Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mich auf der Regierungsbank umschaue, dann kann ich nicht den Eindruck gewinnen, daß die internationale
Günter Verheugen
Lage so ernst ist, wie sie der Bundeskanzler und auch der Bundesaußenminister heute dargestellt haben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß sie es mit der Vorlage des Haushaltes so ernst gemeint haben; denn sonst würde es sie vielleicht interessieren, was das Parlament zu ihrem Haushalt zu sagen hat. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall.
Ich verzichte darauf, den Bundesaußenminister herbeirufen zu lassen; aber ich stelle fest, daß er bei der Beratung seines Haushaltes nicht anwesend ist.
- Sie wissen, wie schwach das Argument ist, das Sie gerade gebraucht haben. Sie verdanken es wirklich nur meiner guten Laune, die ich nach der phantastischen Rede von Gerhard Schröder habe,
daß ich mich mit dem begnüge, was ich gesagt habe.
Meine Damen und Herren, wir haben in den letzten Jahren in den Grundfragen der Außen- und Sicherheitspolitik einen Konsens erreicht. Ich halte es für wichtig, auch heute daran zu erinnern, daß ein Land in der Lage Deutschlands einen solchen Konsens zwischen den großen demokratischen Kräften braucht.
Dafür muß man sich nicht entschuldigen, sondern man kann stolz darauf sein, daß man das erreicht hat.
Deshalb ist es auch wichtig - unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahl, der für mich seit heute keine Frage mehr ist -, unsere Freunde und Nachbarn in der Welt darauf hinzuweisen, daß die Kontinuität in den Grundfragen und Prinzipien der deutschen Außenpolitik gesichert ist. Wir wissen, daß Deutschland ein Land ist, das wie kein anderes in der Welt auf das Vertrauen seiner Nachbarn und seiner Partner angewiesen ist. Es ist ein Land, das für alle, die mit ihm zu tun haben, zuverlässig und berechenbar sein muß. Deshalb ist es so wichtig, daß die Grundlagen unserer Außen- und Sicherheitspolitik klar sind. Es darf kein Zweifel daran aufkommen, welchen Kurs unser Land steuern wird.
Das heißt zunächst einmal: Deutschland will und muß zusammen mit seinen Freunden und Partnern der Motor der europäischen Einigung bleiben.
Europa ist und bleibt unser großes Thema. Es ist nicht vollendet. Ich sehe mit Besorgnis eine Diskussion, die sich in den letzten Monaten bei uns in Deutschland entwickelt hat und schon zu sehr vielen Irritationen bei unseren Freunden geführt hat, nämlich eine Diskussion darüber, was wir eigentlich bei dem, was wir in Europa einzahlen, herausbekommen, als wäre Europa ein Kassenautomat, in den man oben eine Geldmünze hineinwirft und aus dem man unten irgend etwas im selben Wert herauszieht.
Europa hat auch etwas mit Solidarität zwischen Staaten und Nationen zu tun.
Ich sage dies ganz gezielt an die Adresse der CSU, weil die Kollegen der CDU, die hier anwesend sind, davon ausgenommen sind. Sie wissen vielleicht auch gar nicht, was ihre Kolleginnen und Kollegen von der CSU an den Wochenenden in bayerischen Bierzelten erzählen. Ich weiß das, weil ich dort selbst meinen Wahlkreis habe und die bayerischen Heimatzeitungen lese. Was dort gesagt wird, zieht Ihnen wirklich die Schuhe aus. Sie müssen sich einmal ansehen, in welcher Tonart und mit welchen Forderungen die CSU an Europa herangeht.
Aber ich muß hier gar nicht an irgendwelche Bierzeltreden erinnern. Der bayerische Ministerpräsident höchstselbst benutzt ja das Thema Europa immer wieder, um am rechten Rand Stimmen zu fangen. Aber es ist ein gefährliches Unternehmen - meine Damen und Herren, ich muß Ihnen das wirklich sagen -, zum Beispiel an die Adresse Polens und Tschechiens Forderungen zu richten, die erfüllt sein müssen, bevor diese beiden Staaten Mitglied der Europäischen Union werden können, und zwar Forderungen, die nicht irgendwo im Kriterienkatalog der Europäischen Union stehen, sondern die die CSU allein entdeckt hat. Das ist unsolidarisch. Das ist uneuropäisch. Das schadet den Interessen unseres Landes und weckt Zweifel daran, ob diese Regierung es wirklich damit ernst meint, daß sie sich klar und entschlossen für die Osterweiterung der Europäischen Union einsetzen wird.
Ich bestätige ausdrücklich das, was der Bundeskanzler heute morgen dazu gesagt hat. Die Osterweiterung der Europäischen Union liegt ganz besonders in unserem Interesse, und zwar deshalb, weil wir wollen, daß sich politische Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft auf einen immer größeren Teil Europas ausdehnen können. Davon haben alle Seiten etwas, auch wir.
Es ist ganz richtig, was Herr Kinkel über Rußland gesagt hat - das gilt nämlich ganz allgemein -: Uns kann es auf Dauer nur gutgehen, wenn es auch unseren Nachbarn gutgeht. Das gilt für alle und ist - ganz nebenbei bemerkt - ein Satz aus dem Wahlprogramm der Solzialdemokratischen Partei.
- Es ist so.
Die zweite Feststellung, die getroffen werden muß, bezieht sich auf das Atlantische Bündnis. Die NATO ist die Institution in Europa, die langfristig unsere Sicherheit garantiert. Sie hat zusätzliche wichtige Aufgaben übernommen, zunächst Aufgaben politischer Natur. Wir verstehen die NATO-Osterweiterung in erster Linie als einen politischen Prozeß, in dem Stabilität exportiert wird. Wir sehen in der Zukunft keine Lage in Europa entstehen, die den klassischen Auftrag der NATO, nämlich Bündnisverteidigung gegen eine Aggression von außen, im Augenblick als aktuell erscheinen ließe. Aber unabhängig davon, ob dieser Auftrag aktuell ist oder nicht, sind die Hand-
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lungsfähigkeit, die Stärke und der innere Zusammenhalt eines solchen Bündnisses ein Faktor der Stabilität in Europa, auf den wir nicht verzichten können. Unser deutsches Interesse ist also darauf gerichtet, dieses Bündnis handlungsfähig und kohärent zu erhalten, die Osterweiterung entsprechend den Beschlüssen von Madrid voranzubringen und die Politik der offenen Tür wirklich zu betreiben.
Der Bundeskanzler hat heute morgen historisch richtige Worte über die baltischen Staaten gesagt. Das war richtig; so etwas hat man selten von ihm gehört. Er hat aber nichts darüber gesagt, womit die baltischen Staaten eigentlich rechnen können, beispielsweise in bezug auf ihre Sicherheit und in bezug auf ihre Integration in den europäischen Kooperationsprozeß. Ich stelle es nur fest.
Der dritte Punkt, den wir festhalten müssen, betrifft die revolutionären und grundlegenden Veränderungen in Europa, die nach 1989/90 einen großen Transiormationsraum geschaffen haben, der sich sehr unterschiedlich entwickelt. Es hat keinen Sinn, die Augen davor zu verschließen, daß es in diesem großen Transformationsraum Staaten gibt, die sehr schnell eine moderne demokratische und auch eine gute ökonomische Entwicklung durchlaufen, aber daß es auch andere Staaten gibt, bei denen der Prozeß sehr langsam verläuft und bei denen es sogar Rückschritte gibt.
Ich will nachher noch etwas zu Rußland sagen. Ich will nur daran erinnern, daß die ganze Dimension des Problems erst sichtbar wird, wenn man sich klarmacht, daß eine sozial explosive und katastrophale Lage nicht nur in Rußland, sondern beispielsweise auch in der Ukraine besteht und daß das ganze Risiko, das sich politisch daraus ergeben kann, erst erfaßt werden kann, wenn man beide Länder im Zusammenhang betrachtet.
Unser deutsches und europäisches Interesse kann und muß darauf gerichtet sein, die Transformationsprozesse in Osteuropa, in Südosteuropa und in Mitteleuropa mit allen unseren Möglichkeiten zu unterstützen. Hier tun wir eine Menge. Diese Unterstützung wird und muß fortgesetzt werden. Unsere deutsche Botschaft an diese Staaten kann nur lauten: Unsere gemeinsame Zukunft liegt in Europa. Wir wollen mit euch gemeinsam die Voraussetzungen dafür schaffen, daß alle, die es wollen und können, den Weg nach Europa finden.
Der letzte Punkt, den ich erwähnen will: Deutschland muß ein besonderes Interesse an starken und handlungsfähigen internationalen Institutionen haben. Wir müssen auch ein Interesse an einer erfolgreichen Reform der Vereinten Nationen und an erfolgreich arbeitenden internationalen Finanzinstitutionen haben. Inzwischen hat wohl ein jeder begriffen - andere haben es schon früher gesagt -, wie wichtig es geworden ist, daß diese Institutionen genutzt werden, um einen ungezügelten, ungehemmten, ungebremsten Kapitalismus im Weltmaßstab in einen Ordnungsrahmen zu bringen.
Genauso wenig wie wir in unserem eigenen Land Marktwirtschaft pur für verträglich halten - das tut noch nicht einmal die F.D.P. von heute -, genauso wenig können wir im Weltmaßstab allein die Marktkräfte für die Quelle des Fortschritts und der Dynamik halten. Diese Dynamik kann so enorm, so destruktiv sein - wie wir es in Lateinamerika, in Südostasien und eben auch in Rußland erleben - daß einem vernünftigen Menschen klar sein muß: Hier muß ein vereinbarter Rahmen her, der nicht nur soziale und ökologische Mindeststandards schafft, sondern zum Beispiel schwache Volkswirtschaften auch davor bewahrt, von Finanzmanipulationen und -spekulationen einzelner Spekulanten oder Konzerne bis ins Mark getroffen zu werden.
Vor uns liegt eine Reihe von wichtigen Aufgaben, auf die in der Rede des Herrn Außenministers hingewiesen worden ist. Davon ist die EU-Präsidentschaft ganz gewiß die wichtigste. Wir sollten heute nicht das Programm für die deutsche EU-Präsidentschaft verkünden. Es wäre klug und auch nur fair, die Ergebnisse der österreichischen Präsidentschaft abzuwarten. Ich habe übrigens großes Vertrauen in diese Präsidentschaft, daß sie die Lösung der schwierigen Fragen, die zur Zeit in Europa behandelt werden, ein gutes Stück vorantreiben wird.
Was wir aber heute schon ungefähr erkennen können, ist, daß wir unter der deutschen Präsidentschaft die Osterweiterung voranbringen und die sehr schwierige Frage der EU-Finanzen regeln müssen. Ich will hier sehr deutlich sagen, daß die Position der jetzigen Bundesregierung dazu in sich völlig widersprüchlich ist. Man kann nicht einerseits sagen: Wir wollen weniger bezahlen, wir wollen mehr bekommen, und andererseits: Die Osterweiterung darf nichts kosten, und die Agrarpolitik darf nicht reformiert werden. Das paßt in überhaupt keiner Weise zusammen.
Unsere Partner in Europa - das wissen Sie, Herr Hoyer, sehr gut - sind inzwischen ein wenig ratlos, was sie eigentlich mit der derzeitigen deutschen Europapolitik anfangen sollen.
Nach unserer Meinung werden die institutionellen Reformen unter der deutschen Präsidentschaft nicht zum Abschluß gebracht werden können. Die unterschiedlichen Positionen der einzelnen Partner sind so stark, daß wir uns hier ruhig etwas Zeit lassen sollten. Die Fragen sind auch schwierig: Mehrheitsentscheidungen, Zusammensetzung der Kommission, Rolle des Parlamentes. Hierbei kommt es auf Gründlichkeit und nicht darauf an, etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig zu haben. Es muß in dem Augenblick fertig sein, in dem die ersten Mitglieder aus Mitteleuropa und aus Osteuropa in die Europäische Union eintreten, wenn die Erweiterung also faktisch vollzogen wird. Dann müssen wir diese Fragen geregelt haben. Es kann aber nicht schaden, schon mit der Diskussion zu beginnen.
Ich bin leider davon überzeugt, daß sich die deutsche Präsidentschaft auch mit den großen außenpolitischen und internationalen Krisen, mit denen wir
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konfrontiert sind, wird befassen müssen. Sie sind heute alle schon genannt worden. Ich will dazu einige Bemerkungen machen.
Ich fange mit Rußland an. Was Rußland angeht, haben wir als Deutsche in der Tat Anlaß zu ernster Besorgnis. Wir müssen dabei aber erkennen, daß unsere Möglichkeiten, die Prozesse, die jetzt in Rußland ablaufen, von außen positiv zu beeinflussen, sehr gering sind. Ich glaube allerdings, daß es umgekehrt durchaus möglich ist, die Prozesse in Rußland negativ zu beeinflussen. Wenn tatsächlich noch irgend jemand in diesem Haus die Wahnsinnsidee verfolgen sollte, das Thema „Angst vor den Russen" dazu benutzen zu wollen, eine bestimmte Wahlkampfsituation zu ändern oder herzustellen, kann man dem nur sagen, daß er nicht nur national, sondern auch international unverantwortlich handelt.
Das würde Auswirkungen in Rußland haben. Es würde genau zu dem führen, was wir vermeiden müssen, nämlich daß die reformbereiten Kräfte, die demokratischen Kräfte in Rußland das Vertrauen in uns verlieren. Es kommt jetzt aber darauf an, daß dieses Vertrauen bestehenbleibt.
Wir sollten unseren russischen Partnern sagen, daß wir von ihnen erwarten, daß sie über ihren Weg selbst entscheiden, daß es in unserem gemeinsamen Interesse liegt, daß dies ein Weg ist, der die demokratischen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Reformen in einer Weise fortsetzt, daß die soziale Balance des Landes wiederhergestellt wird. Das wird sehr schwierig sein. Wenn das geschehen ist und wenn wir wissen, wer unsere künftigen Partner in Rußland sein werden, dann - aber erst dann - werden wir darüber zu reden haben, was wir und andere konkret tun können, um diesen Weg erfolgreich zu machen.
Wir haben auch Anlaß, uns ein paar ernste Fragen zu stellen. Wir haben Anlaß, uns zum Beispiel die Frage zu stellen, ob Rußland richtig beraten worden ist. Es hat eine Menge Leute gegeben, die die BigBang-Theorie für sehr waghalsig gehalten haben. Daß man eine zentralistische Planwirtschaft sozusagen mit einem großen Knall in eine Marktwirtschaft verwandeln kann, das haben viele nicht geglaubt, auch ich nicht. Ich kann Russen verstehen, die heute sagen: Das, was der Westen uns geraten hat, hat letztlich nur dem Westen selbst genützt.
Wo ist das Geld geblieben, das aus dem Westen, auch von uns, in großem Umfang nach Rußland geflossen ist? Es ist nicht im Land geblieben, um dort die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Wir sollten da durchaus auch etwas selbstkritisch sein und uns fragen, ob künftige Hilfe für Rußland nicht besser geplant werden kann, nicht effektiver eingesetzt werden kann und ob nicht auch eine wirkliche Erfolgskontrolle durchgeführt werden kann.
Daß wir Rußland nicht allein lassen dürfen, daß wir es in dieser Situation nicht hängenlassen dürfen, das ist so klar wie nur etwas. Das würde nämlich vollkommen gegen unsere eigenen Interessen verstoßen. Daß wir keiner Entwicklung Vorschub leisten dürfen, die den in Rußland auf beiden Seiten - leider - vorhandenen Trend zu autoritären Systemen verstärkt, das sollte uns allen klar sein.
Ich glaube nicht daran - um das hier ganz klar zu sagen -, daß wir besser dran wären mit einem Rußland, das von einem autoritären System beherrscht wird, welcher Art auch immer. Denn wir sollten aus der europäischen Geschichte in diesem Jahrhundert gelernt haben, daß Diktaturen und autoritäre Systeme, die ja nur existieren können, weil sie die Menschen unterdrücken, auf Dauer keine wirkliche Stabilität erzeugen, wie der Zusammenbruch der kommunistischen Staatenwelt deutlich gezeigt hat.
Meine Damen und Herren, ein Wort zum Kosovo. Wenn Herr Kinkel jetzt hier wäre, müßte ich ihn warnen. Er hat heute wieder einmal sehr starke Worte gebraucht. Ich habe von ihm noch im Ohr: Wir werden dort kein zweites Bosnien entstehen lassen. Ich habe von ihm noch im Ohr: Man muß so etwas am Anfang stoppen. Jetzt sagt er: Wir werden eine humanitäre Katastrophe nicht hinnehmen. Die humanitäre Katastrophe steht aber bevor. Wenn es nicht gelingt, interne Flüchtlinge vor dem Winter in ihre Dörfer zurückzubringen und sie dort zu versorgen, dann wird die Fluchtbewegung aus dem Kosovo heraus einen viel größeren Umfang haben als jetzt.
Es ist vollkommen klar: Das Zielland dieser Fluchtbewegung wird Deutschland sein; daran gibt es gar keinen Zweifel. 400 000 Albaner leben bei uns. Fast jeder, der im Kosovo lebt, wird in Deutschland Bekannte oder Verwandte haben. Es ist ein ganz natürliches Verhalten, zu sagen: Dann gehe ich dahin. Die deutsche Kosovo-Politik kann aber nicht bestimmt sein von der Furcht, es könnten neue Flüchtlinge kommen, sondern die deutsche Kosovo-Politik muß bestimmt sein von dem Versuch, eine tragfähige und dauerhafte politische Lösung zu finden. Ich fürchte, daß wir davon sehr, sehr weit entfernt sind.
Ich sehe auch große Widersprüche innerhalb der Regierung. Der Bundesverteidigungsminister spricht davon, daß eine glaubwürdige militärische Bedrohung besteht und daß man notfalls auch ohne Mandat gezielte Luftschläge vornehmen muß. Der Bundesaußenminister schließt das ausdrücklich aus und kann sich nach einer entsprechenden Vereinbarung eine SFOR-ähnliche Operation vorstellen.
In der Mandatsfrage ist der Streit zwischen diesen beiden Ministern nur notdürftig kaschiert. Der Verteidigungsminister sagt, daß die Krise auf Albanien und Mazedonien übergreifen wird. Der Außenminister sagt, daß das nicht geschehen wird. - Herr Hoyer guckt mich erstaunt an. Herr Kinkel ist nicht auf Straßen und Plätzen unterwegs, sondern war in der letzten Woche in bayerischen Redaktionsstuben. Da muß man nicht die Sorge haben, es kämen keine Leute; das verstehe ich also. Da gibt er Interviews, die man hinterher lesen kann. Selbst wenn es das „Selber Tagblatt" ist: Wir lesen es. Darin steht wörtlich: „Kinkel: Das wird nicht geschehen." Das schließt er aus. Die Bundesregierung ist sich also we-
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der in der Analyse noch in dem einig, was geschehen soll, noch hat die Bundesregierung es bisher vermocht, uns zu sagen, wie das politische Lösungskonzept aussieht.
Ich glaube, daß wir hier nach dem 27. September keine Weltklasseleistung übernehmen werden. Vielmehr muß einiges aufgeräumt und in Ordnung gebracht werden.
Auch hier ist wieder die Mitwirkung Rußlands der entscheidende Punkt. Darauf hat auch der Bundeskanzler heute mit Recht hingewiesen. Wir müssen dafür sorgen, daß Rußland vollständig und seiner Bedeutung entsprechend in diese Prozesse einbezogen ist. Ob die russischen Klagen darüber, daß das nicht geschieht, berechtigt sind oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Wir sind bei diesen Verhandlungen nicht dabei. Aber die russischen Klagen sind da, daß sie immer erst nachträglich informiert werden und nicht gleichberechtigt am Verhandlungsprozeß teilnehmen. Das halte ich für einen Fehler. Denn irgendwann kann und wird der Zeitpunkt kommen, wo man auf das russische Verhalten angewiesen ist. Wenn die Signale stimmen, die heute aus Moskau kamen, haben wir eine gewisse Hoffnung, daß sich nun doch etwas bewegen wird.
Die Kosovo-Krise ist Teil der Balkankonflikte insgesamt. Es bestehen Rückwirkungen und Zusammenhänge. Deshalb zum Schluß noch ein Wort zu Bosnien. Ich wiederhole hier, was ich schon mehrfach gesagt habe: Der militärische Schutz des politischen Prozesses, um den es eigentlich geht, funktioniert. Das ist eine beachtliche Leistung. Die Bundeswehr hat damit sehr viel getan, um einen sich selbst tragenden Friedens- und Demokratisierungsprozeß in Bosnien-Herzegowina möglich zu machen. Die Bundeswehr erledigt die Aufgabe in einer, wie ich finde, vorbildlichen Weise, die dem Ansehen unseres Landes sehr nützt, und verdient Dank dafür.
Dank verdienen auch die vielen Helfer von Freiwilligenorganisationen, von Hilfsorganisationen und unsere Mitarbeiter in den internationalen Institutionen, die unter den nicht ganz einfachen Bedingungen dort in Bosnien leben und arbeiten.
Aber die politischen Prozesse, um die es eigentlich geht, kommen nur sehr langsam voran. Ich muß Ihnen leider sagen, daß sich, von der deutschen Öffentlichkeit unbeachtet, die Entwicklung im serbischen Landesteil, in der Republika Srpska, deutlich verschlechtert hat und wir keineswegs damit rechnen können, jedenfalls nicht sicher sein dürfen, daß bei den Wahlen in zehn Tagen die gemäßigten Kräfte dort die Macht behalten werden. Es besteht in der Republika Srpska die Gefahr eines nationalistischen Rückschlags auf Grund der sehr schwierigen sozialen und ökonomischen Lage für die Menschen dort, die nicht schnell genug Erfolge gesehen haben.
Das bedeutet - an die Adresse des Bundesinnenministers, der ja hier ist -, daß Sie keine Chance haben werden, die Flüchtlingsrückkehr in die Republika Srpska zu betreiben. Die Bedingungen fehlen. Zu diesem Thema muß ich Sie fragen, Herr Staatsminister, ob es wirklich eine kluge deutsche Politik ist, wenn sich der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister hier mit ungewöhnlich starken und undiplomatischen Worten eine amerikanische Besorgnis verbitten. Die amerikanische Besorgnis hinsichtlich der Flüchtlingsrückkehr aus Deutschland nach Bosnien ist keine Kritik im Prinzip. Die Amerikaner sagen nicht: Ihr dürft das nicht tun. Vielmehr lautet die amerikanische Kritik: Ihr tut das zu forciert und an manchen Stellen zu massiert, und das führt in dem sehr schwierigen politischen Prozeß vor den Wahlen dort zu ethnischen Spannungen, die dazu führen können, daß nicht die demokratischen Kräfte gewinnen und der nationalistische Rückschlag kommt.
- Ich weiß nicht, ob das lächerlich ist. Jedenfalls hat Ihre Regierung bei der OSZE in Sarajevo einen Bericht über die Auswirkungen der deutschen Flüchtlingsrückkehr nach Bosnien angefordert. Dieser Bericht der OSZE ist abgegeben worden, und er enthält die Warnung, auf die sich die amerikanische Regierung bezieht. Sie selbst haben ihn angefordert. Daß Sie diesen Bericht dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis gegeben haben, hat ja mit Wahlkampfgesichtspunkten zu tun. Das weiß ich. Aber tun Sie bitte nicht so, als wüßten Sie nicht, daß diese amerikanischen Hinweise eine sachliche Begründung in einem Bericht haben, den die OSZE auf Anforderung der deutschen Bundesregierung angefertigt hat.
Legen Sie den Bericht hier vor, dann können Sie sagen, ob die Sache richtig ist oder falsch.
Wir haben in Washington bei den Gesprächen mit der amerikanischen Regierung den deutschen Standpunkt ganz klar und entschieden vertreten und gesagt: Wir können das nicht, was sich die Amerikaner vorstellen, nämlich jetzt einfach den Prozeß der Rückkehr stoppen. Aber wir können bei der Rückkehr darauf achten, daß sie nicht mehr Probleme schafft als löst. Genau das ist ja der Punkt.
Die Amerikaner sind bereit, obwohl sie, wenn ich die Geographie richtig im Kopf habe, an diesen Teil Europas nicht direkt angrenzen, Milliarden von Dollars und Tausende von Soldaten zur Sicherheit dieser Region zur Verfügung zu stellen. Ich denke, die amerikanische Regierung hat sehr wohl ein Recht, der deutschen Regierung zu sagen, wenn sie an einer Stelle Besorgnis hat. Die Reaktion des Kanzlers und des Außenminister „Wir lassen uns da von niemandem belehren" ist unangemessen, gerade angesichts dessen, was die USA in Bosnien tun und was eigentlich die Europäer tun müßten, wie jeder weiß. Das möchte ich Ihnen doch sehr deutlich gesagt haben.
Wir können die Rückkehr der Flüchtlinge nach Bosnien, die wir ja gemeinsam wollen, nur sicherstellen, wenn die politischen Verhältnisse so sind, daß die Menschen für sich selbst in eine sichere Umgebung zurückkehren können, daß ihre persönliche Sicherheit garantiert ist und daß die Menschen auch
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sozial, ökonomisch und kulturell wieder integriert werden. Aber genau das geschieht im Augenblick nicht. Da ist noch sehr viel Arbeit zu leisten.
Ich sage Ihnen noch einmal: Sie können in bezug auf die Flüchtlingsrückkehr alles vergessen, und Sie kriegen ganz schnell wieder eine offene Konfliktsituation in Bosnien-Herzegowina, wenn die nationalistischen Kräfte in diesem Land die Macht entweder behalten oder dort, wo sie sie bereits verloren hatten, wiedergewinnen können.
Meine Damen und Herren, Kosovo, Bosnien, Rußland, Ukraine, Ostasien - über Afrika habe ich noch gar nicht gesprochen; wie immer kommt Afrika etwas zu kurz bei uns -: Wir haben es mit einem beachtlichen internationalen Krisenszenario zu tun, das unsere Aufmerksamkeit in der nächsten Legislaturperiode des Bundestages voll in Anspruch nehmen wird und bei dem es nur gut sein kann, wenn wir uns zu Beginn der nächsten oder am Ende dieser Legislaturperiode noch einmal vergewissern, was deutsche Interessen, was deutsche Ziele und was die Prinzipien unserer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die wir gemeinsam tragen können, sind.
Schönen Dank.