Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute in erster Lesung einen Ge-
setzentwurf der F.D.P., der die Regierungsfraktionen
zwingen soll, Farbe zu bekennen, wie es Herr Wester-
welle kürzlich formuliert hat. Das wollen wir heute auch
gerne tun.
Für die CDU und vor allen Dingen die CSU läßt sich
das Problem der Zuwanderung offensichtlich auf einen
einfachen Nenner bringen: Deutschland ist kein Ein-
wanderungsland, und deswegen brauchen wir auch kein
Einwanderungsgesetz, punktum. Wenn das alles so ein-
fach wäre, Herr Marschewski!
Eines steht fest: Das Problem einer gezielten Steue-
rung und Begrenzung der Zuwanderung eignet sich bei
genauer Betrachtung nicht zum populistischen Polarisie-
ren. Es gibt auch kein Patentrezept zu dessen Lösung,
wie manche in den letzten Wochen gemachte Äußerung
vermuten läßt.
Was wir beim Thema Zuwanderung brauchen, ist
eine vorurteilsfreie Diskussion über unser nationales
Selbstverständnis, über unsere Zielsetzungen bei der
Integration von Ausländern und über die Ängste, die mit
dem Thema Integration und Zuwanderung noch immer
verbunden sind. Auch Bundespräsident Herzog hat vor
kurzem zu Recht eine sachliche öffentliche Diskussion
über den Zuzug von Ausländern gefordert.
Woran mir deshalb ebenso wie Herrn Westerwelle
liegt, ist ein Beitrag zur Versachlichung. Ich möchte da-
her auf drei Fragen eingehen.
Erstens. Was meinen wir überhaupt, wenn wir von
Zuwanderung sprechen?
Zweitens. Brauchen wir ein Gesetz, das die Zuwande-
rung regelt?
Drittens. Wenn ja, welche Bedingungen sollten dafür
gelten, und wann sollten wir ein solches Gesetz verab-
schieden?
Zur ersten Frage: Was meinen wir überhaupt, wenn
wir von Zuwanderung sprechen? Im Bereich der Zu-
wanderungsdiskussion herrscht, wie es der verehrte
Kollege Özdemir treffend genannt hat, eine „babyloni-
sche Sprachverwirrung: jeder, der über das Thema dis-
kutiert, meint etwas anderes“. Deshalb scheint es mir
zunächst wichtig, uns klarzumachen, was mit einem
Zuwanderungsgesetz eigentlich gesteuert, begrenzt oder
ermöglicht werden kann.
Zur Zeit – das ist die Datenlage – kommen zwischen
300 000 und 400 000 Menschen aus anderen Ländern zu
uns mit dem Ziel eines längeren oder dauernden Aufent-
haltes. Die größte Gruppe stellten bislang die Spätaus-
siedler. Bei ihnen ist jedoch die Zuzugssteuerung schon
seit 1993 Realität. 1998 werden es voraussichtlich noch
90 000 Spätaussiedler sein. Durch das Zuwanderungsge-
setz würde sich ihr Status nicht grundlegend ändern.
Dr. Guido Westerwelle
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1998 607
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Hinzu kommen jährlich noch zirka 100 000 Asylsu-
chende. Auch auf ihre Zahl kann und sollte ein Zuwan-
derungsgesetz keinen unmittelbaren Einfluß ausüben.
Ausgelöst durch den Kosovo-Konflikt kommen dieses
Jahr darüber hinaus als dritte Gruppe voraussichtlich
rund 50 000 Bürgerkriegsflüchtlinge zu uns und – als
vierte Gruppe – schätzungsweise 40 000 bis 50 000
Menschen im Wege des Familiennachzugs. Hier setzen
humanitäre, verfassungsrechtliche und völkerrechtliche
Verpflichtungen den Rahmen, den wir politisch nicht
grundlegend verändern wollen. Übrig bleibt dann vor
allem die Gruppe der Arbeitszuwanderer. Deren dauer-
hafter Zuzug macht indessen derzeit nur einen relativ
geringen Anteil an der Gesamtzuwanderung aus.
Diese Differenzierung ist, so meine ich, notwendig,
um keine falschen Erwartungen zu wecken. Denn falsch
ist vor allem die Erwartung, ein Zuwanderungsgesetz
könnte die verschiedenen bestehenden Zuzugsmöglich-
keiten ersetzen und auf diese Weise die Zuwanderung
drastisch reduzieren. Selbstverständlich gibt es Grenzen
der Integrationsbereitschaft, und selbstverständlich müs-
sen wir diese Grenzen beachten. Aber Integrationsbe-
reitschaft ist keine feste Größe. Wir müssen für Integra-
tion werben. Wir müssen sie aktiv fördern, und wir müs-
sen soziale Rahmenbedingungen schaffen, in denen ein
verständnisbereites Zusammenleben verschiedener Men-
schen aus verschiedensten Kulturen möglich ist.
Denn Integration ist kein einmaliger Vorgang. Integrati-
on ist ein dauernder Prozeß mit täglichen Bewährungs-
proben.
Eine unerläßliche Voraussetzung für den Erfolg die-
ser Bemühungen ist auch der sensible Umgang mit
Sprache und ihren Wirkungen in der politischen Ausein-
andersetzung. Noch wichtiger allerdings scheint mir für
den Erfolg von Integrationspolitik die solide Kenntnis
der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Auch da stimme ich
mit Herrn Westerwelle überein.
In vielen Bereichen aber operieren wir zur Zeit noch
auf sehr unsicherer Datenbasis. Wichtige Zahlen – etwa
der Umfang des Familiennachzugs oder die Zahl der in
der Bundesrepublik lebenden De-facto-Flüchtlinge –
können bislang nur grob geschätzt werden. Gleiches gilt
für die Zahl illegaler Zu- und Abwanderung.
Auch die Folgen der demographischen Entwick-
lung sind noch nicht zur Genüge ausgelotet. Ob und in
welcher Größenordnung wir zum Beispiel zur Stabilisie-
rung der sozialen Sicherungssysteme oder zur Stärkung
des Wirtschaftsbereiches in den nächsten Jahrzehnten
womöglich auf Zuwanderung angewiesen sind, bedarf
einer sehr sorgfältigen Analyse. Der Deutsche Bundes-
tag hat sich dieser Herausforderung gestellt und zu die-
sem Zweck unter anderem die Enquete-Kommission
„Demographischer Wandel“ eingerichtet. Der Schlußbe-
richt steht noch aus. Die dort gewonnenen Erkenntnisse
sollten wir abwarten und dann darüber in Ruhe diskutie-
ren.
Was die Zahl der Zuwanderer nach Deutschland an-
geht, lohnt sich im übrigen ein genauerer Blick in die
amtlichen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Seit
einigen Jahren verringert sich erkennbar die Zahl der
Menschen, die nach Deutschland zuwandern, während
gleichzeitig die Zahl derjenigen wächst, die unser Land
verlassen. 1997 haben schon 21 000 mehr Ausländer
Deutschland verlassen, als zu uns gekommen sind; im
ersten Halbjahr 1998 hat sich dieser Trend verstetigt.
Die Zahl der Asylbewerber ist seit 1992 drastisch gefal-
len. Das 1993 festgelegte Kontingent von 225 000 Aus-
siedlern, denen der Zuzug gestattet sein soll, wird dieses
Jahr voraussichtlich nicht einmal zur Hälfte ausge-
schöpft.
Auch künftig wird es Menschen geben, die nach
Deutschland kommen, um hier, jedenfalls zeitweilig, zu
bleiben: Asylsuchende, Bürgerkriegsflüchtlinge, Aus-
siedler, nachziehende Familienangehörige und Arbeits-
migranten. Ich meine, es sollte möglich sein, fraktions-
übergreifend Einigkeit darüber zu erzielen, daß wir sol-
che Zuwanderung grundsätzlich zulassen.
Zur zweiten Frage: Brauchen wir ein Zuwande-
rungsgesetz? In unserem Wahlprogramm bekennen wir
Sozialdemokraten uns sowohl zur Reform des Staatsan-
gehörigkeitsrechts als auch zu einer besseren gesetzli-
chen Steuerung der Zuwanderung. An diesen Zielset-
zungen halten wir fest.
– Dies ist das Wort zum Donnerstag.
Was kann mit einer gesetzlichen Regelung der Zu-
wanderung erreicht werden? Ich sehe in einem Zuwan-
derungsgesetz vor allem eine vertrauensbildende Maß-
nahme.
Ein Gesetz kann für die Bevölkerung hier wie auch für
die Zuzugswilligen Transparenz und Verläßlichkeit
schaffen. Mittelfristig allerdings müssen wir ein klares
Gesamtkonzept entwickeln, das geltende Ausländerrecht
straffen und vereinfachen und uns auch auf europäischer
Ebene darüber klarwerden, wie wir zukünftig mit Zu-
wanderung umgehen wollen.
Alle der bislang vorgelegten Gesetzentwürfe für ein
Einwanderungsgesetz, einschließlich des Gesetzentwur-
fes der F.D.P., konzentrieren sich auf das Steuerungsin-
strument der Quotierung. Dies darf den Blick nicht dar-
auf verstellen, daß sich die meisten der Zuwanderungs-
möglichkeiten, wie eingangs geschildert, der Quotierung
entziehen.
Die Freizügigkeit der EU-Bürger, der verfassungsrecht-
lich garantierte Familiennachzug sowie Asyl- und
Flüchtlingsschutz auf der Basis völkerrechtlicher und
humanitärer Verpflichtungen haben hier Vorrang, will
man nicht die Grundrechte aus Art. 6 und Art. 16a GG
Dr. Michael Bürsch
608 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1998
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weiter zugunsten eines quotierten Einwanderungsgeset-
zes aushöhlen. Und mit der fortschreitenden europäi-
schen Integration rückt auch die europäische Einwande-
rungspolitik immer mehr in den Vordergrund.
Der Abbau der Binnengrenzen innerhalb Europas
führt dazu, daß sich die Folgen der Zuwanderung nicht
mehr auf einzelne Mitgliedsstaaten beschränken lassen.
Eine reine Abschottungspolitik ist angesichts zuneh-
mender Flüchtlings- und Wanderbewegungen in und
nach Europa zum Scheitern verurteilt. Bei der europäi-
schen Integrationspolitik soll Deutschland nach dem
Willen der Sozialdemokraten in Zukunft Motor und
nicht wie bislang Bremser der Entwicklung sein.
Zur dritten Frage: Welche Bedingungen sollen für ein
Zuwanderungsgesetz gelten, und wann sollen wir ein
solches Gesetz verabschieden? Herr Westerwelle, in der
nächsten Zeit wird in Deutschland die Jahrhundertre-
form des Staatsangehörigkeitsrechts im Mittelpunkt
der Ausländerpolitik dieser Regierung stehen. Die
Grundlinien der Reform sind abgesteckt. Für die Umset-
zung im Detail ist viel Geduld, ist viel Sensibilität von-
nöten. Da kommt auch viel Überzeugungsarbeit auf uns
Politiker zu.
Mit dieser gesetzten Priorität ist auch die richtige
Reihenfolge der Gesetzgebungsarbeit vorgezeichnet:
Zunächst werden wir uns mit der gebotenen Gründlich-
keit mit den Fragen der Staatsangehörigkeit beschäftigen
und uns danach der Materie „Zuwanderung“ widmen.
Nicht nur in Norddeutschland gilt der Grundsatz „Gut
Ding will Weile haben“.
Für die gesetzliche Regelung von Zuwanderung und
Zuzug von Ausländern lassen sich schon jetzt ein paar
Grundsätze formulieren. Vor allem herrscht in dieser
Gesetzesmaterie zur Zeit ein enormes Normenwirrwarr,
bestehend aus Ausländergesetz, Arbeitsaufenthaltever-
ordnung, Anwerbestoppausnahme-Verordnung, Kontin-
gentsflüchtlingsgesetz, Kriegsfolgenbereinigungsgesetz
und Bundesvertriebenengesetz, um nur einige wenige zu
nennen. Dieses bestehende Normengestrüpp zu entwir-
ren, Transparenz zu schaffen und ein praktikables, ei-
nem Gesamtkonzept folgendes Einwanderungsgesetz zu
schaffen braucht neben dem vorhandenen politischen
Willen auch und vor allem Zeit für sachliche Diskussi-
on, nicht hingegen ein hektisches Recyceln von Gesetz-
entwürfen.
– Es ist ja verständlich, daß die F.D.P., da sie nun so
wenige Mitarbeiter hat, ihre Konzepte der vergangenen
Legislaturperiode herausholen muß. Allerdings wird
sich der Vorrat zunehmend verkleinern, und dann kön-
nen wir vielleicht doch noch etwas Neues von der F.D.P.
erwarten.
In Zukunft müssen Zuwanderung und Integration
noch besser miteinander in Einklang gebracht werden.
Sowohl die gesellschaftlichen Aufnahme- und Integrati-
onsmöglichkeiten als auch die Akzeptanz in der Bevöl-
kerung dürfen dabei nicht aus dem Blick geraten. Ver-
besserte Integrationshilfen zur Eingliederung in das be-
rufliche, kulturelle und soziale Leben müssen so ausge-
richtet werden, daß zuzugsbedingte Nachteile ausgegli-
chen werden können. Besonderer Förderung bedürfen
junge Menschen, die nach Deutschland kommen. Die
Mittel für berufliche Qualifizierung und Sprachkurse
sollten deshalb nicht gekürzt, sondern sie sollten erhöht
werden.
Denn im Erwerb von beruflichen Fähigkeiten und von
Sprachkompetenz liegt der beste Beitrag zur Integration
von Ausländern in Deutschland.
Meine Damen und Herren, die neue rotgrüne Bundes-
regierung hat ihre Arbeit außerordentlich dynamisch be-
gonnen.
– Wegen des besonderen Erfolges wiederhole ich den
Satz gerne.
Die neue rotgrüne Bundesregierung hat ihre Arbeit
überaus dynamisch begonnen.
Aber nach den ersten 30 Tagen hat sie, um mit dem be-
rühmten deutschen Autor Sten Nadolny zu sprechen,
jetzt doch den „Reiz der Langsamkeit“ und damit auch
den Reiz der Gründlichkeit entdeckt.
Ich bin überzeugt: Mit Gelassenheit, mit Gründlichkeit
und mit Augenmaß wird es uns gelingen, die Integration
in Deutschland in den nächsten Jahren voranzubringen
und die Zuwanderung sozialverträglich zu regeln.
Danke schön.
Dr. Michael Bürsch
Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 11. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. Dezember 1998 609
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