Rede von
Dr.
Hansjürgen
Doss
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Erlauben Sie mir,
meine lieben Kollegen von der rotgrünen Koalition, daß
ich einmal Ihre Vorstellungskraft bemühe. Schauen wir
einmal, inwieweit Sie in die realistische Welt der Mittel-
ständler eintauchen können. Schauen wir einmal, ob Sie
in der Lage sind, zu begreifen, was 3,4 Millionen Selb-
ständige angesichts des Steuerwirrwarrs, das ihnen im
Augenblick geboten wird, empfinden. Ihnen stellt sich
die Frage, ob sie investieren sollen und wie sie ihre Zu-
kunft gestalten sollen.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären ein mittelstän-
discher Unternehmer, müßten investieren, Arbeitsplätze
schaffen und Ihr Tun verantworten. Stellen Sie sich
einmal vor, Sie wären ein Bäckermeister und wollten in-
vestieren. Sie werden feststellen, eine Ermäßigung auf
die Energiesteuererhöhung gibt es erst ab einer willkür-
lich gezogenen Grenze von 50 000 Kilowattstunden pro
Jahr. Der Bäckermeister liegt im Zweifel darunter, zahlt
also die volle Steuererhöhung. Die Brotfabrik liegt im
Zweifel über dieser Grenze. Sie zahlt nur den ermäßig-
ten Satz der Steuererhöhungen. Was macht der Bäcker-
meister? – Er behält seinen alten Ofen und heizt seine
Backstube zusätzlich, damit er über die 50 000 Kilo-
wattstunden kommt.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären ein mittelstän-
discher Spediteur. Der Fahrer bekommt 56 000 DM
Bruttolohn; den Beitrag zur Rentenversicherung will
Rotgrün um 0,8 Prozentpunkte senken, davon entfallen
0,4 Prozentpunkte Einsparungen auf den Arbeitgeber,
also 224 DM im Jahr. Bei 100 000 Kilometern Fahrlei-
stung des LKWs erhöht sich die Mineralölsteuerbela-
stung um 2 100 DM. Die Steuererhöhungen liegen also
um den Wert zehn höher als die Einsparungen beim
Rentenbeitrag.
Ich frage Sie: Würden Sie unter diesen Umständen
investieren und dafür haften, wie dies ein Bäckermeister
oder Spediteur machen müßte?
Die rotgrüne Steuerpolitik ist zweifelsfrei chaotisch.
Das dürfte unstrittig sein. Klar ist, daß der Mittelstand
höhere Steuern zahlen muß.
Dabei kennen wir nur die erste Stufe, meine Damen,
meine Herren. Zwei weitere sollen folgen. Was die brin-
gen, weiß kein Mensch. Zirka 30 Prozent der Unterneh-
mer in Bayern haben laut IHK deswegen ihre Investitio-
nen zurückgestellt. Es ist doch ganz klar, daß derjenige,
der investiert und Verantwortung trägt, wissen muß, auf
was er sich einläßt. Bei Ihnen weiß er das nicht.
Stellen Sie sich vor, Sie wären im Gemeinderat.
Städte, Gemeinden und Kreise betreiben Schulen,
Schwimmbäder, Fuhrparks usw. Die Energiekosten
werden dort durch die rotgrüne Ökosteuer um
10 Prozent steigen. Von den Entlastungen profitieren sie
demgegenüber außer von einem geringfügigen Anstieg
des Anteils der Länder an der Mehrwertsteuer nicht.
Unterm Strich vermindert das die Investitionskraft der
Kommunen. Das heißt: weniger Aufträge, weniger Ar-
beit, weniger Arbeitsplätze.
Ihre Ökosteuerpläne führen in die Irre. Sie führen zu
Inflation, weil die höheren Kosten, wo es geht, an die
Verbraucher weitergegeben werden. Sie vermindern die
Kaufkraft der privaten Haushalte, die heute schon mehr
als 1 000 DM pro Kopf und Jahr für Energieabgaben
zahlen. Sie verkomplizieren das Steuerrecht noch mehr;
schon Helmut Schmidt konnte seine Stromrechnung
nicht mehr lesen, wie Sie sich vielleicht erinnern. Dem
Jörg-Otto Spiller
662 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1998
(C)
nächst brauchen alle Handwerksmeister einen Diplom-
Energiesteuervermeidungsingenieur oder zumindest einen
Diplom-Energiesteuersonderberater, weil sie selbst gar
nicht mehr durchschauen.
Das rotgrüne Energiesteuerprogramm – „Konzept“
wäre zuviel gesagt – ist schizophren, da es den hohen
Verbrauch begünstigt. Ihre Pläne sind ungerecht: Sie
schonen die Industrie und belasten den Mittelstand. Die
Grenzwerte in Ihren Plänen – Steuerbefreiung ab
6,4 Prozent Energiekostenanteil – sind willkürlich ge-
setzt; sie laden zu Manipulationen und Umgehungsstra-
tegien ein.
Neben der Energiesteuer hat Bundeskanzler Schröder
als Weihnachtsmann für den Mittelstand, seine Neue
Mitte, einen ganzen Sack voller Präsente: neue Strom-
steuern, höhere Steuern auf Benzin, höhere Steuern auf
Heizöl, höhere Steuern auf Gas, höhere Mehrwertsteuer
ja oder nein – wir befürchten ja –, Verlustrücktrag ab
2001 gestrichen, Ansparabschreibung gestrichen, Teil-
wertabschreibung gestrichen, Rentenreform zurückge-
nommen, Gesundheitsreform zurückgenommen, Ar-
beitsmarktreformen zurückgenommen.
Jeder Schritt für sich genommen ist schlimm. In der
Summe ist es für den Mittelstand ruinös.
Die Quintessenz, meine Damen, meine Herren: Sie
sollten das, was Sie uns hier vorgelegt haben, zurück-
ziehen. Es geht hier nicht allein um Parteipolitik, son-
dern es geht um die Existenz von 3,4 Millionen Selb-
ständigen in Deutschland. Was Sie hier betreiben, ist
unverantwortlich.