Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war Wahlkampf nach CSU-Art.
Das war kaum zu unterbieten. Dafür gibt es BravoRufe und viel Beifall. Es hätte mich bei Michel Glos auch gewundert, wenn es anders gekommen wäre.
Es ist in der Tat ein überzeugendes Bild: In Niedersachsen breitet sich die Wüste Sahara aus.
Die Menschen fliehen; sie fliehen gen Süden.
Große Karawanen machen sich auf den Weg, dem verheißenen Glück zu folgen, von dem sie hier gehört haben. Das Paradies hat einen Namen: Bayern.
Joseph Fischer
Dort herrschen paradiesische Zustände; denn die CSU regiert seit anno dunnemals. Der Hausmeister im Paradies heißt selbstverständlich Michael Glos.
Ihre Truppe will hier heute im Grunde genommen nur Geschlossenheit zeigen. Dabei weiß sie genau, daß die wirklichen Probleme ganz woanders liegen. Wenn ich mir die Debatte anschaue, die Sie über den Bundeskanzler geführt haben, stelle ich fest: Es sind doch die CDU/CSU und die F.D.P., die das Fell von Herrn Dr. Kohl bereits verteilen, nicht die Opposition.
Daß Sie hier abzulenken versuchen, Herr Glos, buchen wir unter Wahlkampf ab.
Ich wünsche mir Michael Glos als Oppositionsführer. Das war eine gute Oppositionsrede. Das wird ein einfaches Regieren, wenn die Opposition nur noch so besteht, wie Herr Glos es dargestellt hat. Das wünsche ich mir.
Aber, Herr Glos, was ich Ihnen nicht durchgehen lasse - heute ging es wirklich in die Dreckkiste Ihrer politischen Agitation -,
ist, daß Sie hier auf eine unverhohlene Art und Weise meinen, wieder die rechten Stammtische und die Vorurteile gegenüber den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern bedienen zu müssen.
Wir können da unterschiedlicher Meinung sein, aber gerade angesichts der Brisanz und angesichts jener dramatischen Gewaltwelle gegen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, Menschen anderer Hautfarbe, finde ich es infam, hier Fakten nicht darzustellen, sondern zu unterschlagen, Herr Glos. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Sie stellen sich hierhin und agitieren gegen weitere Zuwanderung. Ich erwarte nicht, daß Sie unsere Position zur Einwanderung übernehmen. Ich erwarte auch nicht, daß Sie die Position der CDU zur Einwanderung übernehmen.
Es zeigt Ihre Zukunftsfähigkeit, daß einer der umstrittensten Punkte in der Programmdebatte zwischen CDU und CSU die Frage ist: Ist Deutschland ein Einwanderungsland, ja oder nein? Man muß mehr als Tomaten, man muß meines Erachtens Bierkrüge auf den Augen haben, damit man behaupten kann, wir seien kein Einwanderungsland. Selbst im glücklichen Bayern wird man dieses nicht ignorieren können.
Ich zitiere, Herr Glos, eine Meldung, die das Faktum ganz konkret anspricht. Dort heißt es:
Zuzug von Ausländern nimmt ab - Geringeres Bevölkerungswachstum
Im vergangenen Jahr sind erstmals seit 1985 mehr Ausländer aus Deutschland weggezogen als neu hinzugezogen. Insgesamt seien 1997 rund 615 000 Ausländer in die Bundesrepublik gekommen, darunter 104 000 Asylbewerber, teilte das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Donnerstag mit ... Rund 637 000 Ausländer verließen Deutschland im vergangenen Jahr ...
Das sind die Fakten, meine Damen und Herren. Von einer demokratischen Partei erwarte ich, daß sie der Bevölkerung diese Fakten zur Kenntnis gibt und nicht versucht, eine ganze soziale Gruppe als Sündenbock in die politische Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag einzubinden, um vom eigenen politischen Versagen abzulenken.
Die heutige Haushaltsdebatte wird man nicht führen können; denn in Wirklichkeit geht es nicht um den Haushalt. Sowohl Herr Waigel als auch Herr Kohl, als auch die Opposition, wir alle wissen: Der Haushaltsentwurf, wie er jetzt vorliegt, wird den Wahltag unter keinen Umständen überdauern. Jeder weiß, daß die Rede des Bundesfinanzministers über die wirtschaftlichen Basisdaten, über Haushaltsentwicklung, Schuldenentwicklung, Arbeitslosenentwicklung den Wahlkampf nicht überdauern wird. Diese Haushaltsdebatte wurde von Ihnen angesetzt - was seitens der Mehrheit und der Regierung völlig legitim ist -, um hier noch einmal ein Forum für den Wahlkampf zu haben.
Natürlich haben Sie nicht den Zustand Ihres eigenen Ladens bedacht, als Sie diese Debatte angesetzt haben. Insofern wird man diese Debatte nicht führen können; denn es geht hier - Herr Glos hat die ganze Zeit die Schrecknisse, den Untergang Deutschlands, wenn Gerhard Schröder Bundeskanzler wird, an die Wand gemalt - ganz entscheidend darum: Wer steht denn hier zur Wahl?
Da wird man sich Ihnen, Herr Dr. Kohl, energisch zuwenden müssen. - Ich sehe, Herr Solms lächelt schon ganz hingebungsvoll.
Joseph Fischer
Denn die entscheidende Frage ist ja, ob es nach der Devise geht: Wählt Helmut Kohl, damit wir ihn endlich loswerden!
Das zumindest ist die Position, wie sie Herr Solms dargestellt hat. Das zumindest ist die Position, wie sie Herr Westerwelle dargestellt hat. Das ist die Debatte, wie sie innerhalb der Union von Herrn Dr. Geißler, von Herrn Schäuble ganz unverhohlen angezogen wurde.
Auf der einen Seite werden Sie - Kollege Scharping hat zu Recht darauf hingewiesen - als Weltmeister dargestellt, als Garant, als Stabilitätsanker in einer unruhigen Zeit. Auf der anderen Seite wird gleichzeitig verkündet: Aber den wollen wir nach einer gewonnenen Bundestagswahl möglichst schnell loswerden. Das ist der Vorgang, von dem diese Debatte und die Beschimpfung der Opposition durch Michael Glos und andere ablenken sollen. Genau das können wir uns meines Erachtens nicht erlauben.
Herr Dr. Kohl, Sie demonstrieren jetzt wieder Siegeszuversicht und Geschlossenheit in der Koalition. Herr Westerwelle durfte nicht kommen.
- Doch, da sitzt er jetzt. Entschuldigung, ich nehme alles zurück.
- Nur das, was ich über Herrn Westerwelle gesagt habe. Daß er nicht kommen durfte, das nehme ich zurück. Den Rest nehme ich selbstverständlich nicht zurück.
Meine Damen und Herren, das ist der entscheidende Punkt - ich möchte Sie nochmals darauf hinweisen -: der Zustand dieser Koalition und wie sie mit ihrem Bundeskanzler umgeht. Sie wissen ganz genau, daß Helmut Kohl nicht in der Lage sein wird, die notwendigen Reformen in diesem Land nach einer möglicherweise gewonnenen Wahl noch in Angriff zu nehmen.
Sie wissen mittlerweile auch, daß er nicht einmal mehr in der Lage sein wird, diese Wahlen zu gewinnen, weil es offensichtlich ist, daß er nicht imstande war, diese Reformen anzupacken. Deswegen haben Sie ihn vor der Wahl in Frage gestellt, deswegen dieses Chaos.
Da sage ich Ihnen, Herr Glos: Entscheidend ist nicht, ob Sie die Opposition beschimpfen. Entscheidend wird vielmehr sein, welche der politischen Parteien in der Lage ist, endlich den Reformstau nach sechzehn Jahren Helmut Kohl, nach acht Jahren verfehlter Einheitspolitik und vertaner Chancen in diesem Lande aufzubrechen. Das ist die Frage, auf die
Sie Antworten geben müssen, und das ist die Frage, die bei den Wahlen zur Entscheidung ansteht.
Die Rede von Theo Waigel zur Einbringung des Haushalts gestern war meines Erachtens eine Abdankungserklärung. Er hat den Dichter zitiert: „Wort ist Währung, je wahrer, desto härter." Wenn das der Maßstab ist, dann haben Sie gestern politisches Falschgeld geliefert, Herr Waigel;
denn Sie haben wieder geschönt. Sie zitieren das erste Quartal mit hoffnungsvollen Zahlen. Daß die Erwartungen für das zweite und dritte Quartal aber nach unten korrigiert werden mußten, daß demnach Ihre Annahmen Makulatur sind, daß Beschäftigungseffekte über das wenige hinaus, was wir im konjunkturellen Hoch im Westen haben, vermutlich nicht vorliegen werden, all das haben Sie nicht angesprochen. Die Mehrwertsteuererhöhung, einen krassen Wortbruch des Bundeskanzlers, haben Sie nicht angesprochen, Ihren Anschlag auf das Bundesbankgold, die strukturellen Haushaltsrisiken auch nicht. Lesen Sie einmal die konservativen Zeitungen, die Wirtschaftszeitungen durch! Nicht e in strukturelles Haushaltsrisiko haben Sie in Ihrer Zeit als Finanzminister wirklich abgearbeitet.
Sie loben die Investitionsquote, das Sinken der Staatsquote. Dazu sage ich Ihnen: Wir haben die niedrigste Investitionsquote. Der Kollege Metzger hat gestern zu Recht darauf hingewiesen: Das einzige, was bei der Investitionsquote gestiegen ist, ist der Rüstungsanteil an der Investitionsquote, während gleichzeitig dort, wo wir es dringend brauchten
- Stichwort „Binnennachfrage" -, etwa bei den Kommunen, überall dort, wo Nachfrage stimuliert werden könnte, die Investitionsquote zusammengebrochen ist und sich faktisch im Tendenzbereich null bewegt. Das ist die Situation, mit der wir es hier zu tun haben.
Hohe Arbeitslosigkeit. Wir reden jetzt einmal nicht darüber, daß die deutsche Einheit eine besondere Herausforderung war und ist. Das sei konzediert. Aber acht Jahre nach der Einheit können wir nicht immer wieder nur die deutsche Einheit als Vorwand für das Versagen, für den Reformstau anführen. Hohe Arbeitslosigkeit, stagnierender Aufbau Ost! Schauen Sie sich doch einmal die Entwicklung der letzten Arbeitslosenzahlen an, meine Damen und Herren. Das einzige, was es hier an positiver Entwicklung gibt, geht auf eine verstärkte Inanspruchnahme von arbeitsfördernden Maßnahmen zurück.
- Ich zitiere Herrn Jagoda, ich habe die Presseerklärung von seiner Juli-Pressekonferenz hier.
Ohne diese verstärkte Inanspruchnahme hätten wir faktisch eine weitere negative Abkoppelung des
Joseph Fischer
Arbeitsmarktes Ost. Das ist die Realität in diesem Lande nach acht Jahren Aufbau Ost unter Helmut Kohl.
Staatsverschuldung, Jugendarbeitslosigkeit - all das sind Dinge, zu denen gestern nichts gesagt wurde; es wurde schöngeredet. Im Gegenteil: Herr Bundeskanzler, Sie haben ja geglaubt, die Position „Aufschwung, Aufschwung", das wäre es jetzt, Sie könnten also den Aufschwung verkünden, und der Aufschwung wäre da. Ich sage Ihnen: Dieser Aufschwung hält genau bis zum 27. September 1998. Danach werden wir eine ganz andere Situation haben.
- Dieser Aufschwung hält bis zum 27. September. Das hat mit Parteipolitik jetzt nichts zu tun. Ich beteilige mich nicht an dieser vordergründigen Debatte.
Wenn ich mir anschaue, daß wir im wesentlichen einen exportgestützten Aufschwung haben, wenn ich sehe, daß die verfügbaren Masseneinkommen seit Jahren rückläufig sind, wenn ich mir den Zusammenbruch der Gemeindefinanzen anschaue, dann sage ich Ihnen: Wenn die exportgestützte Konjunktur durch die veränderten außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen tatsächlich unter Druck gerät, dann geraten wir hier in eine verflucht gefährliche Situation. Dann haben wir den Reformstau Kohl bei gleichzeitig noch enger werdenden Finanzspielräumen - bei einer abnehmenden Konjunktur oder gar bei rezessiven Entwicklungen. Das ist durchaus eine Perspektive, die nach dem 27. September 1998 - unabhängig vom Ausgang der Wahl - in diesem Land Wirklichkeit werden kann.
Wir können an Japan sehen, welche Schwierigkeiten es macht, wenn ein Land seine Strukturreform vertagt hat. Diese Vertagung der Strukturreform werden Sie nicht bei der Opposition abladen können; denn Sie tragen seit 16 Jahren Verantwortung in diesem Land. Aus dieser Verantwortung werden wir Sie nicht entlassen.
Ich kann mich noch gut erinnern: der Bundeskanzler auf dem Weg nach Asien, die Fotos mit Suharto beim Angeln. Das liegt alles vor. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es geheißen hat: Von Asien lernen heißt siegen lernen.
Herr Glos, wenn Sie sich so über Jürgen Trittin hermachen, dann will ich Ihnen noch einmal ideologischen Nachhilfeunterricht geben;
denn Sie sind hier im wahrsten Sinne des Wortes in eine Nachfolgeposition gerückt. Sie sind ja der letzte Fan des kommunistischen Politbüros in Peking, wie ich einem Artikel, der mit Ihrem Namen versehen
war, aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die über jeden Verdacht erhaben ist, entnommen habe. Sie plädierten für einen schonenden und freundlichen Umgang mit dem chinesischen Politbüro.
Da kann ich nur sagen: Der KB, den Sie vorhin im Zusammenhang mit Jürgen Trittin angeführt haben, war eine maoistische Gruppe. Sie sind ein würdiger Nachfolger, Herr Glos.
Ich verstehe den Vorwurf nicht ganz, aber ich möchte Sie an diesem Punkt darauf hinweisen: Sie von der F.D.P. und von Teilen der CDU, von der Bundesregierung waren es doch, die Asien vor zwei Jahren noch als das große Vorbild hingestellt haben.
- Herr Bundeskanzler, Sie sind heute aber hektisch mit Ihren Zwischenrufen. So kenne ich Sie gar nicht.
Also gut, der Bundeskanzler hat Asien nie gut gefunden, dann waren es halt die anderen. Ich nehme das zur Kenntnis. Herr Bundeskanzler, wie konnte ich nur unterstellen, daß ein Staatsmann von Ihrem Format und Ihrer Weitsicht dem Irrtum unterlegen wäre, daß Asien für uns ein Vorbild sein könnte. Das waren selbstverständlich die Kleingeister in Ihrer Fraktion, in der F.D.P. und andere in der Regierung.
- Lambsdorff würde ich nie als Kleingeist bezeichnen! Entschuldigung, Graf Lambsdorff. Das würde ich nicht wagen.
Aber ich kann mich an den Gipfel in Davos vor zwei Jahren erinnern, wo weltweit die Notabeln zusammengekommen sind, wo Asien als Vorbild hingestellt wurde. Ich kann mich daran erinnern, wie manch führender Vertreter der deutschen Wirtschaft in vertraulichem Gespräch hinter mühselig vorgehaltener Hand gesagt hat: „Na ja, die nehmen es halt mit der Demokratie noch nicht so genau; da gibt es noch einen starken Staat" und ähnliches mehr.
Und heute? Die Globalisierung ist eine Realität. Aber wir erkennen an der Asienkrise, daß Globalisierung nicht die Anarchie unregulierter Märkte bedeutet,
sondern daß Globalisierung - ich bin nachdrücklich
für private Investitionen in sich entwickelnden Märkten, deswegen bin ich auch nachdrücklich für Regeln
- globale Regeln braucht, die Investitionssicherheit schaffen.
Joseph Fischer
Ich komme zu der obersten Regel. Ich erinnere mich an den Besuch des Bundeskanzlers bei der Volksbefreiungsarmee in China und an seinen artigen Diener vor der angetretenen Truppe. Die oberste Regel, die wir lernen müssen, ist, daß Globalisierung eine Globalisierung von Menschenrechten, von Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit voraussetzt. Ohne das wird es keine Investitionssicherheit geben. Das konnten wir gerade im Zusammenhang mit der Asienkrise lernen.
Ich komme jetzt zu den zwei Interviews von Wolfgang Schäuble und Ihnen, Herr Bundeskanzler. Ich meine das berühmte Interview: „Ihr werdet euch wundern". CDU/CSU hat sich nach der Lektüre dieses Interviews gewundert. Wir haben uns gefreut.
Wir bedanken uns. Wolfgang Schäuble hat natürlich sofort in einer anderen Wochenzeitung nachgezogen. Auch darüber haben wir uns gefreut. Das alles wurde mittlerweile dementiert. Helmut Kohl will für volle vier Jahre Bundeskanzler werden.
Aber Sie sind als Union nicht so blöde, wie Sie sich manchmal darstellen, sondern Sie wissen ganz genau: Sie brauchen ein neues Thema. Ich finde es schon interessant, wenn der größte Staatsmann, den die Union in den 90er Jahren hervorgebracht hat, der Pfarrer Hintze,
im Zusammenhang mit der Rußlandkrise in freudiger Erregung - das ist nicht mehr zum Lachen -
glaubt, ein neues Thema erkannt zu haben, nämlich das Thema Krise: Jetzt brauchen wir Helmut Kohl, den Garanten, wenigstens bis über den Wahltag hinweg, danach kann er in den Ruhestand gehen. Das entnehme ich auch einem Interview des Bundesverteidigungsministers im Zusammenhang mit der Entwicklung im Kosovo in der „Frankfurter Rundschau". Das ist der Versuch, innenpolitisch auf außenpolitischen Krisengewinn zu spekulieren. Das wird nicht aufgehen. Aber ich halte das für eine ganz schlimme Entwicklung. Sie müssen wissen, was Sie damit in Frage stellen.
Es gibt und hat bisher einen breiten Konsens - bei allen Unterschieden - zum Beispiel auch in der Rußlandpolitik gegeben. Es gibt keine Alternative zu einer Stabilisierung Rußlands. Wir müssen das Unsere dazu beitragen. Die entscheidende Frage ist nur: Ist eine Stabilisierung Rußlands in der Vergangenheit mit dem ausschließlichen Setzen auf Jelzin erfolgt?
Wenn ich heute in den Zeitungen lese, daß die Rußlandkrise ein Scheitern auch der westlichen Nationalökonomen war, dann spricht vieles für diese These, nämlich daß die Formen des Übergangs, das, was wir als Reformen bezeichnen, in einem hohen Maße eben nur eine kleine spekulative, in den Großstädten, in den Metropolen lebende Schicht begünstigt hat, während die Masse des Volkes zurückgeblieben ist. Daraus sind jetzt massive soziale und politische Risiken entstanden.
Es gibt einen breiten Konsens in der Grundorientierung auch und gerade im Verhältnis zu Rußland. Der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister wissen das. Nur rate ich Ihnen dringend, das jetzt nicht in dem innenpolitischen Wahlkampf aus Gründen des Machterhalts zu zerdeppern und zu zerschlagen. Diesen Konsens sollten wir unbedingt aufrechterhalten und fortentwickeln.
Die Ostasienkrise ist mitnichten ausgestanden. China steht unter einem gewaltigen Abwertungsdruck. Die Kosten des Hochwassers werden den Abwertungsdruck auf den Yuan noch vergrößern. Wenn es zu einem zweiten Abwertungswettlauf in Ostasien kommt, wird die Japankrise voll durchschlagen. Das kann Auswirkungen auf die USA haben, die sich sowieso in einem moderaten Abschwung befinden. Dies kann in Verbindung mit der Rußlandkrise meines Erachtens zu Entwicklungen führen, die sehr leicht außer Kontrolle geraten.
Ich kann Ihnen nur sagen: Politisch heißt das für mich - ich möchte jetzt hier nicht auf die weiteren ökonomischen Details eingehen -, daß Europa schneller wird kommen müssen, als sich das vermutlich noch heute viele vorstellen. Ich sage das in alle Richtungen. Aus meiner Sicht wird, wenn man diese Krisen in ihren Konsequenzen einmal sorgfältig analysiert - es handelt sich hier um die erste wirkliche Globalisierungskrise -, das bedeuten, daß Europa schneller wird kommen müssen, als viele heute meinen.
Herr Waigel: Mit CSU-gefärbten Sätzen - da kann ich Oskar Lafontaine nur zustimmen - wie „Der Euro spricht deutsch" kann das Ganze hochgefährlich werden. Der Euro spricht nicht deutsch, und er spricht nicht bayrisch. Wenn Sie aus dem Euro ein deutsches Hegemonialprojekt machen, gefährden Sie dieses Projekt. Das wissen Sie so gut wie ich.
Wenn wir schon dabei sind: Die EU-Osterweiterung wird eine der entscheidenden Fragen sein, und da werden die CSU und der rechte Flügel der CDU Farbe bekennen müssen. Ich gehöre nicht zu denen, die durch die Lande ziehen und der Bevölkerung nach der Devise „Wählt uns" und „Alles wird billiger" verkünden, daß die EU-Osterweiterung zum Nulltarif zu haben sein wird. Faktisch haben wir schon jetzt eine Südosterweiterung in der Verantwor-
Joseph Fischer
tungsübernahme, wenn ich mir die Konsequenzen aus der Balkankrise und aus dem Kosovo anschaue, und zwar nicht zuerst und vor allem im militärischen Teil, sondern diese Länder, diese Völker werden nur im Rahmen einer europäischen Perspektive daran gehindert werden können, auf diesem blutigen Irrweg des Krieges, der Vergewaltigungen und des Mordens weiterzumachen.
Wir brauchen für diesen Raum eine europäische Perspektive, und wie wir am zivilen Aufbau Bosniens sehen, an der großen Leistung, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der EU dort vollbringen, ist diese alternativlos. Das heißt aber im Klartext, daß wir faktisch hier schon eine Südosterweiterung haben. Die Osterweiterung wird, wenn sie nicht kommt, für unser Land noch wesentlich größere Risiken und wesentlich höhere Kosten mit sich bringen. Das werden wir unserer Bevölkerung immer sagen müssen.
Herr Waigel: Nettozahlerdebatte. Das ist auch so ein Ding. 1992 war es diese Regierung, die die heutige Finanzstruktur in Europa akzeptiert hat.
- Ich kritisiere Sie, Herr Bundeskanzler, nun weiß Gott nicht, sondern ich rede hier mit dem CSU-Parteivorsitzenden.
- Davon erwähnt er gegenwärtig nichts.
Aber Sie wissen doch ganz genau, daß es vor allen Dingen die Struktur der EU-Finanzen ist. Wir zahlen nicht zuviel. Wenn, dann bekommt Deutschland zuwenig aus dem EU-Haushalt zurück. Das liegt wiederum an der Struktur des EU-Haushaltes. Nun höre ich Ihnen, Herr Waigel, seit vier Haushaltsdebatten zu. In vier Haushaltsdebatten loben Sie, wie tapfer Sie in Brüssel für die Interessen der bayrischen Bauern gekämpft haben. Ein großes Problem für Deutschland ist, daß der Agrarhaushalt überproportionale Anteile am EU-Haushalt hat, nämlich zirka 50 Prozent.
Das heißt, hätten wir hier eine andere Struktur, hätten Sie hier auf eine Strukturreform gesetzt, meine Damen und Herren von der Regierung - Sie tragen die Verantwortung -, dann könnten wir uns die Nettozahlerdebatte in Deutschland schenken.
Wenn man das so sieht, dann wird meines Erachtens langsam klar, daß es hier um grundsätzliche politische Alternativen geht, um eine politische Alternative, die nicht Aufstieg oder Untergang, Rotgrün oder Freiheit, wie Herr Gerhardt sagt - Freiheit statt Sozialismus hieß das früher -, bedeutet, sondern dann wird es darum gehen, ob eine verbrauchte Regierungskoalition in demokratischer Normalität durch eine neue Mehrheit, durch eine neue Regierung abgelöst wird.
Bei allem, was geleistet wurde - die Menschen in den neuen Bundesländern haben Hervorragendes geleistet, und mit der staatlichen Einheit, Herr Dr. Kohl, haben Sie Ihren Platz in den Geschichtsbüchern errungen, auch wenn ich Ihnen noch einmal sagen möchte: Die Menschen in den neuen Bundesländern zollen Ihnen dafür großen Respekt und sind dankbar; aber den Einsturz der Mauer hat nicht Dr. Helmut Kohl zuwege gebracht, sondern das war die friedliche, gewaltfreie Bürgerbewegung in den neuen Bundesländern -
der entscheidende Punkt ist ein anderer.
Der entscheidende Punkt ist, daß wir Ihnen vorwerfen, drei Dinge falsch gemacht zu haben, drei falsche Weichenstellungen vorgenommen zu haben. Erstens. Daß Sie in der Koalition unter die Reformer gegangen sind, ist gerade anderthalb bis zwei Jahre her. Vorher hieß es: Weiter so. Das heißt, wir haben hier einen gewaltigen Reformstau. Zweitens. Wir leiden noch heute unter der falschen Finanzierung der deutschen Einheit. Ich werde gleich darauf zurückkommen. Drittens. Wir haben eine massive Gerechtigkeitslücke in diesem Land, und sie wird größer.
Reformstau statt Reformen und falsche Finanzierung der Einheit, das hängt unmittelbar zusammen. Der Kollege Scharping hat mit der Anzeige noch einmal an das Einheitsjahr 1990 erinnert.
Kollege Schäuble und ich hatten neulich das Vergnügen, gemeinsam vor amerikanischen Investoren, Vertretern von Investmentfonds - ich als Vertreter des radikalen Deutschlands, er als Vertreter des konservativen Deutschlands, beide sollten wir für Investitionen werben -, aufzutreten. Was zumindest ich meine festgestellt zu haben, ist, daß die Orientierung der Köpfe sowohl im Inland als auch im Ausland auf die Sonderlast deutsche Einheit nicht stattgefunden hat. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß Sie 1990 den Menschen nicht die Wahrheit gesagt haben, daß Sie den Menschen die Wahrheit nicht zugemutet haben. Es macht einen großen Unterschied aus, ob ich eine Last zu tragen habe, von der ich nicht genau weiß, warum ich Sie zu tragen habe, oder ob ich eine Last bewußt schultere und mir auch über die Strecke des Weges, während der ich diese Last zu tragen habe, im klaren bin.
Herr Dr. Kohl, Ihr Ansatz damals bestand in der Aussage: „Keine Steuererhöhungen - wählt CDU!" Ich behaupte, Sie hätten die Wahlen vermutlich sogar mit mehr Vorsprung gewonnen, wenn Sie am 3. Oktober 1990 in einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag dem deutschen Volk die Wahrheit gesagt hätten und die dann notwendigen Zumutungen in Form eines Gesetzespaketes auf den Tisch gelegt hätten - klar geordnet, für alle durchsichtig
Joseph Fischer
und transparent. Statt dessen bestand Ihre Politik in einer schleichenden Lastenerhöhung, von der viele nicht wußten: Warum? Weshalb? Wieso?
Im Ausland sah man die reiche Bundesrepublik West. Daß wir es faktisch mit den Folgen eines über 40 Jahre hinweg in zwei Staaten geronnenen Bürgerkrieges, DDR und Bundesrepublik, zu tun haben, eingebettet in die große Konfrontation des kalten Krieges, ist nicht angekommen, weder im In- noch im Ausland. Ich sage Ihnen: Das ist der erste Punkt hinsichtlich der falschen Finanzierung der Einheit, die politische Lüge, die damals am Anfang stand.
Der zweite Punkt, der nicht nur Gerechtigkeitskonsequenzen gehabt hat: Es ist nicht nur zutiefst ungerecht, daß vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nämlich diejenigen, die Sozialversicherungsbeiträge zahlen, die deutsche Einheit zu finanzieren haben, sondern es ist auch in seiner Auswirkung ökonomisch katastrophal gewesen. Warum? - Weil diese Lüge dazu geführt hat, daß die Lohnzusatzkosten exorbitant nach oben geschnellt sind. So wurde Arbeit immer teurer, und so wurden immer mehr Menschen entlassen, anstatt daß im Verhältnis zu den abgebauten Arbeitsplätzen neue Arbeitsplätze entstanden sind.
Das heißt, wir haben hier durch eine falsche politische Entscheidung, Herr Dr. Kohl, eine ursächliche Haftung für den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Bei allen beeindruckenden Aufbauleistungen, die es gibt, bei dem, was die Menschen in den neuen Bundesländern erduldet haben und erdulden, bei allem, was es an Solidaritätsleistungen in den alten Bundesländern gibt: Ich werfe Ihnen vor, daß die hohe Arbeitslosigkeit - das ist in diesem Wahlkampf doch mit den Händen zu greifen - mittlerweile zum Symbol dieser gescheiterten Einheitspolitik in Ost und West geworden ist. Die hohe Arbeitslosigkeit ist das Krebsgeschwür, mit dem wir uns herumzuplagen haben. Wenn wir in diesem Bereich im ersten halben Jahr mit einer neuen Regierung keine Trendwende erreichen, dann wird diese neue Regierung scheitern.
Es ist an Komik, in Wirklichkeit aber an Zynismus eigentlich nicht mehr zu überbieten, wenn Helmut Kohl vor einigen Wochen verkündet hat, er werde nach 16 Jahren Bundesregierung, nach 16 Jahren Bundeskanzleramt, nach 16 Jahren Verantwortung für die Arbeitslosigkeit ein 100-Tage-Programm gegen die Arbeitslosigkeit auflegen, wenn er wiedergewählt wird.
Man muß sich das einmal vorstellen. Das ist nun wirklich Hilflosigkeit, gepaart mit blankem Zynismus.
Wir halten es für dringend geboten, an erster Stelle die zu hohen Lohnzusatzkosten zu verringern. Wir werden nicht mehr Arbeitsplätze bekommen, wenn wir auf diesem Gebiet nicht zu einer richtigen, echten Entlastung kommen. Wichtiger als Steuerentlastungen - ehrlich gesagt, ich sehe dazu gar keinen Spielraum; bei den oberen und obersten Einkommen sehe ich dazu schon gar nicht die Notwendigkeit - ist eine Senkung der Bruttolohnkosten, das heißt, eine Senkung der Lohnnebenkosten. Nur, ich sage Ihnen klipp und klar: Jede Bundesregierung, die Erfolg im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit haben will, muß diese Kosten reduzieren. Sie wissen das so gut wie ich.
Demnach wird es nach dem Wahltag Steuererhöhungen zur Gegenfinanzierung geben müssen. Entweder wird die Mehrwertsteuer erhöht werden - dies lehnen wir ab; sie bedeutet im wesentlichen, daß die sozial Schwachen überproportional herangezogen werden und das Handwerk weiter in die Schwarzarbeit gedrängt wird -, oder aber wir haben endlich den Mut - wie die Dänen, die Schweden, die Finnen oder die Niederländer, die ja immer so positiv zitiert werden -, eine Ökosteuer zur Gegenfinanzierung einzuführen. Wir halten dies für dringend geboten.
Dieser Tage, am 21. Juli 1998, gab es eine hochinteressante Mitteilung des Statistischen Bundesamtes: „Arbeitsproduktivität weit mehr gestiegen als Produktivität der Naturnutzung." Das ist hochinteressant; denn es zeigt sehr klar - ich entnehme das einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung" -, worum es hierbei geht. Arbeit ist überproportional teuer geworden, auch auf Grund der hohen Produktivitätssteigerungen, während der Umweltverbrauch läßlich geblieben ist. Hier liegt ein riesiges Entwicklungspotential für neue Arbeitsplätze. Das darf man nicht vergessen. Produktivitätssteigerungen in diesem Bereich werden direkt positive Auswirkungen haben.
Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt am 22. Juli 1998:
Der Faktor Arbeit wird bei der Produktion nicht grundsätzlich durch Natur ersetzt. Doch diese Substitutionsprozesse gibt es durchaus. Politisch sind also die Weichen genau in die falsche Richtung gestellt. Wünschenswert wären mehr Arbeitsplätze und weniger Naturverbrauch, vor allem mit Rücksicht auf künftige Generationen. Mit der ökologischen Steuerreform existiert längst ein Konzept, das die Weichen in die richtige Richtung stellt ...
Die Daten aus Wiesbaden beschämen die Regierungskoalition, die sich vor einigen Wochen eine
Joseph Fischer
unwürdige Diskussion über die Ökosteuer geleistet hat.
- Ich nenne nur den Namen Hintze.
Fragen Sie Ihren Statistiker: Wer die Deutschen in Zukunft führen will, sollte keine vorgestrige Stimmungsmache um höhere Benzinpreise betreiben.
Ich kann dem eigentlich nichts hinzufügen.
- Nein, diese Zahlen vom Statistischen Bundesamt zeigen doch, in welche Richtung die Entwicklung gehen muß und soll. Das Problem ist nicht nur, daß Sie die Einheit falsch finanziert haben, sondern daß Sie auch die Möglichkeiten und die Potentiale, neue Arbeitsplätze zu schaffen, schlicht und einfach in weiten Teilen verschlafen haben.
Gestern oder vorgestern wurde vom Umweltbundesamt der neue Bericht vom 1. September vorgestellt. Sie und Ihre Paladine verkünden hier ja immer: Deutschland Weltmeister im Umweltschutz. Schauen Sie sich einmal im UBA-Bericht an, wo wir im EU-Vergleich bei der Nutzung erneuerbarer Energieträger liegen. Sie stellen fest, daß wir ziemlich weit hinten liegen.
Ihrer Meinung, daß Bayern hier glänzend dastehen würde, halte ich ein Beispiel aus Landshut entgegen. Dort bin ich auf Handwerksmeister gestoßen - sie wären eigentlich originäres CSU-Wählerpotential -, die zusammen mit dem BUND verzweifelt darum gerungen haben, daß alternative Energien in Bayern gefördert werden. Dort gibt es keine staatlichen Energieagenturen und keine neue Energiepolitik. In Bayern existiert nur das Kartell CSU und Bayernwerk. Das ist die Realität in Bayern.
Das können Sie am Anteil der Windkraft sehen.
- Daß Bayern einen höheren Wasserkraftanteil hat, ist kein Argument. Wenn Niedersachsen in den Alpen liegen würde, hätte es einen noch viel höheren Wasserkraftanteil. Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut, Herr Repnik, daß Sie diesen Zwischenruf machen. Von Ihnen war ich anderes gewöhnt.
Ein weiterer Punkt neben der Senkung der Lohnzusatzkosten ist ein Bündnis für Arbeit.
- Sie mögen sich darüber mokieren, aber ich sage Ihnen: Man wird die notwendigen Strukturreformen weder gegen die Märkte noch gegen die Gewerkschaften in diesem Land durchsetzen können. Ich rate dringend dazu, wenn wir beweglichere Arbeitsmärkte wollen - die brauchen wir -, Lösungen zu suchen, die die Last nicht in erster Linie bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern abladen, so wie Sie es in der Vergangenheit getan haben. Das ist für uns ein ganz entscheidender Punkt. 1996 war ein Bündnis für Arbeit bereits in Sichtweite. Sie haben es damals durch die Änderung der Lohnfortzahlung mit der Konsequenz mutwillig in Frage gestellt, daß wir zwei weitere Jahre verloren haben. Wir haben genügend Zeit verloren, wir brauchen jetzt endlich eine neue Politik, die dieses Bündnis für Arbeit realisiert.
Ein letztes: Wir brauchen direkt und unmittelbar eine sozial gerechte Steuerreform. Wir haben die Struktur und die Tarife unserer Steuerreform vorgelegt. Wir wollen den Spitzensteuersatz auf 45 Prozent und den Eingangssteuersatz auf 18,5 Prozent absenken und ein steuerfreies Existenzminimum von 15 000 DM. Wir wollen endlich mit den Skandalen nach 16 Jahren Bundesregierung unter Dr. Helmut Kohl Schluß machen.
In diesen 16 Jahren gab es viele schöne Erklärungen über Familien. Dazu sage ich Ihnen: Die Familien sind - egal, ob Alleinerziehende oder zwei Elternteile, ob mit oder ohne Trauschein - der Hauptlastesel unseres Steuersystems. Wir haben nicht viel zu versprechen, aber das wollen und werden wir ändern.
Ein weiteres drängendes Problem ist die Jugendarbeitslosigkeit; sie ist mittlerweile auch ein gesamtdeutsches Problem, aber in den neuen Ländern ist sie besonders dramatisch. Wenn Sie auf den Vorwurf des Versagens bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit so reagieren, daß Sie meinen, jetzt die Jugendkriminalität insbesondere im bayerischen Wahlkampf innenpolitisch instrumentalisieren zu können, dann entgegne ich darauf: Jugendkriminalität ist das Spiegelbild des Versagens der Erwachsenenwelt.
Ich bin der Meinung: Wo es Defizite gibt, da muß gehandelt werden. Das ist eine Frage von verbessertem Mitteleinsatz und - das muß man hinzufügen - auch eine Frage von mehr Geld. Ich glaube nicht daran, daß wir mit immer neuen Gesetzesverschärfungen in diesem Bereich etwas erreichen können. In der Umweltpolitik kennen wir den Begriff des Vollzugsdefizits. Ich denke, daß dieses Vollzugsdefizit mittlerweile in der Innenpolitik hinsichtlich der Kriminalitätsbekämpfung genauso zutrifft.
Wir haben in diesem reichen Land ein massiv wachsendes Armutsproblem. Man sollte dieses Problem nicht unterschätzen. Ich würde es vor allen Dingen auf die kommenden Herausforderungen dieses Landes beziehen. Wir haben nicht das Problem eines neues Rechtsradikalismus, eines neuen Weimar oder ähnliches. Davon rede ich nicht. Ich rede vielmehr davon, daß wir in Zukunft eher mehr Belastungen als Entlastungen für die Bevölkerung bekommen. Deswegen gilt: Wenn wir eine gemeinwohlorientierte
Joseph Fischer
Politik machen wollen, dann wird die Frage der sozialen Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung die entscheidende Frage für die Akzeptanz einer solchen Politik sein.
Ich habe vorhin schon die europäische Dimension und die Lastenverteilung im Rahmen der deutschen Einheit angesprochen. Wenn wir nennenswerte Teile unserer Bevölkerung in Niedrigstlohnsektoren, in Dauerarbeitslosigkeit und in Nichtqualifizierung ausgrenzen, dann wird hier dauerhaft ein Potential für demokratische Instabilität entstehen, die sich dieses Land nicht erlauben kann und nicht erlauben darf.
Frau Nolte, ich komme jetzt zu Ihrem Schleiertanz um die Frage: „Was ist arm?" Auf die Feststellung, daß in diesem Lande niemand verhungert, können wir uns sehr schnell einigen. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. In Ihrem Kinder- und Jugendbericht - Sie mußten ja von der Presse gezwungen werden, ihn der Öffentlichkeit vorzustellen - sind dramatische Zahlen enthalten. Wenn ich lese, daß in den neuen Bundesländern jedes fünfte Kind, das von der Sozialhilfe lebt, als arm gilt und daß der Anstieg der Sozialhilfebezieherinnen, vor allen Dingen bei Alleinerziehenden, in den neuen Bundesländern eine Größenordnung von über 20 Prozent erreicht hat, dann muß ich Ihnen sagen: Wir bekommen hier ein neues Problem, dem wir uns verstärkt zuwenden müssen. Der Sozialstaat darf sich eben - im Gegensatz zu den Vorstellungen der F.D.P. - nicht verabschieden.
In den neuen Bundesländern - ich habe es selbst erlebt, als ich mit den Jugendlichen geredet habe - kommt den Jugendlichen der Frust über ihre Situation sozusagen aus jeder Pore. Die Eltern sind dauerarbeitslos; die Jugendeinrichtungen wurden abgewickelt und plattgemacht; sie selbst haben keine Perspektive und keine Lehrstelle. Diese Jugendlichen sind ein relativ dankbares Potential für rechte Parolen. Man kann sich gut vorstellen, was dort passieren kann, wenn der Verführer von den rechtsradikalen Parteien kommt. Wir dürfen diesen Rechtsradikalismus nicht mehr weiter verschweigen. Vor allen Dingen dürfen wir ihn nicht politisch bedienen. Das ist für mich der entscheidende Punkt.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen: Für uns ist Deutschland ein Einwanderungsland. Wir müssen uns auf diese Situation einstellen. Deswegen wollen wir im ersten halben Jahr ein neues Staatsangehörigkeitsrecht, durch das die zweite und dritte hier lebende Generation selbstverständlich deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger werden können. Es ist doch absurd, daß türkischstämmige Jugendliche, die zum Beispiel in Bonn geboren und aufgewachsen sind, nach wie vor als Ausländer behandelt werden. Das gibt es in keinem unserer europäischen Nachbarländer.
Wir setzen auf ein europäisches Staatsangehörigkeitsrecht. Das hätten wir ja schon in dieser Legislaturperiode mit Teilen der CDU, mit der SPD und der F.D.P. erreichen können. Verhindert wird es vom rechten Flügel der CDU und von der CSU. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der CSU: Hier Gesetzesänderungen zu blockieren und zu verhindern und in Bayern gegen den zu hohen Ausländeranteil im Wahlkampf zu agitieren, das ist politische Infamie.
Es geht um diese politischen Veränderungen. Wir müssen damit den Reformspielraum eröffnen. Wir brauchen die positive Trendwende am Arbeitsmarkt; wir brauchen die positive Trendwende bei den Investitionen. Deswegen muß schnell gehandelt werden. Es darf nicht mehr die Worthülsen über die Arbeitslosigkeit geben, die 16 Jahre lang gebraucht wurden. Jetzt müssen wirklich Nägel mit Köpfen im ersten halben Jahr gemacht werden. Das wird die große Herausforderung sein. Anders werden wir die fiskalische Handlungsfähigkeit nicht zurückgewinnen, um die notwendige Bildungsreform und die Maßnahmen im Rahmen eines neuen Generationenvertrages zu finanzieren.
All das wird nicht billig werden. Ich sage nochmals: Wer jetzt den Menschen eine Nettoentlastung oder ähnliches verspricht, der nimmt in Kauf, daß wir unsere Zukunft heute verjubeln und nicht in die Zukunft investieren, oder aber er verspricht wider besseres Wissen etwas, das er nachher nicht halten kann. Wir wissen: Wenn diese Koalition an der Regierung bleibt, dann wird es weiter nach der Devise „die starken Schultern entlasten und die schwachen Schultern belasten" gehen. Das bezeichnen wir als Gerechtigkeitslücke. Diese Gerechtigkeitslücke werden wir mit einer neuen Regierung schließen müssen, aus den Gründen, die ich Ihnen gerade dargestellt habe.
„Ein hohes Maß an Geschlossenheit"? - Die Koalition hat ihre Souveranität für einen halben Tag wiedergefunden. Danach wird es mit der Streiterei weitergehen. Pfarrer Hintze, Sie werden weiter nach einem Thema - ob national oder international - suchen. Ich sage Ihnen: Am 27. September wird die Debatte darüber, wann Helmut Kohl zurücktritt, definitiv gelöst werden,
und zwar von den Wählerinnen und Wählern. Er wird der erste Bundeskanzler sein, der abgewählt wird. Dann werden Ihre Worte aus diesem bewegenden Interview „Ihr werdet euch wundern!" den Schlußpunkt unter Ihre politische Laufbahn setzen: Aus, Punkt, Feierabend!
Ich bedanke mich.