Rede von
Cem
Özdemir
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich
wurde gerade zu Recht darauf hingewiesen, daß das
Thema Öcalan nicht von uns eingeführt wurde. Aber be-
vor ich auf die Ausführungen des Kollegen Westerwelle
eingehe, möchte ich auf die PDS-Kollegin antworten.
Ich bin jemand, der von den türkischen Nationalisten
via türkische Presse sehr heftig attackiert wird, weil ich
angeblich kurdennah sei. Wenn mich die PDS angreift,
daß ich auf der anderen Seite stehe, dann ist das, was ich
mache, glaube ich, so falsch nicht. Ich denke, wir haben
allen Grund dazu, beide Seiten gleichermaßen zu kriti-
sieren. Ich habe das bei jeder Gelegenheit gemacht. Das
wissen Sie, wenn Sie die Presse verfolgt haben. Als ich
damals beispielsweise die Einrichtung dieses Strafge-
richtshofes vorgeschlagen habe, übrigens bereits sehr
frühzeitig – ich glaube, Herr van Essen hat diese Äuße-
rung in einer Erklärung begrüßt –, habe ich ausdrücklich
gesagt, daß Herr Öcalan zur Rechenschaft gezogen wer-
den muß.
Aber ich habe beispielsweise auch Herrn Necdet
Menzir genannt, den ehemaligen Polizeichef von Istan-
bul. Ich habe Mehmet Agar genannt, den ehemaligen
Innenminister der Republik Türkei, der, wie Sie wissen,
in Mafiaverbindungen und sonstige Machenschaften
verwickelt ist, die im türkischen Parlament aufgedeckt
worden sind. Ich habe den General der Putschisten des
Jahres 1980 in der Türkei genannt, Herrn Evren. Sie alle
müßten im Grunde für ihre schrecklichen Menschen-
rechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden.
Gerade im Fall Necdet Menzir ist erwiesen, daß er sel-
ber aktiv an Folterungen teilgenommen hat. Eines seiner
Folteropfer ist in diesem Land gestorben.
Deshalb hoffe ich, daß eine demokratische Türkei ei-
nes Tages ihre Verfassung ändern wird und die Mög-
lichkeit schafft, daß die Menschen, die diese Menschen-
rechtsverletzungen zu verantworten haben, zur Rechen-
schaft gezogen werden können. Dafür werden wir uns
einsetzen. Aber ich glaube nicht, daß die Sache besser
wird, wenn man – das machen leider manche von Ihnen
Dr. Guido Westerwelle
624 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1998
(C)
in der PDS – die eine Seite der Menschenrechtsverlet-
zungen kritisiert und bei der anderen Seite wegschaut.
Aber jetzt zu den Äußerungen von Herrn Westerwel-
le. Sie haben recht mit dem, was Sie gesagt haben. Es ist
tatsächlich auch eine Abwägungsentscheidung. Die Re-
gierung hat eben auch eine innenpolitische Aufgabe.
Wir haben eine Verantwortung für diese Gesellschaft,
für alle Menschen, die in dieser Gesellschaft leben. Ich
glaube nicht, daß die Bundesregierung es sich hier sehr
einfach gemacht hat. Sie merken an unseren Äußerun-
gen, daß uns diese Sache sehr nahegeht. Wir werden
schauen müssen, daß wir beide Interessen unter einen
Hut bringen: auf der einen Seite das Interesse, daß der
Frieden in dieser Gesellschaft nicht bedroht wird, und
auf der anderen Seite das Interesse, daß wir die Chance
ergreifen, die darin liegt, daß Öcalan in Rom ist und
damit zur Rechenschaft gezogen werden kann, wodurch
gleichzeitig – das müssen wir im gleichen Atemzug sa-
gen – jetzt das politische Problem in der Türkei gelöst
werden kann, das nicht gelöst werden konnte, solange
Herr Öcalan dort war. Diese Chance muß jetzt ergriffen
werden.
Darum ist der Vorschlag bezüglich des Strafge-
richtshofes, Herr Kollege Westerwelle, keine Ausflucht,
sondern das ist ein wichtiger Vorschlag, eine gute Idee,
weil es das ist, was wir zukünftig brauchen werden. Wir
werden solche Fälle noch öfter haben. Je früher wir an-
fangen, weltweit die Instrumente zu schaffen, damit
Menschenrechtsverletzer, welcher Couleur, von welcher
Richtung und in welchem Land auch immer, zur Re-
chenschaft gezogen werden können, um so besser ist das
für die Zukunft der Menschen, die bei uns leben.
Letzter Punkt zu dem, was Sie bezüglich „Mehmet“
oder Muhlis bzw. Öcalan gesagt haben. Ich kann mich
dem, was Sie gesagt haben, völlig anschließen. Ich habe
das Problem, daß wir die Diskussion über dieses Thema
oft mit der Brille der 60er Jahre führen. Wir betrachten
die Zuwanderung nach wie vor als vorübergehende Er-
scheinung. Wir sehen nur die Probleme. Wir sehen nur
die Kriminellen, das heißt, wir sehen nur die Fälle, die
gescheitert sind. Was wir nicht sehen, sind die
90 Prozent, bei denen es klappt. Was wir nicht sehen, ist
der große Teil derer, bei denen das Zusammenleben er-
folgreich funktioniert. Wir sehen nicht die Studenten
und die Studentinnen, rund 10 000 allein unter den Men-
schen türkischer Herkunft.