Rede von
Cem
Özdemir
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte kurz
auf die aktuelle Diskussion eingehen, bevor ich zum ei-
gentlichen Anlaß unseres heutigen Zusammenseins
spreche. Ich glaube, daß wir uns alle im Hohen Hause
weitgehend darin einig sind, daß Herr Öcalan für die
Taten, die ihm vorgeworfen werden, zur Rechenschaft
gezogen werden muß. Auf die eine oder andere Weise
muß sich Herr Öcalan dafür rechtfertigen. Denn eines ist
klar: Man kann nicht die Kleinen hängen und die Gro-
ßen laufen lassen. Es wurden hier zu Recht Menschen
eingesperrt, die Abweichler umgebracht, Schutzgelder
erpreßt und Anschläge auf türkische Einrichtungen aus-
geübt haben.
Wir haben diese Taten gemeinsam hier im Hause verur-
teilt. Darum ist es klar, daß der Verantwortliche der
PKK-Organisation dadurch, daß es durch seine Einreise
nach Italien dafür eine Chance gibt, auf die eine oder
andere Weise zur Rechenschaft gezogen werden muß.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen
weiteren Punkt feststellen. Die Diskussion wäre dann
unvollständig, wenn wir parallel dazu nicht auch sagen
würden, daß die Türkei jetzt die Chance hat, ihren Teil
der Aufgaben zu erfüllen und ihren Teil zur Lösung des
Problemes beizutragen. Damit kein neuer Abdullah
Öcalan und keine neue PKK entsteht, muß die Türkei
innerhalb ihrer Grenzen das Kurdenproblem mit demo-
kratischen Mitteln lösen.
Wir wollen der Türkei gerne dabei helfen. In diesem
Punkt besteht Diskontinuität zur vorherigen Regierung.
Wir sagen prinzipiell ja zur Mitgliedschaft der Türkei in
der Europäischen Union. Aber wir wollen eine Türkei,
die die Menschenrechte einhält. Das ist der Teil, den die
Türkei zur Lösung des Problemes beitragen kann.
Jetzt komme ich zur Überleitung zu meinem eigentli-
chen Thema. Wir würden über das Thema PKK und
Öcalan ganz anders diskutieren, wenn wir früher gehan-
delt und dazu beigetragen hätten, die Nichtdeutschen in
diese Gesellschaft zu integretieren, einzubinden und ein-
zubeziehen. Wenn wir ihnen früher das Gefühl gegeben
hätten, daß das ihre Gesellschaft ist, hätten wir das ver-
hindern oder reduzieren können, was wir alle miteinan-
der in dieser Gesellschaft bedauern, nämlich daß sich ein
Teil der Menschen nichtdeutscher Herkunft von der Ge-
sellschaft abgewendet hat in Richtung Nationalismus
und religiösen Fundamentalismus. Das ist eine Minder-
heit; aber es gibt sie.
Deshalb bin ich froh, daß diese neue Regierung han-
deln und das Staatsangehörigkeitsrecht reformieren
wird. Es wird dazu beitragen, daß Kinder, die in dieser
Gesellschaft aufwachsen, zukünftig mit einem inländi-
schen Bewußtsein groß werden. Auch das ist ein Teil
Prävention, damit eine Überidentifikation mit Konflik-
ten aus dem Herkunftsland reduziert wird. Ich glaube,
das ist eine Sache, in der Sie uns unterstützen sollten.
Ich möchte etwas zum erfreulichen Teil sagen. Ich
begrüße es, daß sich die F.D.P. in den Chor derer ein-
622 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1998
(C)
reiht, die sagen, daß die Zuwanderung geregelt werden
muß, daß wir sie steuern und kontrollieren müssen. Wir
sind uns darüber im Prinzip über die Parteigrenzen hin-
weg einig. Ich muß allerdings dazu sagen: Sie machen
es uns als Regierungsabgeordnete leicht, Ihren Antrag
abzulehnen. Sie hätten es uns schwerer machen können,
Herr Kollege Westerwelle,
indem Sie ihn etwas anders formuliert hätten. Sie haben
im Grunde Ihren alten Antrag wieder neu aufgelegt. Da-
zu ist schon genug gesagt worden; die Kollegen haben
darauf hingewiesen. Die Verknüpfung mit der Familien-
zusammenführung, aber auch die Art, wie Sie die Wie-
derkehroption aufgenommen haben – über die Ge-
samtquote –, tragen wir als Regierung und natürlich
auch als Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht mit. Von
daher werden wir diesem Antrag nicht zustimmen.
Trotzdem hoffe ich, daß wir in der weiteren Debatte,
spätestens dann, wenn wir unsere Hauptaufgabe in die-
ser Legislaturperiode im Bereich der Integrationspolitik,
nämlich ein neues Staatsangehörigkeitsrecht zu verab-
schieden, hinter uns gebracht haben, auf der Grundlage
der Zahlen, die uns dann vorliegen, überlegen: Wie sieht
der weitere Bedarf aus? Wie kann Zuwanderung gere-
gelt werden? Welche gesetzlichen Instrumente brauchen
wir für die Zuwanderung? Haben wir alle Integrations-
aufgaben gelöst? – Lassen Sie uns dann den Versuch
starten, diese Fragen über die Parteigrenzen hinweg zu
regeln! Wir sind dazu bereit; das ist ein ernstgemeintes
Angebot. Aber natürlich brauchen wir dafür eine Oppo-
sition, die dieses Angebot annimmt.
Lassen Sie mich zum Schluß, weil meine Redezeit
fast abgelaufen ist, noch ein bißchen in unsere Vergan-
genheit zurückblicken. Ich glaube, daß wir auf dem Ge-
biet, auf dem wir uns gegenwärtig bewegen, schon ein-
mal weiter waren. Ich darf auf unverdächtige Zeugen
verweisen.