Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001
Vizepräsidentin Anke Fuchs
20655
(C)
(D)
(A)
(B)
2) Anlage 8
3) Anlage 91) Anlage 7
Berichtigung
207. Sitzung, Seite IV Anlage 2 und 20495 (D); erster Satz: Statt
„Dr. Edith Niehuis“ ist „Gudrun Schaich-Walch (BMG)“ zu lesen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20657
(C)
(D)
(A)
(B)
Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 13.12.2001
Gila DIE GRÜNEN
Behrendt, Wolfgang SPD 13.12.2001*
Berninger, Matthias BÜNDNIS 90/ 13.12.2001
DIE GRÜNEN
Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 13.12.2001**
Dr. Blank, CDU/CSU 13.12.2001**
Joseph-Theodor
Bulling-Schröter, Eva PDS 13.12.2001
Frankenhauser, CDU/CSU 13.12.2001
Herbert
Friedrich (Altenburg), SPD 13.12.2001
Peter
Hauer, Nina SPD 13.12.2001
Hauser (Bonn), CDU/CSU 13.12.2001
Norbert
Hempelmann, Rolf SPD 13.12.2001
Hiksch, Uwe PDS 13.12.2001
Dr. Hoyer, Werner FDP 13.12.2001
Imhof, Barbara SPD 13.12.2001
Dr. Jens, Uwe SPD 13.12.2001
Jünger, Sabine PDS 13.12.2001
Kraus, Rudolf CDU/CSU 13.12.2001
Dr. Küster, Uwe SPD 13.12.2001
Lippmann, Heidi PDS 13.12.2001
Lörcher, Christa fraktionslos 13.12.2001*
Michels, Meinolf CDU/CSU 13.12.2001
Mosdorf, Siegmar SPD 13.12.2001
Nahles, Andrea SPD 13.12.2001
Dr. Pfaff, Martin SPD 13.12.2001
Rübenkönig, Gerhard SPD 13.12.2001
Schenk, Christina PDS 13.12.2001
Schlee, Dietmar CDU/CSU 13.12.2001
Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 13.12.2001
Hans Peter
Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 13.12.2001
Christian
Siemann, Werner CDU/CSU 13.12.2001
Simmert, Christian BÜNDNIS 90/ 13.12.2001
DIE GRÜNEN
Stünker, Joachim SPD 13.12.2001
Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 13.12.2001
Türk, Jürgen FDP 13.12.2001
Wieczorek-Zeul, SPD 13.12.2001
Heidemarie
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlametnarischen Ver-
sammlung der NATO
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zurBeratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung und Ergänzung vermögensrecht-
licher und anderer Vorschriften (Zweites Ver-
mögensrechtsergänzungsgesetz – 2. VermRErgG)
(Tagesordnungspunkt 11)
Hans-Joachim Hacker (SPD): Der Deutsche Bun-
destag hat sich seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober
1990 in einer Vielzahl von Fällen mit der Regelung der so
genannten offenen Vermögensfragen befasst. Die Novel-
lierung des Vermögensrechts war infolge der notwendi-
gen Verzahnung von Regelungsbereichen des Vermö-
gens- und Entschädigungsrechts nicht einfach. Leider
– auch das muss einmal gesagt werden – sind die verab-
schiedeten Gesetze für die Betroffenen nur noch schwer
zu überschauen. Aber bei aller Kompliziertheit der Mate-
rie ist und bleibt der Gesetzgeber gefordert, erneut zu no-
vellieren, wenn offensichtlich ein Klarstellungserforder-
nis besteht oder Regelungslücken geschlossen werden
müssen.
Diesem Erfordernis entspricht der von der Bundesre-
gierung vorgelegte Entwurf eines Zweiten Vermögens-
rechtsergänzungsgesetzes. Es hat sich gezeigt, dass ge-
setzliche Regelungen zum Teil missverständlich
formuliert wurden. Dieser Zustand soll durch den Gesetz-
entwurf beseitigt werden und im Übrigen sollen unbillige
Rechtskonstellationen zugunsten von Anspruchsberech-
tigten verbessert werden.
entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich entschuldigt bisAbgeordnete(r) einschließlich
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlagen zum Stenographischen Bericht
Es geht konkret um die Änderung des Gesetzes zur
Regelung offener Vermögensfragen, des Entschädigungs-
gesetzes, des Ausgleichsleistungsgesetzes und des NS-
Verfolgtenentschädigungsgesetzes.
Ich kann nicht auf alle, schon gar nicht auf die ledig-
lich redaktionellen Änderungen gesetzlicher Normen ein-
gehen. Ich will daher nur die wichtigsten Ziele, die dem
Gesetzentwurf zugrunde liegen, ansprechen.
Eine solche Frage sehe ich in der Änderung des § 2
Abs. 1 des Vermögensgesetzes. Bislang haben Berech-
tigte wegen der Erbausschlagung keine vermögensrecht-
lichen Ansprüche, wenn eine Vermögensschädigung den
Erblasser getroffen hatte. Dieses ist offenkundig unbillig
und wird von den Berechtigten als Weiterbestehen einer
so genannten kalten Enteignung empfunden.
Die vorgesehene rechtliche Regelung hebt diese Be-
nachteiligung auf, ohne dass andere Privatpersonen aus
einer etwaigen Berechtigtenstellung verdrängt würden.
Im Weiteren: Bereits in der Vergangenheit hat es im
Zusammenhang mit der Novellierung des Vermögensge-
setzes eine Diskussion zu der Frage von Ansprüchen auf
Bruchteilseigentum gegeben. Die dies betreffende Rege-
lung im § 3 Abs. 1 des Vermögensgesetzes bedarf einer
Klarstellung, wie das Erfordernis „mehr als den fünften
Teil der Anteile“ zu verstehen ist, wenn Beteiligungen an
Unternehmen bei einem Berechtigten zusammentreffen.
Die Bundesregierung will mit dem vorliegenden Gesetz-
entwurf klarstellen, dass Anteile an verschiedenen
Mutterunternehmen zu addieren sind, wenn sie heute in
einer Hand zusammenfallen. Dieses ist konkret bei An-
sprüchen der Rechtsnachfolger der früheren Weimarer
Gewerkschaften der Fall, die von den Nazis enteignet
worden sind und deren Vermögen dem NS-Staat einver-
leibt wurde. Die von der Bundesregierung vorgeschla-
gene Lösung führt in der Konsequenz und der Intention
des Vermögensgesetzes folgend zu einer Wiedergutma-
chung von NS-Unrecht. Dieser Ansatz wird von der SPD-
Bundestagsfraktion nachdrücklich unterstützt.
Genauso unterstützen wir die vorgesehene Änderung
des § 31 Abs. 1 Buchstabe c des Vermögensgesetzes, wo-
nach zukünftig ein Erbschein, der für die Geltendma-
chung vermögensrechtlicher Ansprüche benötigt wird,
generell gebührenfrei sein soll. Bislang gilt diese Rege-
lung bereits für Fälle der NS-Verfolgung und ich finde es
richtig, dass der Regelungsbereich auch auf vermögens-
rechtliche Ansprüche außerhalb des § 1 Abs. 6 des Ver-
mögensgesetzes ausgedehnt wird, weil in diesem Bereich
auch eine Wiedergutmachung für Unrecht erfolgt.
Die vorgesehene Regelung des § 4 Abs. 1 des Vermö-
gensgesetzes, wonach künftig die Teilrestitution nicht
mehr ausgeschlossen sein soll, weil der Zugang zum öf-
fentlichen Verkehrswegenetz fehlt, greift auf eine be-
währte Regelung im § 27 des Sachenrechtsbereinigungs-
gesetz zurück.
Im Gesetzentwurf wird erneut die Opfergruppe der
Zwangsausgesiedelten angesprochen. Sie sind zu Recht
als Opfer von DDR-Verwaltungsunrecht rehabilitiert
worden und erhalten ihr Vermögen nach den Bestimmun-
gen des Vermögensgesetzes zurück. Bereits bei zurück-
liegenden Gesetzesnovellierungen sind im Wege der
Klarstellung Unbilligkeiten beseitigt worden. Mit der vor-
gesehenen Änderung des § 6 Abs. 1 Satz 2 des Entschädi-
gungsgesetzes erfolgt die notwendige Klarstellung hin-
sichtlich der Anrechnung erhaltener Gegenleistungen der
Betroffenen, um eine doppelte Erfassung zu vermeiden.
Sie sehen, auch elf Jahre nach der Wiedervereinigung
bieten das Vermögensgesetz und die anderen von der No-
vellierung betroffenen Gesetze interessanten juristischen
Diskussionsstoff, vor allen Dingen für die Berichterstat-
ter. Ich bin mir sicher, dass das Bundesjustizministerium
uns in bewährter Weise mit Fachkompetenz zur Seite ste-
hen wird.
An dieser Stelle richte ich einen Appell an den Bun-
desrat, das Gesetzgebungsverfahren zu unterstützen. Die
Ablehnung des Gesetzentwurfes durch den Bundesrat
sollte nicht das letzte Wort sein; denn mit der beabsich-
tigten Regelung wird für die betroffenen Berechtigten ma-
terielle Gerechtigkeit geschaffen, die schwerer wiegt als
eine in Kauf zu nehmende zusätzliche Belastung der Ver-
waltung. Bei der Beratung zur Änderung der beiden SED-
Unrechtsbereinigungsgesetze im Vermittlungsausschuss
am 6. Dezember 2001 haben die Länder dokumentiert,
dass ihnen Gerechtigkeit wichtiger ist als der Abbau von
Verwaltungskapazitäten. Dieser Grundsatz sollte auch für
den Regelungsbereich des vorliegenden Gesetzentwurfes
gelten.
Andrea Voßhoff (CDU/CSU):Wieder einmal hat die
Bundesregierung die rechtspolitische Wundertüte geöff-
net und präsentiert uns erneut nach der Devise „alle Jahre
wieder“ – denn das letzte Mal ist gerade ein Jahr her – ei-
nen bemerkenswerten Fächer von Änderungen im Ver-
mögensgesetz und im Entschädigungs- und Ausgleichs-
leistungsgesetz. Es fällt mir dazu der schon oft stra-
pazierte Ausspruch der rot-grünen Bundesregierung zu
Beginn der Legislaturperiode ein, man wolle „nicht alles
anders, aber vieles besser“ machen. Ich wollte dieses Ver-
sprechen eigentlich nicht weiter zitieren; vorliegender
Gesetzentwurf zwingt aber dazu, auf diese vollmundige
Aussage nochmals einzugehen. Denn besser kann man es
kaum darstellen, wie die Rechtspolitik von Rot-Grün zur
Salamitaktik degradiert wird. Besser kann man es kaum
darstellen, wie Rot-Grün Rechtsklarheit und Rechtsfrie-
den in den Eigentumsfragen der neuen Länder zusätzlich
strapaziert. Besser kann man es kaum darstellen, wie sich
die vom Kanzler Schröder versprochene Chefsache „Auf-
bau Ost“ offenbar in einer Arbeitsbeschaffungsmaß-
nahme für die Vermögensämter erschöpft.
Bereits mit dem Vermögensrechtsergänzungsgesetz
aus dem Jahr 1999 haben wir uns mit umfangreichen Än-
derungen des Vermögensgesetzes beschäftigt und mit
dem Grundstücksrechtsänderungsgesetz aus dem Jahr
2000 ebenfalls. Jedesmal warnten die Länder vor dem
immensen Verwaltungsmehraufwand für die Vermö-
gensämter. Insbesondere beim Grundstücksrechtsände-
rungsgesetz haben wir dies auch in der damaligen An-
hörung von Vertretern der Vermögensämter gehört, die
mit mehr als deutlichen Appellen auf die Bearbeitungssi-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120658
(C)
(D)
(A)
(B)
tuation hingewiesen haben. Nun sollte materielle Ge-
rechtigkeit nicht an dem zur Umsetzung erforderlichen
Verwaltungsmehraufwand scheitern – gar keine Frage!
Aus dem Rechtsgedanken der aktuellen Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichtes zu den so genannten
„kalten Enteignungen“ mag man auch über die Auswei-
tung der Rechtsnachfolge bei der Geltendmachung von
Restitutions- bzw. Entschädigungsansprüchen nachden-
ken. Die dazu in diesem Entwurf vorgeschlagene Rege-
lung ist deshalb sicher auch diskussionswürdig. Änderun-
gen aber, die im Jahre elf nach der Wiedervereinigung
vorgenommen werden, zudem die Vermögensämter alles
in allem bereits einen hohen Erledigungsaufwand aus-
weisen, sollten mit besonderem Augenmerk bedacht wer-
den; denn sie beeinträchtigen durch erneute Ausdehnung
der Rechtsfolgen den Rechtsfrieden und die Rechtsklar-
heit in den neuen Ländern. Letztere ist durch die komple-
xen Regelungen des Vermögensrechtes eh nur schwer
auszumachen und sollte deshalb durch weitere Änderun-
gen nicht noch mehr beeinträchtigt werden.
Außerdem sollten wir immer auch ein Ziel im Auge ha-
ben, den Abschluss der Vermögensauseinandersetzung in
den neuen Ländern und damit das Ende der notwendigen
Sonderregelungen. Daran kann und muss man mit Vorlage
dieses Gesetzentwurfes teilweise erhebliche Zweifel ha-
ben. Zwar heißt es in der Begründung des Entwurfes, es
handele sich um Klarstellungen und in Einzelfällen um ge-
rechtere Lösungen bestehender Rechtsfolgen. Das klingt
gut, bei näherer Betrachtungsweise wird deutlich, was
Rot-Grün aber damit meint. Denn allein mit dem erneuten
Anlauf, nämlich der Bündelung von Splitteranteilen an
Unternehmen, starten sie nichts anderes, als den erneuten
Versuch einer gezielten Ausweitung der Restitution, von
der ja wohl augenscheinlich insbesondere gewerkschafts-
eigene Immobiliengesellschaften profitieren würden.
Dieses Ansinnen ist ja nicht neu, auch wenn die Um-
setzung diesmal in leicht abgewandelter Form erfolgt.
Bereits mit dem Grundstücksrechtsänderungsgesetz ist
ein solcher Versuch gestartet worden, letztlich dann aber
im Vermittlungsausschuss im September 2000 geschei-
tert.
Die Damen und Herren von den Regierungsfraktionen
sind offenbar sehr hartnäckig, wenn es um eine bestimmte
Gruppe von Restitutionsberechtigten geht, nämlich den
Gewerkschaften. Ich will ja gar nicht in Abrede stellen,
dass eine solche Ausweitung der Restitution auch be-
gründbar wäre. Aber wie viele Restitutionsbegehren, die
uns von anderen Betroffenen immer wieder erreichen,
wären es dann auch? Ich erinnere aber auch an die Aus-
führungen der Sachverständigen in der damaligen An-
hörung. Sie warnten vor den verwaltungstechnischen
Auswirkungen einer solchen Regelung, deren Erledigung
die Vermögensämter noch über Jahrzehnte beschäftigen
würde.
Auch wenn Sie die Anforderungen an die Bündelung
von Splitteranteilen an Unternehmen diesmal etwas höher
gesetzt haben, die Hemmnisse im Grundstücksverkehr und
die finanziellen Auswirkungen zu Lasten der ostdeutschen
Wohnungswirtschaft dürften evident sein. Dies belegen
bereits jetzt entsprechende Schreiben der betroffenen
Wohnungswirtschaft. Es mutet auch schon befremdlich an,
wenn offenbar der Staatsminister Schwanitz im Februar
2001 die Landesregierungen auffordert, die offenen Ver-
mögensfragen des Entschädigungsgesetzes bis zum Ende
des Jahres 2003 abzuarbeiten und Sie mit diesem Gesetz-
entwurf gleichzeitig nichts unversucht lassen, mit neuen
Rechtsänderungen die zuständigen Ämter nicht nur rechts-
politisch in Atem zu halten, sondern sie über Jahre hinaus
erneut zu belasten.
Darüber hinaus verweist die Bundesregierung selbst
hinsichtlich der Kostenfolge dieses Gesetzesentwurfes
auf Mehrbelastungen für die kommunalen Haushalte hin.
Bei der Interessenabwägung darf auch die Belastbarkeit
der Kommunen nicht endlos ausgedehnt werden. Auch
die von Ihnen beabsichtigte Erweiterung der Auskeh-
rungspflicht von Nutzungsentgelten in § 7 des Vermö-
gensgesetzes der Wohnungswirtschaft gegenüber den Re-
stitutionsberechtigten wird die Wohnungswirtschaft in
Millionenhöhe belasten.
Im Übrigen müssen Sie auch noch die Frage beant-
worten, warum Sie diese Änderungen nicht auch bereits
in den bereits genannten Gesetzesinitiativen miteinge-
bracht haben. Allein die sicher für Betroffene erfreuliche
Absicht, Erbscheine kostenfrei zu stellen, dürfte ja wohl
nicht erst jetzt notwendig geworden sein. Darüber hinaus
betreffen die Gegenstandswerte von Erbscheinen in der
Regel den gesamten Nachlass und dabei muss es sich ja
nicht nur um Restitutionsansprüche handeln.
Es ist schon auch bemerkenswert, wie einmütig der Bun-
desrat diesen Gesetzentwurf komplett abgelehnt hat und
wie beratungsresistent die Bundesregierung in ihrer Ge-
genäußerung darauf reagiert hat. Wir werden uns daher mit
der von der Bundesregierung behaupteten Regelungsnot-
wendigkeit dieser Detailänderungen in den Beratungen
auseinander zu setzen haben. Größtenteils überzeugen die
geltend gemachten Argumente nicht, denn sie stehen in kei-
nem Verhältnis zu den zu erwartenden Folgen.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: Der Entwurf des Zweiten Vermögensrechtsergän-
zungsgesetzes sieht zahlreiche Einzeländerungen von
Vorschriften des Vermögens- und Entschädigungsrechts
vor. Es enthält auch Änderungen des Ausgleichsleistungs-
und des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes.
Es handelt sich um eines der vielen – es ist sicherlich
nicht das letzte – Korrekturgesetze zu der insgesamt nicht
gelungenen Regelung des Vermögensrechts in den neuen
Ländern. Hier hat sich die Regierung Kohl ein juristisch
von Anfang an mangelhaftes Denkmal gesetzt. Leider ist
es zu spät für eine grundlegende Neugestaltung insge-
samt. Nach elf Jahren bleibt nur die Möglichkeit der Kor-
rektur der Korrektur.
Die Gesetze, über die wir heute sprechen, haben nicht
den Beifall des Bundesrates gefunden. Für die Verwaltun-
gen ist es offenbar sehr schwer, die notwendigen Neurege-
lungen in der Praxis umzusetzen. Das gilt vor allem für
laufende oder bereits abgeschlossene Verfahren. Die Bun-
desregierung hat Recht, wenn sie in ihrer Gegenäußerung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20659
(C)
(D)
(A)
(B)
feststellt, dass die Belange der materiellen Gerechtigkeit
und der Arbeitsbelastung für die Verwaltung gegeneinan-
der abgewogen werden müssen. Die allzu sehr am Wohl
der Verwaltung orientierten Bedenken des Bundesrates
müssen dazu zunächst konkretisiert und belegt werden.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ent-
schädigung bei kalten Enteignungen muss in der weiteren
Diskussion berücksichtigt werden.
Wir halten unsere Kritik an dem Prinzip „Rückgabe
vor Entschädigung“ voll aufrecht. Das war eine Fehlent-
scheidung. Die Alteigentümer wurden und werden zu Un-
recht bevorzugt. Aber dennoch: Die abgenötigte Erbaus-
schlagung darf nicht anders behandelt werden als eine
Enteignung. Das hat das höchste deutsche Gericht auch so
festgestellt. Die Fragwürdigkeit der Generalentscheidung
des damaligen Gesetzgebers ist keine Rechtfertigung für
eine willkürliche Differenzierung. Gleiches darf nicht un-
gleich behandelt werden.
Die Notwendigkeit gesetzlicher Klarstellungen er-
gibt sich beispielsweise aus dem vorgesehenen neuen
Abs. 2 des § 6 des Entschädigungsgesetzes. Die gel-
tende Regelung ist für die geplagten Opfer der Zwangs-
aussiedlung aus den Grenzgebieten mehr als misslich.
Sie lässt in der Tat eine doppelte Anrechnung der ge-
währten Gegenleistungen an den Betroffenen zu. Dieses
Ergebnis ist nicht hinnehmbar. Wir wissen doch alle, in
welchem Zustand die Betroffenen ihr Eigentum zurück-
bekommen haben. Wenn sie die Entschädigungsleistun-
gen zurückzahlen müssen, dann muss klar sein, dass sie
nur an den Entschädigungsfonds zahlen und an niemand
anderen.
Selbstverständlich müssen im weiteren Gang der Be-
ratungen Vorbehalte des Bundesrates geklärt werden. Ob
es beispielsweise wirklich unumgänglich ist, an der ge-
planten Gebührenbefreiung für die Erbscheinerteilung
in den verbleibenden vermögensrechtlichen Verfahren
festzuhalten, wird noch zu klären sein. Der Verweis auf
die Sonderregelung nach dem Bundesentschädigungsge-
setz für NS-Opfer als Begründung für die Gebührenfrei-
heit für Alteigentümer sollte im Lichte der Ausführun-
gen in der Stellungnahme des Bundesrates noch einmal
überdacht werden. Es gibt einiges zu beraten. Fangen
wir an!
Rainer Funke (FDP): Der vorliegende Entwurf eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung vermö-
gensrechtlicher Vorschriften wird im Grundsatz von der
FDP-Fraktion begrüßt. Es hat sich in der Tat gezeigt, dass
mit dem zurzeit geltenden Vermögensrecht Wertungswi-
dersprüche festzustellen sind, die zu unbilligen Ergebnis-
sen zulasten der Alteigentümer führen und demgemäß be-
seitigt werden müssen.
Dennoch wird bei der Beratung im Rechtsausschuss
gründlich zu prüfen sein, wie die Auswirkungen der No-
vellierung, insbesondere auf die Wohnungswirtschaft und
dort besonders auf die kommunale Wohnungswirtschaft
sein werden. Dies gilt besonders für die Regel der Addi-
tion von Kleinstbeteiligungen beim so genannten doppel-
ten Durchgriff. Diese Zusammenzählung von Kleinstbe-
teiligungen war in der Vergangenheit letztlich auch im
Vermittlungsausschuss gescheitert, wie wir meinen, auch
zu Recht.
Wir sind jedoch durchaus bereit, die Frage der materi-
ellen Berechtigung entsprechender Zuordnungen zu prü-
fen, wollen aber auch sichergestellt haben, dass die kom-
munale Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern
hierdurch nicht benachteiligt wird. Wir werden jedoch
auch dem Vorwurf nachgehen, dass durch die vorgese-
hene Zurechnung eine bestimmte Gesellschaftsgruppie-
rung bevorzugt werden soll.
Natürlich werden wir auch das ablehnende Votum des
Bundesrates in unsere Überlegungen mit einbeziehen,
wenn wir zurzeit auch nicht nachvollziehen können,
warum die Alteigentümer nach den Vorstellungen des
Bundesrates benachteiligt werden sollen. Insoweit scheint
uns der Lösungsansatz der Bundesregierung zu Art. 1 Nr. 1,
also die Änderung des § 2 Abs. 1 Satz 1 des Vermögens-
gesetzes, konsequenter zu sein. Aber auch hier möchten
wir eine genaue Prüfung im rechtstatsächlichen Bereich
vorgenommen sehen.
Die vorgesehene Klarstellung in Art. 1 Nr. 7, die die
Verringerung von Gebühren für Erbscheinerteilungen be-
trifft, wird von uns begrüßt. Dies gilt insbesondere des für
die Bemessung des Gegenstandswertes maßgeblichen Be-
wertungszeitpunktes. Hier hat es sehr unterschiedliche
Rechtsprechungen gegeben und aus Gerechtigkeitsgrün-
den kann nur der Wert der Ausgleichsleistungen zugrunde
gelegt werden, denn sonst könnte die Gebühr für Erb-
scheinerteilung höher sein als die tatsächlich zugrunde
gelegte Ausgleichsleistung.
Im Gesetzgebungsverfahren sollte im Übrigen geprüft
werden, ob eine Regelung aufgenommen werden kann,
dass der Erwerb nach § 3 Ausgleichsleistungsgesetz von
der Grunderwerbsteuer befreit ist.
Wir begrüßen, das dieser vorliegende Gesetzentwurf
noch in dieser Legislaturperiode in das Bundesgesetzblatt
gebracht werden soll. Dabei ist sicherlich auch noch der
Widerstand des Bundesrates zu überwinden. Ich hoffe
sehr, dass sich dabei der Bundesrat nicht nur von fiskali-
schen Gesichtspunkten leiten lässt, sondern auch stärker
als in seiner bisherigen Stellungnahme von Gerechtig-
keitsüberlegungen.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Der Berg der Änderungen
und Ergänzungen der Regelungen, mit denen die Eigen-
tumsordnung der DDR in den Geltungsbereich des BGB
überführt werden soll, wird immer höher. Wenn ich es rich-
tig sehe, gab es zum Vermögensgesetz bisher zwei Vermö-
gensrechtsänderungsgesetze, ein Vermögensrechtsanpas-
sungsgesetz, ein Vermögensrechtsbereinigungsgesetz und
ein Vermögensrechtsergänzungsgesetz. Von den vielen be-
gleitenden Gesetzen und Verordnungen rede ich erst gar
nicht. Das Ganze hat beinahe den Umfang des BGB ohne
dessen immanente Logik. Selbst Experten haben Mühe,
den Durchblick zu behalten. Für die Betroffenen ist das
Paragraphengestrüpp undurchdringlich – und schon des-
halb völlig ungeeignet, die innere Einheit Deutschlands
voran zu bringen. Nun soll noch ein zweites Vermögens-
rechtsergänzungsgesetz hinzukommen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120660
(C)
(D)
(A)
(B)
Die letzte Ursache für den Wirrwarr ist der verhäng-
nisvolle Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“, dem
nicht nur die Koalitionsfraktionen, sondern auch die SPD-
Fraktion zugestimmt haben. Die derzeitige Justizministe-
rin, Frau Däubler-Gmelin, hielt den Grundsatz damals für
„vernünftig“. Aber der „Fluch der bösen Tat“ verfolgt uns
bis heute. Ich weiß, dass der Grundsatz nicht mehr rück-
gängig zu machen ist. Aber ich muss daran erinnern. Ein
gerechter Ausgleich zwischen Alteigentümern und Er-
werbern und der Rechtsfrieden sind immer noch nicht
hergestellt.
Nun stehen wir vor der Situation, dass sich die Bun-
desregierung die Ablehnung ihres Gesetzentwurfs durch
den Bundesrat eingehandelt hat. Ich frage mich, wie
schlecht das BMJ mit seinen Partnern in Berlin und den
ostdeutschen Bundesländern zusammen gearbeitet hat,
dass es zu dieser Situation kommen konnte. Der Bundes-
rat hat aus meiner Sicht durchaus Gründe für seinen Be-
schluss. Die von der Regierung vorgeschlagenen Neue-
rungen führen in der Tat zu einer beträchtlichen Mehr-
belastung der Ämter zur Regelung offener Vermögensfra-
gen. Der Bundesrat sieht auch keine inhaltliche Notwen-
digkeit dafür. Die Bundesregierung hält dagegen, die
„materielle Gerechtigkeit“ und die Vermeidung von Un-
billigkeit für die Alteigentümer wiege schwerer als die Ar-
beitsbelastung der Verwaltung.
Nun soll der Bundestag entscheiden, wer Recht hat.
Das Gefeilsche im Vermittlungsausschuss ist schon vor-
programmiert. Die Kompromisse werden wieder nicht zu
einer abschließenden Regelung führen. Ein Arbeitsbe-
schaffungsprogramm für Richter und Rechtsanwälte!
Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht mit sei-
nem Beschluss vom 10. Oktober in einem Punkt ein
klärendes Wort gesprochen und uns – wie nicht selten –
ein Stück Arbeit und Entscheidung abgenommen. § 1
Abs. 3 des Entschädigungsgesetzes ist nach diesem Be-
schluss verfassungswidrig und nichtig. Bürger, die ein
Grundstückserbe wegen dessen Überschuldung ausge-
schlagen haben, erwerben einen Entschädigungsan-
spruch. Ich halte das für eine angemessene Entscheidung,
weil ich weiß, welche panische Angst manchen DDR-
Bürger befiel, wenn die Erbschaft eines überschuldeten
Mietsgrundstücks auf sie zuzukommen drohte. Ein sol-
cher Bürger soll gerechter- und billigerweise eine Ent-
schädigung erhalten.
Wir werden im Rechtsausschuss Gelegenheit haben,
mit Betroffenen und Experten Genaueres zu beraten. Ich
habe noch erheblichen Klärungsbedarf, bevor ich meine
endgültige Position festlege.
Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der
Justiz: Der heute in erster Lesung zu beratende Gesetz-
entwurf betrifft Regelungen auf dem Gebiet der offenen
Vermögensfragen in den neuen Bundesländern. Mit dem
Entwurf werden vor allem zwei Anliegen verfolgt, näm-
lich zum einen dort Klarstellungen vorzunehmen, wo sich
gezeigt hat, dass missverständliche Formulierungen ver-
mögensrechtliche Verfahren behindern oder zu unzutref-
fenden Ergebnissen führen können und zum anderen ge-
rechtere Lösungen zu ermöglichen, wo die geltenden
Regelungen in Ausnahmekonstellationen für Alteigentü-
mer zu unbilligen Entscheidungen führen.
Ich möchte vorweg betonen, dass die Bundesregie-
rung natürlich an einer zügigen Bearbeitung der vermö-
gens- und entschädigungsrechtlichen Verfahren sehr
interessiert ist. Dem Bundesrat ist insofern uneinge-
schränkt zuzustimmen. Zügig werden die Verfahren aber
nur dann abgeschlossen, wenn über die Entscheidungen
der Vermögensämter möglichst wenig Streitigkeiten ent-
stehen. Denn diese können sich über Jahre hinziehen und
belasten Rechtssuchende, Behörden und Gerichte glei-
chermaßen. Solche Streitigkeiten sollen die vorgeschla-
genen Klarstellungen und Verbesserungen verhindern
helfen.
Weil die zügige Abwicklung der Verfahren vor allem
dazu dient, Rechtsfrieden und materielle Gerechtigkeit
herzustellen, ist eine Selbstkontrolle der vermögens-
rechtlichen Vorschriften auch noch heute geboten, wo
der größere Teil der Verfahren bereits abgeschlossen ist.
Ich kann daher nicht verstehen, dass der Bundesrat die
Priorität offenbar allein in der Verfahrenserledigung
sieht und selbst dann kein Verständnis für unsere Vor-
schläge zeigt, wenn sie in diesem sensiblen Bereich al-
lein der Vermeidung von ungerechten Verfahrensergeb-
nissen dienen.
Wenn gesetzliche Regelungen zu widersprüchlichen
oder unbilligen Ergebnissen für die Alteigentümer führen,
muss der Gesetzgeber prüfen, ob und wie eine Korrektur
vorgenommen werden kann, auch wenn sich die Verwal-
tung dann in Randbereichen auf eine geänderte Rechts-
lage einstellen muss.
Ich möchte das an zwei Beispielen verdeutlichen:
Erstens. Die Praxis hat über Fälle zu entscheiden, in
denen einem Alteigentümer zu DDR-Zeiten zunächst
ein Grundstück durch unlautere Machenschaften entzo-
gen worden ist. Der selbe Eigentümer hatte nun außer-
dem noch ein Mietshaus. Nach seinem Tode hat der
Erbe die Erbschaft ausgeschlagen, weil die nicht kos-
tendeckenden Mieten zu einer Überschuldung geführt
hatten. Nach § 1 Abs. 2 des Vermögensgesetzes erhält
der anspruchsberechtigte Erbe heute zwar das Miets-
haus zurück. Im Übrigen bleibt es aber bisher bei den
Wirkungen der Erbausschlagung, sodass er nicht als
Rechtsnachfolger des ursprünglichen Eigentümers an-
gesehen wird. Das bedeutet, dass er keine Wiedergut-
machung für die Vermögensschädigung erhält, die
seinem Rechtsvorgänger aufgrund unlauterer Machen-
schaften in der DDR zugefügt worden waren. Das zu-
erst dem Erblasser entzogene Grundstück bekommt er
deshalb nicht zurück.
Ich denke, dieses Ergebnis kann man dem Betroffenen
nur schwer erklären. Mit der in § 2 Abs. 1 des Vermö-
gensgesetzes vorgeschlagenen Änderung wollen wir dies
korrigieren.
Zweitens. Teilgrundstücke sollen künftig auch dann
an die Alteigentümer zurückgegeben werden können,
wenn sie nicht mit dem öffentlichen Wegenetz verbunden
sind.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20661
(C)
(D)
(A)
(B)
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bekommt
der Alteigentümer unter Umständen einen Teil eines ur-
sprünglichen Gesamtgrundstücks nicht zurück, weil
dieser Teil vom öffentlichen Wegenetz durch einen
Grundstücksstreifen abgetrennt wird. Die Gerichte sehen
hier einen Fall der rechtlichen Unmöglichkeit der Rück-
gabe. Den abgetrennten – hinteren – Grundstücksteil be-
hält nach dieser Rechtsprechung derjenige, der durch die
DDR-Schädigung begünstigt worden war; das ist regel-
mäßig die öffentliche Hand.
In der Sachenrechtsbereinigung wird ein solches Pro-
blem gelöst: Das Sachenrechtsbereinigungsgesetz gibt
dem Hinterlieger einen Anspruch auf Einräumung einer
Dienstbarkeit. Ich meine, es liegt hier nahe, auf dieses In-
strument zurückzugreifen: nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Vermö-
gensgesetz (neu) soll künftig die Rückgabe nicht mehr an
der fehlenden Anbindung zum öffentlichen Wegenetz
scheitern.
Berechtigte Interessen der geschädigten Alteigentü-
mer dürfen nicht allein deshalb unberücksichtigt bleiben,
weil sonst eine zusätzliche Arbeitsbelastung für die Ver-
waltungsbehörden entsteht. Es ist vielmehr geboten, die
Belange der materiellen Gerechtigkeit einerseits und der
Arbeitsbelastung der Verwaltung andererseits gegenei-
nander abzuwägen. Dies haben wir im vorliegenden Ent-
wurf getan. Wir haben Vorschläge unterbreitet, die einer-
seits Ergebnisse vermeiden, die für die Alteigentümer un-
billig oder nicht mehr nachvollziehbar sind und die
andererseits nicht dazu führen, dass auf die Behörden
eine unvertretbare Mehrbelastung zukommt.
Es trifft zu, dass der vorliegende Entwurf Vorschläge
aufgreift, die nicht neu in der Diskussion sind. Dazu ha-
ben wir uns aber veranlasst gesehen, weil es um die Wie-
dergutmachung von NS-Unrecht geht. Ich meine die Er-
gänzung der Regelung zum so genannten doppelten
Durchgriff. Hier sollen in verstärktem Maße verfolgungs-
bedingt entzogene Anteile an Mutterunternehmen addiert
werden können. Diese Regelung wirkt sich sicher für die
gewerkschaftlichen Nachfolgeorganisationen – BIO –
aus, bezieht aber alle NS-Verfolgten ein.
Die vorgeschlagene Regelung ist ein Kompromiss zwi-
schen den berechtigten Anliegen der NS-Verfolgten und
dem Vertrauen der Verfügungsberechtigten – vor allem
der Wohnungswirtschaft – darauf, dass überhaupt keine
Addition kleinerer Anteile erfolgen werde: Die Anteile an
verschiedenen Unternehmen sollen nur dann addiert wer-
den, wenn der NS-Verfolgte auch ohne diese zusätzlichen
Anteile schon einen Anspruch auf Einräumung von
Bruchteilseigentum hatte. Sie werden diesem ohnehin
bestehenden Anspruch also nur hinzugezählt. Für die Ver-
fügungsberechtigten wird damit sichergestellt, dass Ver-
mögenswerte, die bislang völlig frei von Restitutionsan-
sprüchen waren, restitutionsfrei bleiben. Das gilt auch in
allen Fällen, in denen die Restitution schon bestandskräf-
tig abgelehnt wurde. Ein Wiederaufgreifen dieser abge-
schlossenen Verfahren wird es aufgrund der vorgeschla-
genen Regelung daher nicht geben. Damit wird zur
Planungssicherheit für die Wohnungswirtschaft beige-
tragen.
In einem anderen – ebenfalls schon bekannten – Be-
reich haben wir den bereits diskutierten Regelungsvor-
schlag in seinem Anwendungsbereich stark einge-
schränkt: Es geht um die Erweiterung der Verpflichtung
zur Herausgabe von Nutzungen auch dann, wenn das
Mietgrundstück nach dem Investitionsvorranggesetz ver-
wendet wird. Mit der Beschränkung auf die Verfahren
nach § 21 und § 21 b Investitionsvorranggesetz sind wir
der Wohnungswirtschaft entgegen gekommen. Zugleich
drängt sich aber in diesen Verfahren die Parallele zur
Rückgabe nach dem Vermögensgesetz auf, weil auch hier
im Ergebnis eine Rückübertragung auf den Alteigentü-
mer erfolgt, nur eben in einem anderen Verwaltungsver-
fahren.
Auch bei diesen InVorG-Verfahren besteht die Gefahr,
dass sie sich länger hinziehen. In der Zwischenzeit ver-
fallen die Häuser, wenn die Mieten nicht reinvestiert wer-
den. Dem Alteigentümer werden dann nicht nur die Miet-
erträge vorenthalten, sondern er erhält sein Haus auch
noch wertgemindert zurück. Diese Schieflage wollen wir
beseitigen.
Die Belastung der Wohnungsbauunternehmen durch
diese Neuregelung hält sich in Grenzen, weil der An-
spruch binnen eines Jahres nach bestandskräftiger Fest-
stellung der Berechtigung geltend zu machen ist. In vie-
len Verfahren aus der Vergangenheit ist diese Frist bereits
verstrichen.
Abschließend zum Vermögensgesetz möchte ich da-
rauf aufmerksam machen, dass inzwischen auch allein der
Zeitablauf nach der Wiedervereinigung rechtliche Ände-
rungen dringend fordert. In immer mehr Fällen kann eine
Wiedergutmachung nicht mehr gegenüber den Geschä-
digten selbst erfolgen, weil diese vorher versterben. Denn
wider Erwarten sind elf Jahre nach der Vereinigung noch
immer nicht alle Rückübertragungsverfahren entschieden
worden, von den Entschädigungsverfahren ganz zu
schweigen. Unter diesen Umständen ist nicht länger ver-
tretbar, dass die Rechtsnachfolger eines verstorbenen
SBZ- oder DDR-Geschädigten auch noch Gebühren dafür
zahlen müssen, um sich dafür legitimieren zu können, das
Verfahren bis zu einer Entscheidung weiter zu führen, die
eigentlich der Geschädigte selbst hätte erhalten sollen.
Es ist nach § 31 Abs. 1 c Vermögensgesetz bereits gel-
tendes Recht, dass NS-Verfolgte einen Anspruch auf Er-
teilung beschränkt kostenfreier Erbscheine haben. Wenn
sich Rechtsnachfolger allein durch die Höhe der Ge-
bühren davon abschrecken lassen, das Verfahren weiter zu
führen, kann dadurch sogar verhindert werden, dass eine
Wiedergutmachung überhaupt erfolgt. Das kann nicht
richtig sein; deshalb sollen in diesen Fällen für die DDR-
Geschädigten dieselben Regeln wie für NS-Verfolgte gel-
ten und auch für sie die Erteilung des Erbscheins kosten-
frei erfolgen.
Der Gesetzentwurf enthält ferner Regelungen für das
Entschädigungsgesetz. Hier werden vor allem Klar-
stellungen zu den Berechnungs- oder Anrechnungs-
grundlagen bei der Bemessung von Entschädigungsleis-
tungen getroffen. Diese greifen zum Teil eine bereits
zwischen Bund und Ländern abgestimmte Verwaltungs-
praxis auf.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120662
(C)
(D)
(A)
(B)
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor
angedrohten und vorgetäuschten Straftaten (Ta-
gesordnungspunkt 12)
Hermann Bachmaier (SPD):Wir sind uns sicherlich
darüber einig, dass diejenigen, die unter Ausnutzung der
Ängste und Sorgen der Menschen als so genannte Tritt-
brettfahrer gefährliche Straftaten vortäuschen und die Be-
völkerung in Angst und Schrecken versetzen, empfindlich
bestraft werden müssen. Die bislang vorliegenden Urteile
zeigen, dass die Justiz mit kriminellen Trittbrettfahrern
auch nicht gerade zimperlich umgeht. Das ist auch gut so.
Freiheitsstrafen, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wer-
den, sind an der Tagesordnung. Allerdings haben die bis-
herigen Urteile auch gezeigt, dass der in § 126 StGB ge-
setzte Strafrahmen durchaus ausreicht, um strafrechtlich
angemessen zu reagieren. Schließlich kommt bei Strafta-
ten dieser Art auch noch die Anwendung weiterer Straf-
vorschriften wie die des § 145 d StGB, also das Vortäu-
schen einer Straftat, die Körperverletzungsdelikte und
auch der Bedrohungstatbestand des § 241 StGB in Be-
tracht. Zusammengenommen reicht unseres Erachtens
nach bisherigen Erfahrungen das vorliegende strafrechtli-
che Instrumentarium aus, um auf diese gefährlichen und
verwerflichen Straftaten angemessen zu reagieren. Ent-
scheidend ist aber in diesen Fällen, dass Täter, die gewis-
senlos Straftaten vortäuschen, um andere in Angst und
Schrecken zu versetzen, schnell gefasst und auch zügig vor
Gericht gestellt werden. Dies ist dank der gründlichen Ar-
beit der Polizei auch in vielen, wenn nicht gar den meisten
Fällen geschehen, obwohl die Täter in aller Regel unter
dem Schutz der Anonymität ihr hässliches Handwerk be-
treiben. Nicht vergessen darf man natürlich auch, dass den
Betroffenen dann, wenn die Täter gefasst sind, ein um-
fangreiches zivilrechtliches Instrumentarium zur Verfü-
gung steht, um angemessenen Schadenersatz bis hin zu re-
lativ hohen Schmerzensgeldern zu erlangen. Gerade in
derartigen Fällen neigen unsere Zivilgerichte nicht dazu,
Schmerzensgelder allzu knapp zu bemessen. Auch die ho-
hen Kosten, die der öffentlichen Hand durch den Schutz
der Betroffenen, kostenintensive Polizeieinsätze und be-
trächtlichen Aufwand für Gutachten entstehen, können ge-
genüber den Tätern geltend gemacht werden. Die meisten
Polizeigesetze enthalten hierzu ausdrückliche Regelun-
gen. Danach sind die Verantwortlichen zum Ersatz aller
der Polizei entstandenen Kosten verpflichtet. Hierzu
zählen auch die entstandenen Auslagen. Diese Auslagen
umfassen alle durch den Einsatz entstandenen Kosten. Sie
schließen auch alle Leistungen ein, die der Polizei im Zu-
sammenhang mit den von ihr getroffenen Maßnahmen an
Dritte gezahlt werden müssen.
Wir sind deshalb der Meinung, dass die bisherigen In-
strumentarien tragfähig genug sind, um gegen verantwor-
tungslose Trittbrettfahrer so energisch vorzugehen, dass
sich eine Nachahmung nicht empfiehlt. Wer die ohnehin
vorhandenen Ängste und Sorgen der Menschen noch da-
durch steigert, dass er weiteren Schrecken durch vor-
getäuschte Gefahren verbreitet, kann keine Nachsicht für
sich in Anspruch nehmen. In diesen Fällen müssen Poli-
zei und Justiz unnachsichtig ihrer Aufgabe nachkommen.
Wir sollten uns aber auch davor hüten, den Menschen
vorzugaukeln, dass eine Anhebung des bisherigen Straf-
rahmens auf bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe schon ge-
eigenet wäre, Abhilfe und hinreichende Abschreckung zu
schaffen. Wichtig ist, die Täter schnell zu fassen und vor
Gericht zu stellen und sie so zu bestrafen, wie dies bis-
lang meines Erachtens in hinreichendem Umfange ge-
schehen ist. Wenn potenzielle Täter wissen, dass sie mit
unnachsichtiger Ahndung und mit erheblichen Schaden-
ersatzansprüchen zu rechnen haben, werden sie vielleicht
doch noch von ihren kriminellen und zynischen Vorha-
ben abgehalten. Wer allerdings den Eindruck zu er-
wecken versucht, wie Sie dies in der Überschrift Ihres
Gesetzentwurfes zum Ausdruck bringen, dass man nur
den Strafrahmen des § 126 StGB erweitern muss, um die
Bevölkerung zu schützen, der streut den Menschen Sand
in die Augen. Ich glaube, Sie wären gut beraten, endlich
einmal darüber nachzudenken, dass man mit rein symbo-
lischen strafrechtlichen Verschärfungen herzlich wenig
bewirken kann. Die notwendigen Stragesetze haben wir.
Es gilt, die Täter zu fassen und sie zur Verantwortung zu
ziehen. Dennoch werden wir Ihren Gesetzentwurf gründ-
lich, zügig und auch unvoreingenommen prüfen und
beraten und deshalb selbstverständlich auch der heute
vorgesehenen Überweisung an den zuständigen Rechts-
ausschuss und den mitberatenden Innenausschuss zu-
stimmen.
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Es liegt schon eine
Weile zurück, als in Deutschland Trittbrettfahrer auf das
Wohlwollen ihrer Mitbürger rechnen konnten. Das war
vor gut fünf Jahrzehnten, als man in Berlin und in den an-
deren vom Krieg zerstörten Städten auf die Trittbretter der
Waggons aufsprang, um in überfüllten Zügen aufs Land
zu fahren, und dies nicht zum Vergnügen, sondern eher als
Überlebensstrategie. Doch dies ist Geschichte. Inzwi-
schen sind nicht nur die Züge schneller und komfortabler
geworden, die Trittbretter sind mehr oder weniger ver-
schwunden, aber der Begriff hat sich gehalten. Heutzu-
tage ist der Trittbrettfahrer aber zum Synonym für eine
ganz besondere Spezies Mensch geworden. Dies sind
Männer und Frauen, die ein klammheimliches Vergnügen
dabei empfinden, mit der Sorge und Furcht ihrer Mitbür-
ger ein übles Spiel zu treiben. Dies sind Männer und
Frauen, die einen Kick aus ihrer anonymen Macht gewin-
nen, ihre Mitbürger in Angst und Panik zu versetzen. Dies
sind Männer und Frauen, die eine Straftat nachahmen
oder – was noch häufiger der Fall ist – dies zumindest vor-
täuschen oder androhen. Diese besondere Spezies unserer
Mitbürger braucht ein klares Stoppsignal. Und dieses
Stoppsignal wollen wir als CDU/CSU mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf setzen.
Sicherlich gibt es den Trittbrettfahrer nicht erst seit
dem 11. September dieses Jahres. Jeder Kommissar, der
einen Kindermörder sucht, kennt die Spinner und Wich-
tigtuer, die weitere Taten ankündigen. Und auch die Feu-
erwehrleute kennen seit Jahren den falschen Alarm bei
Nacht.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20663
(C)
(D)
(A)
(B)
Nach spektakulären Verbrechen oder Katastrophen
taucht halt – und nicht nur in unserem Land – diese be-
sondere Spezies der Trittbrettfahrer auf. Und aus diesem
Grund gibt es in unserem Strafgesetzbuch nicht erst seit
gestern auch den § 126 und den § 145 d.
Viele Bürger empfinden den 11. September aber auch
an diesem Punkt als Zäsur. Früher war man sicherlich et-
was geneigter, Nachsicht zu üben, und die Höchststrafe
für die „Störung des öffentlichen Friedens durch An-
drohung von Straftaten“ wurde kaum verhängt. Die Be-
reitschaft unserer Mitbürger, nach dem 11. September
anonyme Briefe, gefüllt mit Puderzucker, Milzbrand-
Drohungen per Telefon oder falsche Notrufe „lustig“ zu
finden und diese nur als schlechten Scherz abzutun, ist in-
zwischen aber bei null angekommen. Die Botschaft ge-
genüber Politik und Justiz ist klar und eindeutig: Null To-
leranz gegenüber Trittbrettfahrern!
Die Drohung eines jungen Mannes aus Nordrhein-
Westfalen „Das World Trade Center ist weg – jetzt ist
Frankfurt dran“ wurde vor kurzem mit acht Monaten Ge-
fängnis geahndet. Ich kenne keinen, der Kritik an diesem
Urteil übt. Wer auf dem Trittbrett eines Zuges namens
„Terrorismus“ mitfährt, der darf sich nicht wundern, wenn
er von den Gegenmaßnahmen, den Zug aufzuhalten, auch
etwas abbekommt. Und für alle potenziellen Nachahmer
lautet die Botschaft ganz eindeutig: Null Toleranz gegen-
über Trittbrettfahrern!
Aber zur ehrlichen Bestandsaufnahme der Gegenwart
gehört auch die klare Erkenntnis, dass die bisherige Straf-
androhung – vielleicht auch die Praxis im Justizalltag –
offensichtlich nur unzureichend die erhoffte Ab-
schreckungswirkung entfaltet hat. Anders lässt es sich
sonst kaum erklären, dass seit Einführung des Sondermel-
dedienstes für Milzbrandverdachtsfälle über 4 000 Ver-
dachtsfälle bis zum heutigen Tage gemeldet wurden. Lei-
der sind es keine Einzelfälle, sondern offenbar ein
Massenphänomen, dass verantwortungslose Menschen
Briefe oder Pakete mit weißen, pulverförmigen Substan-
zen füllen, um beim Empfänger den Anschein zu er-
wecken, er setze sich einer Milzbrandgefahr aus. Diese
verantwortungslosen Zeitgenossen treiben nicht nur ihre
Mitbürger in Angst und Schrecken, sondern lösen auch
– wie wir in den letzten Monaten gesehen, erlebt und er-
litten haben – Großeinsätze von Polizei und Feuerwehr
aus, die ebenso unser aller Steuergeld kosten, wie die Un-
tersuchungen in den Speziallaboren. Der Polizei, der Feu-
erwehr und allen anderen, die über viele Wochen ganz
außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt waren und in
dieser Zeit weit mehr als nur ihre Pflicht taten, sei von die-
ser Stelle ganz herzlich gedankt.
Der Schaden beschränkt sich aber nicht nur auf den öf-
fentlichen Bereich. Wenn Bürokomplexe, Bahnhöfe oder
Flughäfen geschlossen werden müssen, sind Tausende
von Mitbürgern hiervon betroffen und selbstverständlich
auch materiell wie immateriell geschädigt worden.
Ich glaube, die Sozialschädlichkeit dieses Verhaltens
ist uns allen in den vergangenen Wochen verstärkt wieder
bewusst geworden. Und die „Störung des öffentlichen
Friedens“ – wie es im Gesetz heißt – ist mehr als offen-
sichtlich von den Trittbrettfahrern gewollt und verursacht
worden.
Als Christdemokraten wollen wir aus der unheilvollen
Serie von Vorfällen dieser Art die Konsequenzen ziehen.
Wir wollen gegen diejenigen, die man verharmlosend als
Trittbrettfahrer bezeichnet, härter vorgehen. Wer in der
gegenwärtigen Situation Straftaten androht oder vor-
täuscht, seine Mitbürger in Angst und Schrecken versetzt,
Feuerwehrleute und Polizeibeamte bindet und diese damit
von ihren eigenen Aufgaben abhält, der begeht kein Ka-
valiersdelikt mehr, sondern der entfaltet – ich sage dies
ganz klar und eindeutig – eine kriminelle Energie, die
auch hart bestraft werden muss. Unser Gesetzentwurf
sieht daher vor, die Strafdrohung des § 126 StGB zu er-
höhen. Unser Entwurf bringt deutlich zum Ausdruck, dass
Delikte von solch hoher Sozialschädlichkeit schwerer ge-
ahndet werden müssen, als dies der bisherigen Praxis ent-
spricht. Bisher waren diese Taten im Höchstmaß mit ge-
ringerer Strafe bedroht als ein Ladendiebstahl nach § 242
StGB oder eine Sachbeschädigung nach § 303 StGB. Und
das wollen wir ändern.
Thüringen hat parallel im Bundesrat einen Gesetzes-
antrag eingebracht, der nicht nur eine Anhebung der
Strafandrohung auf fünf Jahre, sondern auch die Ein-
führung einer Mindeststrafe von einem Jahr vorsieht. Da-
mit wird aus einem Vergehen ein Verbrechen. Dies hätte
auch zur Folge, dass bereits der Versuch einer solchen
Straftat oder die Verabredung von mehreren Personen zu
einer solchen Tat verfolgt werden kann, ohne dass dies im
Gesetz ausdrücklich erwähnt sein muss. Ich werbe sehr
dafür, dass wir in den Ausschußberatungen uns darüber
verständigen sollten, ob eine solche Charakterverschie-
bung vom Vergehen zum Verbrechen für dieses Delikt
sinnvoll ist.
Leider haben nicht nur wir es mit den unverantwortli-
chen Aktionen der Trittfahrer zu tun. Auch unsere Nach-
barn trifft es – und sie handeln. Bis jetzt droht in
Großbritannien Trittbrettfahrern, die weißes Pulver ver-
schicken und damit einen Milzbrand-Alarm auslösen, im
Höchstfall eine Haftstrafe von sechs Monaten. Das briti-
sche Anti-Terrorismus-Gesetz sieht nun Haftstrafen in
Höhe von bis zu sieben Jahren für Trittbrettfahrer vor.
Eine entsprechende Novelle hat bereits Österreich verab-
schiedet und eine Erhöhung der Strafandrohung vorge-
nommen.
Ich hoffe, dass wir in diesem Hause zügig unseren Ge-
setzentwurf beraten werden. Unsere Mitbürger erwarten
es, dass wir bald den Trittbrettfahrern dieses eindeutige
Stoppsignal setzen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die so genannte Trittbrettfahrerei der letzten Wochen und
Monate ist eine widerwärtige Begleiterscheinung der
schrecklichen Terrorakte vom 11. September. Wir sind
uns darin wohl alle einig: Vorgetäuschte Anthrax-Briefe
oder unwahre Bombendrohungen sind kein schlechter
Witz! Sie versetzen Menschen unnötig in Angst und
Schrecken und sie verursachen extreme Kosten für das
Gemeinwesen. Deshalb muss klar sein: Trittbrettfahrerei
verdient eine harte und zügige Bestrafung durch unsere
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120664
(C)
(D)
(A)
(B)
Justiz. Genau das geschieht auch: Vereinzelte Gerichts-
entscheidungen in den vergangenen Wochen haben ge-
zeigt, dass die geltende Rechtslage durchaus ausreicht,
um den Tätern angemessen und schmerzhaft ihr Unrecht
vor Augen zu führen.
Deshalb ist Ihr Gesetzentwurf, den Sie uns vorgelegt
haben, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Union, schlichtweg überflüssig. Es ist ja bei Ihnen im
Übrigen auch immer dasselbe Ritual: Bei den Straftaten,
die gerade in der Öffentlichkeit – aus welchen Gründen
auch immer – in aller Munde sind, fordern Sie immer so-
gleich eine Erhöhung der Strafrahmen. Als ob das ir-
gendetwas bringen würde! Legen Sie doch endlich mal
Ihre populistischen Reflexe ab! Gaukeln Sie doch den
Menschen nicht vor, dass den Gerichten in diesem Land
angeblich der angemessene Strafrahmen für die Ahndung
dieser Delikte fehlt! Das stimmt einfach nicht und Sie
wissen das auch! Ich kann Ihnen nur sagen: Gesetzent-
würfe dieser Natur sind schlichtweg unseriös und die Be-
fassung damit ist eine Zeitverschwendung für uns Parla-
mentarier!
Unser Strafgesetzbuch enthält für solche Trittbrettfah-
rer-Handlungen – je nach den Umständen des Einzelfal-
les – eine ganze Reihe von einschlägigen Straftatbestän-
den mit teilweise erheblichen Strafandrohungen: Der
§ 126 Abs. 1 beispielsweise sieht für eine Störung des öf-
fentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten eine
Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis. Nach Abs. 2 der-
selben Vorschrift wird die friedensstörende Vortäuschung
der rechtswidrigen Tat eines anderen ebenso mit bis zu
drei Jahren Haft bestraft. Diese Freiheitsstrafe kann auch
demjenigen blühen, der nach § 145 d Strafgesetzbuch eine
Straftat vortäuscht. Der Straftatbestand der Bedrohung in
§ 241 Strafgesetzbuch ermöglicht ebenfalls eine Haft bis
zu einem Jahr. Oft sind gleich mehrere dieser Tatbestände
in Tateinheit verwirklicht.
Den Tätern blüht ja nicht nur die strafrechtliche Ahn-
dung. Trittbrettfahrerei kann auch verdammt teuer
werden. Denn neben den strafrechtlichen Konsequenzen
drohen den Trittbrettfahrern zivilrechtliche Schadenser-
satzansprüche und überdies die öffentlich-rechtliche Kos-
tenersatzpflicht für den unbegründeten Einsatz von Poli-
zei und anderen Behörden. Ich empfehle zum Beispiel da
mal einen Blick in die diversen Polizeigesetze der Länder,
die insoweit ausdrückliche Regelungen enthalten, zum
Beispiel Art. 9 Abs. 1 BayPAG in Verbindung mit § 1 Nr. 1
BayPolKV.
Das Problem bei der Trittbrettfahrerei ist also nicht die
fehlende Sanktionsmöglichkeit, wie uns dies heute die
Union vorgaukeln will. Die Schwierigkeit besteht für die
Strafverfolgungsbehörden vielmehr darin, der Täter über-
haupt habhaft zu werden. Denn bei einem absenderlosen
Brief gefüllt mit Waschpulver verlaufen die Ermittlungen
meist im Sande. Da hilft das Schrauben an der Strafrah-
men-Schraube überhaupt nichts!
Jörg van Essen (FDP): Das Unwesen der Trittbrett-
fahrer ist leider nicht neu. Schon seit vielen Jahren erre-
gen wir uns über Trittbrettfahrer, die in spektakulären Ent-
führungsfällen versuchen, das Lösegeld zu ergaunern.
Im aktuellen Zusammenhang mit den Milzbrandfällen
hat das Problem mit den Trittbrettfahrern allerdings eine
neue, erschreckende Dimension erhalten. Polizei, Feuer-
wehr, Katastrophenschutz, Labore und Institute werden
durch immer neu auftauchende vorgetäuschte Milzbrand-
fälle regelrecht lahm gelegt. In unerträglicher Weise wird
hier mit den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger ge-
spielt. Die Sicherheitsdienste werden dringend gebraucht,
um der neuen Sicherheitslage in Deutschland angemessen
zu begegnen. Dieser Aufgabe können sie aber nur unzu-
reichend gerecht werden, da viele Ressourcen für die
Milzbrandverdachtsfälle gebraucht werden. Diese
Einsätze sind nicht nur mit einem hohen Personalaufwand
verbunden, sondern darüber hinaus auch mit erheblichen
Kosten.
Der Staat muss gegenüber diesen Tätern angemessen
reagieren. Trittbrettfahrer müssen die ganze Härte der
Gesetze zu spüren bekommen. Unsere Rechtsordnung
sieht dafür insgesamt mehrere Möglichkeiten vor. Zum
einen können gegenüber diesen Tätern Schadensersatz-
ansprüche geltend gemacht werden. Dies schließt auch
die Kosten für den Einsatz von Polizei und anderen
Behörden mit ein. Zum anderen gibt es im Strafrecht zahl-
reiche Tatbestände, die gegenüber Trittbrettfahrern zur
Anwendung kommen können. Ich denke hier beispiels-
weise an die Störung des öffentlichen Friedens durch
Androhung von Straftaten, das Vortäuschen einer Straftat
oder an die Bedrohung. Das Strafrecht bietet also durch-
aus geeignete Antworten, um dem Problem der Trittbrett-
fahrer zu begegnen.
Das schnelle Rufen nach einer Erhöhung des Straf-
rahmens ist hier fehl am Platze und wird dem Problem nur
unzureichend gerecht. Wir brauchen in diesen Fällen
vielmehr eine schnelle Verurteilung der Straftäter. Das be-
schleunigte Verfahren eignet sich hierfür besonders. Nur
wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, wird sie weitere
Nachahmungstäter abschrecken. Verurteilungen zu mehr-
monatigen Freiheitsstrafen ohne Bewährung sind der
richtige Weg. Wichtig ist, dass hier die Bürgerinnen und
Bürger mit den Organen des Staates gemeinsam bekun-
den, dass das Vortäuschen einer widerwärtigen Straftat
keinerlei Billigung durch die Gesellschaft erfährt. Die
Medien können durch zurückhaltende Berichterstattung
zusätzlich helfen.
Wenn CDU/CSU in ihrem Gesetzentwurf dennoch
eine Erhöhung des Strafrahmens fordern, müssen sie
schlüssig darlegen, wie sie die unabhängigen Richter
dazu zwingen wollen, den Strafrahmen in seiner Er-
höhung auch anzuwenden. Alle Erfahrungen sprechen
dagegen. Es handelt sich um einen absolut untauglichen
Vorschlag.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS):Mit den Ängsten von Men-
schen zu spielen ist perfide und durch nichts zu recht-
fertigen. Ganz gleich aus welchen Motiven, mit welchen
Mitteln und welchen Zielen verharmlosend als Tritt-
brettfahrer bezeichnete Täter ihre Mitmenschen in Angst
und Schrecken versetzen: Auch Pseudo-Terroristen sind
konsequent zur Verantwortung zu ziehen. Ich teile inso-
fern voll und ganz die Sorge der CDU/CSU-Fraktion,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20665
(C)
(D)
(A)
(B)
die in ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Doch
wie leider so oft, geht unsere Meinung über die vernünf-
tige Behandlung bzw. Lösung eines Problems ausei-
nander.
Zu dem vorliegenden Gesetzentwurf kann ich kurz ge-
fasst nur sagen: Problem benannt, in der Lösung verrannt
und bei den Alternativen ohne Fantasie. Apropos Fanta-
sie: Fällt Ihnen denn bei gesellschaftsschädlichem Ver-
halten immer nur die Straferhöhung ein? Sollte eine
christliche und soziale Partei vor das Strafen nicht
zunächst andere sozialintegrative Überlegungen und Vor-
schläge stellen? Eine geänderte sozialethische Bewer-
tung, von der Sie in ihrem Entwurf sprechen – wenn dies
überhaupt zutrifft –, muss doch nicht zwangsläufig zu
schärferen Strafrechtssanktionen führen.
Da die CDU/CSU in Sachen Finanzen sich traditionell
für überaus kompetent hält: Wieso schreiben Sie in Ihrem
Gesetzentwurf, dass seine Umsetzung keine Kosten ver-
ursachen würde? Von den Vertretern Ihrer Partei wird
doch immer wieder darauf hingewiesen, wie hoch die
Kosten für den Strafvollzug sind. Wenn es um Ausländer
geht, die in deutschen Strafvollzugsanstalten einsitzen,
höre ich stets diesen Hinweis mit erhobener Stimme.
Oder geht es Ihnen mit der vorgeschlagenen Strafer-
höhung nur um Abschreckung? Dann muss ich aber lang-
sam zu dem Schluss kommen, dass sich die CDU/CSU
– zumindest in der Rechtspolitik – als Abschreckungs-
partei geriert.
Ich bin der Meinung, dass unsere Rechtsordnung ein
ausreichendes Instrumentarium an Kriminalstrafen als
auch zivilrechtliche Schadenersatzregelungen für solche
Fälle bereithält. Polizei und Justiz haben bislang unter
Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, schnell und an-
gemessen zu reagieren. Auch wenn ich nicht davon über-
zeugt bin, dass hohe Strafen potenzielle Nachahmungs-
täter abschrecken, möchte ich aber keine Zweifel
aufkommen lassen, dass in solchen Fällen eine empfind-
liche Bestrafung erfolgen muss. Nicht zuletzt sollen die
Täter sowohl für alle Schäden als auch für die angefal-
lenen Kosten der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr auf-
kommen.
Aber abgesehen von den notwendigen rechtlichen Re-
aktionen ist eine öffentliche Ächtung solcher Handlungen
nicht minder wichtig. Ich würde mir wünschen, dass
insbesondere die Medien durch eine verantwortungs-
bewusste Berichterstattung mit dazu beitragen, Nachah-
mungstaten tendenziell zu verhindern. Da in der Vergan-
genheit auch Jugendliche mehr oder weniger unbedarft
Einzelne oder gar die Öffentlichkeit aus unterschied-
lichsten Motiven „erschreckt“ haben, müssen aber auch
die Eltern und Lehrer gerade in diesen Tagen ihre Verant-
wortung wahrnehmen. Sie sollten überzeugend deutlich
machen, dass anonyme Drohungen mit Angst- und
Schreckenspotenzial keine Dummejungenstreiche oder
alberne Mädchenscherze sind.
Ob das Strafrecht diese Tätergruppe abschreckt, halte
ich für sehr zweifelhaft. Aber vielleicht schreckt sie die
CDU/CSU.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– des Entwurfs eines Gesetzes zurÄnderung des
Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen so-
zialen Jahres und anderer Gesetze (FSJ-För-
derungsänderungsgesetz – FSJGÄndG)
– Antrag: Deutschland braucht gesetzliche
Rahmenbedingungen für einen allgemeinen
Freiwilligendienst
(Tagesordnungspunkt 13 und Zusatztagesord-
nungspunkt 17)
Dieter Dzewas (SPD):
„Ich kann besser mit Menschen umgehen, habe ge-
lernt, sie zu verstehen und auf sie einzugehen. Die
Achtung vor dem Menschen steigt, auch die Achtung
vor dem Alter und das Umgehen mit dem Tod. Ich
habe gelernt, andere Meinungen zu tolerieren.“
So lautet die deutliche Aussage einer Absolventin eines
freiwilligen sozialen Jahres, nachzulesen in der „Untersu-
chung zum Freiwilligen Sozialen Jahr“, die vom Bundes-
familienministerium 1998 – und zwar noch vor dem Re-
gierungswechsel – veröffentlicht wurde.
Freiwilliges Engagement ist eines der Fundamente, auf
denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Eine zivile bür-
gerliche Gesellschaft hat ohne das ehrenamtliche und frei-
willige Zutun ihrer einzelnen Mitglieder keine Zukunft.
Gerade im Internationalen Jahr der Freiwilligen sollten
wir uns das vor Augen führen.
Die Studie „Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürger-
schaftliches Engagement“ von 1999 fördert zutage: Be-
sonders junge Mitbürgerinnen und Mitbürger zwischen
14 und 24 Jahren sind mit 37 Prozent überdurchschnittlich
oft und gerne freiwillig engagiert. Das zeigen auch die
Zahlen: Etwa 13 000 junge Menschen leisten jedes Jahr
ein freiwilliges soziales oder freiwilliges ökologisches
Jahr.
Etwa 91 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
eines freiwilligen Jahres beurteilen ihr Jahr als sehr posi-
tiv oder positiv. Auch das ist in der Studie zum FSJ nach-
zulesen. Für fast alle Jugendlichen ist der Freiwilligen-
dienst richtungsweisend für ihre soziale Kompetenz und
die berufliche Entwicklung.
Wir können sehen, dass junge Freiwillige in ihrer über-
wältigenden Mehrheit sehr zufrieden mit dem FSJ und
FÖJ sind. Das zeigt auch, dass die Nachfrage nach Frei-
willigenplätzen seit Jahren das Angebot übersteigt. Wir
sehen darin aber keinen Grund sich auszuruhen. Stattdes-
sen wollen SPD und Bündnis 90/Die Grünen das Engage-
ment junger Mitbürgerinnen und Mitbürger weiter
fördern. Das von uns eingebrachte FSJ-Förderungsände-
rungsgesetz unterstützt junge Leute beim freiwilligen En-
gagement.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120666
(C)
(D)
(A)
(B)
Wir flexibilisieren die Dauer des Dienstes, dessen
Höchstdauer 18 Monate (12 + 6) beträgt, und ermöglichen
die Ableistung in zeitlichen Abschnitten von mindestens
3 Monaten innerhalb eines Gesamtzeitraums von 2 Jah-
ren. Die Förderung des Freiwilligendienstes im Ausland
erweitern wir auf Länder außerhalb Europas.
Wir erhöhen die berufsqualifizierende Bedeutung des
freiwilligen Jahres. Mit dem In-Kraft-Treten unseres FSJ-
Förderungsänderungsgesetzes erhalten Freiwillige nach
Ableistung des Dienstes ein Zeugnis mit der Aufnahme
berufsqualifizierender Merkmale ihrer Tätigkeit.
Wir stärken die Freiwilligendienste und machen sie at-
traktiver:
Erstens. Wir erweitern die Möglichkeiten, in welchen
Bereichen sich junge Freiwillige engagieren können. Wir
öffnen neben den klassischen Bereichen wie sozialen
Dienstleistungen, dem Gesundheits- und Pflegebereich
auch die Felder Kultur, Sport, Denkmalpflege und Ju-
gendhilfe. Im kulturellen Bereich heißt das beispielsweise
die Hilfe in Bibliotheken, Musikinitiativen oder Museen,
in der Denkmalpflege die Unterstützung restaurativer und
pflegender Maßnahmen.
Für viele junge Männer und Frauen sind die neu auf-
genommen Bereiche eine echte Alternative zum klassi-
schen FÖJ oder FSJ. Viele Jugendliche sind gerne im
sportlichen Umfeld zuhause und mit gesteigerter Freude
in diesen Bereichen aktiv. Wir zeigen mit der Ausweitung
der Dienste auch unsere Anerkennung der Leistungen.
Zudem machen wir als Gesellschaft deutlich, dass wir
junge engagierte Menschen brauchen und schätzen.
Auch die Flexibilisierung der Dienste und die Ableis-
tung in Blöcken von 3 Monaten innerhalb eines Zeitraums
von 2 Jahren erhöht deren Attraktivität. Gerade junge
Menschen fühlen sich oft überfordert, wenn man ihnen
eine Dienstzeit von 12 Monaten anbietet. Viele reagieren
reserviert angesichts dieses langen Zeitraums, einige ste-
hen ihm gar ablehnend gegenüber, obwohl sie das Enga-
gement selbst befürworten. Die Antwort darauf heißt
Flexibilisierung, und diese erfolgt in Absprache mit den
Einsatzstellen.
Zweitens. Wir ersetzen das Mindestalter für die Ableis-
tung eines freiwilligen Jahres durch den Zeitpunkt des
Endes der Vollzeitschulpflicht. Das bedeutet, dass nun
auch Absolventen von Haupt- und Realschulen nahezu
unmittelbar nach ihrer Schulzeit ein FSJ oder FÖJ begin-
nen können.
Drittens. Mit dem neuen § 14c Zivildienstgesetz regeln
wir, dass anerkannte Kriegsdienstverweigerer in Zukunft
nach ihrer Anerkennung ein freiwilliges soziales oder
freiwilliges ökologisches Jahr als Ersatz für den Zivil-
dienst ableisten können. Auch hier gilt: Das FSJ kann in
den Bereichen liegen, die beispielsweise im kulturellen
oder sportlichen Spektrum liegen. Voraussetzung ist eine
mindestens 2 Monate längere Verpflichtung als bei Zivil-
dienstleistenden. Bevor nun die Einwände kommen: Die
Plätze für Zivildienstleistende in Freiwilligendiensten
werden zusätzlich zu den schon vorhandenen angeboten.
Es wird kein Gerangel um freie Plätze geben.
Viertens. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf treten
wir in der Frage der Konversion des Zivildiensts von der
Phase des Redens in die Phase des Handelns.
Mit der Ermöglichung, FSJ und FÖJ anstelle des Zivil-
dienstes zu leisten, erhöhen wir die Attraktivität der Frei-
willigendienste.Wir bewegen uns weg vomCharakter des
verordneten Dienstes wie dem Wehrdienst oder dem Zi-
vildienst und öffnen neue Felder, die auch individuelle in-
teressenorientierte Schwerpunktsetzungen zulassen.
Mit einigen Sätzen möchte ich noch auf den mitzube-
ratenden Antrag der FDP-Fraktion eingehen. Dieser ist in
seiner Form eher eine beliebige Ansammlung von Allge-
meinplätzen und sicher keine Alternative zum vorliegen-
den Gesetzentwurf. Für zukünftige Vorhaben enthält er
aber einige diskussionswürdige Vorschläge, die allerdings
mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission „Zukunft
des Bürgerschaftlichen Engagements“ abgeglichen wer-
den sollten.
Unser Gesetzentwurf dagegen ist ein Angebot an junge
Menschen, an eine gesellschaftlich engagierte Genera-
tion, an junge Leute, die etwas bewegen wollen, sich ein-
bringen möchten und dafür wertvolle Zeit opfern. Und ich
denke, es herrscht Konsens im ganzen Hause: Wir müssen
junge Freiwillige mit aller Kraft unterstützen.
Thomas Dörflinger (CDU/CSU): 34 Prozent aller
Deutschen über 14 Jahre engagieren sich in irgendeiner
Form ehrenamtlich. Die Debatte, die wir heute über die
Zukunft der Freiwilligendienste führen, ist für die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion daher auch Anlass, zunächst an
die vielen Bürgerinnen und Bürger ein herzliches Wort
des Dankes und der Anerkennung zu sagen.
Alle Parteien in diesemHohen Haus haben ein gemein-
sames Ziel, nämlich die Bürgerinnen und Bürger, die sich
fürGemeinschaft undGesellschaft einbringenmöchten, in
ihremBemühen zu stärken und zu ermutigen und daneben
die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass möglichst
viele andere es ihnen gleichtun. Die Erwartungen sind
– auch mit Blick auf das, was Rot-Grün 1998 in ihre Ko-
alitionsvereinbarung hineingeschrieben haben – groß. In
diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass die Bun-
desregierung erst nach massivem Druck aus der Opposi-
tion dazu bereit war, bei der Übungsleiterpauschale eine
Verbesserung in die Wege zu leiten und nun nach langem
Warten die versprochenen Verbesserungen bei den Frei-
willigendiensten versucht inAngriff zu nehmen.
Es ist richtig und zwischen Regierung und Opposition
unstrittig, die gesetzlichen Bestimmungen zum Freiwilli-
gen Sozialen und zum Freiwilligen Ökologischen Jahr un-
ter einem Dach zusammenzufassen und die Regelungen
zu vereinheitlichen. Dies ist auch ein Beitrag zu mehr
Transparenz und Effizienz und findet durchaus unsere
Unterstützung. Trotzdem bietet der Gesetzesentwurf, den
uns die Bundesregierung heute vorlegt, in mehrfacher
Hinsicht Anlass zur Kritik.
Da ist zunächst die Absicht, FSJ und FÖJ zukünftig
auch als geleisteten zivilen Ersatzdienst nach dem Zivil-
dienstgesetz anzuerkennen; eine auf den ersten Blick viel-
leicht einleuchtende Regelung, die aber in mehrfacher
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20667
(C)
(D)
(A)
(B)
Hinsicht mit Problemen behaftet ist. Lassen Sie mich auf
einige Punkte detailliert eingehen:
Erstens. Sie vermengen zwei Dinge miteinander, die
von ihrer Grundstruktur zu unterschiedlichen Gebieten
gehören, nämlich Pflicht- und Freiwilligendienst. Es wird
gleich deutlich werden, dass wir auf mehreren Feldern in
die Bredouille geraten.
Zweitens. Nur anerkannte Wehrdienstverweigerer
kommen in den Genuss dieser neuen Regelung. Wer sein
FSJ oder sein FÖJ vor der Musterung leistet, kann seinen
Beitrag für die Gesellschaft nicht als Zivildienst anerken-
nen lassen. Dies wird insbesondere für Absolventen der
Hauptschule zutreffen.
Drittens. Würden wir eine pure Regelung für die Frei-
willigendienste treffen, wäre es in der Tat zu begrüßen,
dass dieser Dienst auch in kulturellen oder sportlichen Be-
reichen oder zum Beispiel in der Denkmalpflege erbracht
werden kann. Wir waren uns aber über die Fraktionsgren-
zen in der Diskussion über die Zukunft des Zivildienstes
einig, dass der Zivildienst zukünftig insbesondere auf den
Dienst am Menschen konzentriert werden solle. Da aber
die genannten Bereiche zukünftig auch für den Zivildienst
Anrechnung finden sollen, ist klar: Diesen Konsens ver-
lassen Sie mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf, und
dies findet unsere Zustimmung nicht.
Viertens. Die Anerkennung von FSJ und FÖJ als Zivil-
dienst wirft ganz offensichtlich ein Problem in der ren-
tenversicherungsrechtlichen Gestaltung auf, da der Zivil-
dienstleistende in der gesetzlichen Rentenversicherung
de jure als „Beschäftigter“, der junge Mann im FSJ aber
als „Auszubildender“ behandelt wird, was mit unter-
schiedlichen Entgeltpunkten in der Rentenversicherung
seinen Niederschlag findet. Nun hätte man das auf die ein-
fachste Art lösen können, indem man dem jungen Mann
im FSJ einfach für die Zeit, in der er sich im Zivildienst
befindet, auch den rentenrechtlichen Status eines
Zivildienstleistenden zuerkannt hätte. Dies hätte freilich
zur Folge gehabt, dass die Rentenversicherungsbeiträge
des Zivildienstleistenden im FSJ auch vom Bund hätten
getragen werden müssen. Sie haben mit dem heute vorge-
legten Gesetzesentwurf die andere Variante gewählt: Der
Zivildienstleistende im FSJ verbleibt zwar im Status des
Freiwilligen, erhält aber die Rentenversicherungsbeiträge
nur in der Höhe, die auch der Zivildienstleistende, der sich
nicht im FSJ befindet, erhält. So wälzen Sie einen Teil der
Rentenversicherungsbeiträge für die Zivildienstleisten-
den, die eigentlich der Bund zu tragen hätte, auf die Kasse
der gesetzlichen Rentenversicherung ab. Dies werden wir
nicht mittragen.
Gerade an dem letzten Punkt zeigt sich, dass die Ver-
mengung von Freiwilligendiensten und Zivildienst nicht
der richtige Weg ist. Nicht nur wegen der gerade geschil-
derten rentenversicherungsrechtlichen Problematik im
Zivildienst, sondern auch, weil zukünftig ein Freiwilli-
gendienst erster Klasse und ein Freiwilligendienst zweiter
Klasse entsteht – je nachdem, ob ein junger Mann sich
entscheidet, sein FSJ entweder als Zivildienst anerkennen
zu lassen oder aber nicht.
Lassen Sie mich einen weiteren Kritikpunkt nennen,
den ich bereits im Ausschuss angesprochen habe:
Die insbesondere von Rot-Grün immer und immer
wieder geforderte Gleichbehandlung von Wehr- und Zi-
vildienst findet mindestens an einer Stelle nicht statt. In
der derzeit gültigen Fassung des Wehrpflichtgesetzes ist
die Einberufung zur Bundeswehr frühestens nach Voll-
endung des 17. Lebensjahres möglich. So steht es in § 5
Abs. 1 a. Im nun zur Änderung anstehenden § 2 Abs. 4 des
„Gesetzes über die Verweigerung des Kriegsdienstes mit
der Waffe aus Gewissensgründen“ soll jedoch geregelt
werden, dass der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung
schon sechs Monate vor Ablauf des 17. Lebensjahres ge-
stellt werden kann.
Ein letzter Punkt. Die Kosten für die öffentlichen
Haushalte werden von Ihnen auf dem Titelblatt der
Drucksache 14/7485 mit ,,Keine“ angegeben. Meine dies-
bezügliche Frage im Ausschuss blieb durch die Ministe-
rin und die anwesenden Mitarbeiter des Hauses unbeant-
wortet. Sie selbst schreiben aber in der Begründung zu
Art. 3 Nr. 2 Abs. 4 des Gesetzentwurfs, dass der Zuschuss
an die Träger, die Zivildienstleistende im Rahmen des ge-
planten § 14 c Zivildienstgesetz, also im FSJ oder FÖJ
einsetzen, oftmals nicht kostendeckend sei, weswegen der
Zuschuss entsprechend der Kostenentwicklung im Zivil-
dienst jährlich angepasst werden könne. Also so ganz
kann das mit der Haushaltsneutralität nicht übereinstim-
men. Hier hätten wir gerne etwas Genaueres gehört.
Die vereinbarte Anhörung im nächsten Jahr und die
Beratungen im Ausschuss bieten Gelegenheit, notwen-
dige Verbesserungen am Entwurf vorzunehmen. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist hierbei zu einer kon-
struktiven Mitarbeit bereit.
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Zukunft unseres Landes und unserer Demo-
kratie wird wesentlich davon abhängen, ob sich in unse-
rem Land eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt.
Freiwilliges Engagement ist der „soziale Kitt, der die Ge-
sellschaft zusammenhält.
Im Internationalen Jahr der Freiwilligen ist die Verbes-
serung der Rahmenbedingungen für freiwilliges Engage-
ment durch die Bundesregierung angesagt. Freiwilliges
Engagement von Jugendlichen darf nicht länger ausge-
bremst werden. Gerade dies leistet die Novelle, und das
sage ich hier insbesondere an die Adresse der FDP, die
sich die Konzepte von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem
Antrag zu Eigen gemacht hat. Bislang war mir diese in-
haltliche Übereinstimmung noch nicht bekannt.
Es gibt für das Freiwillige soziale und ökologische Jahr
mindestens doppelt bis dreifach so viele Bewerber und
Bewerberinnen, die sich bundesweit oder international
engagieren wollen, wie Plätze vorhanden sind. Wir wer-
den mit der Umsetzung des FSJ/FÖJ-Gesetzes hierfür ei-
nen vernünftigen Rahmen schaffen, der die positiven For-
derungen der Länder beinhaltet und noch darüber hinaus
geht.
Bei aller Euphorie über das freiwillige Engagement der
Bürger und Bürgerinnen bleibt es für uns wichtig, dass
diese freiwillige Tätigkeit arbeitsmarktneutral wirkt.
Wenn wir von den Menschen Engagement fordern, ist der
Staat in der Verantwortung, ihnen dafür einen Rahmen zu
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120668
(C)
(D)
(A)
(B)
bieten. Junge Freiwillige müssen zusätzlich zum grund-
sätzlichen Bedarf der Träger beschäftigt werden. Alles an-
dere hätte aus jugendpolitischer Sicht nachhaltig negative
Konsequenzen. Bündnis 90/Die Grünen lehnen es ab, Ju-
gendlichen im Namen des Gemeinwohls das Gefühl zu
geben, als „billige Arbeitskraft“ oder eben als „sozialer
Ausfallbürge“ missbraucht worden zu sein.
Grundlage des Gesetzes ist für Bündnis 90/Die Grünen
der Lerncharakter des freiwilligen Jahres. Für uns steht
fest, dass Jugendliche nach der Schule bis zu ihrem 27. Le-
bensjahr in sozialen und ökologischen Bereichen ein so-
zial abgesichertes freiwilliges Jahr machen können. Die
Öffnung für die Einsatzfelder Kultur und Sport sollen
ebenfalls im Gesetz festgelegt werden.
Freiwillige brauchen einen Status. Also ist ihre Absi-
cherung in der Sozialversicherung unabdingbar. Für die
Auslandsdienste ist es unabdingbar, die Träger einzubin-
den, sie aber nicht zusätzlich zu belasten. Für Freiwillige
im In- und Ausland gilt, dass das Kindergeld weiter be-
zahlt wird.
Die Erfahrung und Kompetenz, die Jugendliche im
freiwilligen Jahr erhalten, soll nachvollziehbar werden.
Deshalb wollen wir ein Zertifikat, das ihre Arbeit doku-
mentiert.
Parallel zur praktischen Erfahrung gibt es einen fest-
gelegten Rahmen von pädagogischer Begleitung und Pro-
jektarbeit, der von den Jugendlichen selbst bisher als sehr
positiv bewertet wird. Die einheitliche Regelung der In-
und Auslandstätigkeiten in unterschiedlichen Bereichen
gewährt den Jugendlichen die Chance, ihre Erfahrungen
gleichwertig zu sehen und zu nutzen. Die schulische Vor-
bildung darf hier kein Kriterium sein.
Freiwilliges Engagement bedeutet für viele Jugendli-
che praktische Erfahrung und Orientierung bei der späte-
ren Berufswahl. Die Anerkennung des freiwilligen Diens-
tes als Zivildienst soll es jungen Männern ermöglichen
Erfahrungen zu sammeln, ohne dem Zwangscharakter des
Zivildienstes zu unterliegen.
Für uns ist es wichtig, dass hier eine gangbare Per-
spektive für die Konversion des Zivildienstes geschaffen
wird. Dabei ist festzustellen, dass einerseits im sozialen
Sektor Arbeitsplätze geschaffen werden müssen und an-
dererseits das soziale Engagement der Zivildienstleisten-
den durch die freiwillige Tätigkeit erhalten bleibt.
Die Chancen des freiwilligen Engagements im Ausland
liegen in den Erfahrungen der Jugendlichen mit Erinne-
rungsarbeit. Junge Menschen, die mit Holocaust-Überle-
benden arbeiten oder wichtige Aufgaben in Gedenkstätten
übernehmen, die in interkulturellen Einrichtungen in Is-
rael, in Polen, in Tschechien oder in Bosnien arbeiten, leis-
ten mit ihrem Freiwilligendienst einen entscheidenden
Beitrag zur Demokratisierung unserer Gesellschaft.
Über die Unterstützung der Länder freuen wir uns
bei der Umsetzung des Gesetzes außerordentlich. Bünd-
nis 90/Die Grünen sehen in den Ländervorschlägen auch
dasAngebot, die Schaffung neuer Stellen zu unterstützen.
Junge Freiwillige sind – und da herrscht Einigkeit zwi-
schen Bund und Ländern – wichtige Multiplikatoren und
Multiplikatorinnen auf dem Weg zu einer starken Zivilge-
sellschaft, die sich demokratischen Werten verpflichtet
und damit dem Rassismus, dem Antisemitismus und
rechtsradikalen Tendenzen Widerstand entgegensetzen.
Ina Lenke (FDP): Die Bundesregierung ist mit dem
großen Versprechen angetreten, eine bessere Förderung
von Freiwilligendiensten auf den Weg zu bringen. Übrig
geblieben sind Änderungen zum freiwilligen sozialen
Jahr und zum freiwilligen ökologischen Jahr. Das ist zu
wenig. Die Staatssekretärin hat die Vorlage lediglich als
„ersten Schritt“ bezeichnet. In dieser Legislaturperiode
drückt sich also die Bundesregierung vor einer konzep-
tionellen Neugestaltung gesetzlicher Rahmenbedingun-
gen für einen allgemeinen Freiwilligendienst.
Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition verbessert
in einigen Punkten den gesetzlichen Rahmen zur Ableis-
tung eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres.
Die FDP begrüßt, dass FSJ und FÖJ Ersatz zum Zivil-
dienst sein werden. Bessere Rahmenbedingungen für all-
gemeine Freiwilligendienste und bürgerschaftliches En-
gagement werden durch diesen Gesetzentwurf jedoch
nicht geschaffen. Angesichts der gebotenen Diskussion
um die Aussetzung der Wehrpflicht und dem damit zur
Disposition stehenden Zivildienst gilt es, einen gänzlich
neuen Rahmen für freiwilliges bürgerschaftliches Enga-
gement zu schaffen.
Was die Änderungen für einen freiwilligen Dienst im
Ausland angeht, werden wir bei der Anhörung Anfang
nächsten Jahres besonders nachfragen, ob die vorgeschla-
genenRegelungen ausreichend sind.Wie sich der Entwurf
auf die Erteilung von Visa- und Arbeitserlaubnisse sowie
steuerrechtlich in außereuropäischen Gastländern aus-
wirkt, ist derzeit unklar.Weil der Entwurf die vollständige
Sozialversicherungspflicht fordert, könnten in einigen
Gastländern Komplikationen auftreten. Auch, dass die
Vor- und Nachbereitung und Sprachkurse nur hier im In-
land durchgeführt werden sollen, halte ich im Rahmen
von internationalen Begegnungen für nicht praktikabel.
Die FDP hat heute einen eigenen Antrag eingebracht,
der unsere Position aufzeigt. Wir wollen, dass rechtliche
Grundlagen für einen allgemeinen Freiwilligendienst in
Deutschland geschaffen werden, die grenzüberschrei-
tende Freiwilligendienste besonders für junge Menschen
zur Stärkung von Toleranz, Solidarität und Partizipation
im Rahmen eines europäischen Aufbauwerks erleichtern,
rechtliche und institutionelle Hindernisse abbauen und
das gemeinschaftliche Aktionsprogramm „Jugend“ ent-
sprechend dem Beschluss des Europäischen Parlaments
und des Rates unterstützen, sowie den Beschluss Nr. 1
686/98/EG der Europäische Union umsetzen.
Freiwilliges Engagement muss sich für die Freiwilli-
gen, aber auch für die Dienststellen lohnen. Dazu sollen
auf Trägerseite Verwaltungshindernisse und Kostenfakto-
ren abgebaut werden, aufseiten der Freiwilligen nicht nur
für Ableistende eines freiwilligen sozialen oder ökologi-
schen Jahres, sondern für alle freiwilligen Engagierten ihr
mindestens einjähriger Dienst als Zivildienst anerkannt,
Fortbildungsmöglichkeiten geschaffen und Qualifikatio-
nen zertifiziert werden. Auf internationaler, dabei beson-
ders auf europäischer Ebene sind Regelungen zu schaffen,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20669
(C)
(D)
(A)
(B)
die es Freiwilligen im In- und Ausland ermöglichen, sich
unbürokratisch überall zu engagieren.
Ich fordere die Bundesregierung auf: Überprüfen Sie
Ihren zaghaften Gesetzentwurf und schaffen Sie endlich
Regelungen, die freiwilliges Engagement tatsächlich at-
traktiv machen und ihnen Anerkennung zuteil werden
lassen!
Monika Balt (PDS): Bürgerschaftliches Engagement
und Freiwilligenarbeit sind zweifelsfrei wichtig für die
Entwicklung der Zivilgesellschaft. Durch den persönli-
chen Einsatz leisten junge Freiwillige einen wichtigen
Beitrag zur Verbesserung des sozialen Klimas und über-
nehmen Verantwortung über den eigenen Lebensraum
hinaus. Der vorliegende Gesetzesentwurf zielt auf eine
Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Freiwilli-
gendienste im freiwilligen sozialen und ökologischen
Jahr.
Nun betonen Sie immer wieder, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, dass das freiwillige
Engagement gegen Erwerbsarbeit abzugrenzen sei. Die
Dienste sollen Lerndienste sein. Wenn dem doch so wäre!
Nun sind doch die Ursachen, die 1954 zu den Überle-
gungen eines freiwilligen sozialen Jahres und 1964 zum
entsprechenden Gesetz geführt haben, nicht behoben.
Ganz im Gegenteil: Der Mangel an Lehrstellen und Aus-
bildungsplätzen sowie der Personalmangel im pflegeri-
schen und sozialen Bereich sind angestiegen. Gleiches
gilt für das freiwillige ökologische Jahr. Hinzu kommt das
gravierende Problem der Massenarbeitslosigkeit, bei dem
kein wirtschaftlicher oder politischer Lösungsansatz er-
kennbar ist. Um dem Ganzen den sozialen „Sprengstoff“
zu nehmen, sind das freiwillige soziale und das freiwillige
ökologische Jahr anstelle arbeitsmarktpolitischer Instru-
mentarien zur Schaffung von Ausbildungs- und dauerhaf-
ten Arbeitsplätzen ein idealer Ersatz, der zudem noch die
Arbeitslosenstatistik schönt.
Außerdem sind die Stellen des freiwilligen sozialen
und des freiwilligen ökologischen Jahres sehr niedrig be-
zahlte und verstärken den Trend zum Niedriglohnsektor.
Nicht hinnehmbar ist das Vorhaben – wie im Begrün-
dungsteil des Gesetzentwurfes zu lesen –, das Taschen-
geld der Freiwilligen auf das Niveau des Kindergeldes ab-
zusenken.
Die zeitliche Verlängerung des freiwilligen sozialen
Jahres liegt sicherlich auch im Interesse der Dienstleis-
tenden. Allerdings kritisieren wir die Flexibilisierung
nach Blöcken. Das schafft einen ungerechtfertigten büro-
kratischen Mehraufwand für die Träger. Die pädagogi-
sche Betreuung wird aufgrund der Erhöhung der Zahl der
zu Betreuenden zur Farce.
Sie wollen die Tätigkeitsfelder der Freiwilligendienste
ausweiten: auf kulturelle und sportliche Bereiche sowie
auf den Denkmalschutz. Auf den ersten Blick ist daran
nichts zu kritisieren. Um das zu finanzieren, wäre es aber
sinnvoll – so wie es Bündnis 90/Die Grünen wollten, sich
aber nicht durchsetzen konnten –, die frei werdenden Mit-
tel des Zivildienstes in den Topf der Freiwilligendienste
einzustellen.
Besonders kritisch steht die PDS den Regelungen ge-
genüber, die aus dem Pflichtdienst Zivildienst auf Frei-
willigendienste übertragen werden sollen. Damit wird der
Identität von Freiwilligendiensten und der gesellschaftli-
chen Anerkennung der Dienste Schaden zugefügt. Das
grundsätzliche Ziel der Bundesregierung, Freiwilligen-
dienste zu fördern, wird damit konterkariert. Freiwilli-
gendienste müssen „freiwillig“ bleiben! Das Bundesamt
für Zivildienst darf deshalb keinerlei Aufsicht über Frei-
willigendienste führen können.
Die Folge dieser Regelungen wird sein, dass es zu ei-
nem Verdrängungswettbewerb zwischen jungen Frauen
und zivildienstpflichtigen jungen Männern in den Ein-
satzstellen und bei den Trägern kommt. Das läuft im Übri-
gen der Gender-Mainstreaming-Richtlinie der EU zuwi-
der. Aus unserer Sicht besteht ein erheblicher
Überarbeitungs- und Korrekturbedarf der vorliegenden
Gesetzesnovelle.
Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend: Junge Menschen
wollen sich freiwillig engagieren.
Wir wissen, dass 37 Prozent der jungen Menschen in
Deutschland freiwillig engagiert sind. Das ist überdurch-
schnittlich viel im Vergleich zu den anderen Altersgrup-
pen. Das verdient unsere Anerkennung.
Wir legen deshalb am Ende des Internationalen Jahres
der Freiwilligen eine Reform und Ausweitung der Frei-
willigendienste für Jugendliche auf den Tisch. Das heißt:
Erstens. Wir weiten die Einsatzfelder aus.
Zweitens. Wir ermöglichen die Freiwilligendienste zu
gleichen Bedingungen auch im nichteuropäischen Aus-
land.
Drittens. Wir geben den Freiwilligendiensten eine Ori-
entierungsfunktion für einen zukünftigen Beruf.
Das freiwillige soziale Jahr gibt es seit 1964. Das frei-
willige ökologische Jahr wurde 1993 eingeführt. Diese
Freiwilligendienste sind bei den Jugendlichen in den letz-
ten Jahren immer beliebter geworden. Wir haben die An-
gebote in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausge-
weitet: von 7 100 Jugendlichen im Jahr 1993 auf heute
rund 13 200. Das ist eine Steigerung um 85 Prozent. Aber
noch immer übersteigt die Nachfrage deutlich das Ange-
bot. Der Freiwilligendienst in sozialen und ökologischen
Tätigkeitsfeldern wird von den jungen Menschen genutzt,
um Einblicke zu bekommen, Erfahrungen zu sammeln
und mitzuhelfen. Die meisten Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer haben in dieser Zeit den ersten engen Kontakt mit
dem beruflichen Alltag. Sie lernen das Arbeitsleben ken-
nen, sei es im Krankenhaus, auf der Pflegestation oder
beim Schutz des Wattenmeeres. Sie machen wichtige per-
sönliche Erfahrungen im Umgang mit Menschen.
Am Ende beurteilen 91 Prozent der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer ihr freiwilliges Jahr mit sehr gut oder gut.
Für viele junge Leute ist ihre Erfahrung während des
freiwilligen sozialen und ökologischen Jahres richtungs-
weisend für ihre berufliche Zukunft.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120670
(C)
(D)
(A)
(B)
Die Freiwilligendienste helfen also bei der Berufsent-
scheidung. Deshalb ist es auch so wichtig, dass noch
stärker berufsorientierende und berufsqualifizierende
Elemente in die Freiwilligendienste aufgenommen wer-
den. Die Freiwilligen sollen zukünftig ein Zertifikat er-
halten, mit dem sie ihre erworbenen Kompetenzen und
Erfahrungen ausweisen können. Dieses Zertifikat soll
den Einstieg in die Ausbildungs- und Berufswelt er-
leichtern.
Mit dem vorliegenden Gesetz machen wir die Freiwil-
ligendienste auch flexibler.
Wir schaffen Möglichkeiten, den Dienst künftig in
Blöcken, zum Beispiel drei Monate, abzuleisten, inner-
halb einer Spanne von 24 Monaten. Auch eine freiwillige
Verlängerung um bis zu sechs Monate über die Höchst-
dauer von zwölf Monaten hinaus wird möglich. So sollen
junge Menschen in die Lage versetzt werden ihr freiwilli-
ges Engagement so zu gestalten, dass es in ihre persönlich
Lebensplanung hineinpasst.
Ich habe bereits darauf hingewiesen: In den letzten Jah-
ren hatten wir immer mehr Bewerberinnen und Bewerber
als Plätze beim freiwilligen sozialen und ökologischen
Jahr. Das werden wir ändern. Wir werden im nächsten
Jahr die Zahl der Plätze für die beiden Freiwilligendiens-
te um 50 Prozent erhöhen und mit 5 Millionen Euro zu-
sätzlich ausstatten. Das ist eine deutliche Steigerung.
Wir werden die Einsatzfelder für die Freiwilligendienste
erweitern. Künftig kann das freiwillige soziale Jahr auch
in der Jugendarbeit des Sports, in Verbänden und Vereinen
absolviert werden.
Außerdem haben wir im September diesen Jahres ein
Modellprojekt „Freiwilliges Soziales Jahr im kulturellen
Bereich“ begonnen.
Mit dem vorliegenden Gesetz berücksichtigen wir
auch das große Interesse von Jugendlichen, einen freiwil-
ligen Dienst im Ausland zu absolvieren.
Seit 1993 kann der Freiwilligendienst auch im europä-
ischen Ausland abgeleistet werden.
Wir werden die Freiwilligendienste künftig zu den
gleichen Bedingungen auch in außereuropäischen Län-
dern ermöglichen. Damit fördern wir die Weltoffenheit
und den Dialog zwischen den Kulturen, die wir in unserer
Gesellschaft brauchen.
Mit dem neuen Gesetz stellen wir die jungen Men-
schen, die ihr freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr
im Ausland ableisten, denen im Inland gleich. Sie erhal-
ten die gleiche Absicherung in der Sozialversicherung
und bei der Zahlung von Kindergeld.
Bei derWeiterentwicklung der Freiwilligendienste ist
unser Ziel, die Dienste für alle Jugendlichen bereitzu-
stellen und ihnen die tatsächliche Teilnahme durch ge-
eignete Angebote zu ermöglichen. So wollen wir, dass
in Zukunft die Absolventen von allen Schularten, vor al-
lem auch Hauptschulabsolventen, eine größere Rolle
spielen. Deshalb ist künftig der Schulabschluss Voraus-
setzung für den Zugang und nicht mehr das Mindest-
alter.
Lassen Sie mich abschließend noch auf Folgendes hin-
weisen: Wir wollen den Zivildienst und die Freiwilligen-
dienste in Zukunft stärker miteinander verzahnen. Des-
halb wird das Zivildienstgesetz künftig vorsehen, dass
anerkannte Kriegsdienstverweigerer anstelle des Zivil-
dienstes auch ein freiwilliges soziales oder freiwilliges
ökologisches Jahr neuer Prägung ableisten können.
Der vorliegende Gesetzentwurf entwickelt den Frei-
willigendienst für Jugendliche weiter und gibt ihm neue
Impulse. Er wird damit den unterschiedlichen Interessen-
lagen von Jugendlichen gerecht und trägt dazu bei, die
Rahmenbedingungen für freiwilliges Engagement in un-
serem Land zu verbessern.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zurBeratungdesAntrags: Zusagen zumglobalen
HIV/Aids- und Gesundheitsfonds einhalten und
Aidsimpfstoffforschung stärker fördern
(Tagesordnungspunkt 14)
Frank Hempel (SPD): Jede Minute infizieren sich
mehr als 10 Menschen mit dem HI-Virus. Jeden Tag ster-
ben mehr als 8 000 Menschen an den Folgen von Aids;
jede Minute stirbt ein Kind daran. Wir alle sind uns wohl
einig über die Dringlichkeit, diese Epidemie mit allen uns
zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen und hof-
fentlich bald zu besiegen.
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Unsere Auf-
gabe muss es sein, diesen Weg so kurz wie möglich zu hal-
ten. Der Fokus liegt hierbei, der globalen Problemlage
angemessen, auf den Ländern des südlichen Afrikas, die
besonders unter der Belastung durch HIV/Aids zu leiden
haben: Es handelt sich hierbei sowohl um eine menschli-
che, als auch um eine ökonomische Tragödie. Doch ge-
rade in den letzten Monaten ist uns bewusst geworden,
dass auch die Situation in anderen Regionen der Welt, wie
zum Beispiel in China, Indien und der GUS – hier beson-
ders in der Ukraine und in Russland – an Brisanz zuge-
nommen hat.
Zu China waren Schlagzeiten zu lesen wie zum Bei-
spiel. „Am Rand des Abgrunds bricht China mit dem
Aids-Tabu“ oder „China gibt Aids-Epidemie zu“. Nach
Jahren der Tabuisierung scheint sich die chinesische
Regierung der Bedrohung bewusst zu werden. Zwar ist
die Prävalenzrate aufgrund der hohen Bevölkerungszahl
– gleiches gilt auch für Indien – relativ gering, doch neu-
ste Zahlen dokumentieren 600 000 HIV-infizierte Chine-
sinnen und Chinesen. Mit der Enttabuisierung der Aids-
problematik sind Staaten wie China und Indien auf dem
richtigen Weg, den Kardinalfehler der Vergangenheit zu
vermeiden; nämlich die Epidemie lange zu verheimlichen
und zu verharmlosen. Wir müssen diese Staaten dabei in-
tensiv unterstützen und sie auch zu mehr Eigen-
initiative bewegen.
Ich möchte nicht zum x-ten Mal gebetsmühlenhaft die
globalen Statistiken anführen. Diese sind uns gerade jetzt,
zwei Wochen nach dem internationalen Welt-Aids-Tag
noch im Gedächtnis.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20671
(C)
(D)
(A)
(B)
Vielmehr frage ich mich, was an dem Antrag der
CDU/CSU neu ist. Schon Mitte des Jahres hat die Koali-
tion einen Antrag zur Förderung der Aidsbekämpfung in
Entwicklungsländern vorgelegt (14/6320 vom 20. Juni
2001). Dieser fand, bei Enthaltung der CDU/CSU Frak-
tion, breite Zustimmung in diesem Hause.
Zudem ist der Zeitpunkt des CDU/CSU-Antrags aus
zwei Gründen sehr ungünstig gewählt. Ich möchte ihnen
auch erläutern warum: Erstens hat die FDP-Fraktion
schon am 14. November 2001 eine Kleine Anfrage mit der
Überschrift „Finanzielle Unterstützung für den Global
and Health Fonds“, Drucksache 14/7516, an die Bundes-
regierung gestellt, in der einige Fragen aufgeführt sind,
die ihre Forderungen des Antrags betreffen. Hätten Sie es
abwarten können, wären sie heute schlauer: Laut einer In-
formation des Sach- und Sprechregisters des Deutschen
Bundestages geht Ihnen die Beantwortung schon morgen
zu. Schauen Sie ruhig noch einmal in Ihre Postfächer, be-
vor Sie in den wohlverdienten Weihnachtsurlaub fahren.
Aber aufgrund des schlechten Timings können zwei-
tens auch hierbei nicht alle Fragen geklärt werden, denn
dieser 14. Dezember 2001 ist nicht nur in unserem Hause
ein wichtiges Datum bei der Diskussion der globalen
Aidsproblematik, sondern auch für die internationalen
Verhandlungen zum Global Fund to fight Aids, Tubercu-
losis and Malaria, GFATM. Denn heute ist der letzte Ver-
handlungstag zum GFATM in Brüssel. Die Ergebnisse der
Transitional Working Group, TWG, zur Ausgestaltung des
Fonds werden uns in Kürze vorliegen und die entspre-
chende Institution, die für die Verwaltung des Fonds ver-
antwortlich sein wird, soll schon Anfang 2002 ihre Arbeit
aufnehmen. Alle Verhandlungspartner sind sich der Wich-
tigkeit und der Dringlichkeit ihrer Aufgabe bewusst und
sie sind bemüht, noch dieses Jahr Ergebnisse vorzulegen.
Also liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-
und FDP-Fraktion, haben sie noch einige Tage Geduld,
dann werden Sie über die Ergebnisse der Verhandlungen
informiert werden können und schon bald werden die ers-
ten Maßnahmen im Rahmen des Global Funds umgesetzt.
Für alle, die es nicht abwarten können, werde ich vorab
einige Informationen zum Stand der Verhandlungen ge-
ben. Diese sind allerdings auf dem Stand des letzten,
zweiten TWG-Treffens in Brüssel vom 22. bis 24. No-
vember 2001.
An den bisherigen Beratungen unter dem von VN-Ge-
neralsekretär Kofi Annan berufenen Vorsitzenden, dem
ugandischen Minister Dr. Kiyonga, nehmen Vertre-
terinnen und Vertreter aus 17 Industrieländern, 11 Ent-
wicklungsländern, 5 internationalen Organisationen und
6 Nichtregierungsorganisationen bzw. Wirtschaftsverbän-
den teil. Verhandlungsgegenstand waren auf der letzten
Sitzung die Strukturen und Modalitäten des GFATM.
Hierbei hat man sich auf einen 18-köpfigen Verwaltungs-
rat unter Teilhabe von Nichtregierungsorganisationen
geeinigt. Als Trustee des Fonds soll die Weltbank beauf-
tragt werden. Ausstehende Entscheidungen zur Rechts-
grundlage, Entscheidungsstruktur, Arbeitsmodalitäten,
Treuhänderschaft sowie Verantwortlichkeit für die Durch-
führung und Rechnungslegung – hiermit ist generell die
Programm- und Finanzverantwortlichkeit gemeint – wer-
den heute und morgen in Brüssel diskutiert. Aus Sicht der
deutschen Verhandlungsdelegation besteht bei der Pro-
gramm- und Finanzverantwortlichkeit noch umfangrei-
cher Diskussionsbedarf.
Nun möchte ich Ihnen noch einige wichtige Punkten
der Verhandlungen erläutern: Das verantwortliche Gre-
mium-Board soll Entscheidungen grundsätzlich im Kon-
sens treffen. Die Entscheidungsfindungsmethode wird
beim jetzt stattfindenden Treffen verhandelt. Über den
Sitz des neu einzurichtenden Sekretariats, das den Ver-
waltungsrat bei seiner Arbeit unterstützt, ist noch keine
abschließende Entscheidung getroffen worden. Zur Dis-
kussion standen Genf – WHO –, Paris – Weltbankbüro –,
Südafrika und Belgien. Die Präferenz der Mehrheit der
Verhandlungspartner und der deutschen Delegation war
Genf.
Grundsätzlich sollen aus Mitteln des Fonds hauptsäch-
lich bestehende nationale Programme und Gesundheits-
pläne finanziert werden, die Mittelzuweisung soll in Ra-
ten erfolgen und sich an nachweisbaren Erfolgen
orientieren. Eine Kofinanzierung der internationalen
Bemühungen zur Bereitstellung eines Impfstoffs gegen
die HIV-Infektion wird, entgegen der Verhandlungen im
Vorfeld, explizit ausgeschlossen. Dies wird zum Beispiel
von der Deutschen Aids-Stiftung und der International
Aids Vaccine Initiative grundsätzlich begrüßt. Hiermit
soll sichergestellt werden, dass der Bereich Prävention
und Behandlung in Entwicklungsländern, den internatio-
nal zur Verfügung stehenden Mitteln entsprechend, aus-
reichend finanziert wird. Somit haben andere Organisa-
tionen – zum Beispiel oben genannte – den Freiraum, sich
intensiv für die Förderung einer entwicklungsländerspe-
zifischen Impfstoffentwicklung einzusetzen.
Als Antragsteller kommen nur Länder mit bestimmten
Voraussetzungen infrage. Kriterien werden sein: Armut,
Prävalenzrate, die potenzielle Verbreitungsgeschwindig-
keit und die positive Einstellung der Regierung aktiv im
Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria mitzuwir-
ken.
Hiermit wird die Eigenanstrengung der Entwicklungs-
länder angesprochen, die von der CDU/CSU in ihrem An-
trag gefordert wird. Dass diese in den bilateralen Projek-
ten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit schon
eingefordert wird, können sie voraussetzen. Aber es ist
gut, dass sie noch einmal darauf hinweisen. Hier scheint
überfraktionelle Einigkeit zu herrschen. Seien sie gewiss,
dass dies auch die Kriterien des BMZ sind. Ein weiterer
Punkt, den Sie in ihrem Antrag in diesem Zusammenhang
ansprechen, ist Aufklärung und Stärkung des Gesund-
heitssektors: Würden sie sich die Positionspapiere des
BMZ genauer anschauen und dies mit den bilateralen Pro-
jekten vergleichen, könnten sie feststellen, dass diese For-
derung nur den Status quo wiedergibt. Wenn sie allerdings
Verbesserungsvorschläge haben, wie man die bestehen-
den Maßnahmen optimaler umsetzten kann, sind Ihnen
die Verantwortlichen sicherlich dankbar.
Der zeitlichen Notwendigkeit Rechnung tragend soll
nach der 3. Verhandlungsrunde der TWG die Verteilung
der Finanzmittel schon Anfang 2002 beginnen. Damit es
nicht zu weiteren Verzögerungen kommt, ist eine Option
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120672
(C)
(D)
(A)
(B)
die Förderung bereits bestehender HIV/Aids-, Tuberku-
lose- und Malaria-Programme von UMAIDS und der
WHO sowie die sofortige Finanzierung von Programmen
zum Einsatz von antiviralen Medikamenten. Durch die
Nutzung vorhandener Strukturen können hohe Imple-
mentierungskosten eingespart werden.
Die abschließende Verhandlung findet heute und mor-
gen in Brüssel statt. Hätten die Damen und Herren der
CDU/CSU-Fraktion noch einige Tage Geduld gehabt, lä-
gen uns die Ergebnisse der Abschlussverhandlungen der
TWG vor und einige Ihrer Einwände wären wahrschein-
lich obsolet.
Abschließend werde ich noch Stellung nehmen zu Ih-
rer Forderung nach mehr Initiative für „Aidswaisen“.
Vorab möchte ich bemerken, dass diese Bezeichnung für
viele Kinder und Jugendliche zum Stigma wird. Zwar ha-
ben auch wir noch vor einem halben Jahr in unserem An-
trag von „Aidswaisen“ gesprochen, doch wir lernen dazu.
Lassen sie uns also diese Kinder, wie im EZ-Jagon der
GTZ üblich, doch besser „Kinder in schwierigen Lebens-
lagen“ nennen. Denn Kinder und Jugendliche sind nicht
nur passive Opfer, indem ihre Eltern an durch Aids verur-
sachten Krankheiten sterben; sie sind ebenso direkt davon
betroffen. Schon als Säugling werden viele von ihren
Müttern infiziert. Des Weiteren führen infizierte Blutkon-
serven oder die Mehrfachnutzung von Spritzen zur Über-
tragung von HIV. Und vergessen Sie nicht, dass sexuelle
HIV-Übertragung in vielen Ländern, besonders in Afrika
südlich der Sahara, aufgrund traditioneller Verhaltenswei-
sen schon wesentlich früher möglich ist. Besonders
Mädchen sind davon betroffen, da sie in vielen Regionen
schon mit zwölf Jahren oder früher verheiratet werden.
Häufig an wesentlich ältere Männer, die vorher schon
viele sexuelle Kontakte hatten und dadurch einer höheren
Infektionsgefahr ausgesetzt waren.
Um der Gefahr einer „Jugend ohne Zukunft“ entge-
genzuwirken, müssen wir allen Kindern und Jugendli-
chen Zukunftsperspektiven bieten. Es ist nicht damit ge-
tan, sich auf Projekte für „Aidswaisen“ zu beschränken.
Damit würden wir das Problem eher verschärfen. Ich
sage ihnen auch warum: Erstens wird mit einer gezielten
Förderung nur dieser Gruppe von Kindern und Jugendli-
chen das Schicksal derjenigen völlig ausgeblendet, deren
Eltern, HIV-infiziert oder nicht, noch leben. Damit über-
ließen wir die Nicht-Waisen ihrem Schicksal. Doch ge-
rade Kinder und Jugendliche sind für grundlegende Ver-
haltensänderungen noch offen. Wogegen sich ihre Väter
meist sträuben, kann bei der jungen Generation noch Er-
folg versprechend umgesetzt werden. Mehr Waisenhäu-
ser zu bauen kann nicht die Lösung sein. Diese immen-
sen Finanzmittel werden besser in Projekten der Kinder-
und Jugendförderung eingesetzt, denn hier können sie,
wie in einem anderen Punkt ihres Antrags ja gefordert,
präventiv wirken und zur Vermeidung der HIV-Verbrei-
tung beitragen. Dies ist jedoch schon längst Bestandteil
der deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit
des BMZ. Hier tragen Projekte, die Aidsbekämpfung
nicht im Titel führen, erheblich zur Verbesserung der Si-
tuation bei. Ich erinnere Sie gerne nochmals an den An-
spruch der deutschen Entwicklungszusammenarbeit,
Aidsbekämpfung als Querschnittsaufgabe zu betrachten
und kann Ihnen versichern, dass dies bereits umgesetzt
wird. Ein Entwicklungsansatz, der dabei auf einer über-
geordneten Ebene ansetzt, ist die Gemeindeförderung.
Teil davon sind integrative Kinder- und Jugendprojekte,
die auf den ersten Blick nicht primär der HIV/Aids-
bekämpfung dienen. Doch dies täuscht. Denn die Förde-
rung von Integration der Kinder und Jugendlichen in be-
stehenden Gemeindestrukturen verhindert die Isolation
der „Kinder in schwierigen Lebenslagen“ in Waisenhäu-
sern. Denn die Nichtaufnahme von Kindern, deren Eltern
an Aids gestorben sind, durch Verwandte oder Nachbarn
ist kein Ergebnis des Nicht-Wollens, sondern des Nicht-
Könnens. Vergessen Sie nicht, dass es sich in den be-
troffenen Gesellschaften selten um Einzelkinder han-
delt. Meist sind es fünf, sechs oder mehr Kinder, die
durch den Tod der Eltern in eine psychisch und materiell
schwierige Lebenslage geraten. Ist ein Bruder oder
vielleicht eine Schwester alt genug und durch die mate-
riellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in
der Lage, die Geschwister großzuziehen, dann werden
diese Kinder nicht noch weiter belastet, indem sie aus
ihrem noch bestehenden Familienverband gerissen
werden.
Letztlich ist zu betonen, dass das Thema „Aids-
bekämpfung in Entwicklungsländern“ nicht nur von uns
Entwicklungspolitikern immer wieder auf die Tagessord-
nung gerufen werden muss. Wir brauchen mehr Sensibi-
lisierung gerade in unserer Bevölkerung für dieses
Thema, auch wenn bei uns die Infektionsrate stagniert
oder sogar rückläufig ist. Wir alle leben in „einer Welt“
und die Zahlen von Neuinfektionen in Osteuropa, insbe-
sondere im Hinblick auf die EU-Osterweiterung, sollten
uns mahnen, nicht nachzulassen im weltweiten Kampf ge-
gen diese Pandemie.
Dr. Hansjörg Schäfer (SPD): Uns allen ist klar: Die
Bedrohung durch Aids wird eine der größten Herausfor-
derungen der Menschheit im 21. Jahrhundert sein. Die ge-
ringe, offensichtlich sogar abnehmende Sensibilität für
dieses Problem setzt uns immer wieder in Erstaunen. Ver-
drängung oder Fehleinschätzung sind die größten Gefah-
ren im Kampf gegen Aids. Innerhalb von zehn Jahren wird
die Zahl der Infizierten möglicherweise die Milliarden-
grenze erreichen – eine Größenordnung, die angesichts
des menschlichen Leids und der notwendigen medizini-
schen Versorgung unvorstellbar ist.
Drei Wege müssen gleichberechtigt gegangen werden:
erstens Prävention, zweitens Therapie und drittens Imp-
fung.
Am weitesten fortgeschritten sind die Möglichkeiten
der Prävention, das heißt: Aufklärung, Verwendung von
Kondomen und Gebrauch von sterilen Spritzen. Das Um-
denken in männlich geprägten Gesellschaften kommt nur
schwer voran. Gleichwohl liegt in der Prävention zurzeit
die größte Chance, die Weiterverbreitung in großem Um-
fang einzudämmen. Dies zeigt vor allem die Entwicklung
in den westlichen Industrienationen. Dort waren eindeu-
tig mehr Infektionen befürchtet worden.
Die Therapie von Aids hat große Fortschritte gemacht.
Sie ist jedoch immer noch sehr teuer, aufwendig und führt
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20673
(C)
(D)
(A)
(B)
leider noch nicht zur Heilung. Es ist noch nicht abzuse-
hen, wann es Therapien geben wird, die zur definitiven
Genesung führen. Die Diskussion um die Kosten von
Aidstherapien für die Dritte Welt hat uns alle in den letz-
ten Monaten beschäftigt. Insbesondere die Schaffung der
notwendigen Infrastruktur, die wirtschaftlichen Folgen
der Aids-Pandemie für die Dritte Welt werden uns noch
sehr lange beschäftigen.
Der dritte Weg, die Impfung gegen HIV, ist noch lange
nicht zu Ende. Kein Mensch kann bisher absehen, wann
uns ein Impfstoff zur Verfügung stehen wird.
Es ist also eine stark verkürzte Denkweise, allein oder
vor allem auf die Möglichkeit einer Impfung zu setzen.
Wer dies tut, erzählt den Menschen die Unwahrheit und
riskiert unvorstellbares Leid.
Ich sage noch einmal: Alle drei Wege müssen gleich-
zeitig gegangen werden. Das hat natürlich auch einen
großen Einfluss auf die Verwendung der bestehenden
Ressourcen. Gleichwohl ist selbstverständlich auch die
Entwicklung eines Impfstoffes von großer Bedeutung,
weil einzig die Impfung mittelfristig eine realistische
Chance auf einen Schutz vor einer HIV-Infektion bietet.
Es muss allerdings auch gewährleistet werden, dass Impf-
stoffe für die Dritte Welt erreichbar sind.
Es gibt zurzeit etwa 90 potenzielle Impfstoff-Mög-
lichkeiten. Es gibt sogar die Aussicht auf einen Mehr-
fach-Impfstoff, der die Subtypen A und B erreicht. In der
Bundesrepublik werden zurzeit auch so genannte Aids-
Vektor-Vakzine getestet. Sie sollen die Vermehrung des
Erregers im Körper stoppen. Jedoch ist bisher keiner der
Impfstoffe Garant für einen Schutz. Es kann lediglich der
Eintritt der Krankheit verzögert werden.
Der Vorwurf, die Bundesregierung würde sich bei der
Impfstoffentwicklung nicht ausreichend engagieren, ist
jedenfalls falsch. Über den Einzelplan 23 wird der Beitrag
der Bundesrepublik zur Verfügung gestellt – und zwar der
volle Betrag der zugesagten 300 Millionen DM. Die Ein-
zahlung in den Fonds erfolgt dann, wenn die Struktur und
die Arbeitsweise des Globalen Fonds zur Bekämpfung
von Aids, Tuberkulose und Malaria – kurz: GFATM –
feststehen. Das wird übrigens in allernächster Zeit passie-
ren. Es wird den Haushaltsplan 2003 und die Finanzvor-
ausschau bis 2006 betreffen. In welcher Weise dies pas-
siert, kann erst nach Abschluss der Verhandlungen fest-
gelegt werden. Das BMBF wird ab 2002 ein medizini-
sches Kompetenznetz für zunächst drei Jahre mit 6 Milli-
onen DM pro Jahr fördern. Darüber hinaus hat das BMBF
eine Aidsimpfstoff-Initiative mit einem Umfang von
50 Millionen in den nächsten fünf Jahren gestartet. Die
Absicht dieser Initiative ist es, Möglichkeiten für eine
präventive oder eine therapeutische Maßnahme zu finden.
Bringt dies Erfolg, kann damit auch die Entwicklung ei-
nes endgültigen HIV-Impfstoffes möglich werden. Die
Bundesregierung unterstützt darüber hinaus andere For-
schungsvorhaben im Rahmen der institutionellen Förde-
rung und im Rahmen der Grundlagenforschung.
Ich stelle fest: Das Engagement der Bundesregierung
ist sowohl finanziell als auch inhaltlich optimal. Andere
Darstellungen sind reine Wichtigtuereien. Ihr Antrag,
liebe Kollegen von der CDU/CSU, enthält also nichts
Neues und ist daher unter obiger Rubrik einzuordnen.
Erika Reinhardt (CDU/CSU): Innerhalb von weniger
als 20 Jahren ist Aids zur weltweit tödlichsten Infektions-
krankheit geworden. Jeden Tag sterben mehr als 8 000 Men-
schen an Aids! Jede Stunde infizieren sich fast 600 Men-
schen und jede Minute stirbt ein Aidskind. Allein in den
vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der an
HIV/Aids-Infizierten von knapp 30 Millionen auf über
40 Millionen erhöht. Und wenn man bedenkt, dass
70 Prozent nichts von ihrer Infektion wissen, wird deut-
lich, wie alarmierend diese Zeichen sind.
Jede Debatte im Parlament ist ein Stück Bewusstseins-
bildung. Darüber hinaus liegen uns zahlreiche Beschlüsse
des Bundestages und Aktionspläne der EU vor. Das heißt,
an Papieren und guten Absichten mangelt es nicht. Aber
was ist aus all dem geworden? Wo hat die Bundesregie-
rung konkret und fassbar gehandelt?
Frankreich, die USAund Großbritannien haben bereits
auf der UN-Sondergeneralversammlung im Juni dieses
Jahres ihre finanzielle Zusage zum dort beschlossenen
Fonds klar benannt. Die Bundesregierung hat dieses
Fondsprojekt bislang werbewirksam verkauft, aber kon-
kret wenig getan. Der Kanzler verkündete im Beisein von
Kofi Annan Ende Juni 2001 einen deutschen Beitrag in
Höhe von 300 Millionen DM zum Aidsfonds. Alle Zei-
tungen haben über diese mit vielen Hoffnungen verbun-
dene Zusage berichtet. Medienwirksamkeit ist die eine
Seite, solide verlässliche Politik aber die andere Seite.
Denn wie sollten wir es sonst werten, wenn gerade einmal
sechs Monate nach der Ankündigung des Kanzlers wir
uns alle fragen müssen, wo im Haushalt diese 300 Milli-
onen DM eigentlich versteckt sind.
Tatsache ist, dass aktuell im BMZ-Etat ein deutscher
Beitrag von 10 Millionen Euro ausgewiesen ist. Das sind
nach Adam Riese 20 Millionen DM und keine 300 Milli-
onen DM wie angekündigt. Bundeskanzler Schröder und
Sie, Frau Ministerin, werden international an diesen
300 Millionen DM gemessen werden. Und wir halten es
besonders in diesem Falle für Ihre moralische Pflicht, die
gegebene Zusage einzuhalten.
Sicher kann man diesen Fonds auch kritisch betrach-
ten: Sind die Erwartungen zu hoch? Wird es ein bürokra-
tischer Wasserkopf? Nach welchen Kriterien soll die Mit-
telvergabe erfolgen? Wird es eine Selbstverpflichtung der
Länder geben? Oder die ganz konkrete Gefahr, dass bis-
lang Mittel der bilateralen Aidsbekämpfung in Zukunft
dem Fonds zugeführt werden, weil es einfach werbewirk-
samer ist, darf man nicht außer Acht lassen. Es darf auch
nicht passieren, dass dieser Fonds nach den ersten Ein-
zahlungen in den folgenden Jahren austrocknet. Das sind
alles Fragen und Probleme, über die derzeit aktuell in
Brüssel diskutiert wird. Und ich hoffe im Namen aller Be-
troffenen, dass in diesen Tagen Entscheidungen fallen, die
wirkliche Fortschritte für die globale Aidsbekämpfung
sind.
In diesem Zusammenhang wiederhole ich eine von uns
häufig gemachte Forderung: Bei den Regierungsverhand-
lungen mit den Ländern der Dritten Welt muss das Thema
Aids ganz oben stehen. Nur wenn es gelingt, bei den Re-
gierungen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wird es ge-
lingen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und
zu Erfolgen zu gelangen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120674
(C)
(D)
(A)
(B)
Es ist richtig: Familienplanung, Gesundheit und Aids-
bekämpfung gehören zusammen. Aber mir fiel auf, dass
im Haushalt zahlreiche Projekte, die früher in die repro-
duktive Gesundheit fielen, heute unter der Überschrift
HIV/Aidsbekämpfung zu finden sind. Aber dem Kind nur
einen anderen Namen zu geben, ohne die Mittel zu er-
höhen, nenne ich Etikettenschwindel.
Ein anderer Punkt ist das Programm mit der Pharmain-
dustrie zur kostenlosen Abgabe des Aidsmedikaments
Nevirapin. Wir haben das begrüßt. Aber wie sieht es nach
einem Jahr der Ankündigungen aus? Das Programm läuft
mehr als zögerlich, da es in den meisten Staaten – obwohl
es schon spezifisch ausgesuchte Staaten sind – nicht mög-
lich ist, eine Tablette oder einen Tropfen der Medizin an
die Frau und das Kind zu bringen, weil noch immer die
notwendigen Infrastrukturen fehlen und vorhandene nicht
entsprechend genutzt werden.
Der auf der UN-Sondergeneralversammlung Aids ge-
fasste Beschluss, die Zahl der Neuinfektionen bis 2015
um ein Viertel zu senken, ist ein ehrenvolles, aber auch
sehr hohes Ziel, wenn man die rapide Ausbreitung von
HIV/Aids betrachtet. Ich nenne bewusst noch einmal die
Zahlen: Jede Stunde infizieren sich fast 600 Menschen. In
den vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der an
HIV/Aids-Infizierten von knapp 30 auf über 40 Millionen
erhöht.
In Anbetracht der aufgezeigten Probleme bei der Ver-
abreichung von Nevirapin, angesichts der hohen Zielvor-
gaben der UN und vor dem Hintergrund der fast unge-
hemmten Ausbreitung von Aids in den vergangenen vier
Jahren muss man ehrlich sagen: Alle bislang ergriffenen
Maßnahmen zur Prävention und Therapie sind wichtig
und notwendig. Aber das Problem lösen können wir nur
mit einem wirksamen Impfstoff. Ich bin überzeugt, dass
wir hier alle einer Meinung sind.
Es muss endlich einmal bewusst werden: In den letzten
fünf Jahren hat sich in der Aidsimpfstoffentwicklung
enorm viel getan. Es stimmt schon lange nicht mehr, dass
es unmöglich sei, einen Aidsimpfstoff zu bekommen. Ex-
perten halten es für durchaus realistisch, bis zum Jahre
2007 einen Impfstoff zu implementieren. Die Forschung
für den Impfstoff in Entwicklungsländern ist weiter, als in
Deutschland angenommen wird: Die HIV-Subtypen in
Entwicklungsländern sind nicht identisch mit den Subty-
pen in Europa und Nordamerika.
Die Pharmaindustrie befasst sich aber fast ausschließ-
lich mit der Suche nach einem Aidsimpfstoff für Europa
und Nordamerika. Hier spielt der wirtschaftliche Anreiz
eine zentrale Rolle. Die Sonderarbeitsgruppe Aids bei der
Weltbank hat deshalb zu Recht von einem Marktversagen
in der Impfstoffentwicklung gesprochen. Die öffentliche
Förderung ist unzureichend und die Anreize für private
Investoren sind zu gering, da die Märkte in den Entwick-
lungsländern, in denen die Epidemie ihr größtes Ausmaß
hat, zu geringe Gewinnerwartungen versprechen.
Von allen öffentlichen Geldern, die für die Aids-
bekämpfung weltweit ausgegeben werden, fließen nur
2 Prozent in die Impfstoffentwicklung, von diesen 2 Pro-
zent wiederum nur ein verschwindend geringer Teil in die
Entwicklung eines Impfstoffes für Entwicklungsländer.
Hinzu kommen weitere spezielle Forderungen an einen
Impfstoff für Entwicklungsländer. Er muss den spezifi-
schen Bedingungen in Dritte-Welt-Staaten standhalten
können: Er muss kostengünstig sein, auf die klimatischen
Bedingungen abgestimmt sein und leicht anwendbar, zum
Beispiel eine Schluckimpfung.
Der deutsche Beitrag zur Aidsimpfstoffforschung ent-
spricht heute weder der Dringlichkeit des Problems, noch
dem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen
Gewicht Deutschlands. Denn Fakt ist: Ende 2000 ist die
Bundesförderung für die Aidsimpfstoffforschung ausge-
laufen. Wir fordern deshalb in unserem Antrag die Bun-
desregierung auf, in der Impfstoffforschung für Entwick-
lungsländer endlich aktiv zu werden. Die Experten sagen
mir: Wir haben alle Werkzeuge in der Hand, was fehlt,
sind die Mittel!
Was wir brauchen, sind: Ein Programm zur Beschleu-
nigung der Impfstoffentwicklung in Deutschland und ei-
nen angemessenen Beitrag für die internationale Aids-
Vaccine-Initiative, die sich der internationalen Forschung
nach einem Impfstoff für die Entwicklungsländer ver-
pflichtet hat. Dafür sind insgesamt 50 Millionen DM not-
wendig. Genau das fordern wir in unserem Antrag.
Die Welt braucht einen Aidsimpfstoff, denn Therapie
und Prävention entfalten insbesondere in den Entwick-
lungsländern nur eine sehr begrenzte Wirksamkeit. Es ist
fünf vor zwölf. Ein südafrikanisches Sprichwort heißt:
Der beste Zeitpunkt, einen Baum zu pflanzen, war vor
15 Jahren; der zweitbeste Zeitpunkt ist heute! Genau so
verhält es sich mit der weltweiten Aidsepidemie und der
Impfstoffentwicklung: Sie zwingt uns alle zum sofor-
tigen Handeln. Ich bitte Sie im Interesse aller Betroffe-
nen über Parteigrenzen hinweg, unserem Antrag zuzu-
stimmen!
Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):HIV/Aids bedroht die öffentliche Gesundheit
in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Die
wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung
ganzer Länder und Generationen ist existenziell gefähr-
det. Dies ist insbesondere in den afrikanischen Ländern
südlich der Sahara der Fall. Aber auch in Osteuropa und
in Asien in Kambodscha, Indien und in China – breitet
sich HIV/Aids mit rasanter Geschwindigkeit aus.
Die WHO erwartet, dass im nächsten Jahrzehnt die Le-
benserwartung in vielen Ländern südlich der Sahara um
I7 Jahre auf nur 43 Jahren fällt. Mit einer erheblichen An-
zahl an Aidswaisen erleben diese Länder schon jetzt eine
Gesellschaftskrise. Ohne eine gesunde, arbeitsaktive Be-
völkerung sind die Aussichten auf eine tragfähige und er-
folgreiche soziale und wirtschaftliche Entwicklung so gut
wie nicht mehr vorhanden.
Die Dramatik dieser Entwicklung hat UN-Generalse-
kretär Kofi Annan in diesem Jahr zu einem UN-Aids-Gip-
fel bewogen und die G 8 hat in Genua die Einrichtung ei-
nes globalen Gesundheitsfonds zur Bekämpfung von
HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose beschlossen. Es ge-
schieht also etwas, und die Bundesregierung beteiligt sich
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20675
(C)
(D)
(A)
(B)
daran. 300 Millionen DM wurden für den Fonds vorgese-
hen. Dies ist ein erster bedeutender Schritt, um einen in-
ternationalen Fonds mit anfänglich 1,5 Milliarden US-
Dollar einzurichten. Wichtig ist, dass der Fonds
– vielleicht noch dieses Jahr – als globaler Fonds mit ei-
ner tragfähigen Struktur eingerichtet wird und dass dann
die versprochenen Gelder auch zügig eingezahlt werden.
Der vorgesehene deutsche Beitrag befindet sich in einer
vergleichbaren Höhe mit anderen europäischen Ländern
und stellt etwas über 9 Prozent des Gesamtvolumens dar.
HIV/Aids, aber auch andere Krankheiten wie Malaria
und Tuberkulose – und dies möchte ich hier noch einmal
ganz besonders hervorheben, weil wir uns um diese
Krankheiten bisher viel zu wenig gekümmert haben – be-
drohen die internationale Gesundheit als ein globales öf-
fentliches Gut. Mittelfristig hat sich die internationale Ge-
meinschaft darauf verständigt, die Zahl der TB- und die
Malariatodesfälle um 50 Prozent zu verringern. Die An-
zahl der HIV/Aids infizierten Menschen im Alter von 25
und jünger soll um 25 Prozent gesenkt werden. Um dies
zu erreichen, ist ein gut ausgestatteter und gut funktionie-
render Gesundheitsfonds notwendig. Zu den anfänglich
1,5 Milliarden Dollar werden erhebliche neue Beträge
hinzukommen müssen.
Dies kann aber nicht der einzige Beitrag zur Bekämp-
fung dieser Krankheiten sein. Vor allem die Pharmaunter-
nehmen sind gefordert, auch einen essenziellen Beitrag zu
leisten. Die Erforschung von Impfstoffen muss intensi-
viert und gefördert werden und in den Entwicklungslän-
der selbst, vor Ort, müssen infrastrukturelle Bedingungen
geschaffen werden, sodass vorbeugende Maßnahmen
greifen können und ein besserer Zugang zu Medikamen-
ten und Gesundheitsversorgung gewährleistet werden
kann. Lebensverlängernde und lebensrettende Medika-
mente gegen HIV/Aids sind von zentraler Bedeutung im
Kampf gegen die Ausmaße der Krankheit. Bei der WTO-
Ministerkonferenz in Doha wurden hinsichtlich des
TRIPS-Abkommens Zugeständnisse an diejenigen Län-
der signalisiert, die einen nationalen Notfall im Bereich
der öffentlichen Gesundheit nachweisen können. Damit
soll es erlaubt sein, die restriktiven und teilweise mono-
polistischen Patentregeln in Einzelfällen aufzuheben und
billigere Kopieprodukte in den Entwicklungsländern
selbst herzustellen. Im Falle, dass die Länder nicht über
eine eigene Pharmaindustrie verfügen, sind die Möglich-
keiten für den Import von Generika verbessert worden.
Diese Resultate sind als sehr positiv zu bewerten.
Es besteht jedoch weiterhin Unklarheit über viele Teil-
bereiche, zum Beispiel ab wann von einem Notfall die
Rede sein kann, der US-amerikanische Vorstoß, aufgrund
weniger Milzbrandfälle den nationalen Notstand ausrufen
und existierende Patentregeln außer Kraft setzen zu wol-
len, entfachte heftige Kontroversen. Außerdem bestehen
Zweifel daran, ob die Signale der WTO-Tagung aus-
schließlich für die in der Ministererklärung aufgezählten
Krankheiten gelten.
Die wirksame Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria
und Tuberkulose stellt für die internationale Gemein-
schaft also eine mehrfache Herausforderung dar: Es gilt
nun für alle Akteure, die ursprünglichen Versprechen ein-
zuhalten und den globalen Gesundheitsfonds schnell und
mit ausreichenden Mitteln einzusetzen. Daneben muss
der Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten billiger
werden. Nur ein Bündel von verschiedenen Maßnahmen
kann der weiteren Ausbreitung dieser Krankheiten Ein-
halt gebieten. Vor Ort kann an wichtige Piloterfahrungen
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit angeknüpft
werden, zu denen modellhafte Maßnahmen wie die Ver-
hinderung der Übertragung des Virus von Müttern auf
Neugeborene in Sub-Sahara Afrika gehören.
Ina Albowitz (FDP): Die Immunschwächekrankheit
Aids hat sich zu einer der größten Epidemien in der Ge-
schichte der Menschheit entwickelt. Damit gehört die
Bekämpfung des HIV-Virus zu einer der Herausforderun-
gen des 21. Jahrhunderts.
Die FDP beschäftigt sich seit langem intensiv mit die-
sem Thema, was sich zuletzt sowohl in Form eines Antra-
ges vom 4. Juli – Drucksache 14/6623 – als auch in Form
einer Kleinen Anfrage vom 13. November – Drucksache
14/7516 – dieses Jahres an die Bundesregierung zur Un-
terstützung des Global Aids and Health Fund der Verein-
ten Nationen ausdrückte. Dabei ist die zunehmende Sorge
um die Vernachlässigung durch die Bundesregierung bei
gleichzeitiger Verschärfung der Situation das eigentliche
Problem bei uns.
Von weltweit 36 Millionen infizierten Menschen leben
25,3 Millionen in den Ländern südlich der Sahara. In
Asien breitet sich die Immunschwächekrankheit vor al-
lem in Indien und Kambodscha immer schneller aus: Al-
leine in Indien sind fast 4 Millionen Menschen infiziert.
Und die Krankheit scheint weiter um sich zu greifen.
Ein weiteres Land, welches sich in den letzten zehn Jah-
ren extrem verändert hat, ist China. Marktöffnung führt
langsam zur gesellschaftlichen Öffnung. Neben der über-
wiegend positiven wirtschaftlichen Entwicklung machen
sich auch negative Auswirkungen bemerkbar: Alle 31 chi-
nesischen Provinzen haben Aidsfälle gemeldet. Anfang
des Jahres 2000 hatten sich bereits 1,4 Millionen Chinesen
mit dem Virus infiziert. Angesichts einer Population von
1,2 Milliarden Menschen handelt es sich noch um einen
geringen Anteil, könnte man meinen. Betrachtungen der
letzten zehn Jahre haben jedoch ergeben, dass die Anzahl
der mit dem HIV-Virus Infizierten von 5 800 Chinesen im
Jahr 1985 auf 836 000 im Jahr 2000 angestiegen ist. Sollte
sich Aids in China mit dieser konstanten Geschwindigkeit
weiter verbreiten, dann würde im Jahre 2010 ein Großteil
der chinesischen Bevölkerung mit dem Virus infiziert
sein.
Ähnlich verhält es sich in Osteuropa. Dort haben Dro-
genkonsum und ungeschützter Geschlechtsverkehr zu ei-
nem rasanten Anstieg von HIV-Infektionen gerade bei
jungen Menschen geführt. Diese Entwicklung hat gravie-
rende Folgen für unsere Gesellschaft, Politik und Wirt-
schaft.
Vor allem Kinder und Jugendliche leiden unter den
Auswirkungen der Epidemie, da sie häufig infiziert gebo-
ren werden und damit gar nicht erst das Erwachsenenalter
erreichen oder schon früh verwaisen. Bei genauerer Be-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120676
(C)
(D)
(A)
(B)
trachtung fällt zusätzlich auf, dass Frauen und Mädchen
besonders gefährdet sind. Unter jungen Menschen zwi-
schen 15 und 24 Jahren ist der Anteil der infizierten
Mädchen und Frauen doppelt so hoch wie der ihrer männ-
lichen Altersgenossen. Allein im südlichen Afrika leben
12,2 Millionen infizierte Frauen im Vergleich zu 10,1 Mil-
lionen infizierten Männern. Eine der Ursachen hierfür
liegt oft in den nicht vorhandenen Kenntnissen über Ver-
hütungsmaßnahmen oder in der mangelnden Verfügbar-
keit von Kondomen. Für die deutsche Entwicklungspoli-
tik bedeuten diese Feststellungen, dass Hilfsmaßnahmen
dringend und nachdrücklich verstärkt werden müssen.
Genau an dieser Stelle setzt auch der Global Aids and
Health Fund der Vereinten Nationen mit dem Ziel an, die
Immunschwächekrankheit Aids bis 2015 zu stoppen. Mit
300 Millionen DM steht die Bundesregierung hier bereits
im Wort. Besonders wichtig ist die finanzielle Unterstüt-
zung der pharmazeutischen Forschung, damit ein wirksa-
mer Impfstoff gegen das HI-Virus entwickelt werden
kann. Internationale Zusammenarbeit von staatlichen, in-
dustriellen und privaten Organisationen ist die Grundlage
für den Erfolg auf diesem Gebiet.
Rot-grüner Kurzsichtigkeit entspricht allerdings die
Tatsache, dass dieser notwendigen Maßnahme im Zusam-
menhang mit dem Fonds keine Rechnung getragen wird.
Wie sonst ließe sich erklären, dass keine Gelder aus dem
Fonds für Forschungszwecke bereitgestellt werden? Soll
das ehrgeizige Ziel, Aids bis 2015 zu stoppen, erreicht
werden, muss die Bundesregierung einerseits ihren Ver-
sprechungen nachkommen und die 300 Millionen DM in
den Fonds einzahlen. Andererseits muss sich die Bundes-
regierung aber auch für die finanzielle Unterstützung der
pharmazeutischen Forschung aus Fondsgeldern stark ma-
chen. Nur die Kombination aus Projekten zur Bekämp-
fung der Ausdehnung von Aids und der zukunftsorientier-
ten pharmazeutischen Forschung kann zum von den
Vereinten Nationen angestrebten und wünschenswerten
Ziel führen.
Carsten Hübner (PDS): HIV/Aids ist unbestritten
eine der größten Herausforderungen, vor denen viele
Entwicklungsländer derzeit stehen – insbesondere in
Schwarzafrika und in Südostasien. 25 Millionen der welt-
weit rund 36 Millionen HIV-Infizierten leben allein im
südlichen Afrika. Jährlich kommen noch immer mehrere
Millionen dazu. Die PDS-Fraktion begrüßt deshalb
zunächst den Antrag von CDU/CSU – jedoch nicht ohne
hinzuzufügen, dass die PDS vor einigen Monaten bereits
einen Entschließungsantrag zu dieser Thematik und ins-
besondere zu Aidsmedikamenten eingebracht hat, der je-
doch von allen anderen Fraktionen dieses Hauses abge-
lehnt wurde. Bei viel Zustimmung können wir dennoch
nicht alles teilen, was Sie in Ihrem Antrag formuliert ha-
ben. In Punkt 3 des Forderungsteils haben Sie zum Bei-
spiel einen „konkreten“ Beitrag im Aidsfonds für die Be-
treuung von Aidswaisen gefordert. Sie haben Recht, aber
was bedeutet konkret? So wie Sie es formuliert haben, be-
deutet es rein gar nichts. Weder geben Sie an, wie hoch die
Mittel sein sollen noch sagen Sie, welche konkreten
Schritte folgen müssen. Das Wörtchen „konkret“ hätten
Sie sich deshalb auch sparen können.
Meine Kritik bezieht sich aber vor allem auf Punkt 6.
50 Millionen DM sollen danach in einen Extra-Titel im
Einzelplan 23 eingestellt werden. Auch daran ist zunächst
nichts auszusetzen. Wenn dann aber 30 Millionen DM da-
von in die einheimische Forschung fließen sollen und nur
20 Millionen in die International Aids Vaccine Initiative
(IAVI), dann kann ich das nur mit Unverständnis zur
Kenntnis nehmen. Waren es doch nicht zuletzt unsere
Pharmakonzerne, die Ihre Patente dazu benutzen wollten,
den armen Staaten und Kranken des Südens immense Me-
dikamentenpreise abzuzwingen. Wer die nicht bezahlen
konnte oder kann, so die Logik dieses Vorgehens, der
bleibt halt auf der Strecke. Sie werden verstehen, dass ich
nicht viel davon halte, diesen Firmen nun auch noch wei-
tere Marktvorteile mittels öffentlicher Subventionen zu
verschaffen. Viel besser wären diese Mittel für eine be-
darfsorientierte öffentliche Forschung, am besten in ei-
nem internationalen gesundheitspolitischen Rahmen, ein-
gesetzt. Denn nur der, der die Behandlung von Kranken
im Mittelpunkt seiner Forschungs- und Firmenaktivitäten
hat und nicht allein seine Marktdominanz und seine Pro-
fite, kann, ja darf Partner der öffentlichen Entwicklungs-
zusammenarbeit gegen HIV/Aids sein. Schließlich sind es
Steuergelder, über die wir hier entscheiden sollen.
Das Medikament Nevirapine für die Behandlung HIV-
infizierter schwangerer Frauen sollte gänzlich kostenfrei
gestellt werden. Es geht jetzt darum, den im März erziel-
ten Spielraum bei der Lockerung der Patentrechte zu nut-
zen. Aber auch davon ist leider nichts zu lesen. Deshalb
hoffen wir, im Rahmen der Beratungen den einen oder an-
deren Punkt noch zu verändern.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Globale Strategie gegen Wassermangel als inter-
nationales Konfliktpotenzial
– Wasser als öffentliches Gut und die Bedeutung
von Wasser in der deutschen Entwicklungszu-
sammenarbeit
(Tagesordnungspunkt 15 a und b)
Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Heute möchte
ich Sie mit einem trockenen, ernsten Thema kon-
frontieren, mit einer zentralen Zukunftsfrage: der Versor-
gung der Menschen mit sauberem Trinkwasser.
Ein trockenes, ernstes Thema? Alles in allem ist Was-
ser in unserem Bewusstsein doch eher mit Spaß besetzt.
Nur – wenn wir über den Tellerrand schauen, über be-
stimmte Fakten nachdenken, die globale Zukunftsverant-
wortung in den Blick nehmen, dann wird es ernst, bitter-
ernst.
Einige trockene Fakten: Ein Fünftel der Menschheit
hat heute schon keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Kassandra-Prognosen sehen diese Zahl bis 2050 auf ein
Viertel anwachsen. Bevölkerungswachstum, Verstädte-
rung, marode Leitungen, Verschmutzung, Übernutzung
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20677
(C)
(D)
(A)
(B)
des Grundwassers, fortschreitende Wüstenbildung, ineffi-
ziente Bewässerungslandwirtschaft – Gründe kennen wir
reichlich!
Schon heute ist bakteriell verseuchtes Trinkwasser die
Hauptursache für oft tödlich verlaufende Krankheiten.
Zwei Millionen Menschen fallen ihnen jährlich zum Op-
fer, die überwiegende Mehrzahl davon sind Kinder unter
fünf Jahren. Zahlreiche Millionenstädte verfügen über
keine oder nur unzureichende Abwassersysteme und
Kläranlagen. Was das für die Umwelt bedeutet, muss ich
Ihnen nicht sagen!
Die Hauptleidtragenden sind wieder einmal Frauen.
Zehn Kilometer lange Wege zum Wasserholen sind keine
Seltenheit. Die Frauen könnten diese Zeit produktiver
nutzen, zum Beispiel für die eigene Aus- und Fortbildung.
Wassermangel und Dürrekatastrophen verhindern die
Entwicklung ganzer Regionen. Bereits 1990 stellte der
damalige UN-Generalsekretär Boutros-Boutros Ghali
fest, Wasser werde in Zukunft so kostbar sein wie Öl. Als
Ägypter weiß er, wovon er spricht. Rund 300 Millionen
Menschen hängen an der Lebensader Nil. In 20 Jahren
wird sich diese Zahl verdoppelt haben.
Wenn dann der Sudan und Äthiopien einen größeren
Anteil des Nilwassers für ihre geplanten Staudammpro-
jekte einbehalten, gerät das seit 1959 verlässliche Nil-
wasserabkommen ins Wanken. Heute schon sind die är-
meren, an entfernteren Feldkanälen liegenden Fellachen
gezwungen, ihre Felder mit salzhaltigem Drainagewasser
zu versorgen und manchmal nehmen sie das nicht mehr
gelassen hin.
In der Türkei und in China sind durch gigantische Stau-
dammprojekte – mit all ihren sozialen und ökologischen
Auswirkungen – regionale und innenpolitische Konflikte
vorprogrammiert. Soziale Gemeinwesen werden durch
Umsiedlungen von Menschen in oft unvorstellbarer
Größenordnung zerstört, Kulturlandschaften unwieder-
bringlich überflutet. Anrainer der unteren Flussläufe müs-
sen mit weniger Wasser und damit einhergehend schlech-
terer Qualität auskommen, von den nicht vorhersehbaren
Auswirkungen auf die ökologischen und oft auch ökono-
mischen Strukturen ganz zu schweigen.
Und wenn einer ganzen Stadt wie Sanaa das Wasser
ausgeht? In den letzten 30 Jahren ist diese Stadt zu einer
Millionenstadt angewachsen, die ihre Wasser- und Ab-
wasserprobleme nicht in den Griff kriegt. Nur 40 Prozent
der Bewohner sind an die öffentliche Versorgung ange-
schlossen. Der Rest muss sich über Tankwagen mit ge-
sundheitlich bedenklichem Wasser eindecken. Fäkalien
werden hauptsächlich über Sickergruben entsorgt. Die
knappen Grundwasservorkommen, aus denen sich jetzt
noch manche Privatbrunnenbesitzer versorgen, sind da-
mit in naher Zukunft unbrauchbar. Wer kann sich bei uns
eine solch hoffnungslose Situation vorstellen?
Aber ohne Hoffnung kann man nicht leben. Es ist mög-
lich, durch regionale Kooperationen gemeinsame Lösun-
gen für die Nutzung grenzüberschreitender Gewässer zu
finden. So werden Konfliktpotenziale zu Entwicklungs-
potenzialen.
Zahlreiche Entwicklungsländer zeigen Erfolg verspre-
chende Ansätze regionaler Wasserkooperation: die Nilan-
rainerstaatenkonferenz im September 2001 in Bonn, das
gemeinsame Abkommen zwischen Pakistan und Indien
zur Nutzung des Indus, Ansätze kooperativer, grenzüber-
schreitender Gewässernutzung im Nahen Osten. Das alles
macht Hoffnung.
Auch von der Bonner Wasserkonferenz gehen wichtige
Hoffnungssignale in die Welt:
Erstens. Die Wasserproblematik ist einmal mehr in das
Bewusstsein der Menschen gerückt.
Zweitens. Die Konferenz hat den Boden für Johannes-
burg und das dritte Weltwasserforum in Japan bereitet.
Drittens. Selbst die Opposition hat mit einem kleinen
Antrag zur Wasserfrage ihre Kooperation signalisiert.
Die Bundesregierung allerdings hat die Wasserfrage zu
einem Schwerpunktthema gemacht. Das ist konkrete Frie-
dens- und Präventionspolitik. Deutschland ist im Wasser-
sektor mit bis zu 800 Millionen DM jährlich der größte
europäische Geber. Aber Geld allein sagt nichts. Neben
der politischen Dimension müssen auch die ökologischen,
ökonomischen und sozialen Aspekte globaler Struktur-
verantwortung beachtet werden.
Die ökologische Dimension der Wasserfrage liegt in
der nachhaltigen Bewirtschaftung. Die Kreislaufwirt-
schaft beim Wassermanagement folgt diesem Prinzip. Ge-
genwärtig gehen 70 Prozent des weltweiten Süßwasser-
verbrauchs auf die Landwirtschaft zurück. Hier liegen
erhebliche Einsparpotenziale. Die „World Commission
on Dams“ hat Empfehlungen für die Prüfung von
Staudammprojekten erarbeitet, die endlich Gehör finden
müssen. Wie viele Konferenzen sind denn noch nötig, um
diese Erkenntnisse in die Köpfe von Entscheidungsträ-
gern im Norden und Süden zu transportieren?
Die ökonomische Dimension wirft die Frage nach der
Finanzierung auf. Ihr Antrag fordert ganz lapidar ausrei-
chende Mittel. Was ausreichend wäre, ist allen längst be-
kannt: 180 Milliarden US-Dollar – jährlich! Mehr als das
Doppelte des derzeitigen Finanzvolumens. Können Sie
mir sagen, woher das Geld kommen soll? Lassen Sie Ihre
Fantasie spielen und nicht nur Ihre omnipotenten An-
tragsmuskeln!
Allein durch staatliche Entwicklungspolitik sind die
fehlenden 100 Milliarden US-Dollar nicht aufzubringen.
Kann es also ohne verantwortungsvolle Partnerschaft mit
der Wirtschaft eine Lösung geben, eine Lösung, die den
Grundsatz beachtet, dass Wasser als öffentliches Gut nicht
privatisierbar ist?
Trinkwasser ist wie Atemluft lebensnotwendig. Die
Grundversorgung mit sauberem Trinkwasser muss ge-
währleistet sein. Gestärkte, transparente staatliche Institu-
tionen müssen – und sie tun es in den Entwicklungslän-
dern bereits – im Einzelfall entscheiden, inwieweit die
Einbindung privater Investoren sinnvoll ist. Sie ist weder
unkalkulierbare Gefahr noch Allheilmittel. Alles in allem
müssen Gebührenerhebungen den sozialen Verhältnissen
Rechnung tragen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120678
(C)
(D)
(A)
(B)
Mit weiblichen Fachkräften, die eine größere Sensibi-
lität gegenüber frauenspezifischen Problemen beim Um-
gang mit Wasser erwarten lassen, gelingt es wohl eher, die
lokale Bevölkerung einzubeziehen und somit die Nach-
haltigkeit zu gewährleisten.
Kommen wir nun zur sozialen Dimension. Wasser und
Armut sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wer
in Entwicklungsländern arm ist, hat keinen Zugang zu
sauberem Trinkwasser, muss oft genug sein Wasser an der
Strasse zu überhöhten Preisen kaufen. Bis zum Jahr 2015
wollen wir die Armut in der Welt halbieren. Der Schlüs-
sel dafür ist der Zugang zu sauberem Trinkwasser. Das
Engagement der Bundesregierung im Wassersektor ist
also Armutsbekämpfung par excellence. Dezentralisie-
rung, eigenverantwortliche Bewirtschaftung und Nutzung
traditionellen Wissens sind die Grundpfeiler dieser Poli-
tik. So wird die Zivilgesellschaft gestärkt und fit gemacht
für den Politikdialog in Fragen regionaler Kooperation.
Ich lade Sie ein, in der Wasserfrage mit uns gemeinsam
globale Verantwortung zu tragen für eine weitsichtige
Entwicklungspolitik.
Petra Bierwirth (SPD): Ein Entspannungsbad am
Abend, nach dem wohlverdienten Feierabend. Eine Du-
sche morgens für den Start in einen ereignisreichen Tag.
Ein oder zweimal im Jahr in den Urlaub. Äpfel aus Italien
oder Neuseeland, zwei Autos, ein Haus und ein Berg von
Geschenken unterm Weihnachtsbaum. – Lebensqualität
nennen wir das.
Dafür verwenden und verbrauchen wir, circa 20 Pro-
zent der Menschen der westlichen Wohlstandsgesell-
schaft, 80 Prozent der natürlichen Ressourcen. Dazu
gehört auch das Wasser. Scheinbar können wir mit diesem
Gut ja sorgloser umgehen als andere. Wir haben ja genug
davon. Für mich ist dies eine trügerische Sicherheit.
Bedenkt man, dass sich 60 Prozent der nutzbaren
Trinkwasserreserven in nur zehn Staaten befinden, kann
ich Herrn Töpfer nur zustimmen, der vor noch nicht allzu
langer Zeit sagte: „Die Frage, wie wir auf der Welt mit
dem Wasser umgehen, wird an vielen Orten über Krieg
und Frieden mitentscheiden“. Allerdings ist für mich der
Konflikt auf dem Feld der Trinkwasserversorgung schon
längst ausgebrochen, genauso wie auf dem Feld der Fi-
nanzen und Gewinne. 600 Milliarden Dollar müssen nach
Schätzungen der Weltbank in den nächsten zehn Jahren
investiert werden, um die Wasserver- und Abwasserent-
sorgung allein nur in den Entwicklungsländern zu sichern.
Kein Staat, keine Kommune, keine Stadt wird das allein
realisieren können. Dazu wird natürlich die Zusammenar-
beit mit privaten Unternehmen erforderlich sein. Diese
Zusammenarbeit muss aber die Menschen vor Ort mit ein-
beziehen. Diese Zusammenarbeit muss ins flache Land
hineinreichen und nicht nur die lukrativen Ballungsräume
umfassen – eine Zusammenarbeit also ganz im Sinne der
lokalen Agenda. Leider sehe ich eine solche Entwicklung
zurzeit nicht gegeben.
In meinen Augen soll die Wasserwirtschaft nach den
Vorstellungen einiger weniger ganz andere Wege be-
schreiten: weg von der kommunalen Mitsprache und ran
an die Börse! Wasser als Handelsgut und von wenigen be-
herrscht – und wir Deutschen gehen mal wieder ganz
vorne weg. Ein Vertreter der CDU im EU-Parlament ist
zurzeit der lauteste Rufer. Wenn es nach ihm ginge, hätte
das EU-Parlament schon längst beschlossen, dass die
Wasserwirtschaft nur noch in private Hände gehört und je-
der, der es wünscht, irgendwo einen Brunnen bohrt und
das gewonnene Wasser in eine Sammelleitung einspeist.
Diese Vorstellung ist jedoch so weit von jeglicher lokalen
Agenda-Diskussion entfernt wie der Teufel vom Weih-
wasser.
Wasser ist kein beliebig handelbares Gut, nicht hier bei
uns und auch nicht anderswo. Uns muss allen klar sein,
dass unser Umgang mit Wasser natürlich Auswirkungen
auf die anderen Regionen der Welt haben wird. Wir müs-
sen unseren Beitrag zu diesem für uns alle lebenswichti-
gem Thema leisten, indem wir unser Knowhow in den
Fragen „Wie schützen wir unser Wasser?“, „Wie bereiten
wir unser Trinkwasser auf?“, „Wie behandeln wir unser
Abwasser“ weitergeben.
Hier liegt das Potenzial und die Aufgabe für uns, Tech-
nologien zu entwickeln und zu erproben, die an die natür-
lichen und sozialen Bedingungen anderer Regionen ange-
passt sind: innovative Technologien und Strategien, die
Städte und Regionen in die Lage versetzen, ihre Wasser-
infrastruktur aufzubauen, die vor allem die Menschen
dauerhaft mit sauberem Trinkwasser versorgt, die das Ab-
wasser sicher entsorgt. Das ist vorsorgendes und nachhal-
tiges Handeln. Hier eröffnen sich Chancen für deutsche
Unternehmen, ganz gleich, ob kommunale oder private.
Hier liegt unser Beitrag zum Vermeiden von Krisen, zum
Erhalt des Friedens.
Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Vom 3. bis zum 7. De-
zember 2001 hat in Bonn die Internationale Süßwasser-
konferenz im Sinne einer weltweit nachhaltigen Wasser-
versorgung stattgefunden. Mit ihrem Empfehlungskata-
log für die „Rio-plus-zehn“-Konferenz der Vereinten Na-
tionen in Johannesburg im nächsten Jahr haben die
2 300 Teilnehmer aus 145 Staaten ein Zeichen für eine ge-
rechtere Wasserversorgung auf der Welt gesetzt. Die
CDU/CSU dankt den teilnehmenden Staatsvertretern für
die konstruktive und engagierte Arbeit. Die Union be-
grüßt darüber hinaus außerordentlich die Ergebnisse der
Bonner Verhandlungen.
Die Internationale Süßwasserkonferenz hat die Bedeu-
tung des Wassers als lebenswichtige und knappe Res-
source, aber auch als Konfliktpotenzial klar herausge-
stellt. Der Zugang zu sauberem Trink- und geeignetem
Sanitärwasser, über den rund 2 Milliarden Menschen
nicht verfügen, muss vor dem Hintergrund von Friedens-
sicherung sowie wirtschaftlicher und sozialer Entwick-
lung ein zentraler Ansatzpunkt einer internationalen
Nachhaltigkeitsstrategie sein. Diese Dramatik wird noch
zusätzlich dadurch verschärft, dass auch circa zwei Milli-
arden Menschen keinen Zugang zu Energie haben. Die
Bereitstellung von Wasser und Energie gehört neben der
Verfügbarkeit von Nahrung zu den existenziellen Fragen
der Menschheit und damit zu den Grundfragen einer stän-
dig wachsenden Weltbevölkerung: Die Teilnehmer der
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20679
(C)
(D)
(A)
(B)
Internationalen Süßwasserkonferenz in Bonn haben inso-
fern gute Voraussetzungen für die Beratungen zur Was-
serproblematik in Johannesburg im kommenden Jahr ge-
schaffen, darüber hinaus aber auch einen eindeutigen
Auftrag erteilt.
Die CDU/CSU wird durch die Ergebnisse der Süßwas-
serkonferenz in ihrer Politik bestätigt. Sie hat bereits sehr
früh und mit Nachdruck auf das Konfliktpotenzial der in-
ternationalen Wasserversorgung hingewiesen und dieser
Tatsache mit der Verknüpfung von außen- und sicher-
heitspolitischen mit umwelt- und energiepolitischen Kon-
zepten Rechnung getragen. Die Ereignisse vom 11. Sep-
tember haben die Relevanz einer weitsichtigen und
umfangseichen Gesamtbetrachtung von außen-, sicher-
heits-, umwelt- und entwicklungspolitischen Fragestel-
lungen erneut unterstrichen.
In dem Antrag „Globale Strategie gegen Wassermangel
als internationales Konfliktpotenzial“, der dem Deut-
schen Bundestag in Verbindung mit dem Antrag von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen „Wasser als öffentliches Gut
und die Bedeutung von Wasser in der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit“ heute zur Beratung vorliegt, stellt
die Union daher fünf zentrale Forderungen mit Blick auf
die „Rio-plus-zehn“-Konferenz in Johannesburg 2002
auf.
Die Union spricht sich für die zügige Entwicklung ei-
ner globalen Strategie mit konkreten Aktionsprogrammen
für die nachhaltige Wasserpolitik im Rahmen der interna-
tionalen Staatengemeinschaft aus. Unverzichtbar ist
ferner ein umfangreicher Know-how- und Kapital-Trans-
fer im Sinne einer effizienten Wasserbewirtschaftung in
Regionen ohne ausreichenden Zugang zu Süßwasser. Von
elementarer Bedeutung ist für die CDU/CSU darüber hi-
naus die Entwicklung von Vorsorgestrategien und Kri-
senmanagement bei Dürre und Hochwasserereignissen.
Die Stärkung der deutschen Verantwortung im Rahmen
einer koordinierten und engagierten EU-Außenpolitik
stellt eine weitere Forderung in unserem Antrag dar.
Schließlich gilt es das internationale Wasserrecht im
Sinne einer verbindlichen Wassercharta sowie Streit-
schlichtungsmechanismen im Rahmen einer zu stärken-
den UNEP weiterzuentwickeln. Gerade die Wasserfrage
unterstützt alle Bestrebungen zum Aufbau einer wir-
kungsvolleren „Global Governance“ und macht eine in-
tensive Beteiligung Deutschlands im Rahmen der inter-
nationalen Staatengemeinschaft im Sinne einer
nachhaltigen Entwicklung dringend erforderlich.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): „Wo das Wasser
endet, endet auch die Welt“ – sagt ein Sprichwort aus den
Wüstenregionen Usbekistans. Dort, wo Wasserressourcen
knapp sind, sind auch Nutzungskonflikte vorhersehbar.
„Der nächste Krieg in der Region des Nahen Ostens
wird nicht um Öl, sondern um Wasser geführt werden“,
prophezeite der vormalige UN-Generalsekretär Boutros-
Boutros Ghali mit Blick auf den Nahen Osten. Nicht nur
Israel und Jordanien liegen im Streit um das Wasser des
Jordan, sondern auch die Türkei ist wegen des Euphrat-
und Tigriswassers mit dem Irak und Syrien im Konflikt.
Parallele Auseinandersetzungen finden sich in der neuen
Welt um den Rio Grande, Colorado, vor allem aber in
Asien: So birgt das Wasser des Indus explosiven Kon-
fliktstoff zwischen Indien und Pakistan. Gleiches gilt für
das Wasser des heiligen Flusses Ganges. Das war bereits
mehrfach Ursache für einen Eklat zwischen Indien und
seinem östlichen Nachbarn Bangladesch.
Wasserknappheit ist auch die größte Gefahr für das
südliche Afrika. In zehn bis 30 Jahren könnten acht Staa-
ten in der Region extrem bedroht sein, sofern sich nicht
ein solides Wassermanagement durchsetzt. Gesteigert
wird das Konfliktpotenzial des Wassers nicht nur durch
unausgewogene machtpolitische Entscheidungen, son-
dern vor allem auch durch das hohes Bevölkerungs-
wachstum. Das bringt einen höheren Wasserbedarf mit
sich und hat somit somit bereits existente Konflikte ver-
schärft.
Das andauernde Bevölkerungs- und Wirtschaftswachs-
tum wird das Wasser im nächsten Jahrhundert auf jeden
Fall zum Thema Nummer eins machen. Experten aus ver-
schiedenen Weltinstituten gingen schon Ende der 80er-
und Anfang der 90er-Jahre davon aus, dass in Zukunft das
Wasser die frühere Rolle des Erdöls als Konfliktgrund
übernehmen würde.
Nun zum Thema: Wege aus der Wasserkrise. Viele
Wasserreserven sind aufgebraucht, verschmutzt oder rei-
chen nicht mehr aus, um die wachsende Nachfrage nach
Süßwasser zu decken. Mit technischen Mitteln allein,
zum Beispiel durch Meerwasserentsalzung, kann das Pro-
blem der unzureichenden Wasserversorgung langfristig
nicht gelöst werden. Eine zukunftsfähige Wassernutzung
muss sich daher an den vorhandenen und erneuerbaren
Wasserressourcen orientieren. Internationale Vereinba-
rungen sind notwendig, um Konflikte um Wasser zu ent-
schärfen.
Wasser ist ein Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung.
Nachhaltige Entwicklung ist für uns in allen drei Dimen-
sionen bedeutsam: in der ökonomischen, der sozialen wie
auch in der ökologischen Dimension. Ohne Fortschritte
bei der Armutsbekämpfung werden sich viele Länder den
Umweltschutz nicht leisten können. Umgekehrt werden
wirtschaftlich leistungsfähige Gesellschaften ohne
Beachtung der Grenzen des Ökosystems Erde und der Re-
generationsfähigkeit natürlicher Ressourcen nicht zu-
kunftsfähig sein. Die Einsicht, dass kein Land zu wirt-
schaftlichem Wohlstand kommen kann, wenn es Raubbau
an der Umwelt betreibt oder eine tiefe soziale Spaltung
zulässt, hat in den vergangenen Jahren an Unterstützung
gewonnen.
Nun zu den Globalen Strategien. Gravierender als die
Misswirtschaft bei der Wasserversorgung in Entwick-
lungsländern ist die Vergeudung von Wasser in der Land-
wirtschaft. Die meisten Entwicklungsländer halten an
dem politischen Ziel einer nationalen Selbstversorgung
mit Grundnahrungsmitteln fest. Dies führt jedoch zu ei-
nem unverantwortlichen Ausbau der Bewässerungsland-
wirtschaft durch die subventionierte Bereitstellung von
Wasser oder durch Einfuhrhemmnisse für Agrarprodukte.
Eine verantwortungsvolle Problemanalyse muss daher zu
dem Schluss kommen, dass die Liberalisierung des Welt-
handels mit Nahrungsmitteln einen entscheidenden Bei-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120680
(C)
(D)
(A)
(B)
trag zur Entschärfung regionaler Wasserknappheit liefern
kann. Hier ist insbesondere die Europäische Union in der
Pflicht, noch bestehende tarifäre und nicht tarifäre Han-
delshemmnisse zu beseitigen.
Parallel zu einer Reform der Agrarlandwirtschaft und
einer Erhöhung des Einsparpotenzials müssen auch die
sich aus einer Beteiligung der Privatwirtschaft ergeben-
den Potenziale für eine Verbesserung der Trinkwasserver-
sorgung genutzt werden. Auch hierzu ist in dem rot-grü-
nen Antrag außer dem obligatorischen Verweis auf
öffentlich-private Partnerschaften nichts zu finden. Ge-
rade die Privatwirtschaft kann einen ganz wesentlichen
Beitrag zur Entlastung des Wasserproblems leisten, wenn
ihr hierfür ausreichend Investitionsanreize geboten wer-
den. Die erwähnte DIE-Studie zeigt, dass die wenigen
Beispiele privat betriebener städtischer Wasserversor-
gung in Entwicklungsländern wie zum Beispiel in Abid-
jan oder in Buenos Aires zeigen, dass diese Betriebe we-
niger Wasserausfälle, geringere Leitungsverluste, einen
besseren Gebühreneinzug und eine größere Kundenzu-
friedenheit verzeichnen als ihre staatlichen Pendants.
Carsten Hübner (PDS): Frau Maria Iskandarani vom
Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung hat unlängst
in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf verwiesen, dass es
gerade die ärmsten Bevölkerungsschichten in den Ent-
wicklungsländern sind, die am meisten für ihr Trinkwas-
ser zu bezahlen haben. Denn sie sind in der Regel nicht an
die – oft subventionierte – öffentliche Wasserversorgung
angeschlossen. Was nichts anderes heißt, als dass die Ar-
men Wasser bei Händlern zu unkontrollierten, oft hohen
Preisen kaufen, während die Reichen billiges Wasser aus
der Leitung zapfen und damit ihre Gärten bewässern.
Daraus nun den Schluss zu ziehen, man sollte dann
doch gleich gänzlich auf eine Wasserversorgung durch die
öffentliche Hand verzichten, geht natürlich in die Irre. Im
Gegenteil: Worum es im Rahmen internationaler Ent-
wicklungskooperation verstärkt gehen muss, ist die adä-
quate und kostengünstige Versorgung gerade der Ärms-
ten, ist die Versorgung in den Elendsquartieren und im
ländlichen Raum. Dringliche Aufgabe ist also eine sozial-
verträgliche Basisversorgung. Und damit ist bekanntlich
kein Geschäft zu machen – so sehr momentan auch der
Markt als Allheilmittel und PPP als entwicklungspoliti-
sche Wunderwaffe gepriesen werden. Warum, belegen
schon die Zahlen: Nach einer Studie der Unternehmens-
beratung Helmut Kaiser ist der Wassermarkt der größte
Markt im Umweltbereich mit den höchsten Ertragspoten-
zialen und Zuwachsraten von deutlich über 10 Prozent pro
Jahr. Der Weltmarkt wird sich der Studie zufolge von 265
Milliarden DM 1998 auf 555 Milliarden DM bis 2015
mehr als verdoppeln. Und daran wollen die Privaten ihren
Anteil. Global Players sind vor allem die französischen
Konzerne Vivendi und Suez. Auf Platz drei liegt seit
Übernahme des englischen Wasserkonzerns Thames Wa-
ter die deutsche RWE. Und die erzielt mit ihrer Wasser-
sparte, die ganze drei Prozent am Umsatz ausmacht, sage
und schreibe 12 Prozent des Gewinns.
Es ist also durchaus nachvollziehbar, weshalb sich auf
der Bonner Wasserkonferenz Anfang Dezember NGOs,
Naturschutzverbände, Gewerkschaften, aber auch Klaus
Töpfer als Chef des UNO-Umweltprogramms kritisch
zum privatwirtschaftlichen Engagement in diesem exis-
tenziellen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit
geäußert haben. Denn Liberalisierung und Privatisierung
führen weltweit zu einem Verlust der demokratisch legiti-
mierten Kontrolle, begünstigen die Monopolbildung und
verstärken die Abhängigkeit von ausländischen Kapital-
gebern. Internationale Konzerne sind ganz wesentlich an
den Filetstücken interessiert, etwa in den Mega-Städten.
Zur ländlichen Entwicklung werden sie jedoch keinen
Beitrag leisten. Machen wir uns nichts vor!
Bei etwa 1,2 Milliarden Menschen ohne Zugang zu
sauberem Wasser zu erschwinglichen Preisen ist es Auf-
gabe der öffentlichen Entwicklungskooperation, dieses
Feld nicht den Geschäftemachern zu überlassen. Wasser
ist Lebensgut, nicht Ware. Wir sollten das nicht vergessen.
Dr. Uschi Eid, Parlamentarische Staatssekretärin im
Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung: Rund 1,3 Milliarden Menschen haben
keinen Zugang zu sauberem, unbedenklichem Wasser.
Außerdem sind circa 2,5 Milliarden Menschen nicht an
eine brauchbare Abwasserbeseitigung angeschlossen –
und dies in einer Welt, in der es genug Wasser für alle
Menschen gibt. Dies kann nicht hingenommen werden!
Es ist eine Frage des politischen Wollens und Handelns,
dass wir Wasser gerecht verteilen, dass wir Wasser effizi-
ent nutzen und dass wir die Belastbarkeit der Ökosysteme
beachten.
Deutschland hat in der internationalen Wasserpolitik,
auch unter dem Gesichtspunkt von Krisenprävention, eine
Vorreiterrolle übernommen. Wir sind mit 600 bis 800 Mil-
lionen DM jährlich der größte europäische Geber im
Wassersektor. Deshalb hatte die Bundesregierung vergan-
gene Woche auch zur Internationalen Süßwasserkonfe-
renz in Bonn eingeladen. Über 1 400 Delegierte, Beo-
bachterinnen und Beobachter aus rund 130 Staaten und
50 internationalen Organisationen folgten der gemeinsa-
men Einladung des Umwelt- und des Entwicklungsminis-
teriums. Besonders möchte ich die über 70 Vertreterinnen
und Vertreter der Zivilgesellschaft erwähnen – von Nicht-
regierungsorganisationen, Privatwirtschaft, Gewerkschaf-
ten, Wissenschaft, Frauen- und Jugendorganisationen, in-
digenen Volksgruppen und Kommunen –, die bei dieser
Konferenz intensiv mit den Delegierten darüber disku-
tierten, wie die Wasserkrise abgewendet werden kann.
Die Ergebnisse der Süßwasserkonferenz in der letzten
Woche bestätigen die von der Bundesregierung gesetzten
Schwerpunkte im Wasserbereich und den in der deutschen
Entwicklungspolitik eingeschlagenen Weg:
Erstens. Die Konferenz hat bestätigt, dass die Zusam-
menhänge von Armut und Wasser stärker in den Blick ge-
nommen werden müssen. Der Zugang zu Wasser ist eine
soziale Frage, Wasser und Armut stehen in einem Wech-
selbezug: Viele Menschen sind arm, weil sie kein Wasser
haben, vor allem auf dem Lande. Aber noch mehr Men-
schen haben kein Wasser, weil sie arm sind. Es gilt also,
entschlossen für die Erreichung des internationalen Ziels
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20681
(C)
(D)
(A)
(B)
der Halbierung der extremen Armut bis zum Jahr 2015 zu
arbeiten. Mit dem Armutsbekämpfungsprogramm, das
alle Politikbereiche in die Pflicht nimmt, hat die Bundes-
regierung eine wichtige Initiative ergriffen, welche mit
Nachdruck umgesetzt wird und hilft, die internationalen
Anstrengungen auch darauf auszurichten, den Anteil der
Menschen, die keinen Zugang zu sicherem und bezahlba-
rem Wasser haben, zu halbieren.
Die Konferenz hat zweitens bestätigt, dass Wasser ein
großes Potenzial für die Kooperation zwischen Staaten
und für regionale Entwicklung bietet. Der Nil, der zehn
Länder von Ägypten und Sudan bis nach Äthiopien und
Tansania verbindet ist ein gutes Beispiel: Derzeit gibt es
in dieser politisch instabilen, heterogenen und armen Re-
gion kaum Dialog oder ökonomische Kooperation zwi-
schen den Ländern. Das Wasser des Nils ist es, was diese
gänzlich verschiedenen Staaten derzeit zusammenbringt.
Eine verstärkte Kooperation am Nil würde sich für alle
auszahlen, weit über die Frage des Wassers hinaus: eine
gemeinsame Energieproduktion, eine effiziente landwirt-
schaftliche Produktion. Gemeinsamer Ressourcenschutz
und gemeinsame Schifffahrtswege können zur regionalen
Entwicklung und Integration beitragen. Als Anrainer vie-
ler europäischer Flüsse – Rhein, Elbe, Oder, Donau – ver-
fügt Deutschland über eine Menge von Erfahrungen in
diesen Fragen. Deshalb unterstützt die Bundesregierung
das Bemühen der Nil-Anrainerstaaten um bessere Koope-
ration durch Erfahrungsaustausch und Beratung.
Drittens. Die Konferenz hat sich deutlich für neue Part-
nerschaften ausgesprochen. Um alle Menschen mit Was-
ser zu versorgen, sind jährlich rund 180 Milliarden
US- Dollar erforderlich – es stehen jedoch seitens der öf-
fentlichen Haushalte und der internationalen Staatenge-
meinschaft jährlich nur rund 80 Milliarden US Dollar zur
Verfügung. Um die Finanzierungslücke von 100 Milliar-
den US Dollar zu schließen, brauchen wir einen aktiven
Privatsektor, der sich im Wasserbereich engagiert und in-
ves-tiert. Deshalb bemühen wir uns in der Entwicklungs-
zusammenarbeit um die Einbeziehung der Privatwirt-
schaft, auch der deutschen Unternehmen.
Viertens. Die Konferenz hat auch bestätigt, dass der
Staat den ordnungspolitischen Rahmen setzen muss, in
dem sich die Privatwirtschaft bewegen kann. Lassen Sie
mich eines klar sagen: Eine Privatisierung von Wasser,
unerschwingliche Wasserpreise für die armen Menschen
oder die Gefährdung der Wasserressourcen darf es und
wird es nicht geben. Unsere Entwicklungspolitik hilft un-
seren Partnerländern dabei, diese zum Teil neuen staat-
lichen Aufgaben besser und effizienter wahrzunehmen.
„Wasser, ein Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung“
so lautete der Titel der Süßwasserkonferenz. Die Konfe-
renz war Beleg dafür, wie ernst die Bundesregierung das
Thema der nachhaltigen Entwicklung nimmt. Die Konfe-
renz hat die Bedeutung von Wasser für die nachhaltige
Entwicklung illustriert, erneuert und bestätigt. Dies wer-
ten wir als Bestätigung unserer Entwicklungspolitik, die
wir im Wasserbereich auf dem erreichten hohen Niveau
fortführen und verstetigen wollen.
Der offene und transparente Vorbereitungsprozess, die
Einbeziehung aller Staaten, Organisationen und Beteilig-
ten hat erfreulicherweise zu einem offenen und konstruk-
tiven Dialog geführt, den wir von bisherigen Konferenzen
nicht kannten. Gerade heute ist diese Art von ernsthaftem
Dialog entscheidend, denn nur gemeinsam können wir die
Herausforderung im Wasserbereich meistern.
Die Konferenz hat weitreichende und innovative Emp-
fehlungen für den Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung
im nächsten Jahr in Johannesburg formuliert. Wir werden
mit unseren Partnern daran arbeiten, dass diese Empfeh-
lungen in der Praxis, auch nach Johannesburg, umgesetzt
werden, damit aus Johannesburg ein Gipfel der Aktionen
und der Umsetzung wird – auch für die Menschen, die
noch keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset-
zes zur Änderung schadenersatzrechtlicher Vor-
schriften
Christine Lambrecht (SPD):Es ist oft so, dass Dinge
von großer Tragweite ohne die große Aufmerksamkeit
stattfinden. So ist das auch mit der Neuregelung des Scha-
densersatzrechts – dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes
zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften –,
das wir heute in der Ersten Lesung beraten. Mit dem Ent-
wurf wird das europäische Schadensersatzrecht moderni-
siert und an europäische Standards angeglichen.
Generell ist uns Sozialdemokratinnen und Sozialde-
mokraten die rechtliche Besserstellung von Unfallopfern
ein besonderes Anliegen. Ich habe die Gelegenheit ge-
habt, bereits am Anfang dieser Legislaturperiode eine An-
hörung der SPD-Fraktion zur rechtlichen Besserstellung
von Verkehrsunfallopfern zu leiten. Diese Anhörung hat
große Resonanz gefunden und viele Anregungen aus der
Praxis finden sich wieder in dem vorliegenden Entwurf.
Seit dieser Zeit findet ein Dialog mit den Opferverbänden,
Versicherungen und Arzneimittelherstellern statt. Mit der
Neuregelung des Schadensersatzrechts unternimmt die
rot-grüne Bundesregierung einen entscheidenden Schritt
zur Verbesserung des Schutzes der Opfer. Vor allem die
Rechtsstellung von Opfern, die Körper- oder Gesund-
heitsschäden erlitten haben, wird gestärkt.
Ein wesentliches Anliegen des Entwurfs ist die Ver-
besserung der haftungsrechtlichen Situation von Kindern
im motorisierten Straßen- und Bahnverkehr. Die Alters-
schwelle für eine Haftung von Kindern im motorisierten
Verkehr wird von derzeit sieben auf nunmehr zehn Jahre
heraufgesetzt. Somit wird auch ein Mitverschulden des
Kindes diesem erst ab zehn Jahren entgegengehalten wer-
den können.
Der Entwurf sieht eine Ausweitung von Schmerzens-
geldansprüchen vor. Ein Anspruch auf Schmerzensgeld
wird es in Zukunft auch in Fällen der Gefährdungshaftung
und der Vertragshaftung geben. Der Entwurf sieht eine
Bagatellgrenze vor, für die es in Zukunft kein Schmer-
zensgeld geben soll. Hier muss jedoch in den jetzt anste-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120682
(C)
(D)
(A)
(B)
henden Beratungen beachtet werden, dass dies zu keinem
Ausschluss von berechtigten Ansprüchen für Verletzun-
gen führt, die – wenn auch nicht unbedingt nach Art und
Dauer – nicht unerheblich sind. Hierzu zähle ich zum Bei-
spiel Verletzungen, die ein Kind durch einen Hundebiss
erleidet.
Im Bereich des Schadensersatzrechts soll der Schaden-
ersatz zukünftig stärker daran ausgerichtet werden, ob
eine Schadensbeseitigung erfolgt und welchen Weg der
Geschädigte dafür bestreitet. So soll Umsatzsteuer als
Schadensbestandteil nur noch dann ersetzt werden, wenn
und soweit sie zur Wiederherstellung tatsächlich anfällt.
Einen Anspruch auf den Ersatz einer „fiktiven“ Umsatz-
steuer wird es nicht mehr geben.
Der Entwurf für ein neues Schadensersatzrecht sieht
eigenständige Haftungsbestände für den gerichtlichen
Sachverständigen und den Halter eines Anhängers vor.
Die Halterhaftung im Straßenverkehr wird auf sämtli-
che Insassen eines Kfz ausgeweitet. Diese kann dann
höchstens durch „höhere Gewalt“ und nicht mehr durch
ein „unabwendbares Ereignis“ zum Ausschluss führen.
Auch im Bereich der Arzneimittelhaftung wird es we-
sentliche Verbesserungen geben. Es muss in Zukunft ver-
hindert werden, dass in Fällen wie vor Jahrzehnten im
Contergan-Fall die Primärhaftung der Hersteller nicht
greift und stattdessen der Staat mit entsprechenden Ent-
schädigungsgesetzen einspringen muss. Hier muss eine
Haftung des Herstellers sichergestellt werden. Die Stel-
lung des Arzneimittelanwenders wird durch eine Beweis-
lastumkehr und die Stärkung des Auskunftsanspruchs des
Arzneimittelanwenders gegen pharmazeutische Unter-
nehmen gestärkt. So werden die typischerweise auftreten-
den Informationsdefizite von Geschädigten behoben wer-
den. Der Auskunftsberechtigte ist nämlich nicht in der
Lage, Wirkungen, Nebenwirkungen und Anzeichen hier-
für entsprechend einzuordnen.
Alles in allem kann festgestellt werden, dass die Neu-
regelung des Schadensersatzrechts, wie sie in dem Ent-
wurf der Regierung vorliegt, entscheidende Schritte in
Richtung der rechtlichen Besserstellung von Unfallopfern
enthält. Ein besonderer Schutz kommt den Schwächsten
in unserer Gesellschaft, den Kindern zu. Dass die Lobby
der Kinder in unserem Land nicht sehr groß ist, konnten
wir auch in der Diskussion um dieses Gesetzesvorhaben
wieder sehr deutlich merken.
Ein großes Wochenmagazin war sich nicht zu schade,
lauthals zu verkünden, dass, wenn dieses Gesetz be-
schlossen werden würde, künftig bei Verkehrsunfällen
auch der Schuldlose einen Teil des Schadens mittragen
müsse. Da hat dann natürlich jeder Autofahrer schon den
Sonntagsfahrer kommen sehen, der einem die Vorfahrt
nimmt. Der macht dann den schönen Kotflügel vom ge-
liebten Auto kaputt und über die ganze Rennerei mit der
Werkstatt hinaus soll man dann auch noch ein paar Hun-
derter zur Reparatur dazugeben. Das ist natürlich Unsinn.
Und gerade dieser Artikel – der übrigens vom betroffenen
Verband eine Woche später revidiert wurde – gibt einmal
mehr Anlass zu der Bitte an die Damen und Herren von
der Presse, ihre Aufgaben der Recherche und Auseinan-
dersetzung mit einem Thema genau so ernst zu nehmen,
wie wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere
Arbeit.
Im Mittelpunkt der Missverständnisse steht der Begriff
des „unabwendbaren Ereignisses“, der durch die Beru-
fung auf „höhere Gewalt“, die auch im Bahnverkehr gilt,
ersetzt werden soll. Wie ist die derzeitige Rechtslage? Der
Entlastungsbeweis des unabwendbaren Ereignisses ist an
strenge Voraussetzungen geknüpft und greift in der Praxis
selten. Der Autofahrer muss dafür nicht nur „fehlerfrei“,
sondern absolut „ideal“ gefahren sein.
Wenn also ein Autofahrer zum Beispiel mit seinem
PKW ein kleines Kind anfährt, dann haftet er nach stän-
diger Rechtsprechung auch dann, wenn er lediglich
Höchstgeschwindigkeit gefahren ist und sich fehlerfrei
verhalten hat. Er müsste schon nachweisen, dass er mehr
getan hat, was in den seltensten Fällen gelingt. Das heißt
in der Konsequenz: Der Fahrer muss nachweisen, dass er
selbst als Idealfahrer bei Anwendung höchster Sorgfalt,
Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart den Unfall nicht
hätte verhindern können. Und das nachzuweisen gelingt
den Fahrern nur in den seltensten Ausnahmefällen.
Wir ändern die bestehende Rechtslage, um vor allem
die Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr zu ver-
bessern. Denn Kinder sind im Straßenverkehr immer die
Schwächsten. Deshalb dient die Abschaffung des „unab-
wendbaren Ereignisses“ dem rechtlichen Schutz von Kin-
dern im Straßenverkehr. Es wäre nämlich bei der derzeit
geltenden Rechtslage möglich, dass ein Kind angefahren
wird und keinen Pfennig Schadensersatz erhält.
Mit diesem Gesetzentwurf folgen wir den Empfehlun-
gen des 38. Verkehrsgerichtstages. Auch das Europäische
Übereinkommen über Straßenverkehr kennt diese Entlas-
tungsmöglichkeit nicht. Lassen Sie uns den vorliegenden
Entwurf im Interesse der Betroffenen sachlich beraten.
Wir sind auf dem richtigen Weg.
Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Mit der Reform
des Schadensersatzrechtes greift die Bundesregierung
eine aus der 13. Legislaturperiode stammende Vorlage
auf, mit der bereits die Regierung Kohl eine Neuregelung
auf diesem Gebiet in Angriff genommen hat. Ich freue
mich, dass sich die Bundesregierung zu diesem
grundsätzlich richtigen Schritt durchringen konnte.
Wir von der Union haben seinerzeit vor allem das Ziel
vor Augen gehabt, das Schadensersatzrecht realitätsnah
sowie an den heutigen Erfordernissen orientiert festzu-
schreiben. Von dieser Zielsetzung sollten wir meiner An-
sicht nach auch heute nicht abweichen.
Wir müssen bei dieser gesamten Problematik vor allem
zwei wichtige Gesichtspunkte vor Augen haben. Auf der
einen Seite ist dies der Anspruch der Bürger und der Wirt-
schaft auf Rechtssicherheit und zum anderen das
Bemühen, der Neuregelung eine gewisse Dauerhaftigkeit
zu geben.
Wir haben mit dieser, in wesentlichen Teilen auf unse-
rem früheren Gesetzentwurf beruhenden Vorlage eine
brauchbare Basis, auf der es gilt ein ebenso solides Bau-
werk zu errichten. Lassen Sie mich heute in der ersten Le-
sung schwerpunktmäßig auf die wichtigsten Änderungen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20683
(C)
(D)
(A)
(B)
und aus unserer Sicht wichtigsten Kritikpunkte des Ent-
wurfes in Kürze eingehen, da ja die Detailberatung im
Ausschuss und vor allem in den Berichterstatterge-
sprächen erfolgen wird.
Der neue § 84 II des Entwurfes enthält eine Beweiser-
leichterung in Form einer Kausalitätsvermutung, die dem
Patienten eine zu begrüßende beweisrechtliche Besser-
stellung beschert. § 84 II AMG-Entwurf schließt endlich
die bisher bestehende Regelungslücke in den Fällen un-
geklärter Kausalität bei der Anwendung mehrerer Arznei-
mittel. Im Klartext heißt das, dass die Vermutung, eines
der genommenen Arzneimittel habe die Schädigung her-
vorgerufen, auch dann gilt, wenn ein gleichzeitig einge-
nommenes Medikament ebenfalls als Schadensursache in
Betracht kommt, ohne dass der Betroffene klären kann,
welches der einzelnen Präparate denn nun konkret scha-
densursächlich war. Dies ist im Sinne eines umfassenden
Patientenschutzes grundsätzlich zu begrüßen, freilich
nicht unproblematisch.
Was, wenn medizinisch mehrere Medikamente not-
wendig erscheinen und dann als schadensverursachende
Medikamente zwei Produkte infrage kommen, von denen
nur bei einem Präparat die schädliche Wirkung wegen der
nötigen erhöhten Dosis als vertretbar gewertet werden
kann? Dann stellt sich für das zweite Medikament, wel-
ches nicht den Anspruch erheben kann, nur in erhöhter
Dosis wirken zu können, das Problem, bei ungeklärter
Schadensursache ohne Regressmöglichkeit für den ge-
samten Schaden haften zu müssen. Hier bedarf es nach
meiner Einschätzung noch einer entsprechenden gesetzli-
chen Regelung. Diese Regelungslücke darf nicht zulas-
ten der Geschädigten gehen. Zu überlegen wäre mögli-
cherweise eine solidarische Einstandspflicht der
pharmazeutischen Unternehmer, insbesondere in den Fäl-
len, in denen es dem Patienten nicht möglich ist, die an-
gewandten Präparate namhaft zu machen. Diese Frage
wird in der weiteren Beratung und sicherlich im Rahmen
einer Sachverständigenanhörung zu erörtern sein.
In dem geplanten neuen § 84 III Arzneimittelgesetz
– AMG – wird die Darlegungs- und Beweislast dafür um-
gekehrt, dass die feststehenden schädlichen Wirkungen
eines Arzneimittels ihre Ursache im Bereich der Entwick-
lung oder Herstellung haben. Danach soll künftig der
pharmazeutische Unternehmer die Beweislast für den
Fehlerbereich tragen, was im Klartext heißt, dass er dar-
legen und beweisen muss, dass die schädliche Wirkung
des Mittels nicht im Bereich von Herstellung und Ent-
wicklung liegt. Damit gehen wir einen großen und vor al-
lem richtigen Schritt in Richtung wirksamer Patienten-
schutz.
Doch sollten wir in diesem Zusammenhang eine wei-
tere Klarstellung in § 84 AMG aufnehmen. Diese betrifft
die Aufnahme mittelbar Geschädigter in den Schutzbe-
reich dieses Paragraphen.Auf den ersten Blick ein schein-
bar nebensächliches Problemfeld, aus meiner Sicht aber
unumgänglich, umdenWirkungskreis des § 84AMGnicht
unnötig einzuschränken. Die Gesetzesbegründung sieht
das zwar bereits vor, doch wäre wünschenswert, hier ein
klarstellende Ergänzung im Entwurf selbst vorzunehmen.
Eine erfreuliche Neuregelung erhält das Schadenser-
satzrecht mit der Einfügung des § 84 a AMG, der dem Pa-
tienten einen Auskunftsanspruch gegenüber dem Arznei-
mittelhersteller einräumt. Wir sollten allerdings die Anre-
gung des Bundesrates aufgreifen und überlegen, was ge-
tan werden kann, um dem Geschädigten die Durchsetzung
dieses Anspruches zu erleichtern.
Für wenig sinnvoll halte ich den in § 84 a I Satz 4
AMG-Entwurf vorgesehenen Ausnahmetatbestand. Die-
ser bietet nämlich eine Handhabe, sich aller Auskunfts-
verpflichtungen zu entledigen, indem man sich als Produ-
zent hinter Geheimhaltungsinteressen verstecken kann.
Es dürfte einem Unternehmen nicht schwer fallen, ein
solches Geheimhaltungsinteresse vor dem Hintergrund
der internationalen Konkurrenz zu konstruieren.
Vorgeschlagen wurde von richterlicher Seite hier die
Einführung einer Abwägungsklausel, um einen sachge-
rechten Interessenausgleich herbeiführen zu können.
Diese Abwägung wäre dann von den Gerichten vorzu-
nehmen, um eine Entscheidung von unabhängiger Seite
zu garantieren.
Im Interesse der Waffengleichheit wäre allerdings an-
zuraten, dem Unternehmen seinerseits einen Auskunfts-
anspruch gegen den Patienten zukommen zu lassen, da
sich der überwiegende Teil des Schadensablaufes in der
Sphäre des Geschädigten abspielt. Ansonsten hätte der
Hersteller keine Chance, die in § 84 Abs. 2 AMG Entwurf
vermutete Kausalität zu erschüttern. Die Kausalitätsver-
mutung würde sich dann in eine bedenkliche Kausalitäts-
fiktion verwandeln.
Da die Neuregelung des Schadensersatzrechtes mehr
umfasst als nur das Arzneimittelrecht, möchte ich noch
kurz zu Änderungen in anderen Rechtsgebieten Stellung
nehmen.
Zur Neuregelung des Schmerzensgeldanspruches im
Allgemeinen: Wir stehen vor der Frage, ob wir grundsätz-
lich immaterielle Schäden ersetzen wollen oder nicht. Die
Schaffung einer einheitlichen Norm für den Ersatz imma-
terieller Schäden in Form des neu gefassten § 253 BGB ist
zu begrüßen. Die Befürchtung, dass bei uns dadurch dem
US-amerikanischen Recht vergleichbare Fälle eintreten
könnten, halte ich für unbegründet. Des Weiteren er-
scheint mir die Erstreckung der Gewährung von Schmer-
zensgeld auch auf Ansprüche aus Gefährdungshaftung
und die Einbeziehung von vertraglichen Ansprüchen als
sinnvoll. Die Ausweitung der Halterhaftung auf Kraft-
fahrzeuge mit Anhängern ist zu begrüßen.
Bedenklich dagegen erscheint jedoch, den Haftungs-
ausschluss, der bisher im Falle eines „unabwendbaren Er-
eignisses“ galt, künftig nur noch im Falle „höherer Ge-
walt“ vorzusehen. Es ist bereits jetzt in der gerichtlichen
Praxis schwer zu ermitteln und noch schwerer zu vermit-
teln, wann ein unabwendbares Ereignis vorliegt, nämlich
nur dann, wen auch ein besonnener und überdurch-
schnittlicher Fahrer der Gefahr nicht hätte ausweichen
können. Jedoch hat diese bisher geltende Regelung den
Vorteil, dass der Schädiger wenigstens die Chance hatte,
sich durch einen von ihm zu erbringenden Nachweis zu
exculpieren. Die geplante Neuformulierung liefert ihn da-
gegen praktisch der Haftung ohne Entlastungsmöglich-
keit aus und schafft zudem neue Auslegungsprobleme.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120684
(C)
(D)
(A)
(B)
Der CDU/CSU-Fraktion ist es ein Anliegen, Kinder im
Straßenverkehr besser zu schützen und sie bei kinderty-
pischen Unfällen einerseits von Ansprüchen auf Scha-
densersatz freizuhalten und ihnen andererseits als Opfer
einen Schadensersatzanspruch zuzusprechen. Dies gilt
auch für Hilfsbedürftige und andere Menschen.
Mit der geplanten Neuformulierung jedenfalls schießt
die Bundesjustizministerin weit über das Ziel hinaus. Es
ist nicht gerechtfertigt, den Autofahrer ausnahmslos für
Schäden haften zu lassen, für die er überhaupt nichts
kann. Aus diesem Grund muss die geplante Neuregelung
vorerst auf die erwähnten Fälle beschränkt werden bzw.
– wie der Bundesrat anregt – es muss geprüft werden, ob
das Ziel, Kinder, Hilfsbedürftige und ältere Menschen
besser zu stellen, nicht auf andere Weise ermöglicht wer-
den kann.
Begrüßenswert ist die geplante Ausweitung der Halter-
haftung auf unentgeltlich beförderte Fahrzeuginsassen.
Damit wird eine Gesetzeslücke in sinnvoller Weise ge-
schlossen.
Ebenso findet auch die geplante Erhöhung der Haf-
tungshöchstgrenzen für die Verletzung bzw. Tötung einer
oder mehrerer Personen im Straßenverkehr unsere Unter-
stützung. Angesichts des stetig steigenden Risikos auf un-
seren Straßen ist hier aus meiner Sicht eine realitätsnahe
Bewertung der Schadenshöhe unausweichlich. In wel-
chen Grenzen diese Erhöhung stattzufinden hat, wird si-
cher noch ausgiebig diskutiert werden müssen; an der
Zielsetzung jedoch sollte festgehalten werden.
Eine problematische Thematik im Bereich des
Schmerzensgeldes betrifft die Entschädigung in Geld für
die Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Bisher hat der
Geschädigte zum Beispiel bei rechtswidrigen Abbildun-
gen oder ehrverletzenden Äußerungen in analoger An-
wendung des § 1004 BGB einen Anspruch auf Unterlas-
sung der weiteren Verbreitung, oder, wenn dieses durch
ein Presseorgan erfolgt, auf Gegendarstellung.
Ob darüber hinaus jedoch ein Schmerzensgeld verlangt
werden kann, wird nicht erst seit gestern diskutiert. Das
Persönlichkeitsrecht wäre lückenhaft geschützt, wenn
man auf eine Sanktion verzichtet, die aus Sicht des Ge-
schädigten ein wirksames Mittel zur Wiedergutmachung
darstellt. In diesem Punkt sollten wir uns auf eine aus-
drückliche Klarstellung im Gesetz verständigen, so wie
wir es bei der Reform des Schuldrechts mit der cic und der
pvv getan haben.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rot-grüne Rechtspolitik steht für die Stärkung der Schwa-
chen durch Recht. Diese Reform des Schadensersatzrech-
tes ist ein weiterer, eindrucksvoller Beleg hierfür. Wir ver-
bessern die Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr
und wir verbessern auch die Rechtslage von Arzneimit-
telgeschädigten. Überhaupt dient diese Reform der Opti-
mierung des Opferschutzes; denn durch die Ausweitung
eines Schmerzensgeldanspruchs auch auf den Bereich der
Gefährdungs- und Vertragshaftung helfen wir denjenigen,
deren Körper, Gesundheit, Freiheit oder sexuelle Selbst-
bestimmung verletzt wird und die zum Beispiel das Ver-
schulden eines Dritten nicht nachweisen können. Profitie-
ren werden davon vor allem Menschen, die Opfer von
schweren Verkehrsunfällen geworden sind.
Diese Reform des Schadensersatzrechtes ist seit lan-
gem überfällig. Rot-Grün bringt – wie so oft – endlich das
zustande, was die Opposition während ihrer Regierungs-
verantwortung nicht geschafft hat. Wir erhöhen zum Bei-
spiel in vielen Gesetzen die Haftungshöchstgrenzen: Der-
artige Anpassungen waren ja dringend notwendig. In
einigen Gesetzen war dies seit mehr als 20 Jahren nicht
mehr geschehen. Schwarz-Gelb hat hier geschlafen. Wir
holen das nach. Bei einzelnen Personenschäden erhöhen
wir die individuelle Haftungshöchstgrenze um mehr als
das Doppelte: Während bislang im Straßenverkehrsgesetz
der Kapitalbetrag für die Tötung oder Verletzung eines
Menschen bei höchstens 500 000 DM lag, beläuft er sich
künftig auf 600 000 Euro und 36 000 Euro Jahresrente.
Das ist nur angemessen. Die Praxis hat schließlich ge-
zeigt, dass etwa bei einer schwerwiegenden Querschnitts-
lähmung der Betrag von 500 000 DM angesichts der ho-
hen Heilungskosten, des eingetretenen Erwerbs- und
Unterhaltsschadens sowie des Schmerzensgeldes über-
haupt nicht ausgereicht hat. Zu gering war auch der bis-
herige Haftungshöchstbetrag bei mehreren Verletzten.
Wenn sich beispielsweise drei Schwerverletzte bislang
750 000 DM teilen mussten, war dies eindeutig zu wenig.
Wir haben deshalb bei einem Gesamtpersonenschaden die
Grenze jetzt auf 3 Millionen Euro hochgeschraubt.
Für Opfer von Arzneimitteln schaffen wir mit diesem
Gesetz endlich die nötigen Haftungserleichterungen. Ein
Auskunftsanspruch gegen Behörde und Pharmaunterneh-
men sowie eine angemessene Beweislastumkehr wird es
den Betroffenen künftig ermöglichen, den Nachweis der
Kausalität zwischen Präparat und Schaden leichter zu
führen. Nicht erst der Vorfall Lipobay hat uns daran erin-
nert, sondern schon seit dem HIV-Bluter-Skandal in den
80er-Jahren wissen wir, wie schwer es für die Betroffenen
ist, ihre berechtigten Ansprüche auch tatsächlich gegen
die potenten Pharma-Unternehmen durchzusetzen.
Wir als Grüne werden deshalb in diesem Bereich auch
im Gesetzgebungsverfahren keine Aufweichungen zulas-
ten der Geschädigten mitmachen: Vorschläge etwa des
Bundesrates, die Beweislastumkehr für die Erforderlich-
keit einer Auskunft wieder abzumildern oder sogar dem
Pharmaunternehmer einen Auskunftsanspruch gegenüber
dem Patienten einzuräumen, halten wir für verfehlt. Sie
widersprechen nicht nur dem Geist dieses opferfreundli-
chen Gesetzes. Sie widersprechen teilweise auch dem,
was der Bundesrat in der letzten Wahlperiode selbst in sei-
ner Stellungnahme ausgeführt hat. Man möge sich hierzu
einmal die Drucksache 13/10766 in aller Ruhe zu Gemüte
führen.
Rainer Funke (FDP): Bei dem vorliegenden Entwurf
eines Schadensersatzänderungsgesetzes handelt es sich
um eine der wichtigeren Gesetzesvorhaben der Bundes-
regierung, die auf Überlegungen und Vorarbeiten der ver-
gangenen Legislaturperiode zurückgreifen. Umso mehr
verwundert, dass die erste Beratung zu später Stunde mit
kurzer Rededauer stattfindet, so, als ob es sich um ein
Gesetz „unter ferner liefen“ handelt. Genauso verwundert
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20685
(C)
(D)
(A)
(B)
darf man darüber sein, dass diese grundlegenden Ände-
rungen unseres Haftungsrechts erst nach über drei
Jahren sozialdemokratischer Führung im Bundes-
justizministerium vorgelegt werden, nachdem bereits in
der letzten Legislaturperiode grundsätzliche Diskussio-
nen um das Haftungsrecht stattgefunden haben.
In der Sache wird es noch Diskussionen geben müssen.
Insbesondere, was die Arzneimittelhaftung und die Ein-
führung eines allgemeinen Anspruchs auf Schmerzens-
geld auch bei der Gefährdungshaftung anbelangt.
Die Verbesserung der Rechtsstellung von Kindern bei
Unfällen im Straßen- und Bahnverkehr dürfte dagegen
weitestgehend unstreitig sein. Hierbei handelt es sich um
eine sehr alte Forderung des Verkehrsgerichtstages, die
nunmehr umgesetzt wird. Die Verschärfung der Kraft-
fahrzeughalterhaftung muss noch auf ihre tatsächlichen
Auswirkungen bei der Abrechnung von Kraftfahrzeug-
schäden überprüft werden. Insbesondere muss untersucht
werden, ob die bisherige Regelung nicht aufgrund der
Rechtsprechung ausreicht. Genauere Untersuchungen
über die Auswirkungen auf die Kraftfahrzeugversiche-
rung sind dabei mit zu berücksichtigen.
Zweifellos ist der Schwerpunkt dieses Gesetzesent-
wurfs die Verschärfung der Arzneimittelhaftung. Auch
hier muss im einzelnen in den Anhörungen untersucht
werden, welche Folgewirkungen die Erweiterung der
Arzneimittelhaftung auf den Produktionsstandort
Deutschland, auf die Forschung, aber auch auf die Kosten
der Arzneien hat, denn zweifellos führt eine erweiterte
Haftung zu höheren Kosten, die auch auf die Allgemein-
heit umgelegt werden. Die Neugestaltung der Arzneimit-
telhaftung führt auch zu einem Auskunftsanspruch und
damit zu einer Verbesserung der Beweissituation eines
Geschädigten. Dies ist sicherlich auch im Sinne eines ver-
besserten Verbraucherschutzes. Unverständlich ist je-
doch, dass dieser Auskunftsanspruch nicht nach dem Vor-
bild des Umwelthaftungsrechtes gegenseitig ausgestaltet
ist. Gerade bei der Wirkung von Medikamenten kommt es
doch nicht nur auf die Arzneien an, sondern auf die Ver-
hältnisse beim Patienten, zum Beispiel das Zusammen-
wirken des eingenommenen Medikaments mit anderen
Medikamenten, oder auch auf den Gesundheitszustand
des Patienten. Insoweit bedarf es intensiver Beratungen
und Anhörungen.
Sowohl im Arzneimittelgesetz, als auch in anderen Ge-
setzen in denen Gefährdungshaftung vorgesehen ist, sieht
der vorliegende Entwurf nunmehr die Einführung eines
verschuldensunabhängigen Schmerzensgeldanspruchs
vor. Dabei handelt es sich um eine gravierende Änderung
unseres Schadensersatzrechtes, eine Änderung, die von
der Rechtsprechung, auch der Wissenschaft mit unter-
stützt wird. Dabei ist jedoch streitig, wie weit ein entspre-
chender Schmerzensgeldanspruch gehen soll. So hat der
62. Deutsche Juristentag 1998 sich dafür ausgesprochen,
ein Schmerzensgeld im Rahmen der Gefährdungshaftung
nur bei „schwerwiegenden“ und „dauerhaften“ Körper-
und Gesundheitsschäden zu gewähren. Gleichzeitig hat er
die jetzt von der Bundesregierung aufgegriffene Lösung
ausdrücklich verworfen. Auch hier muss ergebnisoffen im
Rechtsausschuss diskutiert werden. Die FDP-Fraktion
sagt insoweit durchaus konstruktive Mitarbeit zu.
Dasselbe gilt für die Fragen der Änderung der Sach-
schadensabrechnung in § 249 BGB. Hier müssen Auswir-
kungen auf die Kraftfahrzeugreparaturwerkstätten
untersucht werden. Hier kann der geschädigte Kraftfahr-
zeughalter bei der Geltendmachung seines Schadens die
16-prozentige Mehrwertsteuer nicht geltend machen,
wenn er den Schaden – aus welchem Grund auch im-
mer – nicht bei einer Vertragswerkstatt beseitigen lässt.
Insgesamt bedauern wir, dass diese grundsätzliche For-
derung unseres Schadensersatzrechtes in den letzten
4 Monaten dieser Legislaturperiode unter großem Zeit-
druck im Rechtsausschuss behandelt werden muss. Dabei
hat die Bundesregierung alle Zeit gehabt, rechtzeitig ei-
nen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen.
Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Dass die Rechte von
Menschen gestärkt werden sollen, denen Schaden zuge-
fügt worden ist, sei es durch Verkehrsunfälle, durch Arz-
neimittel oder andere Ursachen, kann ich nur begrüßen.
Abgesehen davon, dass die Regierung verzweifelt ko-
stengünstige Punkte für den Wahlkampf sammelt, ist das
Grundanliegen der Frau Bundesministerin der Justiz wohl
richtig.
Verbesserungen in der Arzneimittelhaftung zugunsten
des Geschädigten sind meines Erachtens erforderlich. Es
gibt in der Tat unverhältnismäßig hohe Hürden im Arz-
neimittelgesetz, wenn ein geschädigter Bürger gegen ei-
nen Arzneimittelhersteller einen Schadensersatzanspruch
durchsetzen will. Wie soll er beweisen, dass der Schaden
auf Fehler bei der Entwicklung und Herstellung des Arz-
neimittels und nicht auf Fehler bei der Lagerung und beim
Versand zurückzuführen ist? Die Umkehr der Beweislast
ist in diesen Fällen angebracht. Auch die gesetzliche und
durch den Hersteller widerlegbare Vermutung einer Kau-
salität zwischen Arzneimittel und eingetretenem Schaden
ist nach meiner Ansicht vernünftig.
Die Einführung eines Anspruchs auf Schmerzensgeld
auch bei Gefährdungs- und Vertragshaftung muss man
genau prüfen. Eine so weitgehende Änderung des Scha-
densersatzrechts bedarf einer eingehenden Diskussion
unter Einbeziehung von Experten, zumal dies mit gra-
vierenden finanziellen Folgen verbunden ist. Wenn
zukünftig das Schmerzensgeld auf ihrer Art und Dauer
nach nicht unerhebliche Verletzungen begrenzt werden
soll, ist es nur logisch, die Haftungshöchstbeträge deut-
lich anzuheben, da bisherige Schmerzensgeldbeträge bei
schweren und schwersten Verletzungen nicht ausrei-
chend sind.
Ich kann die Gründe für die vorgeschlagene Herauf-
setzung der Deliktfähigkeit der Kinder von sieben auf
zehn Jahre nachvollziehen. Gerade in diesem Alter sind
die Kinder im Straßenverkehr oft unberechenbar. Hinzu
kommt, dass die rasante Verkehrsentwicklung in den
letzten Jahrzehnten ungleich höhere Anforderungen an
jeden Verkehrsteilnehmer stellt, die Kinder bis zu einem
bestimmten Alter nicht oder nur begrenzt erfüllen kön-
nen. Dem sollte der Gesetzgeber Rechnung tragen. Frei-
lich muss man dann auch die vorsätzliche Herbeiführung
eines Schadens vom Haftungsausschluss ausnehmen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120686
(C)
(D)
(A)
(B)
Schließlich erwähne ich als zustimmungsfähig aus
meiner Sicht die Erhöhung der allgemeinen Haftungs-
höchstgrenzen. Diese Grenzen sind seit mehr als 20 Jah-
ren nicht erhöht worden. Bei dem Anstieg aller Kostenin-
dizes in dieser Zeit ist eine solche Erhöhung überfällig.
Man wird im weiteren Gesetzgebungsprozess überprü-
fen müssen, ob die vorgeschlagenen Neuerungen wirklich
praktikabel sind, sich positiv für den Geschädigten aus-
wirken und nicht da und dort die Versicherung der la-
chende Dritte ist. So ist aus meiner Sicht die vorgeschla-
gene Regelung betreffend die Umsatzsteuer ziemlich
undurchsichtig. Ich hoffe, dass uns die Koalitionsfraktio-
nen und die Ministerin dafür ausreichende Zeit geben und
nicht wieder versuchen werden – wie in zurückliegenden
Fällen –, diesen umfangreichen und für die Schadenser-
satzpraxis sehr bedeutsamen Gesetzentwurf in Eile durch-
zudrücken.
Meine Fraktion wird an der Vervollkommnung dieser
Gesetzesinitiative konstruktiv mitwirken.
Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Mit dem Entwurf
des Zweiten Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes hat
die Bundesregierung nach der Schuldrechtsmodernisie-
rung eine zweite wichtige Reform des Zivilrechts auf den
Weg gebracht: Das deutsche Schadensersatzrecht wird
gründlich modernisiert und an die geänderten wirtschaft-
lichen Verhältnisse angepasst.
Die Schadensersatzvorschriften im Bürgerlichen Ge-
setzbuch sind seit ihrem In-Kraft-Treten im Jahr 1900 na-
hezu unverändert geblieben. Durch den Wandel der letz-
ten 100 Jahre sind Haftungslücken und Gerechtigkeits-
defizite aufgetreten, die wir schließen müssen. Dabei geht
es auch um die Entscheidung von Wertungsfragen:
Während bisher oftmals der Ausgleich von Vermögens-
schäden im Vordergrund steht, wollen wir den Ausgleich
von Personenschäden mehr in den Mittelpunkt des Scha-
densersatzrechts rücken.
Diese Ziele erreichen wir vor allem durch die folgen-
den Neuerungen:
Erstens: Die haftungsrechtliche Situation von Kindern
im Straßenverkehr ist zu verbessern.
Zweitens: Der Anspruch auf Schmerzensgeld muss auf
Fälle der Gefährdungshaftung und der Vertragshaftung
ausgedehnt werden.
Drittens: Die Haftungshöchstgrenzen in Gesetzen mit
Gefährdungshaftung sind deutlich anzuheben.
Viertens: Die Arzneimittelhaftung bedarf der Verbes-
serung.
Und Fünftens: Die fiktive Abrechnung von Sachschä-
den soll auf ein vernünftiges Maß reduziert werden.
Lassen Sie mich auf diese Punkte im folgenden kurz
eingehen:
Erstens. Die Verbesserung der haftungsrechtlichen Si-
tuation von Kindern im motorisierten Straßen- und Bahn-
verkehr ist ein wesentliches und im Kern wohl auch un-
streitiges Anliegen des Entwurfs. Derzeit können Kinder
ab der Vollendung des siebten Lebensjahres haften. Nach
Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie sind Kinder
in diesem Alter aufgrund ihrer physischen und psychi-
schen Fähigkeiten aber noch nicht in der Lage, die beson-
deren Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu er-
kennen und sich entsprechend zu verhalten. Dies ist
frühestens ab Vollendung des zehnten Lebensjahres der
Fall. Deshalb wird die Altersschwelle für eine Haftung
und Mithaftung im Straßen- und Bahnverkehr von sieben
Jahre auf zehn Jahre heraufgesetzt.
Zweitens. Ein weiteres zentrales Anliegen des Entwur-
fes ist die Einführung eines allgemeinen Anspruchs auf
Schmerzensgeld. Bisher besteht ein solcher Anspruch
grundsätzlich nur dann, wenn den Täter ein Verschulden
trifft. Im Rahmen einer verschuldensunabhängigen Ge-
fährdungshaftung, wie zum Beispiel im Straßenverkehrs-
gesetz, gibt es bislang kein Schmerzensgeld. Das gilt auch
für den Bereich der Arzneimittelhaftung und hat hier erst
vor wenigen Monaten im Zusammenhang mit Schäden
durch das Arzneimittel Lipobay für Aufregung und Un-
verständnis gesorgt.
Schmerzensgeldansprüche sollen deshalb auf den Be-
reich der Gefährdungshaftung und auf den Bereich der
Vertragshaftung ausgedehnt werden. Das ist zugleich ein
Beitrag zur Rechtsangleichung in Europa; denn in ande-
ren europäischen Staaten ist dies längst selbstverständ-
lich.
Wenn man nun eine solche Ausweitung des Kreises der
Anspruchsberechtigten vornimmt, dann muss damit eine
gewisse Einschränkung in Fällen von leichteren Verlet-
zungen einhergehen. Ohne eine solche Einschränkung
würde man erhebliche Mehrkosten für die Versicherten-
gemeinschaft riskieren. Einen Anspruch auf Schmerzens-
geld soll es deshalb nur geben, wenn die Verletzung unter
Berücksichtigung von Art und Dauer nicht unerheblich
ist. Für Bagatellverletzungen wird es also kein Schmer-
zensgeld mehr geben. Aber wir halten es für wichtiger, die
vorhandenen Mittel auf die wirklich Schwerverletzten zu
konzentrieren, als für jede Schramme ein paar Mark als
Schmerzensgeld zu gewähren.
Drittens. Eine weitere wichtige Verbesserung ist die
Anhebung der Haftungshöchstgrenzen, die in den Geset-
zen mit einer Gefährdungshaftung vorgesehen sind. Die
Haftungshöchstgrenzen müssen ausreichen, um auch ei-
nen durchschnittlichen Großschadensfall abzudecken.
Dies ist etwa im Bereich des Straßenverkehrsgesetzes
schon lange nicht mehr der Fall. Dort fand die letzte Er-
höhung vor mehr als 20 Jahren statt. Deshalb ist eine kräf-
tige Anhebung notwendig, um die Haftungssummen an
die zwischenzeitlich eingetretene wirtschaftliche Ent-
wicklung anzupassen.
Viertens. Der Gesetzentwurf sieht ferner im Bereich
der Arzneimittelhaftung erhebliche Verbesserungen für
diejenigen vor, die durch ein unvertretbares Arzneimittel
geschädigt wurden. Dem Arzneimittelanwender soll kün-
ftig ein Auskunftsanspruch gegen den pharmazeutischen
Unternehmer und gegen die Zulassungsbehörde zustehen.
Denn der Geschädigte steht hier oft vor der Schwierigkeit,
dass das pharmazeutische Unternehmen über umfangrei-
che Informationen über die Art und Häufigkeit von
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20687
(C)
(D)
(A)
(B)
Nebenwirkungen des Arzneimittels verfügt, die er selbst
nicht kennt. Außerdem wird die Situation des Geschädig-
ten durch die Einführung von Beweiserleichterungen im
Bereich der Kausalität verbessert. Damit wird ein Stück
„Waffengleichheit“ im Arzneimittelhaftungsprozess her-
gestellt. Ich halte diese Verbesserungen im Interesse der
Verbraucherinnen und Verbraucher für notwendig aber
auch für ausreichend.
Fünftens. Lassen Sie mich nun noch auf die Änderung
beim Ersatz von Sachschäden eingehen. Hier ist vorgese-
hen, den Umfang der so genannten „fiktiven Abrechnung“
einzuschränken. Fiktive Abrechnung kennen wir vor al-
lem aus dem Bereich der Kfz-Schäden. Der Geschädigte
legt dem Schädiger nur ein Schätzgutachten über die ver-
mutlichen Reparaturkosten vor, um sich den geschätzten
Betrag bar auszahlen zu lassen. Wenn er dann tatsächlich
keine Reparatur vornimmt, macht er ein gutes Geschäft.
Denn bei der fiktiven Abrechnung fließen über die ge-
schätzten Reparaturkosten auch fiktive Umsatzsteueran-
teile in die Berechnung des Schadens ein. Anders als ein
Unternehmer muss der Geschädigte diese Umsatzsteuer-
anteile nicht an das Finanzamt abführen, sondern kann sie
selbst in die Tasche stecken. Das halten wir nicht für rich-
tig, denn es führt faktisch zu einer Überkompensation.
Der Gesetzentwurf sieht deshalb vor, die Umsatzsteuer
nur so weit zu ersetzen, als sie tatsächlich zur Schadenbe-
seitigung anfällt. Eine rein fiktive Umsatzsteuer soll nicht
mehr ersetzt werden.
Schon in der letzten Legislaturperiode wurde von der
Vorgängerregierung ein gleichnamiger Gesetzentwurf
eingebracht, der in Fachkreisen und beim Bundesrat auf
heftigen Widerstand stieß. Wir haben diesen Entwurf
gründlich überarbeitet und die ganz überwiegend positive
Stellungnahme des Bundesrates zeigt, dass wir auf dem
richtigen Weg sind. Ich bin deshalb optimistisch, dass es
gelingen wird, den vorgelegten Entwurf zügig zu beraten
und abzuschließen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs
– eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffen-
rechts (WaffRNeuRegG)
– eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Waf-
fengesetzes
(Tagesordnungspunkt 17 a und b)
Ernst Bahr (SPD): Die Neuregelung des Waffenge-
setzes wird seit langem gefordert und gleichzeitig heftigst
bekämpft; denn einerseits sehen die Befürworter der Re-
form derzeit vor allem Schwierigkeiten darin, das gel-
tende Waffenrecht bundeseinheitlich und wirksam anzu-
wenden. Durch die vielen Änderungen und Ergänzungen
im Laufe der Zeit ist es unübersichtlich und kompliziert
zu lesen; viele wichtige Regelungen sind nicht dem Ge-
setz selbst, sondern nur den Verordnungen zu entnehmen.
Andererseits befürchten die legalen Waffenbesitzer, unter
dem Aspekt der inneren Sicherheit zu „lebenslang kon-
trollierten Bürgern“ gemacht zu werden, die sich ständig
für ihren Waffenbesitz rechtfertigen müssen.
Natürlich wollen wir jetzt mit dieser Novelle nicht nur
die systematischen und inhaltlichen Probleme bzw. Unge-
nauigkeiten ausmerzen, sondern auch dasWaffenrecht un-
ter dem Aspekt der veränderten Sicherheitslage den
Gegebenheiten anpassen. Nach dem vom Bundesverwal-
tungsgericht in über 30-jähriger Rechtssprechung bestätig-
ten Grundsatz: „So wenig Waffen wie möglich ins Volk“
werden dieAnforderungen für den Erwerb, den Besitz und
das Führen von Waffen so präzisiert, dass sie den berech-
tigten Sicherheitsbedenken der Bevölkerung angemessen
Rechnung tragen. Der Umgang mit Waffen und Munition
durch Privatpersonen kann nicht schrankenlos sein.
Jeder Bürger, sofern er ein Bedürfnis nachweist und die
erforderliche Zuverlässigkeit gegeben ist, kann nach wie
vor seinem Bedürfnis entsprechend Waffen und Munition
besitzen bzw. führen. Ich möchte hier unterstreichen: Die
Koalitionsfraktionen wollen weder die Jäger noch die
Sportschützen, aber auch nicht die Brauchtumsschützen
oder Waffensammler bei ihrem Sport bzw. Hobby ein-
schränken, sondern sie für einen verantwortungsvollen
Umgang damit sensibilisieren.
Was ändert sich also? Als Erstes ist hier die systema-
tische Trennung von Waffengesetz und Beschussgesetz zu
nennen. Während es bei dem neuen Waffengesetz primär
um die Regelung des Umgangs mit Waffen unter dem Ge-
sichtspunkt der öffentlichen Sicherheit geht, wird das Be-
schussgesetz die Prüfung und Zulassung insbesondere
von Feuerwaffen, Böllern, Schussapparaten und Munition
im Interesse der Sicherheit für den Verwender und Dritte
regeln.
Konkretisiert wurden im Waffengesetz folgende
Punkte:
Erstens. Die Zuverlässigkeit als Voraussetzung für den
Umgang mit Waffen und Munition. Ziel ist es, Personen
den Umgang mit Waffen oder Munition zu verwehren, die
durch ihr Verhalten Anlass gegeben haben oder geben, an
ihrer Rechtstreue bzw. an ihrem sorgfältigem Umgang mit
diesen gefahrenträchtigen Gegenständen zu zweifeln.
Zweitens. Die Anerkennung eines Bedürfnisses für den
Umgang mit erlaubnispflichtigen Waffen oder Munition.
Hier werden nicht nur die grundsätzlichen Modalitäten
der Anerkennung des Bedürfnisses festgelegt, sondern
auch die bedarfsgerechte Ausstattung für Jäger und Sport-
schützen.
Drittens. Die Anerkennungsverfahren für Schießsport-
verbände. Da diese Verbände dafür zuständig sind, ihren
Mitgliedern die schießsportliche Betätigung als Grund-
lage für die Anerkennung des Bedürfnisses zu bescheini-
gen und somit an der Erteilung waffenrechtlicher Erlaub-
nisse maßgeblich beteiligt sind, war es vor dem
Hintergrund sich ständig neu formierender Schießver-
bände notwendig, Kriterien für ihre Anerkennung zu
schaffen.
Viertens. Die besondere Stellung der Erben. Der Erb-
fall ist mittlerweile der häufigste Waffenerwerbsgrund.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120688
(C)
(D)
(A)
(B)
Die Zahl dieser Waffenbesitzer, die weder sachkundig
sind, noch ein Bedürfnis für den Umgang mit Waffen ha-
ben, steigt ständig. Um der Gefahr von Missbrauchsfällen
zu begegnen, wird das Erbenprivileg auf fünf Jahre be-
grenzt. Die Aufnahme der Frist dient in erster Linie dazu,
der Industrie Gelegenheit zu geben, eine technische Lö-
sung für ein Blockiersystem zu entwickeln, das die Schuss-
fertigkeit ererbter Waffen technisch unterbindet.
Fünftens. Die sichere Aufbewahrung von Waffen und
Munition. Geregelt wird zukünftig nicht nur die sichere
Aufbewahrung von Schusswaffen und Munition, sondern
auch von anderen Waffen wie zum Beispiel Hieb- und
Stoßwaffen, Reizstoffsprüh- oder Elektroschockgeräte.
Vorgeschrieben ist auch die getrennte Aufbewahrung von
Schusswaffen und Munition. Darüber hinaus werden die
derzeit geltenden Normen für ein Aufbewahrungsbehält-
nis zugunsten der europäischen Norm aufgehoben.
Sechstens. Restriktionen für Reiz-, Schreckschuss-
und Signalwaffen. Da diese Waffen heutzutage etwa die
Hälfte aller im Zusammenhang mit Straftaten sicherge-
stellten Waffen ausmachen, haben wir hier insbesondere
auf Wunsch der Länder und der Polizei den so genannten
„kleinen Waffenschein“ eingeführt. Während also für den
Erwerb und Besitz von Gas- und Schreckschusswaffen
nur die Volljährigkeit der Person nachgewiesen werden
muss, unterliegt das Führen dieser Waffen der Erlaubnis-
pflicht. Das heißt, die Zuverlässigkeit und die
persönliche Eignung sind Voraussetzung.
Siebtens. Verbot von Wurfsternen und gefährlichen
Messern. Aufgrund ihrer geringen Abmessungen können
Wurfsterne leicht verdeckt, unauffällig getragen und
geräuschlos eingesetzt werden. Um einer Gefahr bei öf-
fentlichen Veranstaltungen, Demonstrationen usw. entge-
genzuwirken, wurde mit dem generellen Verbot der Wurf-
sterne Rechtsklarheit hinsichtlich ihrer waffenrechtlichen
Einordnung geschaffen.
Im Laufe der parlamentarischen Beratungen werden
wir nochmals verschiedene Detailregelungen, wie zum
Beispiel das Mindestalter von Kindern bei der Ausübung
des Schießsports, die Höhe der Strafmaßschwelle als Be-
urteilungsgrundlage für die Zuverlässigkeit, aber auch die
Kontrolle der sicheren Aufbewahrung – ich denke hier an
ein Zutrittsrecht nur in begründeten Verdachtsfällen –,
überprüfen, darüber diskutieren und entscheiden. Ich bin
jedoch überzeugt, dass dieser Entwurf insgesamt ein guter
Kompromiss zwischen den Interessen des Bundes, der
Länder und auch den Verbänden, also letztlich der Waf-
fenscheininhaber selbst, darstellt.
Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Dass das Waffen-
recht dringend novelliert werden muss, ist unumstritten.
Dies gilt auch und gerade im Interesse der Anwender, da
das geltende Waffenrecht mit dem Waffengesetz und den
dazugehörigen sechs Rechtsverordnungen im Hinblick
auf Systematik und Regelungsgehalt äußerst kompliziert
ist. Das Waffenrecht transparenter und übersichtlicher zu
gestalten war bereits Anliegen der letzten – unionsgeführ-
ten – Bundesregierung. Wir wollten dabei sowohl den Si-
cherheitserfordernissen als auch den berechtigten Anlie-
gen der Sportschützen, der Jäger, der Waffensammler und
der Brauchtumsschützen Rechnung tragen. Schließlich
gibt es in Deutschland rund 4 Millionen legale Waffenbe-
sitzer. Vor allem aber wollten wir sinnlosen Verwaltungs-
aufwand – und damit unnötigen finanziellen Aufwand für
den Steuerzahler – vermeiden.
Mit dem nun von der Bundesregierung vorgelegten
Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffen-
rechts sollen vorgeblich Transparenz, Verständlichkeit
und Übersicht der komplizierten Rechtsmaterie erhöht so-
wie eine stärkere Einschränkung des missbräuchlichen
Umgangs mit Waffen erreicht werden. Diese Ziele wur-
den jedoch verfehlt. Der Versuch, durch die Neuregelung
mehr Transparenz und Übersichtlichkeit zu schaffen, ist
auf ganzer Linie gescheitert. Der vom Ansatz vernünftige
Versuch einer Neuregelung wird durch eine Vielzahl un-
verständlicher Beschränkungen auch unter rechtsstaatli-
chen Gesichtspunkten inakzeptabel. Es geht nicht um die
Vereinfachung einer komplizierten Rechtsmaterie und um
eine bessere Handhabung vernünftiger Regeln durch Be-
troffene und Behörden. Vielmehr geht es um die Gänge-
lung der Jäger und das Abwürgen des Schießsportes mit
Schusswaffen bis hin zum Biathlon.
Verschärfungen der waffenrechtlichen Regelungen
sind dann sinnvoll, wenn dies aus Gründen der inneren Si-
cherheit erforderlich ist. Dies betrifft insbesondere Rege-
lungen, die verhindern sollen, dass so genannte Schein-
schützen einem Verein beitreten oder Vereine gründen,
allein um sich Waffen zu beschaffen. Der Entwurf enthält
jedoch eine Vielzahl neuer Regelungen, die den legalen
Waffenbesitzer erheblich beschränken, aber für die innere
Sicherheit, also den Schutz vor den illegalen Waffenbesit-
zern, den Kriminellen, letztlich nichts bewirken. Es wird
eine Regelungs- und Kontrolldichte aufgebaut, die im
Hinblick auf die Forderungen nach einem schlanken Staat
und Entbürokratisierung nicht mehr nachvollziehbar ist.
Nicht nur für den legalen Waffenbesitzer und die Ver-
bände, sondern auch für die Verwaltung führt die Neure-
gelung zu einer unnötigen Verstärkung des bürokratischen
Aufwands, der durch Gründe der inneren Sicherheit nicht
gerechtfertigt ist. Der Vollzugsaufwand wird einerseits für
die Behörden zu ganz erheblichen zusätzlichen Belastun-
gen führen. Die logische Folge daraus sind erhebliche zu-
sätzliche Kosten für die Steuerzahler. Andererseits wird
ein Teil des Aufwands auf die betroffenen Sportverbände
abgewälzt, die im Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit
erhebliche Belastungen zu erwarten haben, und dies im
internationalen Jahr des Ehrenamtes!
So traurig es ist: Restriktionen, wie sie hier vorgesehen
sind, können Tragödien nicht verhindern. Amokläufer
kann man durch Regelungswahn nicht stoppen. Die Si-
cherheitsprobleme in unserem Land liegen andernorts,
nicht bei den legalen Waffenbesitzern, nicht bei den Jä-
gern, Sport- und Brauchtumsschützen. Es entsteht der
Eindruck, ein nicht vorhandenes Sicherheitsproblem wird
vorgeschoben, um ein entschlossenes Vorgehen zur vor-
geblichen Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu de-
monstrieren. Ich frage mich vor diesem Hintergrund: Vor
wem sollen die Bürgerinnen und Bürger geschützt wer-
den? Vor den rund 4 Millionen legalen Waffenbesitzern in
Deutschland? Wir könnten uns über alle Maßen glücklich
schätzen, wenn der Bevölkerung sonst keine Gefahren
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20689
(C)
(D)
(A)
(B)
drohten! Der Gesetzentwurf geht ganz klar an potenziel-
len Tätergruppen vorbei und trifft stattdessen Jäger, Sport-
und Brauchtumsschützen.
Ich möchte nun auf einige der aus unserer Sicht gra-
vierendsten Mängel des Gesetzentwurfs eingehen: Die im
Hinblick auf die Zuverlässigkeit geplanten Neuerungen
schießen über das Ziel hinaus. Es ist richtig, dass Perso-
nen, die bereits schwere Straftaten begangen haben, ge-
nerell und unwiderleglich als unzuverlässig gelten. Rich-
tig ist auch, dass bei Mitgliedschaft in einem verbotenen
Verein oder in einer vom Bundesverfassungsgericht ver-
botenen Partei oder bei nachgewiesenen verfassungs-
feindlichen Bestrebungen und bei massiv zutage getrete-
ner Gewalttätigkeit der Waffenbesitz nicht erlaubt wird.
Die Verkürzung der Frist für die Vornahme von Regel-
überprüfungen der Zuverlässigkeit von fünf auf drei Jahre
ist aber völlig sinnlos und führt statt zu mehr Sicherheit
nur zu mehr Verwaltungsaufwand. Dies gilt umso mehr
vor dem Hintergrund, dass legale Waffenbesitzer zu
99,9 Prozent unbescholtene und rechtstreue Bürger sind.
Nur ein minimaler Bruchteil aller Straftaten, nämlich
0,04 Prozent, werden mit zugelassenen Waffen begangen.
Für denjenigen, der ein Verbrechen plant, ist es jedoch ein
Leichtes, sich jede Art von Schusswaffen illegal zu be-
sorgen. Dagegen sollte der Rechtsstaat mit aller Entschie-
denheit vorgehen.
Durch die Umformulierung des Bedürfnisprinzips vom
Zugangs- zur Umgangserfordernis wird der legale Waf-
fenbesitzer durch Restriktionen gegängelt und diese Maß-
nahme wird unter dem Markenzeichen der Bekämpfung
des illegalen Waffenbesitzes und der Verbesserung der öf-
fentlichen Sicherheit verkauft. Hier wird der legale Waf-
fenbesitzer zum Sündenbock einer verfehlten Kriminal-
politik.
Die Abschaffung der seit 25 Jahren bewährten Rege-
lung der gelben Waffenbesitzkarte lehnen wir ab. Dies
würde dazu führen, dass eine Einzelprüfung für jede Ein-
zelladerlangwaffe nötig wird. Gerade in diesem Bereich
ist aber aufgrund der Art der Waffen eine missbräuchliche
Verwendung nahezu ausgeschlossen.
Auch die Regelungen zum temporären Waffenbesitz
halten dem Praxistest nicht stand. Selbst kurze Unterbre-
chungen des Schießsportes oder der Jagdausübung, zum
Beispiel bei beruflich bedingten Auslandsaufenthalten
oder wenn aus Altersgründen der Schießsport bzw. die
Jagd nicht mehr regelmäßig ausgeübt wird, sollen zum
Wegfall des Bedürfnisses und damit zum Widerruf der
Waffenbesitzkarte führen. Diese Regelung ist mit Blick
auf Globalisierung, Mobilität und Flexibilität der Arbeits-
prozesse kontraproduktiv.
Abzulehnen ist auch die Verpflichtung der Vereine, der
zuständigen Behörde die Sportschützen zu benennen, die
aus dem aktiven Schießsport ausscheiden. Die Melde-
pflicht bezüglich inaktiver Sportschützen stellt angesichts
der Regelung im Bereich der Jäger, bei denen zu Recht für
den weiteren Besitz von Schusswaffen nur das Innehaben
eines gültigen Jagdscheins und nicht die tatsächliche
Ausübung der Jagd vorausgesetzt wird, und der in § 4
Abs. 4 WaffG vorgesehenen wiederholten Bedürfnisprü-
fung innerhalb der ersten sechs Jahre eine sachlich nicht
gerechtfertigte Verschärfung dar. Diese Bestimmung
würde Unfrieden in die Vereine tragen, die Abgabe un-
richtiger Bescheinigungen provozieren und insgesamt
dem Vereinsleben schweren Schaden zufügen. Zudem
würden die Behörden durch die eingehenden Meldungen
und den dadurch ausgelösten Prüfungsbedarf im Hinblick
auf einen Widerruf waffenrechtlicher Erlaubnisse erneut
erheblich belastet.
Der Versuch, Wettbewerbsgleichheit mit anderen euro-
päischen Sportschützen durch moderate Anpassung der
Altersgrenze herzustellen, droht zu scheitern. Wie sollen
sich junge Menschen messen, wenn die einen mit 16 Jah-
ren bereits Meister sind, während andere – unter Aufsicht
besonderer Jugendtrainer – gerade erst richtig beginnen
dürfen?
Die die Munitionssammler betreffenden Regelungen
des Gesetzentwurfs führen dazu, dass das Sammeln von
Munition in Zukunft nicht mehr möglich sein wird.
All diese Beispiel zeigen die Praxisferne, die sich
durch den ganzen Entwurf zieht. Ich betone es noch ein-
mal: Unsere Kritik richtet sich nicht gegen das Vorhaben,
das Waffengesetz zu novellieren. Der hier vorgelegte Ent-
wurf geht jedoch an der Wirklichkeit völlig vorbei und
kann daher in dieser Form unsere Zustimmung keinesfalls
finden.
Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
späte Stunde dieser Aussprache wird der Bedeutung des
Themas ganz gewiss nicht hinreichend gerecht. Die Re-
form des Waffenrechts ist eine der wichtigen und großen
Projekte dieser Regierung. Nachdem einige Anläufe in
der Vergangenheit gescheitert sind, beginnt nun gewisser-
maßen der parlamentarische Endlauf. Das zeigt, wie
handlungsfähig und entschlossen die rot-grüne Koalition
in Sicherheitsfragen ist.
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich für die gute und
freundschaftliche Zusammenarbeit mit den zuständigen
Staatssekretären des Bundesinnenministers danken. Herr
Körper und Herr Schapper haben hier einen sehr guten
Job gemacht. Beide haben in den letzten Wochen ein we-
nig unter unserer Hartnäckigkeit bei den Antiterrorgeset-
zen gelitten – umso mehr haben sie sich hier ein besonde-
res Lob verdient. Das gilt auch für die Arbeitsebene im
Haus. Mit Empörung weise ich hier die persönlichen An-
griffe aus der Waffenlobby gegen einzelne Mitarbeiter
zurück.
Die Koalition ist sich völlig einig, dass es uns nicht da-
rum gehen kann, die Bürgerinnen und Bürger, die beruf-
lich oder in ihrer Freizeit mit Waffen umgehen, zu gängeln
und zu bevormunden. Der übergroße Teil der Waffenbe-
sitzer geht gesetzestreu und gewissenhaft mit den Geräten
um. Wir wollen auch nicht in die traditionelle Brauch-
tumspflege eingreifen. Der Gesetzentwurf gibt keinen
Anlass zu dieser Sorge. Sollte sich im weiteren Verlauf
der Diskussion hier die eine oder andere Unklarheit zei-
gen, lassen wir immer mit uns reden.
Die Notwendigkeit einer grundlegenden Gesetzesän-
derung ist aber nach Überzeugung aller politisch Verant-
wortlichen unabweisbar. Gemeinsam mit den Innenminis-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120690
(C)
(D)
(A)
(B)
tern des Bundes und der Länder fordern wir Grünen schon
seit vielen Jahren eine Änderung der waffenrechtlichen
Bestimmungen. Ziel ist es, die öffentliche Sicherheit der
Bürger zu verbessern. Hier gibt es in der Praxis deutliche
Mängel.
Tragische Ereignisse wie die Schüsse in Bad Reichen-
hall, wo ein Jugendlicher mit der Waffe seines Vaters auf
Passanten schoss und neben anderen auch den Schauspie-
ler Günter Lamprecht traf, alarmieren uns alle. Weitere
Zwischenfälle dieser Art, so erst vor wenigen Tagen in
Berlin, können nicht hingenommen werden. Wir müssen
erkennen, dass gerade aus dem familiären Umfeld der Be-
sitzer immer wieder labile Menschen sich der Waffen im
Haus bedienen. Mit der Zuverlässigkeit des Besitzers al-
lein ist es daher nicht getan. Auch die Aufbewahrung der
Waffen und der Munition muss sicherer werden. Das Ge-
wehr gehört nicht auf das Sofa, sondern in ein abgesi-
chertes Behältnis.
Kritiker unseres Vorhabens, die uns in diesen Tagen
recht emsig Briefe schreiben, bringen immer wieder vor,
die meisten Straftaten würden ohnehin mit illegalen Waf-
fen begangen. Diese Aussage ist – vordergründig betrach-
tet – richtig. In der Tat sind viel zu viele illegale Waffen
im Umlauf. Zu behaupten, eine Verschärfung der rechtli-
chen Bestimmungen bringe aber keinen erkennbaren
Nutzen, ist auch nicht richtig. Jährlich verschwinden al-
lein circa 6 000 „legale“ Waffen in die Illegalität. Gerade
diese hohe Zahl spricht für präzisere und auch schärfere
Regelungen, deren Einhaltung besser kontrolliert werden
muss.
Das statistische Material in Deutschland ist leider un-
vollständig. Fachleute gehen aber davon aus, dass circa
die Hälfte der so genannten Beziehungstaten bei Mord
und Totschlag mit legalen Waffen begangen wurden. Bei
aller Ungenauigkeit der Zahl kann darüber auch nicht
hinweggegangen werden. Auch dies widerlegt all jene,
die sich einer Reform unter Hinweis auf die nicht regi-
strierten Waffen widersetzen.
Unumgänglich sind auch höhere Anforderungen an die
persönliche Zuverlässigkeit des Waffenbesitzers. Glei-
ches gilt für die Einführung des „kleinen Waffenscheins“
für Gas- und Schreckschusswaffen. Spring- und Fallmes-
ser werden künftig ebenso verboten sein wie die tücki-
schen Wurfsterne.
Sehr zufrieden bin ich auch, dass wir die Deckungs-
summe für die Pflichthaftpflichtversicherung nach dem
bisherigen § 36 Abs. 1 von kläglichen 500 000 DM bei
Personenschäden und 50 000 DM für Sachschäden auf je
eine Million Euro erhöhen. Diese Verbesserung für die
Opfer trägt der Schwere der Zwischenfälle in den vergan-
genen Jahren Rechnung.
Ich hoffe, dass wir im Ausschuss eine gute und frucht-
bare Diskussion bekommen und wir gemeinsam mit dem
Bundesrat alsbald dieses Reformvorhaben auf den Weg
bringen können.
Dr. Max Stadler (FDP): Das geltende Waffenrecht
stellt insgesamt einen ausreichenden Ausgleich zwischen
der staatlichen Verpflichtung, für innere Sicherheit zu sor-
gen, und den berechtigten Interessen der Waffenbesitzer
dar. Deshalb hat die FDP in der letzten Legislaturperiode
Bestrebungen der CDU/CSU und insbesondere der Bun-
desländer, das Waffenrecht im Sinne einer weiteren Büro-
kratisierung zu verändern, verhindert.
Allerdings ist zuzugeben, dass eine Modernisierung
des Gesetzes in Richtung Vereinfachung durchaus wün-
schenswert wäre. Dabei müssten die Interessen der Jagd-
und Sportausübung einerseits und der inneren Sicherheit
andererseits in einer vernünftigen Abwägung berücksich-
tigt werden. Die von der Bundesregierung vorgeschla-
genen Änderungen des Waffenrechts sind dagegen nur
zum Teil sinnvoll. Sie führen insgesamt zu mehr Büro-
kratie und zu Einschränkungen für die legalen Waffenbe-
sitzer, ohne dass die Sicherheit der Bürger dadurch ent-
scheidend verbessert werden würde.
So ist etwa der so genannte kleine Waffenschein für
Gaspistolen abzulehnen. Es wäre damit ein hoher Verwal-
tungsaufwand verbunden. Es besteht im Übrigen ein Be-
dürfnis insbesondere für Frauen, sich in Notwehrsitua-
tionen mit Gaspistolen schützen zu können.
Millionenfach die Vorlage eines polizeilichen Füh-
rungszeugnisses zu verlangen geht zu weit. Stattdessen
könnte jeder, der eine solche Waffe in der Öffentlichkeit
führt, dazu verpflichtet werden, den Personalausweis mit
sich zu führen und sich damit gegenüber der Polizei aus-
zuweisen. Diese einfache Maßnahme wäre sehr wohl wir-
kungsvoll gegen Missbrauch. Im Übrigen könnte der
Altbestand von etwa 10 Millionen Gaspistolen kaum re-
gistriert werden. Der riesige Verwaltungsaufwand ist
nicht gerechtfertigt.
Das Waffenrecht muss auch den berechtigten Anliegen
der Sportschützen, Jäger und Waffensammler in ange-
messener Weise Rechnung tragen. Nicht die in privatem
Besitz befindlichen, legal zugelassenen Waffen, sondern
die vielen illegal beschafften Waffen stellen das eigent-
liche Problem der inneren Sicherheit dar. Die Bundes-
regierung setzt dagegen auf die Gängelung der Jäger und
auf das Abwürgen des Schießsports bis hin zum Biathlon.
Der Vollzug dieses Gesetzes würde etwa 100 000 Arbeits-
plätze in hochspezialisierten Berufen in konkrete Gefahr
bringen.
Die Verbände der Sportschützen, der Deutsche Jagd-
schutzverband und das Forum Waffenrecht waren im Vor-
feld des Gesetzgebungsverfahrens bereit, erhebliche Be-
lastungen auf sich zu nehmen, um zu einer vernünftigen
Reform zu kommen.
Die Bundesregierung wäre gut beraten, auf diese Be-
reitschaft einzugehen und ihren überbürokratischen Ge-
setzentwurf entsprechend anzupassen. Die FDP wird ver-
suchen, in diese Richtung in den Ausschussberatungen
Einfluss zu nehmen.
Ulla Jelpke (PDS): Der private Erwerb von legalen
Waffen ist durch das bestehende Waffenrecht vielfältig re-
glementiert. Das ist auch gut so. Wir wollen keine US-
amerikanischen Verhältnisse. Weil aber diese Reglemen-
tierung in vielen Gebieten schon da ist, sehen wir auch
keinen Bedarf für die hier vorgeschlagene allgemeine
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20691
(C)
(D)
(A)
(B)
Verschärfung des Waffenrechts. Um es klar und deutlich
zu sagen: Das Verbot von Wurfsternen und besonders ge-
fährlichen Hieb- und Stoßwaffen tragen wir mit, ebenso
die Einführung eines kleinen Waffenscheins für Gas- und
Schreckschusswaffen. Für eine allgemeine Verschärfung
der Restriktionen gegen den privaten Besitz von legalen
Waffen, die auch Sportschützen, Jäger und vergleichbare
private Waffenbesitzer trifft und in wichtige Grundrechte
eingreift, sehen wir aber keinen Grund. Das lehnen wir ab.
Für eine derartige Verschärfung gibt es auch keine mate-
rielle Grundlage.
Die Zeitung „Forum Waffenrecht“ hat vor kurzem eine
Untersuchung der polizeilichen Kriminalstatistik veröf-
fentlicht. In dieser Untersuchung nennt sie folgende Zah-
len für das Jahr 2000: An Straftaten insgesamt wurden von
der Polizei 6,3 Millionen erfasst. Davon waren Gewalt-
taten: 186 655. Von diesen Gewalttaten erfolgten mit
Schusswaffenverwendung 19 292. Nur in 79 Fällen wur-
den von der Polizei am Ende legale Waffen sichergestellt,
die bei solchen Straftaten zum Einsatz kamen.
Mit anderen Worten: Nur bei 0,31 Prozent aller im Jahr
2000 begangenen Straftaten wurden überhaupt Schuss-
waffen eingesetzt. Und nur in 0,013 Prozent aller Strafta-
ten wurden legale Waffen verwendet. Das macht deutlich,
wie unverhältnismäßig und sachlich unbegründet eine all-
gemeine Verschärfung des Waffenrechts ist. Es gibt keine
reale Notwendigkeit, gegen den legalen Waffenbesitz so
breitflächig wie von den Regierungsparteien geplant, mit
schärferen Gesetzen vorzugehen.
Der hier vorliegende Gesetzentwurf der Regierung
sieht im Paragraph 36 sogar eine Einschränkung der Un-
verletzlichkeit der Wohnung vor. Bei begründeten Zwei-
feln an der sicheren Aufbewahrung der Waffen und Mu-
nition soll die Waffenbehörde auch gegen den Willen des
Betroffenen die Wohnung betreten können. Das gilt nach
Paragraph 39 auch für Auskunftspflichtige, die Waffen-
herstellung, Waffenhandel, eine Schießstätte oder ein Be-
wachungsunternehmen betreiben. Die zuständigen
Behörden können auch hier zur Abwehr dringender Ge-
fahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung die Ar-
beitsstätten außerhalb der Betriebs- und Arbeitszeiten be-
treten sowie die Wohnräume der Auskunftspflichtigen
gegen deren Willen betreten. Hier ist noch nicht einmal
eine richterliche Anordnung erforderlich. Auch die Rück-
nahme der Waffenbesitzkarte soll nach Paragraph 44 sehr
restriktiv gehandhabt werden. Schon eine kurze Unter-
brechung des Schießsports oder der Jagdausübung soll
zum Wegfall der Waffenbesitzkarte führen. Ein Grund
dafür ist nicht ersichtlich. Für vertretbar halten wir dage-
gen die schärferen Restriktionen für Reizstoff-, Schreck-
schuss- und Signalwaffen.
Die so genannten Gas- und Schreckschusswaffen kom-
men inzwischen in hohem Maße bei Straftaten im Bereich
der Bereich der Schwerkriminalität wie räuberischer Er-
pressung, Geiselnahme und Ähnlichem Einsatz. Etwa die
Hälfte aller im Zusammenhang mit Straftaten sicherge-
stellten Waffen sind solche Waffen. Diese Waffen sollen
nunmehr einer Meldepflicht unterliegen. Altbesitzer sol-
len ihren Besitz anmelden müssen. Die zuständige Waf-
fenbehörde bekommt so die Möglichkeit, die Zuverläs-
sigkeit der Besitzer solcher Waffen zu überprüfen. Wer
solche Waffen in der Öffentlichkeit mit sich führen will,
muss vorher eine behördliche Erlaubnis, den „kleinen
Waffenschein“, beantragen und erhalten. Auch das Verbot
von Wurfsternen und gefährlichen Messern wie den so ge-
nannten Butterflymessern ist richtig und erforderlich.
Allerdings wird über die genauen Modalitäten, zum
Beispiel beim kleinen Waffenschein, noch zu sprechen
sein. Die Gewerkschaft der Polizei hat im Mai darauf hin-
gewiesen, dass von dem kleinen Waffenschein mögli-
cherweise 15 Millionen Gas- und AIarmwaffen erfasst
werden. Allein die Ausstellung der dafür erforderlichen
polizeilichen Führungsscheine würde einen erheblichen
Arbeitsaufwand machen.
Grundsätzlich kann das Problem der bewaffneten Kri-
minalität nicht allein mit repressiven Mitteln bekämpft
werden. Das gilt insbesondere im Bereich der Jugendkri-
minalität. Eines der großen Probleme ist hier sicherlich
die allgemeine Gewalt in den Medien und in der Gesell-
schaft. Wer auf internationale Probleme und Konflikte zu-
nehmend mit Militarismus, Krieg und Bomben setzt, wer
auch bei innenpolitischen gesellschaftlichen Konflikten
eine Hau-drauf-Politik praktiziert und propagiert, statt die
Ursachen von Konflikten zu beseitigen und zu korrigie-
ren, der muss sich nicht wundern, wenn Jugendliche sich
diese Propaganda und Politik auch im persönlichen Be-
reich zu Eigen machen. Eine friedliche Außenpolitik und
eine verantwortungsvolle Medien-, Jugend und Sozialpo-
litik sind langfristig bestimmt wirksamer bei der Zurück-
drängung von Gewalt in der Gesellschaft als ein Ansatz,
der einfach nur auf schärfere Gesetze und mehr Repres-
sion setzt.
Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Man glaubt es kaum, aber vor
knapp zehn Jahren ist mit den Arbeiten an einer grundle-
genden Novellierung des Waffenrechts begonnen worden.
Bereits in den beiden Legislaturperioden zuvor waren Ge-
setzentwürfe der alten Bundesregierung zur Teilnovellie-
rung des Waffengesetzes im Deutschen Bundestag nicht
verabschiedet worden. Heute liegt nach diesem langen
Vorlauf dem Bundestag der Regierungsentwurf eines Ge-
setzes zur Neuregelung des Waffenrechts vor.
Mit dem Gesetzentwurf soll das Anliegen präzisiert
werden, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit den pri-
vaten Schusswaffenbesitz möglichst gut zu regulieren und
insgesamt sicherzustellen, dass Waffen nicht in falsche
Hände geraten, um so die Bevölkerung wirksam zu schüt-
zen.
Kernpunkte des Entwurfs sind daher bessere Auf-
bewahrungsregelungen für Waffen und Munition, höhere
Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Waffenträger,
insbesondere Ausschluss des Waffenerwerbs durch Extre-
misten, ein sogenannter kleiner Waffenschein für das
Führen von Gas- und Schreckschusswaffen in der Öffent-
lichkeit sowie restriktive Regelungen für Spring- und
Fallmesser, Butterflymesser und Wurfsterne.
Eine grundlegende Neuregelung des Waffenrechts ist
dringend geboten.Denn die bestehendeRegelung desWaf-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120692
(C)
(D)
(A)
(B)
fenrechts, die aus den 70er-Jahren stammt, ist im Lauf der
Zeit immer unübersichtlicher geworden. Durch viele klei-
nere und größere Korrekturen imWaffengesetz selbst und
in dem halben Dutzend Verordnungen hierzu sind die kla-
ren Linien immer undeutlicher geworden. Folge hiervon
sind Unsicherheiten, teilweise auch Defizite imVollzug.
Dazu kommt, dass Anlass besteht, im Interesse der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung zwischenzeitlich
eingetretenen negativen Entwicklungen etwa in der
kriminellen Verwendung von bestimmten Hieb- und
Stoßwaffen oder Gas- und Schreckschusswaffen entge-
genzutreten.
Der Umfang des Gesetzes spiegelt die Komplexität der
zu regelnden Materie wider. Hier spielen Aspekte der öf-
fentlichen Sicherheit, aber auch der Verwendersicherheit
eine gewichtige Rolle. Das machte es erforderlich, die
Regelung insgesamt neu zu konzipieren und zu struktu-
rieren; aus diesem Grund soll das Waffenrecht künftig in
ein Waffengesetz mit der Zielsetzung der öffentlichen Si-
cherheit und ein Beschussgesetz mit der Zielsetzung der
Verwendersicherheit aufgegliedert werden.
Es nimmt nicht wunder, dass bei einem so umfassen-
den Regierungsentwurf die Länder im Wege der Stellung-
nahme des Bundesrates eine Fülle von Anregungen und
Anmerkungen gemacht haben. Dank der intensiven
Abstimmung im gesamten Prozess des Gesetzgebungs-
verfahrens kann ich feststellen, dass es sich bei der über-
wiegenden Zahl der Änderungs- oder Prüfwünsche um in
erster Linie regelungstechnische Vorschläge handelt, de-
nen aus Sicht der Bundesregierung in einer nicht uner-
heblichen Anzahl gefolgt werden kann.
Natürlich kann es bei der erwähnten Komplexität der
Materie und der Vielfältigkeit der in Betracht zu ziehen-
den Interessen- und Güterabwägungen nicht ausbleiben,
dass es einzelne Eckpunkte gibt, bei denen nicht jeder voll
zufrieden gestellt ist. In diesen Punkten geht von der
Mehrheit der Länder in der Stellungnahme des Bundesra-
tes das Signal aus, den Regierungsentwurf im Interesse
der öffentlichen Sicherheit zu verschärfen. Die Vertreter
der Verbände hingegen wünschen sich mehr Großzügig-
keit für den Erwerb und Besitz von Waffen. Aber es han-
delt sich bei den kontroversen Punkten um eine über-
schaubare Menge. So bin ich guten Mutes, dass es
gelingen wird, die von uns von Anfang an gesuchte Fahr-
spur tragfähiger und ausgewogener Kompromisse, in de-
nen auch die berechtigten Anliegen der Jäger, Sportschüt-
zen und anderer Interessengruppen angemessen zur
Geltung kommen, zu halten.
Diese Zuversicht kommt nicht von ungefähr: Wir ste-
hen in ständigem Kontakt mit den Vertretern der Fraktio-
nen, der Länder und der Verbände, und wir versuchen,
zwischen den Positionen zu vermitteln, um sachgerechte
Lösungen zu entwickeln. Dabei hat der lange Vorlauf die-
ser Waffenrechtsnovelle durchaus auch seine positiven
Nebeneffekte: Viele Probleme werden seit Jahren hin
und hergewälzt, sind von allen Seiten beleuchtet und
ausdiskutiert worden. Oftmals finden sich bereits in
früheren Legislaturperioden entwickelte Lösungsansätze,
die jetzt fruchtbar gemacht werden können.
Deshalb appelliere ich an alle: Seien wir uns dessen
bewusst, dass es im Interesse der öffentlichen Sicherheit
und des Gemeinwohls notwendig ist, das Waffenrecht neu
zu ordnen! Lassen wir uns nicht darauf ein, wenn – von
wem auch immer – auf Weiterwursteln plädiert wird; das
Rad ist auch nicht dadurch erfunden worden, dass sich die
Diskussion darum immer im Kreise drehte! Nutzen wir
die Chance, dieses Projekt, in das schon von jeder Seite
jede Menge Mühe, Geduld und Aufwand hineingesteckt
wurde und das sonst droht, allmählich überreif zu werden,
endlich abzuschließen!
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Ausbau der Donau
zwischen Straubing und Vilshofen ökologisch ge-
stalten (Tagesordnungspunkt 18)
Annette Faße (SPD): Zur Bewältigung des prognos-
tizierten Güterverkehrsaufkommens müssen die Poten-
ziale jedes einzelnen Verkehrsträgers voll ausgeschöpft
werden. Straße, Schiene und Wasserstraße müssen effizi-
ent miteinander vernetzt werden. Die Güterverkehre
der Zukunft lassen sich nur mit Unterstützung der Binnen-
schifffahrt bewältigen. Das Binnenschiff ist ein unverzicht-
barer Verkehrsträger; nicht nur weil er umweltfreundlich ist,
sondern auch weil er kostengünstig, energiesparend und si-
cher ist.
Ein zentrales Anliegen rot-grüner Verkehrspolitik ist
eine Verlagerung der Gütertransporte auf die umwelt-
freundlichen Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße.
Zwar erbringt die Binnenschifffahrt heute rund 90 Prozent
der Transportleistung der Eisenbahnen, dennoch hat sie
systembedingte Nachteile gegenüber den konkurrieren-
den Verkehrsträgern. Zudem hemmen Defizite im Aus-
bauzustand des deutschen Wasserstraßennetzes die ein-
geschränkte Verfügbarkeit der Wasserstraßen sowie
zusätzliche Kosten für Umschlag und Vor- bzw. Nachlauf
bei gebrochenen Verkehren eine stärkere Verlagerung auf
die Wasserstraße. Insbesondere weist das 7 300 Kilome-
ter lange Netz der deutschen Binnenwasserstraßen regio-
nal sehr große Unterschiede hinsichtlich der Befahrbar-
keit auf. Wasserstraßen mit einem hohen Standard weisen
eine hohe Auslastung mit deutlichen Verkehrszuwächsen
auf. Dies trifft in erster Linie auf den Rhein zu, dessen An-
teil 80 Prozent an der Gesamtverkehrsleistung der Bin-
nenschifffahrt beträgt.
Einer der wesentlichen Engpässe ist die Donauteil-
strecke zwischen Straubing und Vilshofen. Hier hat die
Binnenschifffahrt durch den derzeitigen Ausbauzustand
echte Nachteile gegenüber den anderen Verkehrsträgern
Straße und Schiene. Vor dem Hintergrund der wirtschaft-
lichen Entwicklung der osteuropäischen Staaten und der
damit verbundenen Zunahme der Verkehrsströme bleibt
festzuhalten, dass das Transportaufkommen nicht allein
von der Straße und der Schiene bewältigt werden kann.
Um eine nennenswerte Verlagerung von der Straße auf
die Wasserstraße zu erreichen, hält die Binnenschifffahrt
zuverlässige ganzjährige Mindestabladetiefen für not-
wendig. Zurzeit kann die Binnenschifffahrt bei einer ge-
mittelten Abladetiefe nur ein Drittel weniger als bei einer
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20693
(C)
(D)
(A)
(B)
ganzjährigen Mindestabladetiefe von 2,50 Meter trans-
portieren. Diese Situation macht es für sie unmöglich, fest
kalkulierbare Tarife anzubieten. Dadurch meiden viele
Verlader die Wasserstraße Donau. Effektive Verlage-
rungseffekte sind damit nicht zu erwarten.
Aufgrund der Richtungsentscheidung von 1996 über
den weiteren Donausausbau sind die möglichen fünf Aus-
bauvarianten hinsichtlich der ökologischen Auswirkun-
gen und der zu erwartenden Kosten eingehend untersucht
worden. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind abge-
schlossen und im Schlussbericht der vertieften Untersu-
chungen zum Donauausbau ausgewertet worden. Auf der
Grundlage des Ergebnisses werden wir eine Entscheidung
zu treffen haben, die den ökologischen Faktor verantwor-
tungsvoll einbezieht und die dem verkehrpolitischen Ziel
von Rot-Grün, der verstärkten Verlagerung auf die Was-
serstraße, genügen kann. Wir müssen uns dabei vor Au-
gen führen, dass eine verstärkte Verlagerung auf die Was-
serstraße auch dem Schutz der Umwelt dient.
Zur Unterstützung der Entscheidungsfindung wird der
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen am
20. Februar 2002 eine Expertenanhörung durchführen.
Dort müssen alle noch offenen Fragen hinsichtlich der
Vertragslage und damit verbundener möglicher Rechtsan-
sprüche des Freistaates Bayern an den Bund geklärt wer-
den. Für mich stellt sich insbesondere auch die Frage, in
welcher Weise die einzelnen Varianten die Wirtschaftlich-
keit der Binnenschifffahrt in einem vernünftigen Kosten-
Nutzen-Verhältnis erhöhen können. Demgegenüber ste-
hen die zu berücksichtigenden ökologischen Aspekte. Das
ist ein schwieriger Grad, auf dem wir uns bewegen. Den-
noch werden wir den Anforderungen an eine verantwor-
tungsbewusste Entscheidung gerecht werden.
Die rot-grüne Bundesregierung hat im Rahmen ihrer
Verkehrspolitik deutlich gemacht, dass sie für einen ziel-
gerichteten Ausbau der Wasserstraßeninfrastruktur steht,
der in umwelt- und naturverträglicher Weise erfolgt.
Dafür haben witr die entsprechenden Haushaltsmittel be-
reitgestellt.
Im Rahmen der Fortschreibung des Bundesverkehrs-
wegeplans werden derzeit acht Wasserstraßenprojekte un-
tersucht und bewertet. Bis zur Vorlage des neuen Bundes-
verkehrswegeplans sichert das Investitionsprogramm
1999 bis 2002 (IP) die notwendigen Investitionen in die
wesentlichen Wassertraßenprojekte und die Instandhal-
tung. Daneben leistet das Anti-Stau-Programm 2003 bis
2007 (ASP) einen wichtigen Beitrag zur gezielten Er-
höhung der Leistungsfähigkeit der Infrastruktur. Für die
Wasserstraßen sind im ASP insgesamt 460 Millionen
Euro zur Engpassbeseitigung im Wasserstraßennetz vor-
gesehen. Uns ist klar, das wir die optimierte Teilhabe der
Binnenschifffahrt im integrierten Verkehrskonzept nicht
allein mit Ausbaumaßnahmen erreichen können. In einem
leistungsfähigen Wasserstraßennetz kommt der effizien-
ten Gestaltung der Schnittstellen zwischen dem Binnen-
schiff, der Bahn und dem LKW eine wichtige Rolle zu.
Hierzu trägt das Terminalkonzept der Bundesregierung
entscheidend bei.
Der kombinierte Verkehr ist der Wachstumsmarkt im
Güterverkehr, nicht nur auf der Schiene, sondern immer
mehr auch auf der Wasserstraße. Gerade hier ist mit einem
überproportionalen Wachstum zu rechnen. Für das Jahr
2005 wird ein Aufkommen von kombiniertem Verkehr auf
der Wasserstraße von 14,6 Millionen Tonnen prognosti-
ziert. Angesichts der Erfolge in der Vergangenheit und der
optimistischen Prognosen war und ist uns die stetige Er-
höhung der KV-Fördermittel ein besonderes Anliegen.
Wir unterstützen die Binnenschifffahrt zusätzlich im Be-
reich der Ausbildung, der Schiffsbesetzung und des Mar-
ketings. Darüber hinaus müssen sowohl die nationalen als
auch die europäischen Wettbewerbsbedingungen weiter
harmonisiert werden.
Die anstehende Anhörung zeigt, dass das Problem
Straubing-Vilshofen vom Parlament ernst genommen
wird. Nach Abschluss des Raumordnungsverfahrens, das
keine zusätzliche Zeitverzögerung beinhaltet, muss end-
gültig entschieden werden. Dies sind wir allen Beteiligten
schuldig. Ich bin sicher, dass die Binnenschifffahrt mit un-
serem verkehrspolitischen Konzept gute Zukunftschan-
cen haben wird.
Brunhilde Irber (SPD): Lassen Sie mich zunächst
ein offenes Bekenntnis zum letzten Stück frei fließender
Donau ablegen, ein Bekenntnis zu „meiner“ Donau. Als
betroffene Abgeordnete, deren Wahlkreis seit Jahr-
tausenden durch den Lauf der Donau wesentlich geprägt
wird, kann ich nicht nur für mich persönlich, sondern für
die vielen aufs Engste mit diesem Fluss verbundenen
Menschen in Niederbayern sprechen.
Das freie Fließen der Donau empfinden viele Men-
schen wie ihren eigenen Herzschlag, ihren eigenen Atem.
Auch mir geht es so. Wer an und mit der Donau aufge-
wachsen ist, wer von und mit ihr lebt, der weiß, dass die
Donau in ihrer jetzigen Gestalt mehr ist als eine Wasser-
straße, die zum Ausbau freigegeben wurde. Die Donau
zwischen Straubing und Vilshofen ist und gibt Leben.
Gleichsam als „Arche Noah“ bildet sie für viele vom Aus-
sterben bedrohte Pflanzen und Tiere einen letzten Le-
bensraum. Wegen der überragenden ökologischen Bedeu-
tung sind große Teile als Schutzgebiete ausgewiesen,
darunter das Isar-Mündungsgebiet als bundesweit reprä-
sentatives Auen-Schutz-Gebiet. Durch die Meldung als
Flora-Fauna-Habitat (FFH)-Gebiet genießt die Donau seit
kurzem auch den besonderen Schutz der europäischen
Naturschutzrichtlinien. Aber auch für die Menschen ist
der Erhalt der Fließgewässer- und Auendynamik von er-
heblicher Bedeutung – als Trinkwasserreserve, Hochwas-
serretentionsraum und naturnahes Erholungsgebiet. Wir
wissen alle – und als tourismuspolitische Sprecherin der
SPD-Bundestagsfraktion lassen Sie mich das sagen –,
dass naturnahe Erholung in intakten Landschaften einen
immer größeren touristischen und wirtschaftlichen Stel-
lenwert einnimmt.
Dennoch ist uns klar, dass die Donau besser schiffbar
gemacht werden muss. Was angesichts der laufenden Dis-
kussion aber immer wieder in Vergessenheit geraten ist:
Es wurden in den letzten Jahren bereits viele Verbesse-
rungen durch rein flussbauliche Maßnahmen erreicht.
Wenn wir trotzdem für weitere Optimierungen sind, dann
deshalb, weil auch wir die Donau nicht nur als Naturidyll,
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120694
(C)
(D)
(A)
(B)
sondern gleichzeitig als moderne Schifffahrtsstraße se-
hen, die im Rahmen des ökologisch Verträglichen und
Verantwortbaren leistungsfähig gehalten und gestaltet
werden muss. Dies nicht zuletzt im Sinne einer intelligent
organisierten und umweltfreundlichen Verkehrspolitik.
Die Donau, der „Amazonas Bayerns“, wie sie völlig zu
Recht genannt wird, soll also ausgebaut werden. So weit
herrscht Konsens. Seit Jahren scheiden sich aber die Geis-
ter über das Wie: mit Staustufen oder ohne.
Meine Position und die Position der bayerischen SPD
ist klar: Es kann und darf nur ohne Staustufen gehen. Dass
dies möglich und sinnvoll ist, beweisen die vom Bund und
dem Freistaat Bayern in Auftrag gegebenen „Vertieften
Untersuchungen“, deren Ergebnisse mittlerweile vorlie-
gen. Natürlich versucht jetzt die eine oder andere Seite,
die Ergebnisse für sich zurecht zu interpretieren. Was für
uns aber zählen muss, sind nicht Interpretationsspiel-
räume, sondern harte Fakten. Das Gutachten spricht hin-
sichtlich der von uns favorisierten Variante A, also der
Ausbauoption ohne Staustufen, eine eindeutige Sprache.
Mit einem Kosten-Nutzen-Verhältnis von 8,3 schneidet
Variante A mit Abstand am besten ab. Hinzu kommt die
nachweislich beste ökologische Verträglichkeit.
Lassen Sie mich zwei weitere Argumente ansprechen,
die im Ringen um die beste Ausbauvariante neu sind be-
ziehungsweise bisher zu wenig im Blickfeld standen: In
der am 4./5. September dieses Jahres verabschiedeten
„Rotterdamer Deklaration“ wird eine Abladetiefe von
2,50 Metern an 60 Prozent der Tage eines Jahres gefor-
dert. Dies kann ein Ausbau nach Variante A locker leisten.
Außerdem wird der dreilagige Containerverkehr gefor-
dert. Damit rennt die ,,Rotterdamer Erklärung“ bei uns of-
fene Türen ein. Wir reden seit Jahren dem steigenden
Containerverkehr auf unseren Binnenwasserstraßen das
Wort. Hier sind die größten Zuwachsraten zu erwarten.
Hier lässt sich am meisten Verkehr von der Straße auf das
Binnenschiff verlagern. Und der „angenehme“ Nebenef-
fekt an der Sache: Die moderne Container- und Roll-
on/Roll-off-Schifffahrt benötigt wesentlich geringere
Fahrrinnentiefen als der herkömmliche Transport von
Massengut mit oft veralteten Fahrzeugen. Auch für diese
Binnenschifffahrt der Zukunft wären wir mit Variante A
bestens gerüstet. Die entscheidende Größe bildet hierbei
– wie übrigens heute schon in vielen Fällen – nicht die
Fahrrinnentiefe, sondern die Brückenhöhe. Hier besteht
zweifellos dringender Handlungsbedarf. Die Not leidende
Bauindustrie wäre für ein solches Brücken-Bauprogramm
mehr als dankbar.
Dies sind in der gebotenen Kürze einige meiner und
unserer Argumente.
Statt sich aber mit guten Argumenten auf der Basis der
Ergebnisse der „Vertieften Untersuchungen“ für die eine
oder andere Lösung auszusprechen, fühlen sich diejeni-
gen auf den Plan gerufen, die eben diesen guten Argu-
menten nicht zugänglich sind. Da werden plötzlich neue
Verkehrsgutachten aus der Tasche gezogen, die beweisen
sollen, dass durch eine komplett betonierte Donau we-
sentlich mehr Güter zu Wasser transportiert werden könne
oder – so der jüngste Husarenstreich der Bayerischen
Staatsregierung – es werden für Steuergelder teure Um-
fragen in Auftrag gegeben, die zum Entsetzen der Auf-
traggeber nur das bestätigen, was alle wissen: Die Men-
schen in Niederbayern wollen keine weitere Betonierung
der Donau. Die Zukunft der Donau darf nicht durch Trick-
serei und Manipulation entschieden werden. Weder in
München noch in Berlin – auch das sage ich ganz deut-
lich.
Die Tragweite der Ausbauentscheidung erfordert einen
breiten gesellschaftlichen Konsens und eine entspre-
chende Behandlung im Deutschen Bundestag. Wir kön-
nen und dürfen es daher nicht akzeptieren, wenn Ministe-
rialbeamte und nachgeordnete Behörden uns diese Arbeit
im stillen Kämmerlein nur zu gerne abnehmen wollen. Es
ist daher ausdrücklich zu begrüßen, wenn sich der Deut-
sche Bundestag mit einer Expertenanhörung über die Art
des Donauausbaus am 20. Februar 2002 beschäftigen
wird. Bei dieser Anhörung wird es auch darum gehen,
inwieweit die seitens der Schifffahrtsvertreter immer
wieder geforderten Ausbauparameter – im Wesentlichen
handelt sich hierbei um eine ganzjährige Abladetiefe von
2,50 Metern bei Niedrigwasser –, tatsächlich verkehrs-
politisch notwendig sind. Unklar ist zudem die Vertrags-
lage. Aus München höre ich ständiges Getöse, der Bund
sei vertraglich zu eben diesen 2,50 Metern verpflichtet.
Definitiv Rechtsverbindliches hierzu konnte mir aber
noch niemand vorlegen. Es gibt also noch genügend
Klärungsbedarf.
Wenn wir – wie heute – die Frage des Donauausbaus
zum ersten Mal im Plenum des Deutschen Bundestages
diskutieren, ist das ein erster und wichtiger Schritt in die
richtige Richtung.
Den Damen und Herren von der PDS kommt das Ver-
dienst zu, diese Runde mit der Vorlage ihres Antrags eröff-
net zu haben. Ich kann nicht verhehlen, dass Ihr Antrag
meinen Vorstellungen inhaltlich recht nahe kommt. Of-
fenbar wurde Ihr Antrag – obwohl Sie in Niederbayern
parteipolitisch gar nicht existieren – durch Sachverstand
direkt aus der Region gespeist. Nein – ich kritisiere das
gar nicht. Ich finde das nur bemerkenswert und im Sinne
eines staustufenfreien Ausbaus der Donau sogar für sehr
erfreulich. Ich hoffe nur, wenn es zum Schwur kommt,
dass Ihre Fraktion dann auch geschlossen dementspre-
chend abstimmen wird.
Dennoch: Ihr Antrag kommt meines Erachtens zu früh.
Ich werde daher zum jetzigen Zeitpunkt für eine Ableh-
nung votieren. Es muss uns, wie oben bereits erwähnt, um
eine fundierte und breit angelegte Entscheidungsfindung
im Deutschen Bundestag gehen. Wir sollten da zunächst
einmal die Ergebnisse der zitierten Expertenanhörung ab-
warten. Mit Schnellschüssen können wir das Heer der
Ewiggestrigen, der Betonlobby, der Trickser und Manipu-
lierer ebenso wenig für uns gewinnen wie die vielen Ver-
nünftigen aus den Reihen der Binnenschiffer. Gleiches
gilt für die Abgeordneten hier in diesem Hause. Der
Schuss könnte zu leicht nach hinten losgehen. Wir brau-
chen eine breite und qualifizierte Mehrheit für den rich-
tigen Umgang mit der Arche Noah und Wasserstraße
„Donau“ sowie den dafür nötigen Haushaltsmitteln.
Dafür müssen wir uns aber die Zeit nehmen, die Dinge
verantwortungsbewusst und sachgerecht im Deutschen
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20695
(C)
(D)
(A)
(B)
Bundestag zu diskutieren. Die Zukunft der niederbayeri-
schen Donau und die dort lebenden Menschen haben es
verdient.
Renate Blank (CDU/CSU): Um es gleich zu Anfang
zu sagen: Die PDS-Fraktion ist mit dem vorliegenden An-
trag auf dem falschen Dampfer und trägt lediglich zur fast
„unendlichen Geschichte“ des Donauausbaus bei, ohne
jedoch etwas inhaltlich Neues zu bieten. Das kann man
von den SED-Erben wohl auch nicht verlangen. Also han-
delt es sich um einen reinen „Schaufenster“-Antrag.
Wenn die PDS heute eine Staustufenlösung, trotz der
Ergebnisse des Gutachtens zum Donauausbau, aus „öko-
logischen Gründen“ kategorisch – wenn es nicht um die
PDS ginge, würde ich fast sagen, gerade zu mit religiöser
Inbrunst – ablehnt, dann torpediert sie damit die deutsche
Binnenschifffahrt! In diesem Zusammenhang sei ange-
merkt, dass es wenig glaubwürdig ist, wenn die Honecker-
Erben vorgeben, die Grünen ökologisch noch links über-
holen zu wollen; die ökologische Katastrophe in der
damaligen DDR, der Schaden an Natur und Mensch, die
Verseuchung der Flüsse unter Verantwortung der PDS-
Vorgänger spricht eine deutliche Sprache. Dies sei noch
einmal in Erinnerung gerufen.
Wenn sich die PDS in dem Antrag gegen einen not-
wendigen Ausbau festlegt, dann muss sie den Menschen
gleichzeitig sagen: Ihre Lösung bedeutet automatisch ein
„Ja“ zu einem zunehmenden LKW-Verkehr auf der Straße
und setzt die Existenz von Binnenschifffahrtsunterneh-
men und vieler Arbeitsplätze aufs Spiel!
Der Ausbau der Main-Donau-Wasserstraße wurde be-
reits seit 1921 in einer Reihe von Verträgen zwischen dem
Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik Deutschland
und dem Freistaat Bayern festgelegt. Als man erkannte,
dass das angestrebte Ausbauziel zwischen Regensburg
und Vilshofen mit einer Niederwasserregulierung nicht
erreichbar war, beschlossen die Vertragspartner 1966,
auch diesen Streckenabschnitt mit Staustufen auszu-
bauen. Nachdem der Ausbau der insgesamt 750 Kilome-
ter langen Main-Donau-Wasserstraße bis auf den 69 Ki-
lometer langen Donau-Abschnitt zwischen Straubing und
Vilshofen abgeschlossen war, entwickelte sich Anfang der
90er-Jahre eine heftige Diskussion darüber, ob nicht auch
mit rein flussregelnden Maßnahmen – also unter Verzicht
auf Staustufen – die Schifffahrtsverhältnisse in diesem
Nadelöhr hinreichend verbessert werden könnten.
So beschlossen 1996 der damalige Bundesverkehrsmi-
nister Wissmann und der bayerische Ministerpräsident
Stoiber die Durchführung vertiefter Untersuchungen, de-
ren Ergebnisse als Grundlage für die politische Entschei-
dung dienen sollten.
Im März diesen Jahres haben Vertreter der Donauan-
rainerstaaten in einer Konferenz im Bayerischen Ver-
kehrsministerium bekräftigt, dass nur ein Ausbau mit ei-
ner durchgehenden Abladetiefe von 2,5 Metern für die
Schifffahrt entscheidenden verkehrstechnischen Nutzen
für die gesamte Strecke hat und deshalb mit Nachdruck
angestrebt werden muss.
Interessant ist: Der PDS-Antrag erwähnt mit keinem
Wort, dass der Donauabschnitt zwischen Vilshofen und
Straubing nicht isoliert gesehen werden darf. Schließlich
geht es hier um die Binnenschifffahrtsverbindung zwi-
schen Nordsee und Schwarzem Meer. Die Donau ist die
Verkehrsalternative der Zukunft und nach der Länge der
zweitgrößte, nach der Wasserführung der bedeutendste
Strom Europas. Dies und die Verbindung über die Main-
Donau-Wasserstraße zum Rhein qualifizieren sie zu der
einzigen Binnenwasserstraße im Netz der paneuropäi-
schen Verkehrskorridore. Die künftige verstärkte Ver-
kehrsnutzung der Donau und der Rhein-Main-Donau-
Wasserstraße, insbesondere auch im Hinblick auf die
MOE-Staaten, ist volkswirtschaftlich unverzichtbar. Ab-
hängig von der politisch-wirtschaftlichen Erholung im
unteren Donauraum wird der Güterverkehr im Verkehrs-
korridor der Donau zwischen dem gemeinsamen Markt
der Europäischen Union und den donaueuropäischen
Ländern stark und nachhaltig wachsen. Eisenbahn- und
Straßengüterverkehr stoßen zunehmend an Grenzen. Die
Donau eröffnet die Chance, wachsende Verkehre wirt-
schaftlich günstig und ökologisch schonend aufzunehmen
und verbindet als Rückgrat des europäischen Gütertrans-
portsystems bedeutende nationale und internationale
Wirtschaftszentren, in deren Einzugsbereich 220 Milli-
onen Menschen leben. Von Straubing bis Vilshofen
erstreckt sich über 69 Flusskilometer jedoch leider ein
„Nadelöhr“, das die Schifffahrt auf der gesamten Donau-
Wasserstraße erheblich beeinträchtigt. Diese geringen Ki-
lometer sind der Störfaktor beim Aufbau einer europä-
ischen Logistikkonzeption.
Meine Damen und Herren von der PDS, auch wenn Sie
es nicht wahrhaben wollen: Entscheidend bleibt langfris-
tig die freie Wahl der Verkehrsnutzer. Sie orientiert sich an
den Transportkosten der Verkehrswege und ihrer Zuver-
lässigkeit, das heißt der Möglichkeit, sie in Logistiksys-
teme einzubinden. Für die Wasserstraße und speziell die
Donau bedeutet dies, dass Verkehrswachstum und Ver-
kehrsverlagerung nur dann erfolgreich sein werden, wenn
das System Wasserstraße mit den landseitigen Zu- und Ab-
läufen systematisch optimiert wird. Auch für die Donau
gilt: Jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Ein-
zelne Engpässe begrenzen die Auslastung und damit so-
wohl die Wirtschaftlichkeit wie die ökologische Qualität
der Binnenschifftransporte. Da die Transportentfernungen
bedeutend sind, ist dies besonders schwerwiegend.
Das Ifo-Institut München untersuchte im Auftrag der
Bayerischen Staatsregierung die Reaktionen des Marktes
auf Niedrigwasser der deutschen Donau im Abschnitt
Straubing–Vilshofen in den Jahren 1997/1998. Demnach
gingen ein Drittel des echten Binnenschiffsverkehrs auf
Bahn und LKW. 80 Prozent der Betroffenen erklärten,
nicht mehr das Schiff zu benutzen, solange das Risiko der-
art gravierender Leistungseinschränkungen des Wasser-
weges bestehe. Die Wasserstandsschwankungen sind
doppelt so hoch wie im Rheingebiet. Im Wechselverkehr
zwischen dem Rhein und der Donau ist die Auslastung der
Schiffe – soweit sie die Engpassstelle passieren müssen –
deshalb um über ein Drittel geringer als am Mittel- und
Oberrhein. Die Unfallhäufigkeit im Flaschenhals Strau-
bing–Vilshofen liegt fünffach höher als in der Gebirgs-
strecke des Mittelrheins.
Ich habe ja durchaus Verständnis für die Besorgnis, die
ich aber keinesfalls teile, dass mit einem Ausbau der Do-
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120696
(C)
(D)
(A)
(B)
nau nachteilige Eingriffe in die Landschaft verbunden
sein könnten. Der Engpass auf dem Abschnitt zwischen
Straubing und Vilshofen bedeutet auf jeden Fall erhebli-
che Einschränkungen für die Binnenschifffahrt.
Ich erinnere mich allerdings noch sehr gut, wie groß
die Widerstände seinerzeit beim Bau des Main-Donau-
Kanals waren, als es um die Eingriffe im Altmühltal ging.
Nach den vielen Jahren seit Fertigstellung des Kanals hat
sich gezeigt, dass die landschaftspflegerischen Begleit-
maßnahmen nicht nur zu einem Ausgleich der Eingriffe
geführt haben, sondern die Landschaft durch eine insge-
samt gelungene Einbettung der Wasserstraße sogar berei-
chert wurde. Auch wasserwirtschaftlich sind durch den
Kanalbau keine nachteiligen Auswirkungen festgestellt
worden.
Wir müssen uns daher bei allen Streitigkeiten auf die
Fakten besinnen: Die Schifffahrt benötigt zur Erfüllung
ihrer transportlogistischen Funktionen dringend eine
ganzjährig garantierte Abladetiefe von mindestens
2,50 m. Diese Mindestabladetiefe, die keineswegs eine
Maximalforderung, sondern ja bereits einen Kompromiss
darstellt, schafft die unabdingbaren Voraussetzungen für
die dringend notwendigen Verkehrsverlagerungen von
der Strasse auf den umweltfreundlichen Verkehrsträger
Binnenschiff. Nur dadurch können durchgängige interna-
tionale Logistikketten verlässlich ermöglicht werden. Da-
mit entscheidet man übrigens automatisch auch im Sinne
der Ökologie. Die wissenschaftlich erstellten Gutachten
der ,,Vertieften Untersuchungen“ bestätigen die ökonomi-
sche und ökologische Notwendigkeit des geforderten
Ausbauziels. Aus Sicht der Schifffahrt lässt der Schluss-
bericht im Hinblick auf die Variante A an Deutlichkeit
nichts zu wünschen übrig: Bei einem Ausbau mach Vari-
ante A bleiben die Verhältnisse an der Donau an 336 Ta-
gen – zum Teil deutlich – schlechter als am Rhein. Der sta-
tistische Zugewinn von 20 Zentimeter Abladetiefe bei
Niedrigwasser ist für die Schifffahrt irrelevant. Durch den
Einbau einer größeren Zahl von Buhnen und Leitwerken
sowie die erhöhte Fließgeschwindigkeit würde die Gefahr
von Havarien noch weiter steigen. Eine weitere Folge der
zahlreichen Einbauten wäre eine Erhöhung des Hochwas-
sers um 20 Zentimeter!
Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Der Antrag
der PDS-Fraktion zeigt eigentlich sehr deutlich, dass sie
und die Bundesregierung nicht den Mut zum Handeln
haben.
Der Donauausbau ist bei Rot-Grün umstritten, weshalb
versucht wird, das Thema nun mit einer Anhörung, die im
Februar nächsten Jahres stattfinden wird, zu verschlep-
pen. SPD und Grüne vor Ort – in Bayern – sind anderer
Meinung als der Verkehrsminister, der mal wieder zwi-
schen den Stühlen sitzt und deshalb lieber untätig bleibt.
Die Fachleute sind sich einig, dass ohne den Donau-Aus-
bau keine Verlagerung auf den umweltfreundlichen Ver-
kehrsträger Binnenschiff erfolgen kann. Verkehrsminister
Bodewig muss endlich auf den bayerischen Staatsminis-
ter zugehen und mit ihm besprechen, was zu tun ist und
wie der Vertrag von 1996 zu erfüllen ist. Alle Vorarbeiten
sind gemacht, jetzt ist die Bundesregierung am Zug!
Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Donau ist im Abschnitt Straubing–Vilshofen
der letzte frei fließende Abschnitt im schiffbaren Bereich
der deutschen Donau. Die außergewöhnliche Vielfalt an
Lebensräumen sorgt für einen selten gewordenen Reich-
tum von Flora und Fauna am und im Fluss. Auf einem
halben Prozent der Landesfläche Bayerns kommen
54 Prozent der gefährdeten und vom Aussterben bedroh-
ten Vogelarten und 85 Prozent der bedrohten Fischarten
vor. Voraussetzung für den hohen ökologischen Wert der
Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist die natür-
lich erhaltene Dynamik des Flusses. Nach erheblichem
Druck von Bundesumweltminister Trittin auf die Bayeri-
sche Staatsregierung rang sich diese nach zahlreichen
Widerständen doch noch durch und meldete große Teile
der Donauauen im betroffenen Bereich als FFH-Gebiet
nach Brüssel. Auch wenn infolge der Meldung die Do-
nauauen noch nicht unter besonderem Schutz stehen, be-
steht – sowohl nach europäischem wie deutschem Recht –
die Verpflichtung, sich nicht in Widerspruch zu
vorausgegangenem Verhalten zu setzen. Das heißt, die
Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist in einem
Zustand zu erhalten, der eine endgültige Schutzgebiets-
ausweisung rechtfertigt.
Demgegenüber stehen jedoch Schifffahrtsinteressen.
Der 69 km lange Stromabschnitt ist eine der letzten ver-
bliebenen Wasserstraßenabschnitte, der insbesondere bei
Niedrigwasser zu erheblichen Problemen hinsichtlich der
Fahrrinnentiefe führt. Weiter ist der Abschnitt in Teilbe-
reichen nur einspurig befahrbar, ein Begegnungsverkehr
daher nur eingeschränkt möglich. Die rot-grüne Bundes-
regierung hat sich bereits in der Koalitionsvereinbarung
darauf festgelegt, durch Überarbeitung des Bundesver-
kehrswegeplans Verlagerungsmöglichkeiten hin zu um-
weltverträglichen Verkehrsträgern wie Bahn und Binnen-
schiff zu fördern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der
Wasserstraßentransport auf der Donau derzeit durch die
weitgehende Sperrung der unteren Donau – in Novi Sad
liegen aus dem Kosovo-Krieg bekanntlich immer noch
die Brücken im Fluss – niedriger als möglich und üblich
ist. Vor dem Kosovo-Krieg haben insbesondere die ost-
europäischen Staaten Rumänien, Bulgarien, Ukraine und
Moldawien ihren Verkehr mit der EU zu einem hohen
Prozentsatz auf der Donau abgewickelt und dies wird
auch in Zukunft wieder möglich sein. Trotzdem ist im ers-
ten Halbjahr 2001 in den bayerischen Donauhäfen der
Schiffsumschlag um fast 15 Prozent angestiegen. Dem
trug die EU zwischenzeitlich Rechnung: Die Donau wurde
in die transeuropäischen Netze aufgenommen.
Als wenn dies der Probleme noch nicht genug wäre,
muss auch die vertragsrechtliche Situation gewichtet wer-
den. Die im Zusammenhang mit der Übernahme der Was-
serstraßen im Jahre 1921 durch das Reich übernommene
Verpflichtung zu Unterhalt und Ausbau der Donau ist
nach dem Krieg auf den Bund übergegangen. Im gleichen
Jahr wurde zwischen Bayern und dem Reich ein Vertrag
über den Ausbau der Main-Donau-Wasserstraße – jedoch,
und dies wird für die Beurteilung der Ausbaupflichten un-
ter der gegebenen Haushaltssituation von besonderer Be-
deutung sein, unter Finanzierungsvorbehalt der Finanz-
lage von Reich (heute Bund) und Land – geschlossen.
Bestätigt und weiter entwickelt wurde die vertragsrechtli-
che Situation im Duisburger Vertrag von 1966. Rechtlich
problematisch kann hier die Frage sein, ob unter dem
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20697
(C)
(D)
(A)
(B)
Begriff „Kanalisierung“ wirklich nur ein Ausbau mit
Schleusen zu verstehen ist – wie der Freistaat Bayern
meint – und, wenn ja, ob nicht aufgrund geänderter natur-
und umweltrechtlicher Bestimmungen eine Anpassung
des Vertrages zu erfolgen hat.
Verbleibt die Haushaltssituation des Bundes, die auf-
grund der Haushaltspolitik der CDU/CSU-geführten
Kohl-Regierung die Bundesschulden in unerträgliche
Höhen anwachsen ließ: Gerade dieser Grund zwingt zu
vom Kosten-Nutzen-Verhältnis geprägtem Ausbau. Der
Schlussbericht der Wasser- und Schifffahrtsdirektion gibt
bereits einen deutlichen Hinweis auf eine Ausbauvariante,
die der besonderen Problematik Rechnung trägt.
Wir, die gewählten Abgeordneten müssen und wollen
versuchen, noch offene Fragen zu klären, um eine sach-
gerechte Lösung zu finden. Wir sind es, die bei Aufstel-
lung des Bundeshaushalts unter Berücksichtigung der
Haushaltssituation die letztendliche Entscheidung haben
werden. Eine Expertenanhörung der entsprechenden Bun-
destagsausschüsse wird uns die Grundlage dafür liefern.
Hans-Michael Goldmann (FDP): Den heutigen Ta-
gesordnungspunkt „Ausbau der Donau zwischen Strau-
bing und Vilshofen ökologisch gestalten“, wie die PDS
meint, könnte man auch mit „Die unendliche Geschichte“
überschreiben – nur dass diese Geschichte nicht ansatz-
weise so angenehm zu lesen ist wie das literarische Werk.
Immer wieder wird von Vertretern aller Parteien be-
tont, dass die notwendige Verkehrsverlagerung keines-
wegs nur allein mit der Eisenbahn abgehandelt werden
kann, sondern dass die Binnenschifffahrt der eindeutig
ökologisch wertvollste Verkehrsträger ist. Trotzdem müs-
sen wir leider feststellen, dass der Marktanteil der Bin-
nenschifffahrt rückläufig ist und in Ostdeutschland sinkt,
wie jetzt wieder in dem Bericht vom BMVBW über die
Zukunft der deutschen Binnenschifffahrt unzweifelhaft
zu lesen ist. Als Hauptursachen sind der mangelhafte
Ausbau des Wasserstraßennetzes speziell in den neuen
Ländern und die fehlende Harmonisierung im europä-
ischen Wettbewerb festgestellt worden. Und hier reiht
sich die traurige unendliche Geschichte des Flaschenhal-
ses innerhalb der Donau zwischen Straubing und Vilsh-
ofen nahtlos und problemauslösend für die deutsche Bin-
nenschifffahrt ein.
Ich erinnere mich noch, wie der Beschluss der damali-
gen Bundesregierung und der bayerischen Staatsregie-
rung, den Main-Donau-Kanal zu bauen, beim politischen
Gegner Empörung, Hohn und Spott auslöste. Da war von
geschönten Verkehrsprognosen die Rede und die Ent-
scheidung war dem Spott bekannter Kabarettisten ausge-
setzt. Inzwischen zeigt sich, dass die Prognosen bei wei-
tem übertroffen wurden. Und Ähnliches sage ich für den
fehlenden Donausausbau voraus. Wohl noch kein deut-
sches Verkehrsprojekt wurde so lange geprüft, begutach-
tet, debattiert, hin und her geschoben, kleingeredet, groß-
gesprochen wie diese knapp 70 km lange Strecke der
Donau zwischen Straubing und Vilshofen.
Überhaupt keine Frage – ich bin ja völlig damit ein-
verstanden – dass man natürlich nicht blindlings in die
Natur eingreift und alles genau und genauestens prüft.
Doch irgendwann muss die Politik auch einmal entschei-
den. Seit einem halben Jahr liegt nun der Abschlussbericht
der WSD Süd vor und noch immer ist keine Entscheidung
getroffen worden, weil die Ressortabstimmung zwischen
BMVBW und BMU aussteht und auch das Land Bayern
weiter prüfen will.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
hat gestern beschlossen, eine öffentliche Anhörung zum
Donauausbau durchzuführen. Aber ich frage mich: Wel-
che neuen Erkenntnisse erhofft sich Rot-Grün nun eigent-
lich durch diese erneute Anhörung? Die Fakten stehen
doch seit langem fest: Wir haben einen knapp 70 km lan-
gen so genannten Flaschenhals, der die Binnenschifffahrt
auf diesem Teilabschnitt erheblich belastet, der Kosten
verursacht und den Verkehr auf die Straße verlagert. Jeder
weiß, um den Verkehr in nennenswerter Größenordnung
auf das Wasser zu bringen, benötigt die Binnenschifffahrt
eine ganzjährige Abladetiefe von 2,50 Meter. Diese Abla-
detiefe ist mit einem sogenannten ökologischem Super-
ausbau nicht zu erzielen. Wir brauchen also zwei Staustu-
fen und diese Staustufen sind auch vertretbar, zumal die
ökologische Ausgleichsmaßnahmen zwingend Bestand-
teil eines solchen Ausbaus sein müssen.
Ich weiß nun wirklich nicht mehr, welche neuen Er-
kenntnisse man sich angesichts dieser Fakten noch er-
hofft. Die Parlamentariergruppe Binnenschifffahrt war an
der Donau; wir wissen um die Dinge. Ich finde es nicht
gut, dass man die Motivation für dieses erneute Prüfver-
fahren spürt. lm März steht eine Kommunalwahl in Bay-
ern an und im September eine Bundestagswahl. Man
glaubt, den Bürgern eine Pro-Ausbau-Entscheidung nicht
zumuten zu können. Aber ich denke, dass so Politik ihrer
Gesamtverantwortung nicht gerecht wird.
Ich bekenne mich hier ausdrücklich für die Ausbau-
variante D und ich werde mich weiterhin für eine schnelle
Umsetzung dieser Empfehlung einsetzen. Ich halte alles
andere gegenüber den Binnenschiffern für unverantwort-
lich. Und ich appelliere hier ganz bewusst an die Kolle-
ginnen und Kollegen aus der Parlamentariergruppe Bin-
nenschifffahrt. Machen Sie endlich Nägel mit Köpfen! Ja,
Frau Faße, hier sind Sie ganz besonders gefordert.
Leider gibt es noch immer keine Mitteilung der Bun-
desregierung darüber, wann endlich die Ressortabstim-
mung zwischen dem BMVBW und dem BMU zum Ab-
schlussbericht der WSD Süd vorliegen wird. Ich halte die
Verzögerungspolitik der Bundesregierung für einen Skan-
dal und für einen Schlag ins Gesicht der deutschen Bin-
nenschifffahrt. Jeder, der überhaupt nur einigermaßen
gucken kann, der weiß: Die Donau ist eine der wichtigsten
Wasserstraßen Europas. Ich bin sicher, wenn es sich um
eine Autobahn handeln würde, dann wäre eine vergleich-
bare Engstelle schon längst beseitigt. Ich bin traurig und
empört darüber und verstehe die Verärgerung in der Bin-
nenschifffahrt, weil die Bundesregierung sich nur in Sonn-
tagsreden zur Binnenschifffahrt bekennt, aber kaum Taten
folgen lässt. Es reicht eben nicht, immer wieder den öko-
logischen Nutzen der Binnenschifffahrt herauszustellen
und ihr in einem Punkt wie dem absolut notwendigen Aus-
bau der Donau die nötigen Rahmenbedingungen zu ver-
weigern.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 200120698
(C)
(D)
(A)
(B)
Rot-Grün verspielt Chancen der deutschen Binnen-
schifffahrt. Das ist nicht hinzunehmen. Ich fordere den
Ausbau der Donau im Flaschenhals zwischen Straubing
und Vilshofen jetzt.
Dr. Winfried Wolf (PDS): Das Projekt Donauausbau
zwischen Straubing und Vilshofen steht vor Beginn des
Raumordnungsverfahrens. Dieser Flussabschnitt ist eines
der letzten frei fließenden und naturnahen Bereiche der
Donau. Seit Jahrhunderten wird der Fluss eingezwängt,
abgesperrt und umgeleitet. Angeblich gut für die Schiff-
fahrt, aber mit Sicherheit verheerend für die natürliche
Umwelt. Nun versprechen wiederum Staustufen die Lö-
sung aller Probleme für die Binnenschiffer. Es sei ökolo-
gisch, weil Transport auf dem Wasser statt auf der Straße
stattfindet, es schaffe Arbeitsplätze und damit Einkom-
men.
Ein schönes Bild, nur es ist ein Zerrbild. Die PDS ist
mit den Umweltverbänden der Überzeugung: Aufgrund
der herausragenden Bedeutung dieses Gebietes für den
Natur-, Arten- und Ressourcenschutz, aber auch aus fi-
nanziellen und verkehrspolitischen Gründen, ist ein Stau-
stufenausbau nicht hinnehmbar.
Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Es geht den
Befürwortern einer Staustufenlösung nicht in erster Linie
darum, den Fluss schiffbarer zu machen, sondern darum,
den an solchen Großprojekten partizipierenden Bau- und
Ausrüstungsfirmen lukrative Aufträge zu verschaffen.
Bei der geforderten Ausbautiefe von 2,80 bis 3,10 Me-
ter scheint an den Planungstischen niemand von Gedan-
ken einer kostengünstigen, geschweige denn umweltver-
träglichen Lösung belästigt worden zu sein. Das Ergebnis:
Eine ganzjährige Befahrbarkeit des Flusses wird ange-
strebt – koste es was es wolle. Besonders dann, wenn
Staatsknete jeden Kubikmeter Beton bezahlt und die Bi-
lanzen der Flussbauer vergoldet. Da sind die heiligen Re-
geln der Marktwirtschaft plötzlich vergessen.
Alternative Untersuchungen, die jedoch vom Ver-
kehrsministerium schlichtweg ignoriert werden, zeigen,
dass gegenüber dem Ist-Zustand auch mit schonenden
flussbaulichen Mitteln der Wasserstand deutlich erhöht
werden kann. An mindestens 90 Prozent der Tage im Jahr
beträgt dann die Fahrrinne 2,50 Meter. Die erreichbare
Abladetiefe ist dann im Abschnitt Straubing–Vilshofen
mindestens gleichwertig mit den Ablademöglichkeiten
am Mittelrhein und der österreichischen Donau. Die er-
reichbaren Fahrrinnenbreiten betragen bis auf zwei kurze
Engstellen mit circa 65 Metern auf der gesamten Strecke
circa 70 Meter und gewährleisten damit die Sicherheit des
Schiffsverkehrs.
Das prognostizierte Güteraufkommen kann schon mit
der Variante Ades gemeinsamen Berichts des Bundes und
des Freistaates Bayern über den weiteren Ausbau der Do-
nau problemlos bewältigt werden. Die verbesserte Vari-
ante A der flussbaulichen Lösung, wie sie Prof. Bernhardt
vom Institut für Wasserbau- und Kulturtechnik in Karls-
ruhe vorgeschlagen hat, besitzt darüber hinaus noch zu-
sätzliche Kapazitäten.
Zudem weist schon die Variante A das beste Nutzen-
Kosten-Verhältnis auf. Sie ist fast eine halbe Milliarde
DM billiger als der Staustufenausbau.
Nur die flussbauliche Optimierung des Ist-Zustandes
stellt einen vergleichsweise schonenden und zumutbaren
Eingriff in den Flusslauf der Donau dar. Nur für diese Va-
rianten ist absehbar, dass sie den hohen Anforderungen
der europäischen Vogelschutz- und Flora-Fauna-Habitat-
Richtlinie (FFH-Richtlinie) entsprechen.
Schließlich geht es um empfindliche und einmalige
Flussauen, um die Arche Noah der bayerischen Donau.
Hier leben auf 0,4 Prozent der Fläche Bayerns über
65 Prozent aller heimischen Vogelarten. Bis zu 50000 Was-
servögel rasten dort im Winter. Über 50 verschiedene
Fischarten – fast so viele, wie vom gesamten Rhein bis an
die Mündung – leben in diesem Flussabschnitt! Stausstu-
fen, wie sie die Varianten C, D1 und D2 vorsehen, würden
zudem die Gefahr von Hochwassern erhöhen. Durch sie
würden die Retentionsräume eingeschränkt und durch die
Glättung der Abflussrinne eine Beschleunigung und Er-
höhung potenzieller Hochwasserwellen bewirkt werden.
Ohne kostenintensive Gegenmaßnahmen würde damit für
die im Unterlauf der Donau wohnenden Menschen, ins-
besondere für den Raum Passau, die Gefahr und die Di-
mension von Überschwemmungen steigen.
Letztlich müssten langfristig auch die Schiffe den
Flüssen und nicht die Flüsse den Schiffen angepasst wer-
den. Durch den Einsatz von tendenziell kleineren Schif-
fen könnten Güter flexibler, umweltschonender und
schneller transportiert werden. Somit könnten auch klei-
nere Häfen angesteuert werden, um Ladung zu löschen
oder aufzunehmen. Beispielsweise wären in diesem Fall,
vergleichbar den Gleisanschlüssen bei der Bahn, Häfen
an Produktionsorten vorstellbar. Dies könnte den erheb-
lichen Hinterlandverkehr, der mit der Binnenschifffahrt
häufig verbunden ist, vermindern und andererseits die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschifffahrt
steigern. Somit würden tatsächlich Arbeitsplätze ge-
schaffen.
Wir meinen, dies alles sind genug Argumente für einen
schonenden, flussbaulichen Ausbau der Donau, wie wir
ihn in unserem Entschließungsantrag vorschlagen.
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20699
(C)
(D)
(A)
(B)
Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin