu-
        wenden. Durch die vielen Änderungen und Ergänzungen
        im Laufe der Zeit ist es unübersichtlich und kompliziert
        zu lesen; viele wichtige Regelungen sind nicht dem Ge-
        setz selbst, sondern nur den Verordnungen zu entnehmen.
        Andererseits befürchten die legalen Waffenbesitzer, unter
        dem Aspekt der inneren Sicherheit zu „lebenslang kon-
        trollierten Bürgern“ gemacht zu werden, die sich ständig
        für ihren Waffenbesitz rechtfertigen müssen.
        Natürlich wollen wir jetzt mit dieser Novelle nicht nur
        die systematischen und inhaltlichen Probleme bzw. Unge-
        nauigkeiten ausmerzen, sondern auch dasWaffenrecht un-
        ter dem Aspekt der veränderten Sicherheitslage den
        Gegebenheiten anpassen. Nach dem vom Bundesverwal-
        tungsgericht in über 30-jähriger Rechtssprechung bestätig-
        ten Grundsatz: „So wenig Waffen wie möglich ins Volk“
        werden dieAnforderungen für den Erwerb, den Besitz und
        das Führen von Waffen so präzisiert, dass sie den berech-
        tigten Sicherheitsbedenken der Bevölkerung angemessen
        Rechnung tragen. Der Umgang mit Waffen und Munition
        durch Privatpersonen kann nicht schrankenlos sein.
        Jeder Bürger, sofern er ein Bedürfnis nachweist und die
        erforderliche Zuverlässigkeit gegeben ist, kann nach wie
        vor seinem Bedürfnis entsprechend Waffen und Munition
        besitzen bzw. führen. Ich möchte hier unterstreichen: Die
        Koalitionsfraktionen wollen weder die Jäger noch die
        Sportschützen, aber auch nicht die Brauchtumsschützen
        oder Waffensammler bei ihrem Sport bzw. Hobby ein-
        schränken, sondern sie für einen verantwortungsvollen
        Umgang damit sensibilisieren.
        Was ändert sich also? Als Erstes ist hier die systema-
        tische Trennung von Waffengesetz und Beschussgesetz zu
        nennen. Während es bei dem neuen Waffengesetz primär
        um die Regelung des Umgangs mit Waffen unter dem Ge-
        sichtspunkt der öffentlichen Sicherheit geht, wird das Be-
        schussgesetz die Prüfung und Zulassung insbesondere
        von Feuerwaffen, Böllern, Schussapparaten und Munition
        im Interesse der Sicherheit für den Verwender und Dritte
        regeln.
        Konkretisiert wurden im Waffengesetz folgende
        Punkte:
        Erstens. Die Zuverlässigkeit als Voraussetzung für den
        Umgang mit Waffen und Munition. Ziel ist es, Personen
        den Umgang mit Waffen oder Munition zu verwehren, die
        durch ihr Verhalten Anlass gegeben haben oder geben, an
        ihrer Rechtstreue bzw. an ihrem sorgfältigem Umgang mit
        diesen gefahrenträchtigen Gegenständen zu zweifeln.
        Zweitens. Die Anerkennung eines Bedürfnisses für den
        Umgang mit erlaubnispflichtigen Waffen oder Munition.
        Hier werden nicht nur die grundsätzlichen Modalitäten
        der Anerkennung des Bedürfnisses festgelegt, sondern
        auch die bedarfsgerechte Ausstattung für Jäger und Sport-
        schützen.
        Drittens. Die Anerkennungsverfahren für Schießsport-
        verbände. Da diese Verbände dafür zuständig sind, ihren
        Mitgliedern die schießsportliche Betätigung als Grund-
        lage für die Anerkennung des Bedürfnisses zu bescheini-
        gen und somit an der Erteilung waffenrechtlicher Erlaub-
        nisse maßgeblich beteiligt sind, war es vor dem
        Hintergrund sich ständig neu formierender Schießver-
        bände notwendig, Kriterien für ihre Anerkennung zu
        schaffen.
        Viertens. Die besondere Stellung der Erben. Der Erb-
        fall ist mittlerweile der häufigste Waffenerwerbsgrund.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120688
        (C)
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        Die Zahl dieser Waffenbesitzer, die weder sachkundig
        sind, noch ein Bedürfnis für den Umgang mit Waffen ha-
        ben, steigt ständig. Um der Gefahr von Missbrauchsfällen
        zu begegnen, wird das Erbenprivileg auf fünf Jahre be-
        grenzt. Die Aufnahme der Frist dient in erster Linie dazu,
        der Industrie Gelegenheit zu geben, eine technische Lö-
        sung für ein Blockiersystem zu entwickeln, das die Schuss-
        fertigkeit ererbter Waffen technisch unterbindet.
        Fünftens. Die sichere Aufbewahrung von Waffen und
        Munition. Geregelt wird zukünftig nicht nur die sichere
        Aufbewahrung von Schusswaffen und Munition, sondern
        auch von anderen Waffen wie zum Beispiel Hieb- und
        Stoßwaffen, Reizstoffsprüh- oder Elektroschockgeräte.
        Vorgeschrieben ist auch die getrennte Aufbewahrung von
        Schusswaffen und Munition. Darüber hinaus werden die
        derzeit geltenden Normen für ein Aufbewahrungsbehält-
        nis zugunsten der europäischen Norm aufgehoben.
        Sechstens. Restriktionen für Reiz-, Schreckschuss-
        und Signalwaffen. Da diese Waffen heutzutage etwa die
        Hälfte aller im Zusammenhang mit Straftaten sicherge-
        stellten Waffen ausmachen, haben wir hier insbesondere
        auf Wunsch der Länder und der Polizei den so genannten
        „kleinen Waffenschein“ eingeführt. Während also für den
        Erwerb und Besitz von Gas- und Schreckschusswaffen
        nur die Volljährigkeit der Person nachgewiesen werden
        muss, unterliegt das Führen dieser Waffen der Erlaubnis-
        pflicht. Das heißt, die Zuverlässigkeit und die
        persönliche Eignung sind Voraussetzung.
        Siebtens. Verbot von Wurfsternen und gefährlichen
        Messern. Aufgrund ihrer geringen Abmessungen können
        Wurfsterne leicht verdeckt, unauffällig getragen und
        geräuschlos eingesetzt werden. Um einer Gefahr bei öf-
        fentlichen Veranstaltungen, Demonstrationen usw. entge-
        genzuwirken, wurde mit dem generellen Verbot der Wurf-
        sterne Rechtsklarheit hinsichtlich ihrer waffenrechtlichen
        Einordnung geschaffen.
        Im Laufe der parlamentarischen Beratungen werden
        wir nochmals verschiedene Detailregelungen, wie zum
        Beispiel das Mindestalter von Kindern bei der Ausübung
        des Schießsports, die Höhe der Strafmaßschwelle als Be-
        urteilungsgrundlage für die Zuverlässigkeit, aber auch die
        Kontrolle der sicheren Aufbewahrung – ich denke hier an
        ein Zutrittsrecht nur in begründeten Verdachtsfällen –,
        überprüfen, darüber diskutieren und entscheiden. Ich bin
        jedoch überzeugt, dass dieser Entwurf insgesamt ein guter
        Kompromiss zwischen den Interessen des Bundes, der
        Länder und auch den Verbänden, also letztlich der Waf-
        fenscheininhaber selbst, darstellt.
        Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Dass das Waffen-
        recht dringend novelliert werden muss, ist unumstritten.
        Dies gilt auch und gerade im Interesse der Anwender, da
        das geltende Waffenrecht mit dem Waffengesetz und den
        dazugehörigen sechs Rechtsverordnungen im Hinblick
        auf Systematik und Regelungsgehalt äußerst kompliziert
        ist. Das Waffenrecht transparenter und übersichtlicher zu
        gestalten war bereits Anliegen der letzten – unionsgeführ-
        ten – Bundesregierung. Wir wollten dabei sowohl den Si-
        cherheitserfordernissen als auch den berechtigten Anlie-
        gen der Sportschützen, der Jäger, der Waffensammler und
        der Brauchtumsschützen Rechnung tragen. Schließlich
        gibt es in Deutschland rund 4 Millionen legale Waffenbe-
        sitzer. Vor allem aber wollten wir sinnlosen Verwaltungs-
        aufwand – und damit unnötigen finanziellen Aufwand für
        den Steuerzahler – vermeiden.
        Mit dem nun von der Bundesregierung vorgelegten
        Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffen-
        rechts sollen vorgeblich Transparenz, Verständlichkeit
        und Übersicht der komplizierten Rechtsmaterie erhöht so-
        wie eine stärkere Einschränkung des missbräuchlichen
        Umgangs mit Waffen erreicht werden. Diese Ziele wur-
        den jedoch verfehlt. Der Versuch, durch die Neuregelung
        mehr Transparenz und Übersichtlichkeit zu schaffen, ist
        auf ganzer Linie gescheitert. Der vom Ansatz vernünftige
        Versuch einer Neuregelung wird durch eine Vielzahl un-
        verständlicher Beschränkungen auch unter rechtsstaatli-
        chen Gesichtspunkten inakzeptabel. Es geht nicht um die
        Vereinfachung einer komplizierten Rechtsmaterie und um
        eine bessere Handhabung vernünftiger Regeln durch Be-
        troffene und Behörden. Vielmehr geht es um die Gänge-
        lung der Jäger und das Abwürgen des Schießsportes mit
        Schusswaffen bis hin zum Biathlon.
        Verschärfungen der waffenrechtlichen Regelungen
        sind dann sinnvoll, wenn dies aus Gründen der inneren Si-
        cherheit erforderlich ist. Dies betrifft insbesondere Rege-
        lungen, die verhindern sollen, dass so genannte Schein-
        schützen einem Verein beitreten oder Vereine gründen,
        allein um sich Waffen zu beschaffen. Der Entwurf enthält
        jedoch eine Vielzahl neuer Regelungen, die den legalen
        Waffenbesitzer erheblich beschränken, aber für die innere
        Sicherheit, also den Schutz vor den illegalen Waffenbesit-
        zern, den Kriminellen, letztlich nichts bewirken. Es wird
        eine Regelungs- und Kontrolldichte aufgebaut, die im
        Hinblick auf die Forderungen nach einem schlanken Staat
        und Entbürokratisierung nicht mehr nachvollziehbar ist.
        Nicht nur für den legalen Waffenbesitzer und die Ver-
        bände, sondern auch für die Verwaltung führt die Neure-
        gelung zu einer unnötigen Verstärkung des bürokratischen
        Aufwands, der durch Gründe der inneren Sicherheit nicht
        gerechtfertigt ist. Der Vollzugsaufwand wird einerseits für
        die Behörden zu ganz erheblichen zusätzlichen Belastun-
        gen führen. Die logische Folge daraus sind erhebliche zu-
        sätzliche Kosten für die Steuerzahler. Andererseits wird
        ein Teil des Aufwands auf die betroffenen Sportverbände
        abgewälzt, die im Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit
        erhebliche Belastungen zu erwarten haben, und dies im
        internationalen Jahr des Ehrenamtes!
        So traurig es ist: Restriktionen, wie sie hier vorgesehen
        sind, können Tragödien nicht verhindern. Amokläufer
        kann man durch Regelungswahn nicht stoppen. Die Si-
        cherheitsprobleme in unserem Land liegen andernorts,
        nicht bei den legalen Waffenbesitzern, nicht bei den Jä-
        gern, Sport- und Brauchtumsschützen. Es entsteht der
        Eindruck, ein nicht vorhandenes Sicherheitsproblem wird
        vorgeschoben, um ein entschlossenes Vorgehen zur vor-
        geblichen Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu de-
        monstrieren. Ich frage mich vor diesem Hintergrund: Vor
        wem sollen die Bürgerinnen und Bürger geschützt wer-
        den? Vor den rund 4 Millionen legalen Waffenbesitzern in
        Deutschland? Wir könnten uns über alle Maßen glücklich
        schätzen, wenn der Bevölkerung sonst keine Gefahren
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        drohten! Der Gesetzentwurf geht ganz klar an potenziel-
        len Tätergruppen vorbei und trifft stattdessen Jäger, Sport-
        und Brauchtumsschützen.
        Ich möchte nun auf einige der aus unserer Sicht gra-
        vierendsten Mängel des Gesetzentwurfs eingehen: Die im
        Hinblick auf die Zuverlässigkeit geplanten Neuerungen
        schießen über das Ziel hinaus. Es ist richtig, dass Perso-
        nen, die bereits schwere Straftaten begangen haben, ge-
        nerell und unwiderleglich als unzuverlässig gelten. Rich-
        tig ist auch, dass bei Mitgliedschaft in einem verbotenen
        Verein oder in einer vom Bundesverfassungsgericht ver-
        botenen Partei oder bei nachgewiesenen verfassungs-
        feindlichen Bestrebungen und bei massiv zutage getrete-
        ner Gewalttätigkeit der Waffenbesitz nicht erlaubt wird.
        Die Verkürzung der Frist für die Vornahme von Regel-
        überprüfungen der Zuverlässigkeit von fünf auf drei Jahre
        ist aber völlig sinnlos und führt statt zu mehr Sicherheit
        nur zu mehr Verwaltungsaufwand. Dies gilt umso mehr
        vor dem Hintergrund, dass legale Waffenbesitzer zu
        99,9 Prozent unbescholtene und rechtstreue Bürger sind.
        Nur ein minimaler Bruchteil aller Straftaten, nämlich
        0,04 Prozent, werden mit zugelassenen Waffen begangen.
        Für denjenigen, der ein Verbrechen plant, ist es jedoch ein
        Leichtes, sich jede Art von Schusswaffen illegal zu be-
        sorgen. Dagegen sollte der Rechtsstaat mit aller Entschie-
        denheit vorgehen.
        Durch die Umformulierung des Bedürfnisprinzips vom
        Zugangs- zur Umgangserfordernis wird der legale Waf-
        fenbesitzer durch Restriktionen gegängelt und diese Maß-
        nahme wird unter dem Markenzeichen der Bekämpfung
        des illegalen Waffenbesitzes und der Verbesserung der öf-
        fentlichen Sicherheit verkauft. Hier wird der legale Waf-
        fenbesitzer zum Sündenbock einer verfehlten Kriminal-
        politik.
        Die Abschaffung der seit 25 Jahren bewährten Rege-
        lung der gelben Waffenbesitzkarte lehnen wir ab. Dies
        würde dazu führen, dass eine Einzelprüfung für jede Ein-
        zelladerlangwaffe nötig wird. Gerade in diesem Bereich
        ist aber aufgrund der Art der Waffen eine missbräuchliche
        Verwendung nahezu ausgeschlossen.
        Auch die Regelungen zum temporären Waffenbesitz
        halten dem Praxistest nicht stand. Selbst kurze Unterbre-
        chungen des Schießsportes oder der Jagdausübung, zum
        Beispiel bei beruflich bedingten Auslandsaufenthalten
        oder wenn aus Altersgründen der Schießsport bzw. die
        Jagd nicht mehr regelmäßig ausgeübt wird, sollen zum
        Wegfall des Bedürfnisses und damit zum Widerruf der
        Waffenbesitzkarte führen. Diese Regelung ist mit Blick
        auf Globalisierung, Mobilität und Flexibilität der Arbeits-
        prozesse kontraproduktiv.
        Abzulehnen ist auch die Verpflichtung der Vereine, der
        zuständigen Behörde die Sportschützen zu benennen, die
        aus dem aktiven Schießsport ausscheiden. Die Melde-
        pflicht bezüglich inaktiver Sportschützen stellt angesichts
        der Regelung im Bereich der Jäger, bei denen zu Recht für
        den weiteren Besitz von Schusswaffen nur das Innehaben
        eines gültigen Jagdscheins und nicht die tatsächliche
        Ausübung der Jagd vorausgesetzt wird, und der in § 4
        Abs. 4 WaffG vorgesehenen wiederholten Bedürfnisprü-
        fung innerhalb der ersten sechs Jahre eine sachlich nicht
        gerechtfertigte Verschärfung dar. Diese Bestimmung
        würde Unfrieden in die Vereine tragen, die Abgabe un-
        richtiger Bescheinigungen provozieren und insgesamt
        dem Vereinsleben schweren Schaden zufügen. Zudem
        würden die Behörden durch die eingehenden Meldungen
        und den dadurch ausgelösten Prüfungsbedarf im Hinblick
        auf einen Widerruf waffenrechtlicher Erlaubnisse erneut
        erheblich belastet.
        Der Versuch, Wettbewerbsgleichheit mit anderen euro-
        päischen Sportschützen durch moderate Anpassung der
        Altersgrenze herzustellen, droht zu scheitern. Wie sollen
        sich junge Menschen messen, wenn die einen mit 16 Jah-
        ren bereits Meister sind, während andere – unter Aufsicht
        besonderer Jugendtrainer – gerade erst richtig beginnen
        dürfen?
        Die die Munitionssammler betreffenden Regelungen
        des Gesetzentwurfs führen dazu, dass das Sammeln von
        Munition in Zukunft nicht mehr möglich sein wird.
        All diese Beispiel zeigen die Praxisferne, die sich
        durch den ganzen Entwurf zieht. Ich betone es noch ein-
        mal: Unsere Kritik richtet sich nicht gegen das Vorhaben,
        das Waffengesetz zu novellieren. Der hier vorgelegte Ent-
        wurf geht jedoch an der Wirklichkeit völlig vorbei und
        kann daher in dieser Form unsere Zustimmung keinesfalls
        finden.
        Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
        späte Stunde dieser Aussprache wird der Bedeutung des
        Themas ganz gewiss nicht hinreichend gerecht. Die Re-
        form des Waffenrechts ist eine der wichtigen und großen
        Projekte dieser Regierung. Nachdem einige Anläufe in
        der Vergangenheit gescheitert sind, beginnt nun gewisser-
        maßen der parlamentarische Endlauf. Das zeigt, wie
        handlungsfähig und entschlossen die rot-grüne Koalition
        in Sicherheitsfragen ist.
        Ich will an dieser Stelle ausdrücklich für die gute und
        freundschaftliche Zusammenarbeit mit den zuständigen
        Staatssekretären des Bundesinnenministers danken. Herr
        Körper und Herr Schapper haben hier einen sehr guten
        Job gemacht. Beide haben in den letzten Wochen ein we-
        nig unter unserer Hartnäckigkeit bei den Antiterrorgeset-
        zen gelitten – umso mehr haben sie sich hier ein besonde-
        res Lob verdient. Das gilt auch für die Arbeitsebene im
        Haus. Mit Empörung weise ich hier die persönlichen An-
        griffe aus der Waffenlobby gegen einzelne Mitarbeiter
        zurück.
        Die Koalition ist sich völlig einig, dass es uns nicht da-
        rum gehen kann, die Bürgerinnen und Bürger, die beruf-
        lich oder in ihrer Freizeit mit Waffen umgehen, zu gängeln
        und zu bevormunden. Der übergroße Teil der Waffenbe-
        sitzer geht gesetzestreu und gewissenhaft mit den Geräten
        um. Wir wollen auch nicht in die traditionelle Brauch-
        tumspflege eingreifen. Der Gesetzentwurf gibt keinen
        Anlass zu dieser Sorge. Sollte sich im weiteren Verlauf
        der Diskussion hier die eine oder andere Unklarheit zei-
        gen, lassen wir immer mit uns reden.
        Die Notwendigkeit einer grundlegenden Gesetzesän-
        derung ist aber nach Überzeugung aller politisch Verant-
        wortlichen unabweisbar. Gemeinsam mit den Innenminis-
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        tern des Bundes und der Länder fordern wir Grünen schon
        seit vielen Jahren eine Änderung der waffenrechtlichen
        Bestimmungen. Ziel ist es, die öffentliche Sicherheit der
        Bürger zu verbessern. Hier gibt es in der Praxis deutliche
        Mängel.
        Tragische Ereignisse wie die Schüsse in Bad Reichen-
        hall, wo ein Jugendlicher mit der Waffe seines Vaters auf
        Passanten schoss und neben anderen auch den Schauspie-
        ler Günter Lamprecht traf, alarmieren uns alle. Weitere
        Zwischenfälle dieser Art, so erst vor wenigen Tagen in
        Berlin, können nicht hingenommen werden. Wir müssen
        erkennen, dass gerade aus dem familiären Umfeld der Be-
        sitzer immer wieder labile Menschen sich der Waffen im
        Haus bedienen. Mit der Zuverlässigkeit des Besitzers al-
        lein ist es daher nicht getan. Auch die Aufbewahrung der
        Waffen und der Munition muss sicherer werden. Das Ge-
        wehr gehört nicht auf das Sofa, sondern in ein abgesi-
        chertes Behältnis.
        Kritiker unseres Vorhabens, die uns in diesen Tagen
        recht emsig Briefe schreiben, bringen immer wieder vor,
        die meisten Straftaten würden ohnehin mit illegalen Waf-
        fen begangen. Diese Aussage ist – vordergründig betrach-
        tet – richtig. In der Tat sind viel zu viele illegale Waffen
        im Umlauf. Zu behaupten, eine Verschärfung der rechtli-
        chen Bestimmungen bringe aber keinen erkennbaren
        Nutzen, ist auch nicht richtig. Jährlich verschwinden al-
        lein circa 6 000 „legale“ Waffen in die Illegalität. Gerade
        diese hohe Zahl spricht für präzisere und auch schärfere
        Regelungen, deren Einhaltung besser kontrolliert werden
        muss.
        Das statistische Material in Deutschland ist leider un-
        vollständig. Fachleute gehen aber davon aus, dass circa
        die Hälfte der so genannten Beziehungstaten bei Mord
        und Totschlag mit legalen Waffen begangen wurden. Bei
        aller Ungenauigkeit der Zahl kann darüber auch nicht
        hinweggegangen werden. Auch dies widerlegt all jene,
        die sich einer Reform unter Hinweis auf die nicht regi-
        strierten Waffen widersetzen.
        Unumgänglich sind auch höhere Anforderungen an die
        persönliche Zuverlässigkeit des Waffenbesitzers. Glei-
        ches gilt für die Einführung des „kleinen Waffenscheins“
        für Gas- und Schreckschusswaffen. Spring- und Fallmes-
        ser werden künftig ebenso verboten sein wie die tücki-
        schen Wurfsterne.
        Sehr zufrieden bin ich auch, dass wir die Deckungs-
        summe für die Pflichthaftpflichtversicherung nach dem
        bisherigen § 36 Abs. 1 von kläglichen 500 000 DM bei
        Personenschäden und 50 000 DM für Sachschäden auf je
        eine Million Euro erhöhen. Diese Verbesserung für die
        Opfer trägt der Schwere der Zwischenfälle in den vergan-
        genen Jahren Rechnung.
        Ich hoffe, dass wir im Ausschuss eine gute und frucht-
        bare Diskussion bekommen und wir gemeinsam mit dem
        Bundesrat alsbald dieses Reformvorhaben auf den Weg
        bringen können.
        Dr. Max Stadler (FDP): Das geltende Waffenrecht
        stellt insgesamt einen ausreichenden Ausgleich zwischen
        der staatlichen Verpflichtung, für innere Sicherheit zu sor-
        gen, und den berechtigten Interessen der Waffenbesitzer
        dar. Deshalb hat die FDP in der letzten Legislaturperiode
        Bestrebungen der CDU/CSU und insbesondere der Bun-
        desländer, das Waffenrecht im Sinne einer weiteren Büro-
        kratisierung zu verändern, verhindert.
        Allerdings ist zuzugeben, dass eine Modernisierung
        des Gesetzes in Richtung Vereinfachung durchaus wün-
        schenswert wäre. Dabei müssten die Interessen der Jagd-
        und Sportausübung einerseits und der inneren Sicherheit
        andererseits in einer vernünftigen Abwägung berücksich-
        tigt werden. Die von der Bundesregierung vorgeschla-
        genen Änderungen des Waffenrechts sind dagegen nur
        zum Teil sinnvoll. Sie führen insgesamt zu mehr Büro-
        kratie und zu Einschränkungen für die legalen Waffenbe-
        sitzer, ohne dass die Sicherheit der Bürger dadurch ent-
        scheidend verbessert werden würde.
        So ist etwa der so genannte kleine Waffenschein für
        Gaspistolen abzulehnen. Es wäre damit ein hoher Verwal-
        tungsaufwand verbunden. Es besteht im Übrigen ein Be-
        dürfnis insbesondere für Frauen, sich in Notwehrsitua-
        tionen mit Gaspistolen schützen zu können.
        Millionenfach die Vorlage eines polizeilichen Füh-
        rungszeugnisses zu verlangen geht zu weit. Stattdessen
        könnte jeder, der eine solche Waffe in der Öffentlichkeit
        führt, dazu verpflichtet werden, den Personalausweis mit
        sich zu führen und sich damit gegenüber der Polizei aus-
        zuweisen. Diese einfache Maßnahme wäre sehr wohl wir-
        kungsvoll gegen Missbrauch. Im Übrigen könnte der
        Altbestand von etwa 10 Millionen Gaspistolen kaum re-
        gistriert werden. Der riesige Verwaltungsaufwand ist
        nicht gerechtfertigt.
        Das Waffenrecht muss auch den berechtigten Anliegen
        der Sportschützen, Jäger und Waffensammler in ange-
        messener Weise Rechnung tragen. Nicht die in privatem
        Besitz befindlichen, legal zugelassenen Waffen, sondern
        die vielen illegal beschafften Waffen stellen das eigent-
        liche Problem der inneren Sicherheit dar. Die Bundes-
        regierung setzt dagegen auf die Gängelung der Jäger und
        auf das Abwürgen des Schießsports bis hin zum Biathlon.
        Der Vollzug dieses Gesetzes würde etwa 100 000 Arbeits-
        plätze in hochspezialisierten Berufen in konkrete Gefahr
        bringen.
        Die Verbände der Sportschützen, der Deutsche Jagd-
        schutzverband und das Forum Waffenrecht waren im Vor-
        feld des Gesetzgebungsverfahrens bereit, erhebliche Be-
        lastungen auf sich zu nehmen, um zu einer vernünftigen
        Reform zu kommen.
        Die Bundesregierung wäre gut beraten, auf diese Be-
        reitschaft einzugehen und ihren überbürokratischen Ge-
        setzentwurf entsprechend anzupassen. Die FDP wird ver-
        suchen, in diese Richtung in den Ausschussberatungen
        Einfluss zu nehmen.
        Ulla Jelpke (PDS): Der private Erwerb von legalen
        Waffen ist durch das bestehende Waffenrecht vielfältig re-
        glementiert. Das ist auch gut so. Wir wollen keine US-
        amerikanischen Verhältnisse. Weil aber diese Reglemen-
        tierung in vielen Gebieten schon da ist, sehen wir auch
        keinen Bedarf für die hier vorgeschlagene allgemeine
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        Verschärfung des Waffenrechts. Um es klar und deutlich
        zu sagen: Das Verbot von Wurfsternen und besonders ge-
        fährlichen Hieb- und Stoßwaffen tragen wir mit, ebenso
        die Einführung eines kleinen Waffenscheins für Gas- und
        Schreckschusswaffen. Für eine allgemeine Verschärfung
        der Restriktionen gegen den privaten Besitz von legalen
        Waffen, die auch Sportschützen, Jäger und vergleichbare
        private Waffenbesitzer trifft und in wichtige Grundrechte
        eingreift, sehen wir aber keinen Grund. Das lehnen wir ab.
        Für eine derartige Verschärfung gibt es auch keine mate-
        rielle Grundlage.
        Die Zeitung „Forum Waffenrecht“ hat vor kurzem eine
        Untersuchung der polizeilichen Kriminalstatistik veröf-
        fentlicht. In dieser Untersuchung nennt sie folgende Zah-
        len für das Jahr 2000: An Straftaten insgesamt wurden von
        der Polizei 6,3 Millionen erfasst. Davon waren Gewalt-
        taten: 186 655. Von diesen Gewalttaten erfolgten mit
        Schusswaffenverwendung 19 292. Nur in 79 Fällen wur-
        den von der Polizei am Ende legale Waffen sichergestellt,
        die bei solchen Straftaten zum Einsatz kamen.
        Mit anderen Worten: Nur bei 0,31 Prozent aller im Jahr
        2000 begangenen Straftaten wurden überhaupt Schuss-
        waffen eingesetzt. Und nur in 0,013 Prozent aller Strafta-
        ten wurden legale Waffen verwendet. Das macht deutlich,
        wie unverhältnismäßig und sachlich unbegründet eine all-
        gemeine Verschärfung des Waffenrechts ist. Es gibt keine
        reale Notwendigkeit, gegen den legalen Waffenbesitz so
        breitflächig wie von den Regierungsparteien geplant, mit
        schärferen Gesetzen vorzugehen.
        Der hier vorliegende Gesetzentwurf der Regierung
        sieht im Paragraph 36 sogar eine Einschränkung der Un-
        verletzlichkeit der Wohnung vor. Bei begründeten Zwei-
        feln an der sicheren Aufbewahrung der Waffen und Mu-
        nition soll die Waffenbehörde auch gegen den Willen des
        Betroffenen die Wohnung betreten können. Das gilt nach
        Paragraph 39 auch für Auskunftspflichtige, die Waffen-
        herstellung, Waffenhandel, eine Schießstätte oder ein Be-
        wachungsunternehmen betreiben. Die zuständigen
        Behörden können auch hier zur Abwehr dringender Ge-
        fahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung die Ar-
        beitsstätten außerhalb der Betriebs- und Arbeitszeiten be-
        treten sowie die Wohnräume der Auskunftspflichtigen
        gegen deren Willen betreten. Hier ist noch nicht einmal
        eine richterliche Anordnung erforderlich. Auch die Rück-
        nahme der Waffenbesitzkarte soll nach Paragraph 44 sehr
        restriktiv gehandhabt werden. Schon eine kurze Unter-
        brechung des Schießsports oder der Jagdausübung soll
        zum Wegfall der Waffenbesitzkarte führen. Ein Grund
        dafür ist nicht ersichtlich. Für vertretbar halten wir dage-
        gen die schärferen Restriktionen für Reizstoff-, Schreck-
        schuss- und Signalwaffen.
        Die so genannten Gas- und Schreckschusswaffen kom-
        men inzwischen in hohem Maße bei Straftaten im Bereich
        der Bereich der Schwerkriminalität wie räuberischer Er-
        pressung, Geiselnahme und Ähnlichem Einsatz. Etwa die
        Hälfte aller im Zusammenhang mit Straftaten sicherge-
        stellten Waffen sind solche Waffen. Diese Waffen sollen
        nunmehr einer Meldepflicht unterliegen. Altbesitzer sol-
        len ihren Besitz anmelden müssen. Die zuständige Waf-
        fenbehörde bekommt so die Möglichkeit, die Zuverläs-
        sigkeit der Besitzer solcher Waffen zu überprüfen. Wer
        solche Waffen in der Öffentlichkeit mit sich führen will,
        muss vorher eine behördliche Erlaubnis, den „kleinen
        Waffenschein“, beantragen und erhalten. Auch das Verbot
        von Wurfsternen und gefährlichen Messern wie den so ge-
        nannten Butterflymessern ist richtig und erforderlich.
        Allerdings wird über die genauen Modalitäten, zum
        Beispiel beim kleinen Waffenschein, noch zu sprechen
        sein. Die Gewerkschaft der Polizei hat im Mai darauf hin-
        gewiesen, dass von dem kleinen Waffenschein mögli-
        cherweise 15 Millionen Gas- und AIarmwaffen erfasst
        werden. Allein die Ausstellung der dafür erforderlichen
        polizeilichen Führungsscheine würde einen erheblichen
        Arbeitsaufwand machen.
        Grundsätzlich kann das Problem der bewaffneten Kri-
        minalität nicht allein mit repressiven Mitteln bekämpft
        werden. Das gilt insbesondere im Bereich der Jugendkri-
        minalität. Eines der großen Probleme ist hier sicherlich
        die allgemeine Gewalt in den Medien und in der Gesell-
        schaft. Wer auf internationale Probleme und Konflikte zu-
        nehmend mit Militarismus, Krieg und Bomben setzt, wer
        auch bei innenpolitischen gesellschaftlichen Konflikten
        eine Hau-drauf-Politik praktiziert und propagiert, statt die
        Ursachen von Konflikten zu beseitigen und zu korrigie-
        ren, der muss sich nicht wundern, wenn Jugendliche sich
        diese Propaganda und Politik auch im persönlichen Be-
        reich zu Eigen machen. Eine friedliche Außenpolitik und
        eine verantwortungsvolle Medien-, Jugend und Sozialpo-
        litik sind langfristig bestimmt wirksamer bei der Zurück-
        drängung von Gewalt in der Gesellschaft als ein Ansatz,
        der einfach nur auf schärfere Gesetze und mehr Repres-
        sion setzt.
        Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister des Innern: Man glaubt es kaum, aber vor
        knapp zehn Jahren ist mit den Arbeiten an einer grundle-
        genden Novellierung des Waffenrechts begonnen worden.
        Bereits in den beiden Legislaturperioden zuvor waren Ge-
        setzentwürfe der alten Bundesregierung zur Teilnovellie-
        rung des Waffengesetzes im Deutschen Bundestag nicht
        verabschiedet worden. Heute liegt nach diesem langen
        Vorlauf dem Bundestag der Regierungsentwurf eines Ge-
        setzes zur Neuregelung des Waffenrechts vor.
        Mit dem Gesetzentwurf soll das Anliegen präzisiert
        werden, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit den pri-
        vaten Schusswaffenbesitz möglichst gut zu regulieren und
        insgesamt sicherzustellen, dass Waffen nicht in falsche
        Hände geraten, um so die Bevölkerung wirksam zu schüt-
        zen.
        Kernpunkte des Entwurfs sind daher bessere Auf-
        bewahrungsregelungen für Waffen und Munition, höhere
        Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Waffenträger,
        insbesondere Ausschluss des Waffenerwerbs durch Extre-
        misten, ein sogenannter kleiner Waffenschein für das
        Führen von Gas- und Schreckschusswaffen in der Öffent-
        lichkeit sowie restriktive Regelungen für Spring- und
        Fallmesser, Butterflymesser und Wurfsterne.
        Eine grundlegende Neuregelung des Waffenrechts ist
        dringend geboten.Denn die bestehendeRegelung desWaf-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120692
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        fenrechts, die aus den 70er-Jahren stammt, ist im Lauf der
        Zeit immer unübersichtlicher geworden. Durch viele klei-
        nere und größere Korrekturen imWaffengesetz selbst und
        in dem halben Dutzend Verordnungen hierzu sind die kla-
        ren Linien immer undeutlicher geworden. Folge hiervon
        sind Unsicherheiten, teilweise auch Defizite imVollzug.
        Dazu kommt, dass Anlass besteht, im Interesse der
        öffentlichen Sicherheit und Ordnung zwischenzeitlich
        eingetretenen negativen Entwicklungen etwa in der
        kriminellen Verwendung von bestimmten Hieb- und
        Stoßwaffen oder Gas- und Schreckschusswaffen entge-
        genzutreten.
        Der Umfang des Gesetzes spiegelt die Komplexität der
        zu regelnden Materie wider. Hier spielen Aspekte der öf-
        fentlichen Sicherheit, aber auch der Verwendersicherheit
        eine gewichtige Rolle. Das machte es erforderlich, die
        Regelung insgesamt neu zu konzipieren und zu struktu-
        rieren; aus diesem Grund soll das Waffenrecht künftig in
        ein Waffengesetz mit der Zielsetzung der öffentlichen Si-
        cherheit und ein Beschussgesetz mit der Zielsetzung der
        Verwendersicherheit aufgegliedert werden.
        Es nimmt nicht wunder, dass bei einem so umfassen-
        den Regierungsentwurf die Länder im Wege der Stellung-
        nahme des Bundesrates eine Fülle von Anregungen und
        Anmerkungen gemacht haben. Dank der intensiven
        Abstimmung im gesamten Prozess des Gesetzgebungs-
        verfahrens kann ich feststellen, dass es sich bei der über-
        wiegenden Zahl der Änderungs- oder Prüfwünsche um in
        erster Linie regelungstechnische Vorschläge handelt, de-
        nen aus Sicht der Bundesregierung in einer nicht uner-
        heblichen Anzahl gefolgt werden kann.
        Natürlich kann es bei der erwähnten Komplexität der
        Materie und der Vielfältigkeit der in Betracht zu ziehen-
        den Interessen- und Güterabwägungen nicht ausbleiben,
        dass es einzelne Eckpunkte gibt, bei denen nicht jeder voll
        zufrieden gestellt ist. In diesen Punkten geht von der
        Mehrheit der Länder in der Stellungnahme des Bundesra-
        tes das Signal aus, den Regierungsentwurf im Interesse
        der öffentlichen Sicherheit zu verschärfen. Die Vertreter
        der Verbände hingegen wünschen sich mehr Großzügig-
        keit für den Erwerb und Besitz von Waffen. Aber es han-
        delt sich bei den kontroversen Punkten um eine über-
        schaubare Menge. So bin ich guten Mutes, dass es
        gelingen wird, die von uns von Anfang an gesuchte Fahr-
        spur tragfähiger und ausgewogener Kompromisse, in de-
        nen auch die berechtigten Anliegen der Jäger, Sportschüt-
        zen und anderer Interessengruppen angemessen zur
        Geltung kommen, zu halten.
        Diese Zuversicht kommt nicht von ungefähr: Wir ste-
        hen in ständigem Kontakt mit den Vertretern der Fraktio-
        nen, der Länder und der Verbände, und wir versuchen,
        zwischen den Positionen zu vermitteln, um sachgerechte
        Lösungen zu entwickeln. Dabei hat der lange Vorlauf die-
        ser Waffenrechtsnovelle durchaus auch seine positiven
        Nebeneffekte: Viele Probleme werden seit Jahren hin
        und hergewälzt, sind von allen Seiten beleuchtet und
        ausdiskutiert worden. Oftmals finden sich bereits in
        früheren Legislaturperioden entwickelte Lösungsansätze,
        die jetzt fruchtbar gemacht werden können.
        Deshalb appelliere ich an alle: Seien wir uns dessen
        bewusst, dass es im Interesse der öffentlichen Sicherheit
        und des Gemeinwohls notwendig ist, das Waffenrecht neu
        zu ordnen! Lassen wir uns nicht darauf ein, wenn – von
        wem auch immer – auf Weiterwursteln plädiert wird; das
        Rad ist auch nicht dadurch erfunden worden, dass sich die
        Diskussion darum immer im Kreise drehte! Nutzen wir
        die Chance, dieses Projekt, in das schon von jeder Seite
        jede Menge Mühe, Geduld und Aufwand hineingesteckt
        wurde und das sonst droht, allmählich überreif zu werden,
        endlich abzuschließen!
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Ausbau der Donau
        zwischen Straubing und Vilshofen ökologisch ge-
        stalten (Tagesordnungspunkt 18)
        Annette Faße (SPD): Zur Bewältigung des prognos-
        tizierten Güterverkehrsaufkommens müssen die Poten-
        ziale jedes einzelnen Verkehrsträgers voll ausgeschöpft
        werden. Straße, Schiene und Wasserstraße müssen effizi-
        ent miteinander vernetzt werden. Die Güterverkehre
        der Zukunft lassen sich nur mit Unterstützung der Binnen-
        schifffahrt bewältigen. Das Binnenschiff ist ein unverzicht-
        barer Verkehrsträger; nicht nur weil er umweltfreundlich ist,
        sondern auch weil er kostengünstig, energiesparend und si-
        cher ist.
        Ein zentrales Anliegen rot-grüner Verkehrspolitik ist
        eine Verlagerung der Gütertransporte auf die umwelt-
        freundlichen Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße.
        Zwar erbringt die Binnenschifffahrt heute rund 90 Prozent
        der Transportleistung der Eisenbahnen, dennoch hat sie
        systembedingte Nachteile gegenüber den konkurrieren-
        den Verkehrsträgern. Zudem hemmen Defizite im Aus-
        bauzustand des deutschen Wasserstraßennetzes die ein-
        geschränkte Verfügbarkeit der Wasserstraßen sowie
        zusätzliche Kosten für Umschlag und Vor- bzw. Nachlauf
        bei gebrochenen Verkehren eine stärkere Verlagerung auf
        die Wasserstraße. Insbesondere weist das 7 300 Kilome-
        ter lange Netz der deutschen Binnenwasserstraßen regio-
        nal sehr große Unterschiede hinsichtlich der Befahrbar-
        keit auf. Wasserstraßen mit einem hohen Standard weisen
        eine hohe Auslastung mit deutlichen Verkehrszuwächsen
        auf. Dies trifft in erster Linie auf den Rhein zu, dessen An-
        teil 80 Prozent an der Gesamtverkehrsleistung der Bin-
        nenschifffahrt beträgt.
        Einer der wesentlichen Engpässe ist die Donauteil-
        strecke zwischen Straubing und Vilshofen. Hier hat die
        Binnenschifffahrt durch den derzeitigen Ausbauzustand
        echte Nachteile gegenüber den anderen Verkehrsträgern
        Straße und Schiene. Vor dem Hintergrund der wirtschaft-
        lichen Entwicklung der osteuropäischen Staaten und der
        damit verbundenen Zunahme der Verkehrsströme bleibt
        festzuhalten, dass das Transportaufkommen nicht allein
        von der Straße und der Schiene bewältigt werden kann.
        Um eine nennenswerte Verlagerung von der Straße auf
        die Wasserstraße zu erreichen, hält die Binnenschifffahrt
        zuverlässige ganzjährige Mindestabladetiefen für not-
        wendig. Zurzeit kann die Binnenschifffahrt bei einer ge-
        mittelten Abladetiefe nur ein Drittel weniger als bei einer
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20693
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        ganzjährigen Mindestabladetiefe von 2,50 Meter trans-
        portieren. Diese Situation macht es für sie unmöglich, fest
        kalkulierbare Tarife anzubieten. Dadurch meiden viele
        Verlader die Wasserstraße Donau. Effektive Verlage-
        rungseffekte sind damit nicht zu erwarten.
        Aufgrund der Richtungsentscheidung von 1996 über
        den weiteren Donausausbau sind die möglichen fünf Aus-
        bauvarianten hinsichtlich der ökologischen Auswirkun-
        gen und der zu erwartenden Kosten eingehend untersucht
        worden. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind abge-
        schlossen und im Schlussbericht der vertieften Untersu-
        chungen zum Donauausbau ausgewertet worden. Auf der
        Grundlage des Ergebnisses werden wir eine Entscheidung
        zu treffen haben, die den ökologischen Faktor verantwor-
        tungsvoll einbezieht und die dem verkehrpolitischen Ziel
        von Rot-Grün, der verstärkten Verlagerung auf die Was-
        serstraße, genügen kann. Wir müssen uns dabei vor Au-
        gen führen, dass eine verstärkte Verlagerung auf die Was-
        serstraße auch dem Schutz der Umwelt dient.
        Zur Unterstützung der Entscheidungsfindung wird der
        Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen am
        20. Februar 2002 eine Expertenanhörung durchführen.
        Dort müssen alle noch offenen Fragen hinsichtlich der
        Vertragslage und damit verbundener möglicher Rechtsan-
        sprüche des Freistaates Bayern an den Bund geklärt wer-
        den. Für mich stellt sich insbesondere auch die Frage, in
        welcher Weise die einzelnen Varianten die Wirtschaftlich-
        keit der Binnenschifffahrt in einem vernünftigen Kosten-
        Nutzen-Verhältnis erhöhen können. Demgegenüber ste-
        hen die zu berücksichtigenden ökologischen Aspekte. Das
        ist ein schwieriger Grad, auf dem wir uns bewegen. Den-
        noch werden wir den Anforderungen an eine verantwor-
        tungsbewusste Entscheidung gerecht werden.
        Die rot-grüne Bundesregierung hat im Rahmen ihrer
        Verkehrspolitik deutlich gemacht, dass sie für einen ziel-
        gerichteten Ausbau der Wasserstraßeninfrastruktur steht,
        der in umwelt- und naturverträglicher Weise erfolgt.
        Dafür haben witr die entsprechenden Haushaltsmittel be-
        reitgestellt.
        Im Rahmen der Fortschreibung des Bundesverkehrs-
        wegeplans werden derzeit acht Wasserstraßenprojekte un-
        tersucht und bewertet. Bis zur Vorlage des neuen Bundes-
        verkehrswegeplans sichert das Investitionsprogramm
        1999 bis 2002 (IP) die notwendigen Investitionen in die
        wesentlichen Wassertraßenprojekte und die Instandhal-
        tung. Daneben leistet das Anti-Stau-Programm 2003 bis
        2007 (ASP) einen wichtigen Beitrag zur gezielten Er-
        höhung der Leistungsfähigkeit der Infrastruktur. Für die
        Wasserstraßen sind im ASP insgesamt 460 Millionen
        Euro zur Engpassbeseitigung im Wasserstraßennetz vor-
        gesehen. Uns ist klar, das wir die optimierte Teilhabe der
        Binnenschifffahrt im integrierten Verkehrskonzept nicht
        allein mit Ausbaumaßnahmen erreichen können. In einem
        leistungsfähigen Wasserstraßennetz kommt der effizien-
        ten Gestaltung der Schnittstellen zwischen dem Binnen-
        schiff, der Bahn und dem LKW eine wichtige Rolle zu.
        Hierzu trägt das Terminalkonzept der Bundesregierung
        entscheidend bei.
        Der kombinierte Verkehr ist der Wachstumsmarkt im
        Güterverkehr, nicht nur auf der Schiene, sondern immer
        mehr auch auf der Wasserstraße. Gerade hier ist mit einem
        überproportionalen Wachstum zu rechnen. Für das Jahr
        2005 wird ein Aufkommen von kombiniertem Verkehr auf
        der Wasserstraße von 14,6 Millionen Tonnen prognosti-
        ziert. Angesichts der Erfolge in der Vergangenheit und der
        optimistischen Prognosen war und ist uns die stetige Er-
        höhung der KV-Fördermittel ein besonderes Anliegen.
        Wir unterstützen die Binnenschifffahrt zusätzlich im Be-
        reich der Ausbildung, der Schiffsbesetzung und des Mar-
        ketings. Darüber hinaus müssen sowohl die nationalen als
        auch die europäischen Wettbewerbsbedingungen weiter
        harmonisiert werden.
        Die anstehende Anhörung zeigt, dass das Problem
        Straubing-Vilshofen vom Parlament ernst genommen
        wird. Nach Abschluss des Raumordnungsverfahrens, das
        keine zusätzliche Zeitverzögerung beinhaltet, muss end-
        gültig entschieden werden. Dies sind wir allen Beteiligten
        schuldig. Ich bin sicher, dass die Binnenschifffahrt mit un-
        serem verkehrspolitischen Konzept gute Zukunftschan-
        cen haben wird.
        Brunhilde Irber (SPD): Lassen Sie mich zunächst
        ein offenes Bekenntnis zum letzten Stück frei fließender
        Donau ablegen, ein Bekenntnis zu „meiner“ Donau. Als
        betroffene Abgeordnete, deren Wahlkreis seit Jahr-
        tausenden durch den Lauf der Donau wesentlich geprägt
        wird, kann ich nicht nur für mich persönlich, sondern für
        die vielen aufs Engste mit diesem Fluss verbundenen
        Menschen in Niederbayern sprechen.
        Das freie Fließen der Donau empfinden viele Men-
        schen wie ihren eigenen Herzschlag, ihren eigenen Atem.
        Auch mir geht es so. Wer an und mit der Donau aufge-
        wachsen ist, wer von und mit ihr lebt, der weiß, dass die
        Donau in ihrer jetzigen Gestalt mehr ist als eine Wasser-
        straße, die zum Ausbau freigegeben wurde. Die Donau
        zwischen Straubing und Vilshofen ist und gibt Leben.
        Gleichsam als „Arche Noah“ bildet sie für viele vom Aus-
        sterben bedrohte Pflanzen und Tiere einen letzten Le-
        bensraum. Wegen der überragenden ökologischen Bedeu-
        tung sind große Teile als Schutzgebiete ausgewiesen,
        darunter das Isar-Mündungsgebiet als bundesweit reprä-
        sentatives Auen-Schutz-Gebiet. Durch die Meldung als
        Flora-Fauna-Habitat (FFH)-Gebiet genießt die Donau seit
        kurzem auch den besonderen Schutz der europäischen
        Naturschutzrichtlinien. Aber auch für die Menschen ist
        der Erhalt der Fließgewässer- und Auendynamik von er-
        heblicher Bedeutung – als Trinkwasserreserve, Hochwas-
        serretentionsraum und naturnahes Erholungsgebiet. Wir
        wissen alle – und als tourismuspolitische Sprecherin der
        SPD-Bundestagsfraktion lassen Sie mich das sagen –,
        dass naturnahe Erholung in intakten Landschaften einen
        immer größeren touristischen und wirtschaftlichen Stel-
        lenwert einnimmt.
        Dennoch ist uns klar, dass die Donau besser schiffbar
        gemacht werden muss. Was angesichts der laufenden Dis-
        kussion aber immer wieder in Vergessenheit geraten ist:
        Es wurden in den letzten Jahren bereits viele Verbesse-
        rungen durch rein flussbauliche Maßnahmen erreicht.
        Wenn wir trotzdem für weitere Optimierungen sind, dann
        deshalb, weil auch wir die Donau nicht nur als Naturidyll,
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120694
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        sondern gleichzeitig als moderne Schifffahrtsstraße se-
        hen, die im Rahmen des ökologisch Verträglichen und
        Verantwortbaren leistungsfähig gehalten und gestaltet
        werden muss. Dies nicht zuletzt im Sinne einer intelligent
        organisierten und umweltfreundlichen Verkehrspolitik.
        Die Donau, der „Amazonas Bayerns“, wie sie völlig zu
        Recht genannt wird, soll also ausgebaut werden. So weit
        herrscht Konsens. Seit Jahren scheiden sich aber die Geis-
        ter über das Wie: mit Staustufen oder ohne.
        Meine Position und die Position der bayerischen SPD
        ist klar: Es kann und darf nur ohne Staustufen gehen. Dass
        dies möglich und sinnvoll ist, beweisen die vom Bund und
        dem Freistaat Bayern in Auftrag gegebenen „Vertieften
        Untersuchungen“, deren Ergebnisse mittlerweile vorlie-
        gen. Natürlich versucht jetzt die eine oder andere Seite,
        die Ergebnisse für sich zurecht zu interpretieren. Was für
        uns aber zählen muss, sind nicht Interpretationsspiel-
        räume, sondern harte Fakten. Das Gutachten spricht hin-
        sichtlich der von uns favorisierten Variante A, also der
        Ausbauoption ohne Staustufen, eine eindeutige Sprache.
        Mit einem Kosten-Nutzen-Verhältnis von 8,3 schneidet
        Variante A mit Abstand am besten ab. Hinzu kommt die
        nachweislich beste ökologische Verträglichkeit.
        Lassen Sie mich zwei weitere Argumente ansprechen,
        die im Ringen um die beste Ausbauvariante neu sind be-
        ziehungsweise bisher zu wenig im Blickfeld standen: In
        der am 4./5. September dieses Jahres verabschiedeten
        „Rotterdamer Deklaration“ wird eine Abladetiefe von
        2,50 Metern an 60 Prozent der Tage eines Jahres gefor-
        dert. Dies kann ein Ausbau nach Variante A locker leisten.
        Außerdem wird der dreilagige Containerverkehr gefor-
        dert. Damit rennt die ,,Rotterdamer Erklärung“ bei uns of-
        fene Türen ein. Wir reden seit Jahren dem steigenden
        Containerverkehr auf unseren Binnenwasserstraßen das
        Wort. Hier sind die größten Zuwachsraten zu erwarten.
        Hier lässt sich am meisten Verkehr von der Straße auf das
        Binnenschiff verlagern. Und der „angenehme“ Nebenef-
        fekt an der Sache: Die moderne Container- und Roll-
        on/Roll-off-Schifffahrt benötigt wesentlich geringere
        Fahrrinnentiefen als der herkömmliche Transport von
        Massengut mit oft veralteten Fahrzeugen. Auch für diese
        Binnenschifffahrt der Zukunft wären wir mit Variante A
        bestens gerüstet. Die entscheidende Größe bildet hierbei
        – wie übrigens heute schon in vielen Fällen – nicht die
        Fahrrinnentiefe, sondern die Brückenhöhe. Hier besteht
        zweifellos dringender Handlungsbedarf. Die Not leidende
        Bauindustrie wäre für ein solches Brücken-Bauprogramm
        mehr als dankbar.
        Dies sind in der gebotenen Kürze einige meiner und
        unserer Argumente.
        Statt sich aber mit guten Argumenten auf der Basis der
        Ergebnisse der „Vertieften Untersuchungen“ für die eine
        oder andere Lösung auszusprechen, fühlen sich diejeni-
        gen auf den Plan gerufen, die eben diesen guten Argu-
        menten nicht zugänglich sind. Da werden plötzlich neue
        Verkehrsgutachten aus der Tasche gezogen, die beweisen
        sollen, dass durch eine komplett betonierte Donau we-
        sentlich mehr Güter zu Wasser transportiert werden könne
        oder – so der jüngste Husarenstreich der Bayerischen
        Staatsregierung – es werden für Steuergelder teure Um-
        fragen in Auftrag gegeben, die zum Entsetzen der Auf-
        traggeber nur das bestätigen, was alle wissen: Die Men-
        schen in Niederbayern wollen keine weitere Betonierung
        der Donau. Die Zukunft der Donau darf nicht durch Trick-
        serei und Manipulation entschieden werden. Weder in
        München noch in Berlin – auch das sage ich ganz deut-
        lich.
        Die Tragweite der Ausbauentscheidung erfordert einen
        breiten gesellschaftlichen Konsens und eine entspre-
        chende Behandlung im Deutschen Bundestag. Wir kön-
        nen und dürfen es daher nicht akzeptieren, wenn Ministe-
        rialbeamte und nachgeordnete Behörden uns diese Arbeit
        im stillen Kämmerlein nur zu gerne abnehmen wollen. Es
        ist daher ausdrücklich zu begrüßen, wenn sich der Deut-
        sche Bundestag mit einer Expertenanhörung über die Art
        des Donauausbaus am 20. Februar 2002 beschäftigen
        wird. Bei dieser Anhörung wird es auch darum gehen,
        inwieweit die seitens der Schifffahrtsvertreter immer
        wieder geforderten Ausbauparameter – im Wesentlichen
        handelt sich hierbei um eine ganzjährige Abladetiefe von
        2,50 Metern bei Niedrigwasser –, tatsächlich verkehrs-
        politisch notwendig sind. Unklar ist zudem die Vertrags-
        lage. Aus München höre ich ständiges Getöse, der Bund
        sei vertraglich zu eben diesen 2,50 Metern verpflichtet.
        Definitiv Rechtsverbindliches hierzu konnte mir aber
        noch niemand vorlegen. Es gibt also noch genügend
        Klärungsbedarf.
        Wenn wir – wie heute – die Frage des Donauausbaus
        zum ersten Mal im Plenum des Deutschen Bundestages
        diskutieren, ist das ein erster und wichtiger Schritt in die
        richtige Richtung.
        Den Damen und Herren von der PDS kommt das Ver-
        dienst zu, diese Runde mit der Vorlage ihres Antrags eröff-
        net zu haben. Ich kann nicht verhehlen, dass Ihr Antrag
        meinen Vorstellungen inhaltlich recht nahe kommt. Of-
        fenbar wurde Ihr Antrag – obwohl Sie in Niederbayern
        parteipolitisch gar nicht existieren – durch Sachverstand
        direkt aus der Region gespeist. Nein – ich kritisiere das
        gar nicht. Ich finde das nur bemerkenswert und im Sinne
        eines staustufenfreien Ausbaus der Donau sogar für sehr
        erfreulich. Ich hoffe nur, wenn es zum Schwur kommt,
        dass Ihre Fraktion dann auch geschlossen dementspre-
        chend abstimmen wird.
        Dennoch: Ihr Antrag kommt meines Erachtens zu früh.
        Ich werde daher zum jetzigen Zeitpunkt für eine Ableh-
        nung votieren. Es muss uns, wie oben bereits erwähnt, um
        eine fundierte und breit angelegte Entscheidungsfindung
        im Deutschen Bundestag gehen. Wir sollten da zunächst
        einmal die Ergebnisse der zitierten Expertenanhörung ab-
        warten. Mit Schnellschüssen können wir das Heer der
        Ewiggestrigen, der Betonlobby, der Trickser und Manipu-
        lierer ebenso wenig für uns gewinnen wie die vielen Ver-
        nünftigen aus den Reihen der Binnenschiffer. Gleiches
        gilt für die Abgeordneten hier in diesem Hause. Der
        Schuss könnte zu leicht nach hinten losgehen. Wir brau-
        chen eine breite und qualifizierte Mehrheit für den rich-
        tigen Umgang mit der Arche Noah und Wasserstraße
        „Donau“ sowie den dafür nötigen Haushaltsmitteln.
        Dafür müssen wir uns aber die Zeit nehmen, die Dinge
        verantwortungsbewusst und sachgerecht im Deutschen
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20695
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        Bundestag zu diskutieren. Die Zukunft der niederbayeri-
        schen Donau und die dort lebenden Menschen haben es
        verdient.
        Renate Blank (CDU/CSU): Um es gleich zu Anfang
        zu sagen: Die PDS-Fraktion ist mit dem vorliegenden An-
        trag auf dem falschen Dampfer und trägt lediglich zur fast
        „unendlichen Geschichte“ des Donauausbaus bei, ohne
        jedoch etwas inhaltlich Neues zu bieten. Das kann man
        von den SED-Erben wohl auch nicht verlangen. Also han-
        delt es sich um einen reinen „Schaufenster“-Antrag.
        Wenn die PDS heute eine Staustufenlösung, trotz der
        Ergebnisse des Gutachtens zum Donauausbau, aus „öko-
        logischen Gründen“ kategorisch – wenn es nicht um die
        PDS ginge, würde ich fast sagen, gerade zu mit religiöser
        Inbrunst – ablehnt, dann torpediert sie damit die deutsche
        Binnenschifffahrt! In diesem Zusammenhang sei ange-
        merkt, dass es wenig glaubwürdig ist, wenn die Honecker-
        Erben vorgeben, die Grünen ökologisch noch links über-
        holen zu wollen; die ökologische Katastrophe in der
        damaligen DDR, der Schaden an Natur und Mensch, die
        Verseuchung der Flüsse unter Verantwortung der PDS-
        Vorgänger spricht eine deutliche Sprache. Dies sei noch
        einmal in Erinnerung gerufen.
        Wenn sich die PDS in dem Antrag gegen einen not-
        wendigen Ausbau festlegt, dann muss sie den Menschen
        gleichzeitig sagen: Ihre Lösung bedeutet automatisch ein
        „Ja“ zu einem zunehmenden LKW-Verkehr auf der Straße
        und setzt die Existenz von Binnenschifffahrtsunterneh-
        men und vieler Arbeitsplätze aufs Spiel!
        Der Ausbau der Main-Donau-Wasserstraße wurde be-
        reits seit 1921 in einer Reihe von Verträgen zwischen dem
        Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik Deutschland
        und dem Freistaat Bayern festgelegt. Als man erkannte,
        dass das angestrebte Ausbauziel zwischen Regensburg
        und Vilshofen mit einer Niederwasserregulierung nicht
        erreichbar war, beschlossen die Vertragspartner 1966,
        auch diesen Streckenabschnitt mit Staustufen auszu-
        bauen. Nachdem der Ausbau der insgesamt 750 Kilome-
        ter langen Main-Donau-Wasserstraße bis auf den 69 Ki-
        lometer langen Donau-Abschnitt zwischen Straubing und
        Vilshofen abgeschlossen war, entwickelte sich Anfang der
        90er-Jahre eine heftige Diskussion darüber, ob nicht auch
        mit rein flussregelnden Maßnahmen – also unter Verzicht
        auf Staustufen – die Schifffahrtsverhältnisse in diesem
        Nadelöhr hinreichend verbessert werden könnten.
        So beschlossen 1996 der damalige Bundesverkehrsmi-
        nister Wissmann und der bayerische Ministerpräsident
        Stoiber die Durchführung vertiefter Untersuchungen, de-
        ren Ergebnisse als Grundlage für die politische Entschei-
        dung dienen sollten.
        Im März diesen Jahres haben Vertreter der Donauan-
        rainerstaaten in einer Konferenz im Bayerischen Ver-
        kehrsministerium bekräftigt, dass nur ein Ausbau mit ei-
        ner durchgehenden Abladetiefe von 2,5 Metern für die
        Schifffahrt entscheidenden verkehrstechnischen Nutzen
        für die gesamte Strecke hat und deshalb mit Nachdruck
        angestrebt werden muss.
        Interessant ist: Der PDS-Antrag erwähnt mit keinem
        Wort, dass der Donauabschnitt zwischen Vilshofen und
        Straubing nicht isoliert gesehen werden darf. Schließlich
        geht es hier um die Binnenschifffahrtsverbindung zwi-
        schen Nordsee und Schwarzem Meer. Die Donau ist die
        Verkehrsalternative der Zukunft und nach der Länge der
        zweitgrößte, nach der Wasserführung der bedeutendste
        Strom Europas. Dies und die Verbindung über die Main-
        Donau-Wasserstraße zum Rhein qualifizieren sie zu der
        einzigen Binnenwasserstraße im Netz der paneuropäi-
        schen Verkehrskorridore. Die künftige verstärkte Ver-
        kehrsnutzung der Donau und der Rhein-Main-Donau-
        Wasserstraße, insbesondere auch im Hinblick auf die
        MOE-Staaten, ist volkswirtschaftlich unverzichtbar. Ab-
        hängig von der politisch-wirtschaftlichen Erholung im
        unteren Donauraum wird der Güterverkehr im Verkehrs-
        korridor der Donau zwischen dem gemeinsamen Markt
        der Europäischen Union und den donaueuropäischen
        Ländern stark und nachhaltig wachsen. Eisenbahn- und
        Straßengüterverkehr stoßen zunehmend an Grenzen. Die
        Donau eröffnet die Chance, wachsende Verkehre wirt-
        schaftlich günstig und ökologisch schonend aufzunehmen
        und verbindet als Rückgrat des europäischen Gütertrans-
        portsystems bedeutende nationale und internationale
        Wirtschaftszentren, in deren Einzugsbereich 220 Milli-
        onen Menschen leben. Von Straubing bis Vilshofen
        erstreckt sich über 69 Flusskilometer jedoch leider ein
        „Nadelöhr“, das die Schifffahrt auf der gesamten Donau-
        Wasserstraße erheblich beeinträchtigt. Diese geringen Ki-
        lometer sind der Störfaktor beim Aufbau einer europä-
        ischen Logistikkonzeption.
        Meine Damen und Herren von der PDS, auch wenn Sie
        es nicht wahrhaben wollen: Entscheidend bleibt langfris-
        tig die freie Wahl der Verkehrsnutzer. Sie orientiert sich an
        den Transportkosten der Verkehrswege und ihrer Zuver-
        lässigkeit, das heißt der Möglichkeit, sie in Logistiksys-
        teme einzubinden. Für die Wasserstraße und speziell die
        Donau bedeutet dies, dass Verkehrswachstum und Ver-
        kehrsverlagerung nur dann erfolgreich sein werden, wenn
        das System Wasserstraße mit den landseitigen Zu- und Ab-
        läufen systematisch optimiert wird. Auch für die Donau
        gilt: Jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Ein-
        zelne Engpässe begrenzen die Auslastung und damit so-
        wohl die Wirtschaftlichkeit wie die ökologische Qualität
        der Binnenschifftransporte. Da die Transportentfernungen
        bedeutend sind, ist dies besonders schwerwiegend.
        Das Ifo-Institut München untersuchte im Auftrag der
        Bayerischen Staatsregierung die Reaktionen des Marktes
        auf Niedrigwasser der deutschen Donau im Abschnitt
        Straubing–Vilshofen in den Jahren 1997/1998. Demnach
        gingen ein Drittel des echten Binnenschiffsverkehrs auf
        Bahn und LKW. 80 Prozent der Betroffenen erklärten,
        nicht mehr das Schiff zu benutzen, solange das Risiko der-
        art gravierender Leistungseinschränkungen des Wasser-
        weges bestehe. Die Wasserstandsschwankungen sind
        doppelt so hoch wie im Rheingebiet. Im Wechselverkehr
        zwischen dem Rhein und der Donau ist die Auslastung der
        Schiffe – soweit sie die Engpassstelle passieren müssen –
        deshalb um über ein Drittel geringer als am Mittel- und
        Oberrhein. Die Unfallhäufigkeit im Flaschenhals Strau-
        bing–Vilshofen liegt fünffach höher als in der Gebirgs-
        strecke des Mittelrheins.
        Ich habe ja durchaus Verständnis für die Besorgnis, die
        ich aber keinesfalls teile, dass mit einem Ausbau der Do-
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120696
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        nau nachteilige Eingriffe in die Landschaft verbunden
        sein könnten. Der Engpass auf dem Abschnitt zwischen
        Straubing und Vilshofen bedeutet auf jeden Fall erhebli-
        che Einschränkungen für die Binnenschifffahrt.
        Ich erinnere mich allerdings noch sehr gut, wie groß
        die Widerstände seinerzeit beim Bau des Main-Donau-
        Kanals waren, als es um die Eingriffe im Altmühltal ging.
        Nach den vielen Jahren seit Fertigstellung des Kanals hat
        sich gezeigt, dass die landschaftspflegerischen Begleit-
        maßnahmen nicht nur zu einem Ausgleich der Eingriffe
        geführt haben, sondern die Landschaft durch eine insge-
        samt gelungene Einbettung der Wasserstraße sogar berei-
        chert wurde. Auch wasserwirtschaftlich sind durch den
        Kanalbau keine nachteiligen Auswirkungen festgestellt
        worden.
        Wir müssen uns daher bei allen Streitigkeiten auf die
        Fakten besinnen: Die Schifffahrt benötigt zur Erfüllung
        ihrer transportlogistischen Funktionen dringend eine
        ganzjährig garantierte Abladetiefe von mindestens
        2,50 m. Diese Mindestabladetiefe, die keineswegs eine
        Maximalforderung, sondern ja bereits einen Kompromiss
        darstellt, schafft die unabdingbaren Voraussetzungen für
        die dringend notwendigen Verkehrsverlagerungen von
        der Strasse auf den umweltfreundlichen Verkehrsträger
        Binnenschiff. Nur dadurch können durchgängige interna-
        tionale Logistikketten verlässlich ermöglicht werden. Da-
        mit entscheidet man übrigens automatisch auch im Sinne
        der Ökologie. Die wissenschaftlich erstellten Gutachten
        der ,,Vertieften Untersuchungen“ bestätigen die ökonomi-
        sche und ökologische Notwendigkeit des geforderten
        Ausbauziels. Aus Sicht der Schifffahrt lässt der Schluss-
        bericht im Hinblick auf die Variante A an Deutlichkeit
        nichts zu wünschen übrig: Bei einem Ausbau mach Vari-
        ante A bleiben die Verhältnisse an der Donau an 336 Ta-
        gen – zum Teil deutlich – schlechter als am Rhein. Der sta-
        tistische Zugewinn von 20 Zentimeter Abladetiefe bei
        Niedrigwasser ist für die Schifffahrt irrelevant. Durch den
        Einbau einer größeren Zahl von Buhnen und Leitwerken
        sowie die erhöhte Fließgeschwindigkeit würde die Gefahr
        von Havarien noch weiter steigen. Eine weitere Folge der
        zahlreichen Einbauten wäre eine Erhöhung des Hochwas-
        sers um 20 Zentimeter!
        Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Der Antrag
        der PDS-Fraktion zeigt eigentlich sehr deutlich, dass sie
        und die Bundesregierung nicht den Mut zum Handeln
        haben.
        Der Donauausbau ist bei Rot-Grün umstritten, weshalb
        versucht wird, das Thema nun mit einer Anhörung, die im
        Februar nächsten Jahres stattfinden wird, zu verschlep-
        pen. SPD und Grüne vor Ort – in Bayern – sind anderer
        Meinung als der Verkehrsminister, der mal wieder zwi-
        schen den Stühlen sitzt und deshalb lieber untätig bleibt.
        Die Fachleute sind sich einig, dass ohne den Donau-Aus-
        bau keine Verlagerung auf den umweltfreundlichen Ver-
        kehrsträger Binnenschiff erfolgen kann. Verkehrsminister
        Bodewig muss endlich auf den bayerischen Staatsminis-
        ter zugehen und mit ihm besprechen, was zu tun ist und
        wie der Vertrag von 1996 zu erfüllen ist. Alle Vorarbeiten
        sind gemacht, jetzt ist die Bundesregierung am Zug!
        Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Donau ist im Abschnitt Straubing–Vilshofen
        der letzte frei fließende Abschnitt im schiffbaren Bereich
        der deutschen Donau. Die außergewöhnliche Vielfalt an
        Lebensräumen sorgt für einen selten gewordenen Reich-
        tum von Flora und Fauna am und im Fluss. Auf einem
        halben Prozent der Landesfläche Bayerns kommen
        54 Prozent der gefährdeten und vom Aussterben bedroh-
        ten Vogelarten und 85 Prozent der bedrohten Fischarten
        vor. Voraussetzung für den hohen ökologischen Wert der
        Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist die natür-
        lich erhaltene Dynamik des Flusses. Nach erheblichem
        Druck von Bundesumweltminister Trittin auf die Bayeri-
        sche Staatsregierung rang sich diese nach zahlreichen
        Widerständen doch noch durch und meldete große Teile
        der Donauauen im betroffenen Bereich als FFH-Gebiet
        nach Brüssel. Auch wenn infolge der Meldung die Do-
        nauauen noch nicht unter besonderem Schutz stehen, be-
        steht – sowohl nach europäischem wie deutschem Recht –
        die Verpflichtung, sich nicht in Widerspruch zu
        vorausgegangenem Verhalten zu setzen. Das heißt, die
        Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist in einem
        Zustand zu erhalten, der eine endgültige Schutzgebiets-
        ausweisung rechtfertigt.
        Demgegenüber stehen jedoch Schifffahrtsinteressen.
        Der 69 km lange Stromabschnitt ist eine der letzten ver-
        bliebenen Wasserstraßenabschnitte, der insbesondere bei
        Niedrigwasser zu erheblichen Problemen hinsichtlich der
        Fahrrinnentiefe führt. Weiter ist der Abschnitt in Teilbe-
        reichen nur einspurig befahrbar, ein Begegnungsverkehr
        daher nur eingeschränkt möglich. Die rot-grüne Bundes-
        regierung hat sich bereits in der Koalitionsvereinbarung
        darauf festgelegt, durch Überarbeitung des Bundesver-
        kehrswegeplans Verlagerungsmöglichkeiten hin zu um-
        weltverträglichen Verkehrsträgern wie Bahn und Binnen-
        schiff zu fördern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der
        Wasserstraßentransport auf der Donau derzeit durch die
        weitgehende Sperrung der unteren Donau – in Novi Sad
        liegen aus dem Kosovo-Krieg bekanntlich immer noch
        die Brücken im Fluss – niedriger als möglich und üblich
        ist. Vor dem Kosovo-Krieg haben insbesondere die ost-
        europäischen Staaten Rumänien, Bulgarien, Ukraine und
        Moldawien ihren Verkehr mit der EU zu einem hohen
        Prozentsatz auf der Donau abgewickelt und dies wird
        auch in Zukunft wieder möglich sein. Trotzdem ist im ers-
        ten Halbjahr 2001 in den bayerischen Donauhäfen der
        Schiffsumschlag um fast 15 Prozent angestiegen. Dem
        trug die EU zwischenzeitlich Rechnung: Die Donau wurde
        in die transeuropäischen Netze aufgenommen.
        Als wenn dies der Probleme noch nicht genug wäre,
        muss auch die vertragsrechtliche Situation gewichtet wer-
        den. Die im Zusammenhang mit der Übernahme der Was-
        serstraßen im Jahre 1921 durch das Reich übernommene
        Verpflichtung zu Unterhalt und Ausbau der Donau ist
        nach dem Krieg auf den Bund übergegangen. Im gleichen
        Jahr wurde zwischen Bayern und dem Reich ein Vertrag
        über den Ausbau der Main-Donau-Wasserstraße – jedoch,
        und dies wird für die Beurteilung der Ausbaupflichten un-
        ter der gegebenen Haushaltssituation von besonderer Be-
        deutung sein, unter Finanzierungsvorbehalt der Finanz-
        lage von Reich (heute Bund) und Land – geschlossen.
        Bestätigt und weiter entwickelt wurde die vertragsrechtli-
        che Situation im Duisburger Vertrag von 1966. Rechtlich
        problematisch kann hier die Frage sein, ob unter dem
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20697
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        Begriff „Kanalisierung“ wirklich nur ein Ausbau mit
        Schleusen zu verstehen ist – wie der Freistaat Bayern
        meint – und, wenn ja, ob nicht aufgrund geänderter natur-
        und umweltrechtlicher Bestimmungen eine Anpassung
        des Vertrages zu erfolgen hat.
        Verbleibt die Haushaltssituation des Bundes, die auf-
        grund der Haushaltspolitik der CDU/CSU-geführten
        Kohl-Regierung die Bundesschulden in unerträgliche
        Höhen anwachsen ließ: Gerade dieser Grund zwingt zu
        vom Kosten-Nutzen-Verhältnis geprägtem Ausbau. Der
        Schlussbericht der Wasser- und Schifffahrtsdirektion gibt
        bereits einen deutlichen Hinweis auf eine Ausbauvariante,
        die der besonderen Problematik Rechnung trägt.
        Wir, die gewählten Abgeordneten müssen und wollen
        versuchen, noch offene Fragen zu klären, um eine sach-
        gerechte Lösung zu finden. Wir sind es, die bei Aufstel-
        lung des Bundeshaushalts unter Berücksichtigung der
        Haushaltssituation die letztendliche Entscheidung haben
        werden. Eine Expertenanhörung der entsprechenden Bun-
        destagsausschüsse wird uns die Grundlage dafür liefern.
        Hans-Michael Goldmann (FDP): Den heutigen Ta-
        gesordnungspunkt „Ausbau der Donau zwischen Strau-
        bing und Vilshofen ökologisch gestalten“, wie die PDS
        meint, könnte man auch mit „Die unendliche Geschichte“
        überschreiben – nur dass diese Geschichte nicht ansatz-
        weise so angenehm zu lesen ist wie das literarische Werk.
        Immer wieder wird von Vertretern aller Parteien be-
        tont, dass die notwendige Verkehrsverlagerung keines-
        wegs nur allein mit der Eisenbahn abgehandelt werden
        kann, sondern dass die Binnenschifffahrt der eindeutig
        ökologisch wertvollste Verkehrsträger ist. Trotzdem müs-
        sen wir leider feststellen, dass der Marktanteil der Bin-
        nenschifffahrt rückläufig ist und in Ostdeutschland sinkt,
        wie jetzt wieder in dem Bericht vom BMVBW über die
        Zukunft der deutschen Binnenschifffahrt unzweifelhaft
        zu lesen ist. Als Hauptursachen sind der mangelhafte
        Ausbau des Wasserstraßennetzes speziell in den neuen
        Ländern und die fehlende Harmonisierung im europä-
        ischen Wettbewerb festgestellt worden. Und hier reiht
        sich die traurige unendliche Geschichte des Flaschenhal-
        ses innerhalb der Donau zwischen Straubing und Vilsh-
        ofen nahtlos und problemauslösend für die deutsche Bin-
        nenschifffahrt ein.
        Ich erinnere mich noch, wie der Beschluss der damali-
        gen Bundesregierung und der bayerischen Staatsregie-
        rung, den Main-Donau-Kanal zu bauen, beim politischen
        Gegner Empörung, Hohn und Spott auslöste. Da war von
        geschönten Verkehrsprognosen die Rede und die Ent-
        scheidung war dem Spott bekannter Kabarettisten ausge-
        setzt. Inzwischen zeigt sich, dass die Prognosen bei wei-
        tem übertroffen wurden. Und Ähnliches sage ich für den
        fehlenden Donausausbau voraus. Wohl noch kein deut-
        sches Verkehrsprojekt wurde so lange geprüft, begutach-
        tet, debattiert, hin und her geschoben, kleingeredet, groß-
        gesprochen wie diese knapp 70 km lange Strecke der
        Donau zwischen Straubing und Vilshofen.
        Überhaupt keine Frage – ich bin ja völlig damit ein-
        verstanden – dass man natürlich nicht blindlings in die
        Natur eingreift und alles genau und genauestens prüft.
        Doch irgendwann muss die Politik auch einmal entschei-
        den. Seit einem halben Jahr liegt nun der Abschlussbericht
        der WSD Süd vor und noch immer ist keine Entscheidung
        getroffen worden, weil die Ressortabstimmung zwischen
        BMVBW und BMU aussteht und auch das Land Bayern
        weiter prüfen will.
        Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
        hat gestern beschlossen, eine öffentliche Anhörung zum
        Donauausbau durchzuführen. Aber ich frage mich: Wel-
        che neuen Erkenntnisse erhofft sich Rot-Grün nun eigent-
        lich durch diese erneute Anhörung? Die Fakten stehen
        doch seit langem fest: Wir haben einen knapp 70 km lan-
        gen so genannten Flaschenhals, der die Binnenschifffahrt
        auf diesem Teilabschnitt erheblich belastet, der Kosten
        verursacht und den Verkehr auf die Straße verlagert. Jeder
        weiß, um den Verkehr in nennenswerter Größenordnung
        auf das Wasser zu bringen, benötigt die Binnenschifffahrt
        eine ganzjährige Abladetiefe von 2,50 Meter. Diese Abla-
        detiefe ist mit einem sogenannten ökologischem Super-
        ausbau nicht zu erzielen. Wir brauchen also zwei Staustu-
        fen und diese Staustufen sind auch vertretbar, zumal die
        ökologische Ausgleichsmaßnahmen zwingend Bestand-
        teil eines solchen Ausbaus sein müssen.
        Ich weiß nun wirklich nicht mehr, welche neuen Er-
        kenntnisse man sich angesichts dieser Fakten noch er-
        hofft. Die Parlamentariergruppe Binnenschifffahrt war an
        der Donau; wir wissen um die Dinge. Ich finde es nicht
        gut, dass man die Motivation für dieses erneute Prüfver-
        fahren spürt. lm März steht eine Kommunalwahl in Bay-
        ern an und im September eine Bundestagswahl. Man
        glaubt, den Bürgern eine Pro-Ausbau-Entscheidung nicht
        zumuten zu können. Aber ich denke, dass so Politik ihrer
        Gesamtverantwortung nicht gerecht wird.
        Ich bekenne mich hier ausdrücklich für die Ausbau-
        variante D und ich werde mich weiterhin für eine schnelle
        Umsetzung dieser Empfehlung einsetzen. Ich halte alles
        andere gegenüber den Binnenschiffern für unverantwort-
        lich. Und ich appelliere hier ganz bewusst an die Kolle-
        ginnen und Kollegen aus der Parlamentariergruppe Bin-
        nenschifffahrt. Machen Sie endlich Nägel mit Köpfen! Ja,
        Frau Faße, hier sind Sie ganz besonders gefordert.
        Leider gibt es noch immer keine Mitteilung der Bun-
        desregierung darüber, wann endlich die Ressortabstim-
        mung zwischen dem BMVBW und dem BMU zum Ab-
        schlussbericht der WSD Süd vorliegen wird. Ich halte die
        Verzögerungspolitik der Bundesregierung für einen Skan-
        dal und für einen Schlag ins Gesicht der deutschen Bin-
        nenschifffahrt. Jeder, der überhaupt nur einigermaßen
        gucken kann, der weiß: Die Donau ist eine der wichtigsten
        Wasserstraßen Europas. Ich bin sicher, wenn es sich um
        eine Autobahn handeln würde, dann wäre eine vergleich-
        bare Engstelle schon längst beseitigt. Ich bin traurig und
        empört darüber und verstehe die Verärgerung in der Bin-
        nenschifffahrt, weil die Bundesregierung sich nur in Sonn-
        tagsreden zur Binnenschifffahrt bekennt, aber kaum Taten
        folgen lässt. Es reicht eben nicht, immer wieder den öko-
        logischen Nutzen der Binnenschifffahrt herauszustellen
        und ihr in einem Punkt wie dem absolut notwendigen Aus-
        bau der Donau die nötigen Rahmenbedingungen zu ver-
        weigern.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120698
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        Rot-Grün verspielt Chancen der deutschen Binnen-
        schifffahrt. Das ist nicht hinzunehmen. Ich fordere den
        Ausbau der Donau im Flaschenhals zwischen Straubing
        und Vilshofen jetzt.
        Dr. Winfried Wolf (PDS): Das Projekt Donauausbau
        zwischen Straubing und Vilshofen steht vor Beginn des
        Raumordnungsverfahrens. Dieser Flussabschnitt ist eines
        der letzten frei fließenden und naturnahen Bereiche der
        Donau. Seit Jahrhunderten wird der Fluss eingezwängt,
        abgesperrt und umgeleitet. Angeblich gut für die Schiff-
        fahrt, aber mit Sicherheit verheerend für die natürliche
        Umwelt. Nun versprechen wiederum Staustufen die Lö-
        sung aller Probleme für die Binnenschiffer. Es sei ökolo-
        gisch, weil Transport auf dem Wasser statt auf der Straße
        stattfindet, es schaffe Arbeitsplätze und damit Einkom-
        men.
        Ein schönes Bild, nur es ist ein Zerrbild. Die PDS ist
        mit den Umweltverbänden der Überzeugung: Aufgrund
        der herausragenden Bedeutung dieses Gebietes für den
        Natur-, Arten- und Ressourcenschutz, aber auch aus fi-
        nanziellen und verkehrspolitischen Gründen, ist ein Stau-
        stufenausbau nicht hinnehmbar.
        Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Es geht den
        Befürwortern einer Staustufenlösung nicht in erster Linie
        darum, den Fluss schiffbarer zu machen, sondern darum,
        den an solchen Großprojekten partizipierenden Bau- und
        Ausrüstungsfirmen lukrative Aufträge zu verschaffen.
        Bei der geforderten Ausbautiefe von 2,80 bis 3,10 Me-
        ter scheint an den Planungstischen niemand von Gedan-
        ken einer kostengünstigen, geschweige denn umweltver-
        träglichen Lösung belästigt worden zu sein. Das Ergebnis:
        Eine ganzjährige Befahrbarkeit des Flusses wird ange-
        strebt – koste es was es wolle. Besonders dann, wenn
        Staatsknete jeden Kubikmeter Beton bezahlt und die Bi-
        lanzen der Flussbauer vergoldet. Da sind die heiligen Re-
        geln der Marktwirtschaft plötzlich vergessen.
        Alternative Untersuchungen, die jedoch vom Ver-
        kehrsministerium schlichtweg ignoriert werden, zeigen,
        dass gegenüber dem Ist-Zustand auch mit schonenden
        flussbaulichen Mitteln der Wasserstand deutlich erhöht
        werden kann. An mindestens 90 Prozent der Tage im Jahr
        beträgt dann die Fahrrinne 2,50 Meter. Die erreichbare
        Abladetiefe ist dann im Abschnitt Straubing–Vilshofen
        mindestens gleichwertig mit den Ablademöglichkeiten
        am Mittelrhein und der österreichischen Donau. Die er-
        reichbaren Fahrrinnenbreiten betragen bis auf zwei kurze
        Engstellen mit circa 65 Metern auf der gesamten Strecke
        circa 70 Meter und gewährleisten damit die Sicherheit des
        Schiffsverkehrs.
        Das prognostizierte Güteraufkommen kann schon mit
        der Variante Ades gemeinsamen Berichts des Bundes und
        des Freistaates Bayern über den weiteren Ausbau der Do-
        nau problemlos bewältigt werden. Die verbesserte Vari-
        ante A der flussbaulichen Lösung, wie sie Prof. Bernhardt
        vom Institut für Wasserbau- und Kulturtechnik in Karls-
        ruhe vorgeschlagen hat, besitzt darüber hinaus noch zu-
        sätzliche Kapazitäten.
        Zudem weist schon die Variante A das beste Nutzen-
        Kosten-Verhältnis auf. Sie ist fast eine halbe Milliarde
        DM billiger als der Staustufenausbau.
        Nur die flussbauliche Optimierung des Ist-Zustandes
        stellt einen vergleichsweise schonenden und zumutbaren
        Eingriff in den Flusslauf der Donau dar. Nur für diese Va-
        rianten ist absehbar, dass sie den hohen Anforderungen
        der europäischen Vogelschutz- und Flora-Fauna-Habitat-
        Richtlinie (FFH-Richtlinie) entsprechen.
        Schließlich geht es um empfindliche und einmalige
        Flussauen, um die Arche Noah der bayerischen Donau.
        Hier leben auf 0,4 Prozent der Fläche Bayerns über
        65 Prozent aller heimischen Vogelarten. Bis zu 50000 Was-
        servögel rasten dort im Winter. Über 50 verschiedene
        Fischarten – fast so viele, wie vom gesamten Rhein bis an
        die Mündung – leben in diesem Flussabschnitt! Stausstu-
        fen, wie sie die Varianten C, D1 und D2 vorsehen, würden
        zudem die Gefahr von Hochwassern erhöhen. Durch sie
        würden die Retentionsräume eingeschränkt und durch die
        Glättung der Abflussrinne eine Beschleunigung und Er-
        höhung potenzieller Hochwasserwellen bewirkt werden.
        Ohne kostenintensive Gegenmaßnahmen würde damit für
        die im Unterlauf der Donau wohnenden Menschen, ins-
        besondere für den Raum Passau, die Gefahr und die Di-
        mension von Überschwemmungen steigen.
        Letztlich müssten langfristig auch die Schiffe den
        Flüssen und nicht die Flüsse den Schiffen angepasst wer-
        den. Durch den Einsatz von tendenziell kleineren Schif-
        fen könnten Güter flexibler, umweltschonender und
        schneller transportiert werden. Somit könnten auch klei-
        nere Häfen angesteuert werden, um Ladung zu löschen
        oder aufzunehmen. Beispielsweise wären in diesem Fall,
        vergleichbar den Gleisanschlüssen bei der Bahn, Häfen
        an Produktionsorten vorstellbar. Dies könnte den erheb-
        lichen Hinterlandverkehr, der mit der Binnenschifffahrt
        häufig verbunden ist, vermindern und andererseits die
        Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschifffahrt
        steigern. Somit würden tatsächlich Arbeitsplätze ge-
        schaffen.
        Wir meinen, dies alles sind genug Argumente für einen
        schonenden, flussbaulichen Ausbau der Donau, wie wir
        ihn in unserem Entschließungsantrag vorschlagen.
        Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20699
        (C)
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        (B)
        Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin