Rede von
Kerstin
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition! Ich finde, die Debatte, die wir hier führen, ist recht gespenstisch. Die Einleitung von Herrn Kanther hat den Sinn und Zweck der Debatte aufgezeigt. Sinn und Zweck sollte sein, Rotgrün in puncto Sicherheitsfragen quasi als Schreckgespenst an die Wand zu malen.
- Das war der Sinn und Zweck. Das scheint ein wenig mühsam zu sein, und wenn man ins Plenum schaut, sieht man, daß es irgendwie nicht so recht funktioniert hat. Ich glaube auch, daß zuerst der Schock von heute vormittag verdaut werden muß.
Ich glaube, das Ganze wird Ihnen auch nicht helfen.
An das, was Sie hier mühsam zusammengeklaubt haben - Herr Kanther konnte ja nur wenige Beispiele nennen -, glauben Sie nämlich selber nicht, und die Menschen draußen glauben erst recht nicht daran.
Im Ältestenrat haben Sie abgelehnt, hier über Ihre Innen- und Rechtspolitik, über den Haushalt zur Innenpolitik zu reden. Das ist Teil Ihrer Wahlkampfkampagne, mit der Sie von Ihren eigenen Versäumnissen ablenken wollen - über diese Versäumnisse haben wir heute morgen gesprochen -, von Ihren Versäumnissen in der Arbeitsmarktpolitik, in der Sozialpolitik. Deshalb tischen Sie in Wahlkampfzeiten - leider auch in diesem Parlament - immer wieder diese unsäglichen Diskussionen über die Bedrohungen der „Inneren Sicherheit" auf, statt wirklich über Maßnahmen zur Bekämpfung von Kriminalität zu reden.
Aber schauen wir uns Ihre Politik doch einmal an. Aus unserer Sicht ist Ihre Politik der Repression - Herr Kanther, der Innenminister, hat ja einige Gesetze aufgezählt, die Sie auf den Weg gebracht haben: von Vorbeugung, von Prävention ist überhaupt keine Rede - dramatisch gescheitert. Sie haben seit 16 Jahren nichts anderes gemacht, als Strafen zu verschärfen - wie beim großen Lauschangriff und beim Asylrecht - und Bürgerrechte abzubauen. Sie haben allein in dieser und in der letzten Wahlperiode mehr als 40 Strafverschärfungen und Grundrechtseinschränkungen beschlossen: Verbrechensbekämpfungsgesetz, OrgKG, Ausdehnung der Kronzeugenregelung, BKA-Gesetz, G-10-Gesetz.
Ich frage mich: Haben Sie jemals Bilanz gezogen?
Darüber haben Sie heute nämlich nicht geredet. Herr Kanther war jedenfalls nicht in der Lage, hier eine Bilanz darüber vorzulegen, was all die Strafverschärfungen, von denen er gesprochen hat, was die Politik der Repression überhaupt gebracht haben. Ich glaube, es gibt einen Grund, warum er diese Bilanz nicht zieht: weil das Ergebnis niederschmetternd ist.
Seit 1982 stieg die Kriminalitätsrate stetig an, allein in den alten Bundesländern um 1 Million Straftaten. Mit anderen Worten: Diese Politik der Strafverschärfungen ist dramatisch gescheitert. Sie sind nicht in der Lage, nicht willens, eine Bilanz über die vielen Änderungen, die Sie vorgenommen haben, vorzulegen. Das ist eine rein symbolische Politik gewesen. Sie haben quasi reine Placebomaßnahmen ergriffen um die Bürger zu beruhigen und ihnen zu suggerieren, mit solchen Strafverschärfungen könne man wirklich etwas für die Sicherheit der Bürger und Bürgerinnen tun. Im Wahlkampf macht man das gerne. Aber das Gegenteil ist der Fall: Sie sind nicht in der Lage, hier eine positive Bilanz vorzulegen. Die Bilanz ist negativ; sie ist schlecht.
Kerstin Müller
Die Zahl der Straftaten ist angestiegen. Das bedeutet, daß die Politik der Repression, die Politik, auf die Sie gesetzt haben, dramatisch gescheitert ist.
Das beste Beispiel - auch darauf möchte ich hier gerne noch eingehen - für das Scheitern Ihrer Politik in diesem Bereich ist die katastrophale Bilanz in der Drogenpolitik. Herr Kanther hat das Thema angesprochen. Einige rotgrün regierte Länder versuchen dennoch, entgegen den Widrigkeiten auf Bundesebene, entgegen den schlechten bundespolitischen Rahmenbedingungen, andere Wege zu gehen. Das ist richtig.
Sie, Herr Kanther, haben dennoch eine katastrophale Bilanz. Die Zahl der Drogentoten ist seit dem Amtsantritt von Kohl dramatisch gestiegen. Wir hatten 1997 mindestens 1 500 Drogentote
und im ersten Halbjahr dieses Jahres einen Anstieg um mehr als 17 Prozent. Das ist doch eine negative Bilanz. Ich finde es nicht nur heuchlerisch, ich finde es auch zynisch, angesichts solcher Zahlen in der Drogenpolitik noch immer eine repressive Linie fahren zu wollen.
Sie haben damit diese Drogentoten zu verantworten.
Reden Sie einmal mit Eltern, die drogenabhängige, heroinabhängige Kinder haben. Ich habe mit solchen Eltern gesprochen. Die sagen ganz klar: Unser Kind würde noch leben, wenn Sie eine andere, eine liberale Drogenpolitik verfolgen würden, Herr Kanther und sehr geehrte Kollegen von der Koalition.
- Sieht die Frau Oberbürgermeisterin Roth in Frankfurt das auch so? Ich glaube, nicht.
Sie haben Frau Roth gestern in Ihrem Spot vorgestellt, weil die Oberbürgermeisterin von Frankfurt endlich mal ein bißchen mehr Flair, ein bißchen mehr Modernität in Ihren Wahlkampf bringen soll. Was Sie verschweigen, ist, daß die Oberbürgermeisterin Roth in Frankfurt eine sehr vernünftige Drogenpolitik macht, daß sie nach ihrem Amtsantritt gezwungen war, all das fortzusetzen, was Rotgrün in Frankfurt eingeleitet hatte, weil es erfolgreich war, weil es dort die Zahl der Drogentoten herabgesetzt hat, weil wir dort weniger Beschaffungskriminalität haben. Deshalb haben selbst Frankfurter Banker und Geschäftsleute gesagt: Dieser Weg muß fortgesetzt werden. Deshalb ist Frau Roth heute sogar dafür, daß ein Modellprojekt für eine ärztlich kontrollierte Abgabe von Heroin in der Bundesrepublik - das entspricht dem Antrag, der im Bundesrat anhängig war - durchgeführt wird. Das ist Ihre Oberbürgermeisterin, mit der
Sie Wahlkampf führen. Aber Sie trauen sich nicht, in puncto Drogenpolitik das den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen.
Dieser Bereich steht exemplarisch für den gescheiterten und falschen Weg Ihrer Kriminalpolitik. Deshalb sagen wir: Wir brauchen nicht nur eine moderne Drogenpolitik. Vielmehr müssen wir uns bei der Bekämpfung der Kriminalität endlich generell an die Bekämpfung der Ursachen machen, statt wirkungslos nach härteren Strafen zu rufen. Der Kollege Schily hat das hier noch einmal deutlich gemacht. Sie wollen, indem Sie das nicht tun, indem Sie nicht über die Ursachen reden, von Ihrem eigenen Versagen in der Arbeitsmarkt-, in der Sozialpolitik ablenken.
Sie wollen sich nicht fragen, warum wir eine so enorme Beschaffungskriminalität haben. Fast 50 Prozent der einfachen Diebstähle, so schätzt man - das sind offizielle Zahlen, nicht unsere Zahlen -, begehen Drogenabhängige aus sozialer Verelendung heraus. Diese Beschaffungskriminalität könnte man abbauen.
- Nein, nein.
Was sind die Ursachen für eine zunehmende Jugend- und Kinderkriminalität, die Sie so beklagen? Die Ursachen liegen doch in Ihrer Politik, sie liegen in einer verfehlten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, sie liegen in einer hohen Arbeitslosigkeit, sie liegen im Lehrstellenmangel der Jugendlichen, sie liegen in der zunehmenden Armut von Kindern und Familien und in ganz schlimmen Gewalterfahrungen, die Kinder in ihren Familien zunehmend machen - allein 150 000, so die offiziellen Zahlen. Das sind die Ursachen für eine Zunahme von Kriminalität. Statt diese Ursachen anzugehen, kriminalisieren Sie die Folgen Ihrer eigenen Politik. Sehr geehrte Damen und Herren von der Koalition, wer Zero-Toleranz gegenüber Kriminalität predigt, aber weich gegenüber der Bekämpfung der Ursachen ist, der hat für mich jede Glaubwürdigkeit verloren, über die Bekämpfung von Kriminalität zu reden.
Statt Jugendliche häufiger in den Knast oder in geschlossene Heime wegzusperren - auch diese Debatte hatten wir jetzt im Wahlkampf -, statt dieser unseligen Diskussion über die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters bei. Kindern sollten wir lieber über die wachsende Armut von Kindern reden. Auch ich möchte hier noch einmal auf den Zehnten Kinder-und Jugendbericht kommen, den Sie nicht so gerne veröffentlichen wollten, weil er nicht in den Wahlkampf paßte. Frau Nolte mußte sozusagen von der Presse, von den Medien gezwungen werden, hierzu Stellung zu nehmen.
Kerstin Müller
- Genauso war es!
Was sagt denn der Zehnte Kinder- und Jugendbericht? - Daß die Lage dramatisch ist, daß der Erhalt von Sozialhilfe in der Bundesrepublik nicht mehr vor Armut schützt, daß im Westen fast jedes neunte Kind, daß im Osten sogar jedes fünfte Kind inzwischen arm ist, daß wir in den neuen Ländern eine Zunahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger um mehr als 20 Prozent haben. Angesichts dieser Lage finde ich eine Diskussion über höhere Strafandrohungen und vermehrtes Wegsperren hilflos und zynisch. Denn eine solche Wegsperrmentalität löst die Probleme nicht, sie verschärft sie nur.
Auch wir wollen mehr Sicherheit für die Menschen. Weil wir das wollen, müssen wir vor allen Dingen eines tun, nämlich eine andere Arbeitsmarkt-, eine andere Sozialpolitik und eine andere Jugendpolitik in diesem Land einleiten. Die gegenwärtige Politik ist nämlich das Hauptproblem, und die stellt inzwischen ein Sicherheitsrisiko für dieses Land dar, nicht die Innen- und Rechtspolitik von Rotgrün, Herr Kanther.
Wir wollen eine integrative Sozialarbeit. Wir brauchen eine Initiative gegen Jugendarbeitslosigkeit. Wir wollen eine Ausbildungsplatzumlage, weil es nicht länger zu verantworten ist, daß Jugendliche keine Ausbildungsplätze finden. Wir brauchen nicht mehr Justiz, sondern mehr Jugendhilfe.
Ich finde es unverantwortlich, einerseits höhere Jugendkriminalität zu beklagen und andererseits über die Kürzung von Mitteln für die Schließung von Jugendzentren mitverantwortlich zu sein. Ich finde es auch unverantwortlich, über die angebliche Laxheit des Jugendstrafrechtes zu klagen. Das Jugendstrafrecht ist überhaupt nicht lax, sondern sieht einen sehr differenzierten Katalog von Reaktionsmöglichkeiten vor. Ich plädiere nachdrücklich dafür, an dem Maßnahmenkatalog, den wir im Jugendstrafrecht und Jugendhilferecht haben, festzuhalten und nicht nach härteren Strafen usw. zu rufen. Denn dort haben wir die Möglichkeit etwa des Täter-Opfer-Ausgleiches, bei dem wir der Meinung sind: Diesen müssen wir ausweiten. Wir müssen diesen Maßnahmenkatalog auf die Heranwachsenden anwenden. Und an den Beginn eines jeden Jugendstrafverfahrens gehört eigentlich der Täter-Opfer-Ausgleich. Das sind Dinge, die wir ändern wollen. Das ist auch viel erfolgversprechender bei der Bekämpfung der Kriminalität.
Einen letzten Punkt möchte ich von unserer Seite noch ansprechen. Ich komme dann zum Ende. Ich möchte einen Punkt noch nennen, bei dem wir als Bündnisgrüne ganz großen Reformbedarf sehen. Das ist das Staatsbürgerschaftsrecht. Wir wollen ein ganz, ganz klares Signal an die zweite und dritte hier lebende Generation, an die seit langem hier lebenden Einwanderinnen und Einwanderer und an die hier Geborenen geben.
Herr Kanther, sehr geehrte Kolleginnen von der Koalition, Sie machen hier genau das Gegenteil. Sie haben auch heute morgen wieder ausländerfeindliche Stimmung geschürt und auf dem Rücken der ausländischen Minderheiten eine Wahlkampfdebatte geführt. Ich halte das für sehr, sehr gefährlich. Es stärkt die Rechtsradikalen, es liefert ihnen praktisch die Stichworte. Sie machen Stimmung gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Ich hoffe, daß das Klima nicht wieder zu deren Lasten kippt.