Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben eine lange Rede gehalten.
Es war eine Rede über die Vergangenheit. Jeder, der Ihnen zugehört hat, wird gespürt haben, daß Sie mit der Gegenwart Schwierigkeiten haben.
Wer mit der Gegenwart und mit den Realitäten Schwierigkeiten hat, wie Sie es hier deutlich gemacht haben, der hat sie natürlich erst recht mit der Zukunft. Sie sind nicht zukunftsfähig.
Niemand in diesem Haus - und ich erst recht nicht - bestreitet Ihnen Ihre Verdienste um die Herstellung der staatlichen Einheit.
Aber während Sie das gemacht haben und während
Sie sich darum verdient gemacht haben, hat Ihre
Politik dafür gesorgt, daß dieses Volk, daß die Deut-
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schen sozial gespaltet worden sind. Das ist das, was ich Ihnen vorwerfe.
Es hat gestern in der Debatte schon eine Rolle gespielt - ich zitiere noch einmal, Herr Bundeskanzler -:
Diese neue Regierung ist notwendig geworden, weil sich die alte, die bisherige Regierung als unfähig erwies, gemeinsam die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, das Netz sozialer Sicherheit zu gewährleisten und die zerrütteten Staatsfinanzen wieder in Ordnung zu bringen ...
Diese Koalition der Mitte wird unser Land aus der Krise führen.
Das, Herr Bundeskanzler, haben Sie am 13. Oktober 1982 gesagt, und zwar vor einem ganz bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund. Erinnern wir uns: Im Herbst 1982 gab es in Deutschland 1,8 Millionen Arbeitslose. Im Herbst 1998- das ist Gegenwart und nicht Vergangenheit - gibt es 4,1 Millionen Arbeitslose. Sie, Herr Dr. Kohl, haben seinerzeit den Bundeskanzler Helmut Schmidt als Kanzler der Arbeitslosigkeit gescholten. Ich stelle fest: Sie sind der Kanzler der Arbeitslosigkeit. Ihre Regierung hat das bewirkt.
Sie haben seinerzeit von einer geistig-moralischen Wende gesprochen, vor der Deutschland in der Zeit Ihrer Regierung stehe, und haben das insbesondere auf die Lebenssituation der jungen Menschen in Deutschland bezogen. Aber während Ihrer Regierungszeit ist die Ausbildungsnot immer größer geworden, und Sie haben wenig getan, um diesen jungen Menschen eine Perspektive zu geben.
Statt geistig-moralischer Orientierung hat die verzweifelte Situation vieler junger Leute dafür gesorgt, daß sie anfällig geworden sind für Drogenkonsum und ähnliches, daß sie wieder einmal anfällig geworden sind für den rechten Sumpf. Dies, verehrter Herr Bundeskanzler, ist die Folge einer Politik, die die materiellen Lebensinteressen der Jugendlichen nicht in den Mittelpunkt der deutschen Politik gestellt hat.
Sie haben sich gerühmt, Ihre Politik werde die Lage der Arbeitnehmerfamilien in Deutschland verbessern. Was aber ist die Wahrheit? Der Bund der Steuerzahler, der wahrlich nicht im Geruch steht, eine Vorfeldorganisation der deutschen Sozialdemokratie zu sein, hat die Gesamtbelastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Steuern und Abgaben berechnet: 1980 trug der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer eine Gesamtbelastung von 38,6 Prozent. Im Jahre 1997 war die Abgabenbelastung auf 45,5 Prozent angestiegen. Das bedeutet: In Ihrer Regierungszeit, Herr Dr. Kohl, bleiben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern von jeder verdienten Mark kaum mehr als 50 Pfennig. Dies muß sich aus sozialen und ökonomischen Gründen ändern.
Wo wir gerade bei der Bildung von Eliten sind - ich werde noch einmal darauf zurückkommen -: Die Belastung dieser Menschen läßt in den Hintergrund treten, daß die wirkliche Kraft dieser Volkswirtschaft nicht von den Eliten kommt, die Sie offenbar im Auge haben. Nein, die wirkliche Kraft dieser Volkswirtschaft und die wirklichen Leistungsträger dieser Nation sind diejenigen, die als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Werte in diesem Land schaffen und die in der Zeit Ihrer Regierung bis weit über die Fahnenstange hinaus belastet worden sind.
Sie haben sich über die Sanierung der Staatsfinanzen verbreitet. In den letzten 16 Jahren - das ist die Realität - ist die Staatsverschuldung um weit über 1 Billion DM auf das Rekordniveau von 1,5 Billionen DM angewachsen. Dazu, meine Damen und Herren, hat der Bundeskanzler heute nichts gesagt. Er hat auch nichts dazu gesagt, wie er diese Schulden reduzieren will. Er ist in Belanglosigkeiten oder in die Diskussion internationaler Angelegenheiten ausgewichen. Der Vorwurf, Herr Dr. Kohl, den man Ihnen machen muß, ist, daß Sie die Lebenswirklichkeit der durchschnittlich verdienenden Menschen in Deutschland entweder nicht mehr kennen oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Beides ergibt eine falsche Politik.
Um auf die Situation in Ostdeutschland einzugehen: Sie sind in der Tat, wie Sie es nennen, über die Straßen und Plätze gezogen und haben den Menschen Versprechungen gemacht. Von blühenden Landschaften und von ähnlichem mehr war die Rede. Wie sieht denn Ihre Bilanz hinsichtlich des Aufbaus Ost wirklich aus, meine sehr verehrten Damen und Herren? Die Zahl der Arbeitslosen betrug in den neuen Ländern 1994 1,1 Millionen und beträgt 1998 1,5 Millionen. Das ist die Wirklichkeit in den neuen Ländern, die Sie entweder verdrängen oder schon gar nicht mehr wahrnehmen wollen. Das ist das Gefährliche an der Politik, für die Sie stehen.
Die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland ist im Gegensatz zu Ihren Behauptungen nicht besser geworden. Der Anpassungsprozeß in der Wirtschaft Ostdeutschlands hat seit 1997 einen Rückschlag erlitten. 1997 blieb das Wachstum im Osten um 0,6 Prozent hinter dem im Westen zurück. Auch im Jahre 1998 wird es nach allen Prognosen nicht anders sein.
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Die Ursachen dafür haben etwas mit Ihrer verfehlten Politik zu tun. Was man in den neuen Ländern braucht, sind eben nicht Investitionen in Bürotürme, die niemand brauchen kann und die zu Einnahmeverlusten führen, und sind eben nicht Investitionen in Luxuswohnungen, die niemand bezahlen kann. Was man vielmehr braucht, ist eine vernünftige Eigenkapitalausstattung der kleinen und mittleren Unternehmen. Dafür haben Sie in der letzten Zeit nicht gesorgt.
Was man braucht, ist der Aufbau und der Ausbau einer Forschungslandschaft. Nur mit ihr ist man in der Lage, durch den Transfer von Erkenntnissen dafür zu sorgen, daß die mittelständischen Unternehmen in Ostdeutschland, die auch dort das Rückgrat der Wirtschaft bilden, Anschluß an zukünftig zu entwickelnde Produkte und Verfahren finden können.
Wenn Sie sich den Arbeitsmarkt in den neuen Ländern anschauen, dann werden Sie feststellen, daß die Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik ständig zurückgegangen sind. Ich nenne die entsprechenden Zahlen. 1992: 41 Milliarden DM, 1993: 42,3 Milliarden DM, 1994: 34,7 Milliarden DM, 1995: 29,8 Milliarden DM, 1996: 25,2 Milliarden DM, 1997: 18,5 Milliarden DM. Aber, meine Damen und Herren, 1998 betrugen die Ausgaben 20,2 Milliarden DM.
Warum wohl? Dafür gibt es doch nur einen einzigen Grund: Sie haben Angst davor, daß die Ergebnisse Ihrer Politik im Osten wahrgenommen werden. Sie versuchen jetzt hastig, mit neuen Mitteln Trostpflästerchen zu verteilen.
Dies reicht aber nicht. Was man braucht, ist eine Verstetigung der Mittel für den Arbeitsmarkt in den neuen Ländern. Dafür wird eine neue Regierung sorgen.
Die Bewertung der Bilanz die Sie vorzulegen haben, gebe ich Ihnen in Form eines Zitates. Im Stenographischen Bericht des Deutschen Bundestages heißt es:
Ihre Regierungszeit ist die Regierungszeit der Schulden und der Arbeitslosen.
Es heißt weiter:
Eine schwache Regierung, die nur noch ein Ziel hat, nämlich in den Sesseln zu bleiben, deprimiert das Land.
Und weiter:
Sie haben das Vertrauen der Mehrheit der Deutschen nicht nur enttäuscht; Sie haben es verloren.
Dies alles sind Zitate von Dr. Kohl aus der Bundestagsdebatte vom 5. Februar 1982. Die damaligen Angriffe des heutigen Bundeskanzlers auf Helmut Schmidt fallen auf ihn zurück. Auch so kann man mit der Vergangenheit umgehen.
Ich fand es im übrigen angemessen - und kritisiere das kein bißchen -, daß Sie sich mit der Situation in Rußland und in Südostasien beschäftigt haben. Zutreffend fand ich auch die Bemerkung: Niemand kann ein Patentrezept vorweisen, mit dem man von außen die russische Krise zu lösen imstande wäre. Nur, was sollen Äußerungen wie die, man wolle jetzt Dampf in den Wahlkampf bringen, weil man „die russische Krise spielen" könne, wie der Generalsekretär Ihrer eigenen Partei - doch nicht irgend jemand! - das formuliert hat.
Wer versucht, auf diese Weise Wahlkampf zu machen, der handelt verantwortungslos. Wer es mir nicht glaubt, soll es wenigstens Ihnen glauben. Sagen Sie es doch Ihrem Generalsekretär, der das verbockt hat.
Übrigens lohnt es durchaus, sich mit den Ursachen der russischen Krise ein wenig auseinanderzusetzen. Man könnte daraus ja etwas lernen. Es gibt unzweifelhaft viele Ursachen für diese Krise. Aber die eine halte ich für zentral. In der Ära Ihres Saunafreundes Jelzin
hat es eine ganz bestimmte Entwicklung in Rußland gegeben. Diese Entwicklung ist dadurch gekennzeichnet, daß in unvorstellbar kurzer Zeit märchenhafter Reichtum in den Händen einiger weniger - übrigens, nicht wenige von ihnen sitzen in der Regierung selbst - gelandet ist. Das Geld wird aus dem Land gezogen und dann - das können Sie lesen - an der Côte d'Azur verpraßt, während die arbeitenden Menschen in Rußland auf ihren Lohn warten müssen und die Rentnerinnen und Rentner an der Hungergrenze - und manchmal darunter - vor sich hinvegetieren.
Was man daraus lernen kann, ist das Folgende: Eine Gesellschaft, die eine solche Entwicklung zuläßt, die nicht darauf achtet, daß die ihre Strukturen wenigstens noch ein wenig mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben, ist nicht nur unsozial; nein, sie geht über kurz oder lang auch ökonomisch vor die Hunde. Das ist die Lehre, die wir aus der Krise in Rußland zu ziehen haben.
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Diese Lehre haben wir übrigens auch selbst zu beherzigen: Im Verbund mit ökonomischer Modernisierung ist sozialer Ausgleich keine Draufgabe auf eine funktionierende Ökonomie, sondern Bedingung dafür, daß Ökonomie auch in Zukunft funktionieren kann.
Ich fand es völlig in Ordnung, daß Sie über den Prozeß der europäischen Einigung geredet haben. Ihre besonderen Verdienste in diesem Bereich will ich überhaupt nicht schmälern. Warum sollte ich das tun? Aber es ist schon interessant, wie Sie über die Perspektive Europas reden; es ist interessant, daß Sie über den Bau des Hauses Europa reden, ohne auf die ökonomische Fundierung einzugehen. Was Sie gesagt haben, war alles nicht falsch. Aber jetzt geht es darum, die notwendigen Entscheidungen für die politische Union nachzuliefern, damit die gemeinsame Währung auf Dauer ein Erfolg wird. Was Sie bislang darüber geredet haben, reicht nicht.
Sie sagen zum Beispiel kein Wort übe r die Notwendigkeit und die Anstrengungen, die Sie unternehmen wollen, um in Europa eine Harmonisierung der Unternehmensteuern zu erreichen, damit diese unselige Standortkonkurrenz innerhalb eines gemeinsamen Marktes zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufhört.
Kein Wort haben wir darüber gehört, daß in diesem gemeinsamen Markt, wenn es nicht erhebliche ökonomische Verwerfungen geben soll oder wenn gewaltige Transfers von den reichen Ländern in die ärmeren Länder zu leisten sind, zumindest soziale Mindeststandards vereinbart werden müssen, damit Sozialdumping nicht an der Tagesordnung ist.
Kein Wort haben wir von diesem Bundeskanzler gehört zu der Frage, was diese Bundesregierung beitragen will, damit das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" durchgesetzt werden kann.
In Berlin wird gebaut. Das ist gut so; das ist auch notwendig. Aber in Berlin kann man studieren, was passiert, wenn man es verabsäumt, sich in einem gemeinsamen Markt um die sozialen Fragen zu kümmern. Dieser gemeinsame Markt, dieses Europa, ist eben nicht nur ein Ort ökonomischen Austauschs, sondern ebenso ein Ort der sozialen und kulturellen
Kommunikation. Diese Dimension kommt bei Ihnen nicht vor, meine Damen und Herren.
Es ist völlig richtig: Wir brauchen die Erweiterung. Ich finde völlig in Ordnung, wie Sie dies begründet haben, auch unter Rückgriff auf die deutsche Geschichte gerade gegenüber den Staaten, die früher im Ostblock zusammengepreßt waren. Dann aber will ich von denen, die die Beitrittsverhandlungen führen bzw. vorbereiten, hören, wie und in welchen Zeiträumen sie sich Freizügigkeit vorstellen, welche Übergangsfristen sie vereinbaren wollen. Dazu bleiben Sie jede Antwort schuldig. Das wird dazu führen, daß Sozial- und Lohndumping in Deutschland weitergehen. Das können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aber nicht verkraften, meine Damen und Herren.
Über diese Fragen der Gegenwart haben Sie weder im Hinblick auf den nationalen noch im Hinblick auf den internationalen Maßstab ein einziges Wort verloren. Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich, was ich verstehen kann, in der Vergangenheit verloren. Das ist Ihr eigentliches Problem: Sie sind nicht in der Lage, die gewaltigen schöpferischen Kräfte, die es in Deutschland gibt, zu bündeln und in das nächste Jahrtausend zu führen.
Ihre Bilanz ist mäßig. Deswegen kann sich Deutschland vier weitere Jahre Kohl nicht leisten.
Im übrigen wird dies auch innerhalb Ihrer eigenen Partei so gesehen. Ich halte es für ganz falsch, wie die Diskussion, die Ihre Parteifreunde sich Ihnen gegenüber leisten, interpretiert wird. Es geht nicht nur darum, daß da einer Ihren Job haben will - wer auch immer. Es hat mit etwas ganz anderem zu tun, nämlich damit, daß die Frauen und Männer in Ihrer Fraktion und in Ihrer Partei eines ziemlich genau spüren: Mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, kann diese Wahl nicht mehr gewonnen werden.
Deswegen robben einige weg, und andere gehen aufrecht von der Fahne. In jedem Fall ist es so, daß, bezogen auf Sie, Herr Bundeskanzler, nur noch darüber nachgedacht wird, wie man Sie denn möglichst schmerzlos los wird.
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Das ist die Solidarität, die Sie wirklich zu erwarten haben, auch wenn Beifall „verordnet" wird.
In dem ganzen Vorgang liegt, jedenfalls nach meiner Wahrnehmung, auch eine gewisse Tragik.
Sie liegt darin, daß wir Sozialdemokraten am Anfang unserer Kampagne gesagt haben: „Danke, Helmut, es reicht." Ihre Leute haben schon das Danke vergessen.
Ich will Ihnen deswegen einige Punkte nennen, die wir nach vorne bringen werden. Kein Zweifel, dieses Land, diese Volkswirtschaft, muß auf Innovationen setzen und muß die Fähigkeit, Innovationen schneller in Produkte und Verfahren umzusetzen, besser als in der Vergangenheit entwickeln.
Ich könnte mich, verehrter Herr Dr. Kohl, auf Sie berufen. Sie haben sich gestern nahezu enthusiastisch auf einen Prozeß berufen - ihn habe ich beschrieben -, der in dem Land, aus dem ich komme und das 20 Prozent der Anteile an Volkswagen hält, ablief. Hier kann man studieren, wie man mit Unterstützung des Großaktionärs, im übrigen auch mit Unterstützung der Landesregierung,
Innovationen sehr viel schneller als in der Vergangenheit in neue Produkte umsetzt und damit weltweit erfolgreich ist.
Nur soviel zu Niedersachsen.
Der Bundeskanzler redet gerne darüber, daß er, wie er es nennt, über die Straßen und Plätze zieht. Seit 1983 habe ich den Herrn Bundeskanzler auf den Straßen und Plätzen in Niedersachsen gelegentlich getroffen. 1986 hatte die Union in Niedersachsen 50 Prozent, und die SPD hatte 36 Prozent. Nachdem wir viele Male gemeinsam über die Straßen und Plätze des Landes gezogen sind,
stelle ich ganz ohne Eifer fest, daß wir jetzt 48 Prozent und Sie 35 Prozent haben. Das kann so weitergehen.
Lassen Sie uns also noch eine Weile über die Straßen und Plätze besonders in Niedersachsen ziehen, anderswo meinetwegen auch. Die Ergebnisse, die wir erzielen, sprechen für sich.
Was Innovation angeht, ist mir ein Thema wichtig. Es gibt keine Auseinandersetzung darüber, daß man auf die neuen Technologien, auf die Informationstechnologie, auf die Biotechnologie, setzen muß. Das geschieht. Aber wie ist das denn bei den Diskussionen um die Energiepolitik? Energie ist sicherlich die Basis einer Volkswirtschaft, denn ohne vernünftige Energieversorgung funktioniert sie nicht, gegenwärtig nicht und auch nicht in Zukunft.
Alle Möglichkeiten, sich die Option zu schaffen - das wäre ökonomisch und ökologisch vernünftig -, ohne die Kernenergie auszukommen, deren Entsorgungsnotwendigkeiten selbst Ihrer Umweltministerin jeden Tag Probleme bereiten, haben Sie und niemand anders blockiert.
Von dem, was ich dazu gesagt habe, habe ich nichts zurückzunehmen. Bei der Frage der Zeiträume, in denen man sich die Option, ohne Kernenergie auszukommen, schaffen kann, gibt es auf unserer Seite des Hauses sicher große Unterschiede. Ich halte es nicht für möglich, in den nächsten fünf oder zehn Jahren auszusteigen. Das weiß hier jeder und soll auch jeder wissen.
Aber wer eine vernünftige, weil sichere Energieversorgung etablieren will, der muß sich wenigstens darum bemühen, diese Option zu schaffen. Ein Unfall irgendwo würde uns in unüberwindbare energiepolitische und auch ökonomische Schwierigkeiten bringen. Hier liegt der Grund, warum ich in der Tat dafür bin, auch in Zukunft auf die Verfeuerung fossiler Brennstoffe zu setzen, also Kohle und Braunkohle in Deutschland mit besseren Wirkungsgraden als Energie zu nutzen.
Hier liegt auch der Grund, warum ich der Auffassung bin, daß wir es uns angelegen lassen sein sollten, die gewaltigen ökonomischen Möglichkeiten, die in den Technologien der Energieeinsparung stecken, für uns zu nutzen. Hier liegt ferner der Grund, warum
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ich nicht das geringste dagegen habe, dafür zu sorgen, daß Wind- und Solarenergie besser als in der Vergangenheit genutzt werden, nicht zuletzt deswegen, weil das auch eine industriepolitische Komponente hat:
nicht so sehr, weil wir in Deutschland Solarzellen produzieren können, sondern vielmehr, weil die gesamten Produkte, die hinter den Brennstoffzellen stecken, hochinteressant, hoch wertschöpfend und deshalb sehr wichtig sein können.
Kein Wort des Bundeskanzlers zu der Aufgabe, Industriepolitik zu betreiben, indem man sich eine Möglichkeit eröffnet, eine ebenso umweltschonende wie preiswerte, aber doch auch ökonomisch vernünftige Alternative zur Kernenergie zu schaffen.
Dann haben Sie, Herr Bundeskanzler, hier lange und in hohen Tönen über die Notwendigkeit von Ausbildung und Bildung geredet. Aber wie ist denn die Situation, seit Sie regieren?
Die Forschungs- und Entwicklungsausgaben sind in Ihrer Regierungszeit kontinuierlich zurückgenommen worden; Forschung und Entwicklung sind zurückgegangen.
Kurz vor der Wahl kommen Sie mit einer Mogelpakkung, die Sie ein 550-Millionen-DM-Programm nennen, einer Mischung aus Ihnen abgetrotzten BAföG-Erhöhungen und anderem, und sehen sich nicht einmal in der Lage, die Schulden, die Sie bei den Ländern für deren Vorfinanzierung des Hochschulausbaus haben, in anständiger Weise zu bezahlen. Das ist Ihre Politik auf dem Sektor von Forschung und Entwicklung.
Aber ernster ist eine andere Entwicklung, die in Ihrer Regierungszeit eingetreten ist und die mich sehr persönlich betrifft. Nach den Ermittlungen des Deutschen Studentenwerkes hat sich die soziale Struktur bei den Studenten von 1982 bis 1997 stark verändert. Das Deutsche Studentenwerk schreibt: Gemessen am Einkommen und Bildungsabschluß der Eltern hat der Anteil von Studenten aus einkommensschwächeren Familien von 23 Prozent 1982 auf 14 Prozent 1995 abgenommen. Das ist ein interessanter Vorgang, der mich deshalb sehr persönlich betrifft, weil ich die Zeit noch kenne, in der Kinder aus Arbeiterfamilien nicht deshalb, weil sie dümmer als andere gewesen wären, nicht zu Deutschlands höheren und hohen Schulen gehen konnten, sondern deshalb, weil wir damals - so war es jedenfalls bei uns zu Hause: Mutter Kriegerwitwe mit fünf Kindern - Schulgeld bezahlen mußten, die Schulbücher nicht kostenlos waren und die Fahrt zur nächsten Stadt, in der das Gymnasium war, auch selbst finanziert werden mußte.
Das sind meine eigenen Erfahrungen, die Gott sei Dank heute wegen der Bildungspolitik der Sozialdemokraten niemand mehr machen muß, die übrigens häufig der Gleichmacherei geziehen worden sind.
Die Zahlen, die ich Ihnen eben aus der Erhebung des Studentenwerkes vorgelesen habe, weisen auf die gefährliche Entwicklung hin, daß es wieder einmal dazu kommen könnte, daß die Entscheidung, ob jemand zu Deutschlands höheren und hohen Schulen gehen kann oder nicht, nicht etwa von seiner Intelligenz abhängt. Ich sage Ihnen sehr deutlich: Meine Partei und ich werden es nie zulassen, daß die Frage, ob jemand auf Grund von Bildung bessere Lebenschancen als jemand anderes erhält, von Mamas oder Papas Geldbeutel abhängt. Das soll nie wieder in Deutschland geschehen.
Das ist der Grund, warum wir Vorschläge zum BAföG gemacht haben. Das ist auch der Grund, warum wir das von Ihnen mit diesen Einschränkungen und mit diesem Aufbau sozialer Barrieren, die sich gegen Chancengleichheit richten, beschlossene Hochschulrahmengesetz nicht etwa blockiert - Unsinn zu vermeiden ist keine Blockade; vielmehr ist es vernünftig -, sondern abgelehnt haben.
Sie werden es erleben, wie wir die Möglichkeiten zur Veränderung, die hier gegeben sind, nutzen werden - aber ohne die soziale Diskriminierung der Kinder aus Arbeitnehmerfamilien. Darauf können Sie sich verlassen.
Ich habe überhaupt kein Problem mit dem Begriff der Elite.
Natürlich braucht auch eine Demokratie Eliten. Aber die Frage ist, wie sie gebildet werden und wie frei der Zugang zu den angeblichen oder tatsächlichen Eliten ist. Dazu sage ich: Elitebildung kann in einer Demokratie nur dann funktionieren, wenn Bildungsbarrieren, die den Zugang zu den Eliten versperren, beseitigt, und nicht neu aufgebaut werden, wie Sie das gemacht haben.
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Ein weiterer Punkt, um den es uns geht und über den in der letzten Zeit viel geredet worden ist, ist die Orientierung dieser Industriegesellschaft in Richtung auf eine Dienstleistungsgesellschaft. Kein Zweifel: Die Entwicklung moderner Gesellschaften bringt eine solche Orientierung mit sich. Das wird nicht anders zu machen sein. Aber es einfach laufen zu lassen und politisch nicht zu regeln, das wird sich als gefährlicher Irrtum erweisen.
Eine Tendenz, die darin besteht, daß die großen Handelsketten aus einem Vollerwerbsarbeitsverhältnis drei 620-DM-Jobs machen, ist sozial schädlich und ökonomisch unvernünftig.
Wenn es um die Entwicklung einer Dienstleistungsgesellschaft geht, dann besteht die Aufgabe darin, hier wirksame Mißbrauchskontrollen einzuführen und deutlich zu machen, daß diejenigen - vor allem Frauen -, die diese Jobs haben, eigene Ansprüche bei den Sozialversicherungsträgern erwerben müssen.
In diesem Zusammenhang möchte ich eine Bemerkung zu dem Modell machen, das hier unter dem Stichwort Kombilohn diskutiert worden ist. Der Bundeskanzler - Sie sehen, daß ich ihm gestern genau zugehört habe - hat vor den Vertretern der Automobilindustrie gesagt, daß er noch gar nicht so recht wisse, ob das der Weisheit letzter Schluß sei, was Blüm gerade vorgelegt habe.
- Nein, Herr Bundeskanzler, das ist ja aufgeschrieben worden. Sie können mir schon glauben. Sie haben es vielleicht vergessen; das will ich gerne einräumen. Aber das war schon so.
Sie haben dort deutlich gemacht, daß Sie auch nicht genau wüßten, ob dieses Modell das richtige sei. Aber wir wissen eines: Wenn man wirklich in diesem Bereich Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren will, dann macht es schon Sinn, sich an der Finanzierung der Lohnzusatzkosten zu beteiligen. Das ist der Grund, warum das Modell, das in unserer Fraktion entstanden ist, das ökonomisch vernünftigere ist, weil es weniger Mitnahmeeffekte ermöglicht. Deswegen werden wir es auch umsetzen.
Mir ist dabei gleichgültig, ob Sie das „Kombilohn" oder sonstwie nennen. Die Bezeichnung ist nicht wichtig; vielmehr kommt es auf den Inhalt an. Darüber sollte - wenn Sie dazu bereit sind - in der Tat noch einmal gesprochen werden.
In diesen Zusammenhang gehört auch ein anderer Punkt, wenn wir uns schon mit diesem Thema beschäftigen. Es geht um jene Jobs, die im Westen 620 DM und im Osten 520 DM bringen. Ich weiß, es gibt aus den Gewerkschaften und auch von dem einen oder anderen aus meiner Partei die Forderung: Schafft diese Jobs ab!
Ich bin dabei - auch aus eigener Erfahrung - zurückhaltender. Meine Mutter mußte früher als Putzfrau unter diesen Bedingungen arbeiten. Das habe ich noch nicht ganz vergessen. Ich bin ziemlich sicher, daß diese Jobs für viele ein zusätzliches Einkommen bedeuten, mit dem man vielleicht den Urlaub finanziert oder auf andere Weise zur Gestaltung des Lebensunterhaltes beiträgt.
Daher - da haben Sie mich falsch zitiert, wenn Sie es überhaupt richtig zitieren wollten - bin ich nicht für die Abschaffung dieser Jobs. Aber darüber nachzudenken, ob es nicht sinnvoll ist, statt einer pauschalen Versteuerung dieser Jobs eine pauschale Versicherungspflicht einzuführen, ist doch wohl alle Mühen wert. Das sollten wir in Angriff nehmen.
Wenn Sie dann - wie es in Österreich der Fall ist - denjenigen, denen der Arbeitgeber - der dadurch nicht mehr belastet wird - diese 620-DM-Jobs versichert hat, die Möglichkeit geben, selbst etwas draufzulegen, wenn sie wollen und können, haben Sie zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Sie gewähren - wenn auch kleine - eigene Ansprüche, Sie begrenzen aber auch die Mißbräuchlichkeit solcher Arbeitsverhältnisse. Ich finde, so herum wird ein Schuh daraus. Das ist Orientierung auf Dienstleistungen, ohne das Prinzip sozialer Sicherheit über Bord zu werfen.
Wir haben ferner deutlich zu machen: Wie soll es mit der Steuerreform weitergehen? Darüber hat der Parteivorsitzende, hat Oskar Lafontaine gestern das Notwendige gesagt. Ich will hier zwei Dinge deutlich machen: Ich freue mich natürlich auch, daß Sie nun nach mehrjähriger Diskussion, dreieinhalb Wochen vor der Bundestagswahl, Ihre nicht finanzierbaren Steuerreformpläne vergessen und auf das Modell der SPD einschwenken.
Das ist bemerkenswert.
Wenn man sich in allen Einzelheiten anschaut, was Theo gestern vorgetragen hat, landet man genau dabei: maximal 10 Milliarden DM Nettoentlastung, bei den Eingangssteuersätzen geringe Differenzen, beim Spitzensteuersatz - man höre und staune - kaum noch Differenzen. Das kann man nicht glauben, wenn man frühere Erklärungen kennt.
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Im übrigen denke ich: Es ist alles - wohl aus einem einzigen Grund - eine Kopie dessen, was wir vorgeschlagen haben. Meine Damen und Herren, Sie - ich meine damit die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen - müssen mitbekommen haben, wenn Sie über die Straßen und Plätze ziehen, daß die Menschen in Deutschland ganz genau spüren, daß all Ihre vergangenen Steuerpläne einen gewaltigen Mangel hatten: Sie waren mit einer gewaltigen Gerechtigkeitslücke bedacht. Das war ihr Mangel.
Sie sind nicht so verfahren, unten und oben etwas zu geben, sondern Sie haben insbesondere die Menschen, die jeden Tag in die Fabriken und Verwaltungen gehen und hart arbeiten, kontinuierlich belastet, um oben entlasten zu können. Das nenne ich Gerechtigkeitslücke. Das ist das Merkmal Ihrer Steuerpolitik. Weil Sie das in Ihren Wahlkreisen spüren, gehen Sie von dem ab, was am Petersberg noch so eine Art Offenbarung gewesen ist. Das ist der Grund - und nichts anderes.
Wir bleiben dabei: Für die Menschen, die ein durchschnittliches Einkommen mit nach Hause bringen, um sich und ihre Familien durchzubringen, wird es mit der Realisierung unserer Vorstellungen nach dem 27. September insgesamt gesehen eine Entlastung von 2 500 DM geben, eine Entlastung, die sicher in den Konsum fließen und auf diese Weise der Binnenkonjunktur aufhelfen wird. Denn wir leiden in der Tat noch immer darunter, daß die Binnenkonjunktur unterentwickelt ist. Da braucht es noch einen Schub. Dieser kann durch die Entlastung der arbeitenden Menschen mit bewerkstelligt werden. Das ist der erste Eckpunkt unserer Steuerpolitik.
Der zweite Eckpunkt unserer Steuerpolitik hat in der Tat etwas mit den kleinen und mittleren Unternehmen zu tun. Da ist keine Differenz in den Aussagen, Herr Gerhardt, wie Sie versucht haben, den Menschen, die uns zuhören und zuschauen, zu suggerieren, sondern das entspricht einander. Auf der einen Seite Entlastung der Durchschnittsverdiener und auf der anderen Seite bei den Unternehmensteuern Konzentration auf das, was man Mittelstand nennt - das ist eine vernünftige, die Wirtschaft in Deutschland stärkende und damit arbeitsplatzsichernde und arbeitsplatzschaffende Politik. Die wird in Deutschland nach dem 27. September üblich werden.
Der nächste Punkt. Modernität und Modernisierung von Wirtschaft hat mit flexiblerer Organisation der Arbeit zu tun; das ist gar keine Frage. Dann geht es um die Bedingungen, dann geht es zum Beispiel darum, ob man die friedenserhaltende Funktion der
Flächentarifverträge fortsetzen oder ob man sie durchlöchern will. Wir sind gemeinsam mit den Gewerkschaften für eine Politik, die den Flächentarif verteidigt, ihn aber so öffnet, daß unternehmensbezogene Notwendigkeiten realisiert werden können. Dafür gibt es viele Beispiele - im übrigen auch bei Volkswagen und Conti, über die wir gestern geredet haben.
Diese Politik werden wir mit den Freunden in den Gewerkschaften durchsetzen, weil es eine Notwendigkeit ist.
Flexibilisierung der Organisation der Arbeit, Hilfe seitens der Beschäftigten, wenn das Unternehmen in der Krise ist - das ist in den Betrieben und Unternehmen entgegen dem, was die Verbandsvertreter so von sich geben, längst Wirklichkeit.
Wir werden das Prinzip, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einer Krise auf soziale Leistungen verzichten, um ein anderes Prinzip ergänzen. Wir werden nämlich dafür sorgen, daß, wenn die Krise überwunden ist, auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anteil am neuen Erfolg des Unternehmens haben. Das ist Gerechtigkeit. Sie betreiben das Gegenteil.
Ich will mich auch mit dem beschäftigen, was Sie besonders kritisieren, nämlich mit dem, was wir für den Fall der Regierungsbildung vereinbart haben, um die Fehlentwicklungen, die Sie zu verantworten haben, zu korrigieren.
- Ich sage das sofort.
Übrigens: Wer darüber redet, der tut gut daran, sich einmal mit dem Reformbegriff auseinanderzusetzen, den Sie im Volk unterzubringen versuchen. Zu Zeiten Willy Brandts und Helmut Schmidts galt eine Reform als etwas, mit dem man die Lebenslage der arbeitenden Menschen verbesserte. Deshalb gab es Zustimmung für Reformkonzepte.
Heute hat sich das grundlegend geändert. Wenn einer der durchschnittlich verdienenden Menschen heute das Wort „Reform" nur hört, bekommt er schon einen Schrecken und denkt: Jetzt wollen Kohl und Blüm wieder an mein Portemonnaie - so verkommen ist der Reformbegriff in Ihrer Regierungszeit.
Das ist der Grund, warum ich nicht sehen kann, wieso in dem Versprechen, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wiederherzustellen, die Rücknahme einer Reform liegen könnte. Was ist denn das für eine Reform?
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Übrigens: Kluge Unternehmensleitungen haben sich - 70 Prozent sind damit befaßt - mit ihren Betriebsräten längst auf 100 Prozent Lohnfortzahlung verständigt. Wie kann man nur der Auffassung sein, daß das, was für 70 Prozent eine Selbstverständlichkeit ist, für die restlichen 30 Prozent nicht gelten sollte? Das ist doch Spaltung des Volkes in einer solchen Frage und das Gegenteil von Zusammenführen.
Im übrigen hat dies auch etwas mit der Frage zu tun, wie man die Beschäftigten in den Betrieben zu mehr Arbeit, zu mehr Leistungen bringen zu können glaubt. Die eine Seite meint: Wenn wir nur gehörig Druck machen, wenn wir nur gehörig Angst entstehen lassen, dann funktioniert das schon. Dies, meine Damen und Herren, ist nicht unsere Vorstellung. Die Entwicklung einer Industriegesellschaft beruht auf immer mehr Produkten, die wissensbasiert sind. Wir brauchen immer mehr immer besser ausgebildete Menschen. Niemand sollte sich dem Irrtum hingeben, diese Menschen wären zu Leistungen zu bringen, indem man ihnen angst macht. Nein, man muß sie motivieren! Kluge Unternehmer haben das verstanden. Das ist der erste Punkt.
- Sie haben es nicht kapiert. Das weiß ich wohl.
Zweitens. Wie war das bei der Rente? Sie haben eine Rentenformel eingeführt, die ein Absenken der Rente von 70 auf 64 Prozent bedeuten wird. Wen trifft das vor allen Dingen? - Das trifft doch insbesondere jene zumeist älteren Frauen, die ihre Männer im Krieg verloren haben,
die ihre Kinder durchgebracht haben und die vor allen Dingen die Lasten des Aufbaus im Westen getragen haben. Denen an die Rente zu gehen ist nicht nur sozial ungerecht, nein, es ist unanständig, was Sie da machen.
- Ich weiß, daß Sie sich darüber aufregen - weil Sie Druck bekommen, weil die Menschen das nicht mehr mitmachen, was Sie ihnen in den letzten 16 Jahren zugemutet haben.
Sie werden das am 27. September dieses Jahres merken.
Um das dritte zu nennen, was wir als Korrektur von Fehlentwicklungen angekündigt haben: Beschäftigen wir uns doch einmal mit dem Gesundheitssystem! Die Deutschen waren zu Recht stolz darauf, ein Gesundheitssystem zu haben, in dem eben nicht der Grundsatz gilt: Wenn du arm bist, mußt du früher dran glauben.
- Ich behaupte auch gar nicht, daß das jetzt schon gelten würde.
Aber es gibt Entwicklungen, die Sie eingeleitet haben, die ich für gefährlich halte.
Ich nenne Ihnen zwei.
Da gibt es die Maßnahme, chronisch Kranken, Menschen, die Schmerzen erleiden, die Lebensangst haben müssen, die besten Medikamente nur dann zu geben, wenn sie kräftig draufzahlen können. Viele können das nicht. Das ist doch nicht in Ordnung. Das kann man doch nicht machen!
Da gibt es, ebenfalls von Ihnen angeordnet, für diejenigen, die nach 1979 geboren sind, keine Bezahlung des Zahnersatzes durch die Krankenkassen mehr. Meine Damen und Herren, das ist doch eine Politik, die Sie nach dem Muster gemacht haben: Wenn wir dem Volk schon weniger zu beißen geben, wozu braucht es dann gesunde Zähne?
Wer diese Fehlentwicklungen zurücknimmt, der blockiert keine Reformen, der nimmt auch keine Reformen zurück, sondern der sorgt für ein gesellschaftliches Klima,
in dem Reformen, verstanden als die Verbesserung der Lebenslage der breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung, überhaupt erst wieder möglich werden. Dieses Klima haben Sie zerstört.
Ich will mich zum Schluß
mit dem befassen, was diese Koalition, was insbesondere der Bundeskanzler als Wahlkampfstrategie aus-
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gegeben haben und was er hier heute, nur sehr notdürftig kaschiert, zum besten gegeben hat. Da geht es, so behauptet Ihr Generalsekretär - -
- Ich bin der Auffassung, verehrter Herr Fischer, man sollte bei Herrn Hintze nicht immer vom „Pfarrer Hintze" reden. Das ist eine Beleidigung all der Pfarrer, die in Deutschland ihre Arbeit tun. Da müssen Sie ganz vorsichtig sein.
Ich wollte über das reden, meine sehr verehrten Damen und Herren, was die Wahlkampfstrategie sein soll.
Immer wieder hört man - ein bißchen ist das ja auch in dieser Debatte erkennbar gewesen -, Sie bereiten sich auf etwas vor, was Sie, Herr Bundeskanzler, Lagerwahlkampf nennen.
Das ist ein hochinteressanter Begriff, mit dem man sich ein wenig beschäftigen sollte. Wer einen Lagerwahlkampf führen will, Herr Bundeskanzler, der trennt ja wohl das Volk in die Guten auf der einen Seite - das sind natürlich, denke ich einmal, nach Ihrem Verständnis Ihre Wähler - und die Schlechten auf der anderen Seite.
Wer einen Lagerwahlkampf führen will, der versucht ganz bewußt, das Volk zu spalten,
um seine Macht abzusichern. Das ist das, was Sie versuchen.
Ich sage aber deutlich: Es ist nicht Aufgabe eines deutschen Bundeskanzlers, das Volk über einen Lagerwahlkampf zu spalten. Es ist Aufgabe eines deutschen Bundeskanzlers, es zusammenzuführen. Irgendwann hatten Sie das einmal begriffen. Aber inzwischen haben Sie es aufgegeben. Das ist Ihr Problem.
Wir werden in den nächsten dreieinhalb Wochen meinethalben auf den Straßen und Plätzen ins Gespräch kommen. Ich würde ja wirklich gerne einmal mit Ihnen die Lage der Nation vor den Kameras des deutschen Fernsehens diskutieren.
Ich würde es auch deshalb gerne machen, weil ich immer lesen muß, ich sei für Sie nicht zu greifen. Greifen Sie doch einmal. Warum denn nicht, meine Damen und Herren? Was meinen Sie, wie viele interessiert wären!
Kommen Sie aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit hervor. Widmen Sie sich den Aufgaben, die wir heute und in der Zukunft haben. Lassen Sie uns das alles ganz ruhig und ganz gelassen miteinander diskutieren. Dann können die Menschen in Deutschland entscheiden. Ich bin ganz sicher, sie werden sich entscheiden am 27. September, und zwar für diese, die linke Seite des Hauses.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.