Rede von
Rudolf
Scharping
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich heute morgen die Zeitung „Die Woche" aufschlug, dachte ich: Jetzt geht das schon wieder los. - Denn der Bundesverteidigungsminister äußert sich dort erneut zu der Debatte über die Nachfolge von Helmut Kohl und sagt, er sei fest davon überzeugt, daß Herr Schäuble sich schon entschieden habe. Ich habe mir dann gedacht: Wie kann in diesem Wahlkampf eine Partei einen Bundeskanzler mit dem irreführenden Titel „Weltklasse" plakatieren und gleichzeitig das Verfallsdatum dazu-kleben?
Denn es ist doch wirklich eigenartig, daß uns hier unter einem außerordentlich groß daherkommenden Titel etwas angeboten wird, was im Kern nichts anderes ist als die Flucht vor der eigenen Bilanz.
Rudolf Scharping
Meine Damen und Herren, natürlich geht es bei einem Haushalt auch um die Frage, wie man Zukunft anpacken will. Aber das völlig frei von den Erfahrungen der Vergangenheit und damit der Bilanz zu machen, das wird nun wirklich nicht gelingen. Zukunft zu gestalten und in diesem Sinne daraus Fortschritt zu machen, das bedeutet, weder Wandel zu ignorieren noch sich dem Wandel zu unterwerfen. Wer etwas gestalten will in Deutschland, der muß wirtschaftliche Kraft, soziale Verantwortung und kluge Vorsorge für die Zukunft neu zusammenbringen. Genau diese Idee, die unser Land im Wiederaufbau und später auch im Rahmen der europäischen Integration und seiner weiteren Entwicklung groß gemacht hat, nämlich die wirtschaftliche Kraft mit sozialer Verantwortung und kluger Vorsorge für die Zukunft zu verbinden, ist von der Politik dieser Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt berücksichtigt, sondern im Gegenteil schwer verletzt worden.
Sie haben, Herr Bundeskanzler, viele Gelegenheiten verstreichen lassen, Kräfte zu bündeln, Menschen zusammenzuführen und ihnen eine Anstrengung abzuverlangen, von der man hätte wissen können: Es lohnt sich um des Zieles willen, und es geht dabei gerecht zu. Ein Beispiel dafür ist die Gestaltung der deutschen Einheit. Niemand bestreitet Ihnen, daß Sie außenpolitisch und mit Blick auf die staatliche Einheit der Deutschen den richtigen Weg gegangen sind - und das klug und schnell.
Aber innerhalb Deutschlands sind alle Weichen falsch gestellt worden - alle!
Sie haben von Anfang an Illusionen erzeugt. Ich erwähne das deshalb, weil es sich in diesen Tagen erneut abspielt. 1990 haben Sie eine Anzeige veröffentlicht mit einer Garantieerklärung Ihrer Regierung: Es bleibt dabei: Keine Steuererhöhung für die deutsche Einheit; diese Garantie kann Ihnen nur die Regierung Helmut Kohl geben - 25. November 1990. - Man konnte dem Bundesfinanzminister gestern ansehen, welch schlechtes Gefühl, ja vielleicht sogar welch schlechtes Gewissen er dabei hat
- wir wollen ihm das einmal freundlich unterstellen -, wenn er jetzt plötzlich wiederum wenige Tage vor einer Wahl, mit einem ähnlichen Versprechen durch die Lande zieht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer in den letzten Tagen eines Wahlkampfes und dann im Laufe seiner Politik während einer Legislaturperiode nicht klare Ziele benennt und auch Schwierigkeiten deutlich macht sowie gerechte gemeinsame Anstrengungen von allen verlangt, der macht Klientelpolitik. Deshalb haben wir den Zustand erreicht, daß in Deutschland nur noch solche Menschen von Ihrer Politik etwas haben, die zu privilegierten Minderheiten gehören. Sie verletzten die Interessen der Mehrheit unseres Volkes und haben das seit längerer Zeit mit System getan.
Es wäre klug gewesen, Kräfte zusammenzuführen. Sie haben aber diese Gelegenheit nicht nur durch haltlose Versprechungen nach der deutschen Einheit verpaßt, sondern Sie haben sie - um ein weiteres Beispiel zu nennen - im Frühjahr 1996 erneut zerstört. Damals bestand die Möglichkeit, ein Bündnis für Arbeit zu schmieden. Sie hatten die Gewerkschaften und die Arbeitgeber zu mehreren Runden im Kanzleramt eingeladen. Die Gewerkschaften hatten sich um des größeren Ziels der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit willen sogar zu für sie durchaus unangenehmen Schritten bereit erklärt und Konsens signalisiert. Sie haben dann nach den Wahlkämpfen des Frühjahrs 1996 in drei deutschen Ländern dieses Bündnis auf eine unglaublich leichtfertige Weise zerschlagen, mit einer Provokation, die übrigens leider auch ein sehr charakteristisches Element Ihrer Politik darstellt. An die Stelle der Kooperation der wichtigen gesellschaftlichen und politischen Kräfte in Deutschland haben Sie die dumme soziale Konfrontation gesetzt und damit auch das Bündnis für Arbeit, die Chance auf gemeinsame Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, zerstört.
Beispiele für eine solch dümmliche soziale Konfrontation statt der Bündelung von Kräften waren Ihre Entscheidung über die Lohnfortzahlung, von der Sie genau wußten, daß es bei einem Bündnis für Arbeit unmittelbar wie ein Sprengsatz wirken mußte, Ihre Entscheidung, das Schlechtwettergeld wegzurasieren und damit die zusätzliche Arbeitslosigkeit von vermutlich über 200 000 Bauarbeitern in Kauf zu nehmen, Ihre Entscheidungen über den Kündigungsschutz und anderes. Wir werden diese soziale Konfrontation überwinden, damit wieder gemeinsame Anstrengung, gemeinsame Zielsetzung und gemeinsame Verantwortung in Deutschland möglich wird.
Es ist wahr, daß man im Wandel, den man nicht bestreiten kann, auch Gestaltung ermöglichen muß, daß man aber zu dieser Gestaltung noch etwas braucht - neben der Klugheit, Kräfte zu bündeln, Menschen zusammenzuführen, gemeinsame Ziele in gemeinsamer Verantwortung nicht nur zu beschreiben, sondern auch anzustreben -: Man braucht auch ein Gespür dafür, ein alltägliches Wissen davon, was Menschen bewegt und wie sich politische Entscheidungen bei ihnen auswirken. Auch dieses schlichte Gefühl für Gerechtigkeit und dafür, wie man anstän-
Rudolf Scharping
dig mit Menschen umgeht, ist Ihnen im Laufe Ihrer Amtszeit immer stärker abhanden gekommen.
Es mag sein, daß Sie, gewissermaßen in einer Aufwallung zur letzten Runde, CDU-Kundgebungen noch zu einer mehr pflichtbewußten Begeisterung bringen können. Aber es ist auf der anderen Seite leider wahr, daß die große Mehrheit unseres Volkes nicht mehr die Sicherheit hat, die sie Regierenden wüßten noch von den Folgen ihrer Entscheidungen für die Haushalte normaler Leute. Das ist das Element des Verdrusses, das bis weit in Ihre Koalition hineinragt und in dem sich etwas anderes widerspiegelt, nämlich nicht nur der einfache Überdruß ob einer langen Amtszeit und der Verdruß ob der einen oder anderen Ungerechtigkeit, sondern das sichere Gespür dafür, daß Ihrer Politik die Idee, die tragende Linie, abhanden gekommen ist und daß Sie deshalb nicht mehr zur Gestaltung der Zukunft in der Lage sind.
Setzen Sie sich einmal in Ostdeutschland mit Frauen in einer sogenannten Beschäftigungsgesellschaft zusammen, mit Frauen, die 1991 ihren Arbeitsplatz verloren hatten und jetzt wegen der Aufstokkung von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der Mittel dafür im Jahre 1998 eine Chance bekommen, von der sie von Anfang an wissen, sie ist befristet und danach kommt vermutlich keine mehr; sprechen Sie einmal mit Menschen, die Ihnen auf einem Marktplatz voller Empörung erzählen, daß ihre Rentensteigerung einige wenige Pfennige beträgt und daß sie Sorgen haben; reden Sie einmal mit jungen Leuten über ihre Ausbildungsstellen, und konfrontieren Sie das dann mit den regierungsamtlichen Stellungnahmen.
Dazu sagt der Bundesminister für Zukunft - er sollte einmal für die Zukunft zuständig sein; aber auch das ist schon Vergangenheit -,
Herr Rüttgers: Es gibt keine Lehrstellenkatastrophe. - Wir können meinetwegen über die Worte streiten. Das ist aber in meinen Augen nicht so wichtig. Wichtiger ist: Wir verschleudern die Zukunft unseres Landes. Ein so reiches und starkes Land wie Deutschland hat es nicht nötig, daß auch nur ein einziger Jugendlicher am 1. September ohne Ausbildungsstelle ist.
Die Familien, die sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen, haben es nicht verdient, daß ein Bundeskanzler nur in wohlfeilen Ansprachen - in aller Regel zu Neujahr - verkündet, man werde sich um die Jugend sorgen, man werde ihr helfen, daß aber dann in der praktischen Politik nichts nachfolgt. Es kommt keine einzige Entscheidung, die helfen könnte, daß diese bedrückende Situation für Zehntausende von Jugendlichen und Familien überwunden wird.
Es ist Ihnen das Gespür für Alltag und für Entwicklung, das einfache Empfinden für Gerechtigkeit abhanden gekommen, wenn Sie behaupten, es sei aus finanziellen Gründen notwendig, das Rentenniveau zu senken. Das ist eine schamlose Lüge und übrigens auch eine schamlose Politik. Die Kürzung des Rentenniveaus spart in den öffentlichen Kassen weitaus weniger Geld, als die Abschaffung der Steuer auf große Privatvermögen gekostet hat. Das macht deutlich, welcher Linie Ihre Politik folgt.
Überlegen Sie sich, wie viele Menschen im Osten Deutschlands jetzt in eine Situation gebracht werden, in der eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder eine Maßnahme nach § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes möglich wird, und dann die Träger sagen: Erst mußten wir die ganze Infrastruktur für diese Arbeitsplätze dramatisch reduzieren; man hat uns über zwei bis drei Jahre hinweg signalisiert: Macht weniger, es geht zu Ende, baut nicht mehr darauf, daß euch der Staat helfen wird. - Jetzt müssen sie das alles wieder hochziehen, bei der Caritas, beim Diakonischen Werk und bei vielen anderen Trägern bis hin zu den Beschäftigungsgesellschaften im Osten Deutschlands, wieder in der Gewißheit, es könnte im Jahr 1999 Schluß sein. Herr Bundeskanzler, man macht Arbeitsmarktpolitik nicht im Rhythmus von Wahlterminen, man macht sie im Interesse der Menschen.
So ist Ihnen beides abhanden gekommen: die tragende Idee für die Zukunft und das alltägliche Wissen darum, was Ihre Entscheidungen, was Ihre Politik für normale Familien, in normalen Haushalten mit normalem Einkommen wirklich bedeuten. Das spürt man besonders deutlich bei der Bekundung beispielsweise Ihres Koalitionspartners, es sei ein letztes Element der Freiheit auf dem Arbeitsmarkt, daß es 620-DM-Verträge gebe.
Was für eine Vorstellung haben Sie eigentlich von Freiheit?
Das erinnert mich an das 19. Jahrhundert, als die Liberalen dachten, Freiheit ohne soziale Dimension sei etwas. Es hat sich herausgestellt: Das war wenig.
Deshalb sage ich Ihnen: Schauen Sie sich das einmal an. Sie glauben offenbar, daß Deutschland ein wirtschaftlich starkes und zugleich sozial verantwortliches Land bleiben könne, obwohl die Zahl seiner sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze sinkt, die Zahl seiner Arbeitsverhältnisse ohne soziale Sicherheit aber steigt; Sie glauben offenbar, daß die über 5 Millionen betroffenen Menschen es als Freiheit empfinden, daß sie für nur 620 DM ohne soziale Sicherheit arbeiten dürfe.
Rudolf Scharping
Diesen Begriff von Freiheit, der nichts anderes bedeutet als die Freiheit der wirtschaftlich Mächtigen, zu tun, was sie für richtig halten, teilen wir nicht. Wir wollen erreichen, daß Arbeit und soziale Sicherheit zusammenbleiben.
Ich habe hier den Bericht des Landesarbeitsamtes Nord. Im Zusammenhang mit Ihrer Vorstellung von Freiheit ist das ein ganz interessantes Beispiel. Die Arbeitsverwaltung versucht herauszufinden, ob sich wirklich alle Betriebe - leider tun es längst nicht alle - an das halten, was man über Arbeitsschutz, Arbeitszeiten, Löhne usw. vereinbart. Dem Bericht des Landesarbeitsamtes Nord entnehme ich, daß auf einer mecklenburg-vorpommerischen Baustelle im letzten Jahr ein Stundenlohn von 2,24 DM gezahlt worden ist. Sie haben sich doch bisher immer geweigert, illegale Arbeit, die Bedienung mit Fremdfirmen und anderes überhaupt als Thema zu akzeptieren, geschweige denn dafür zu sorgen, daß gegen solche Mißstände konsequent vorgegangen wird.
Es ist eine schwere Verletzung des Rechtsbewußtseins der Bürger, wenn der Gesetzgeber illegale Tätigkeit noch immer so behandelt, als sei es eine Ordnungswidrigkeit. In Zeiten millionenfacher Arbeitslosigkeit aber ist illegale Beschäftigung, sind solche Mißstände wahrlich kein Kavaliersdelikt. Das ist nicht wie falsches Parken im Halteverbot, sondern kriminelle Energie, die sich dort niederschlägt, und das muß entsprechend konsequent angegangen werden.
So ist Ihnen nicht nur die kluge Einsicht abhanden gekommen, daß wirtschaftliche Kraft, soziale Verantwortung und Vorsorge für die Zukunft zusammengehören, so ist Ihnen nicht nur das Empfinden für die alltägliche Wirklichkeit von Menschen abhanden gekommen, sondern es ist Ihnen auch abhanden gekommen, nach vorne zu schauen, und zwar so, daß man dabei alle im Blick hat und alle einlädt, den Weg nach vorne mitzugehen.
Sie reden anders, als Sie denken, und Sie handeln anders, als Sie reden. Das ist am Ende für die Demokratie alles andere als wünschenswert und auch für die Glaubwürdigkeit ihrer Institutionen alles andere als gut. Alle drei Elemente machen den Überdruß aus, der sich bis in Ihre Partei hinein verbreitet hat.
Herr Bundeskanzler, ich habe folgendes nicht verstanden: Es gibt Zeiten, da muß man den Weg aus diesen Schwierigkeiten so wählen, daß das Nötige entschieden wird. Eine eigentlich konzeptionslose Politik, deren einziges Konzept noch darin besteht, auf jeden Fall auf den Sesseln sitzen zu bleiben, die Macht zu behalten, ohne zu wissen, wofür eigentlich, die reicht nicht. Man spürt das auch an diesem dritten Element, nämlich der klugen Vorsorge für die Zukunft.
Über Ausbildung und Bündnis für Arbeit habe ich gesprochen. Schauen Sie sich einmal an, was Sie im Zusammenhang mit Forschung und Entwicklung und den entsprechenden Haushalten getan haben.
Wenn man reklamiert, man wolle etwas für die Zukunft tun, dann bleibt es ein eigenartiger Widerspruch in Ihrer Politik, daß wir in wenigen Jahren zur Bezahlung von Zinsen - von Schulden, die Sie gemacht haben - das Siebenfache dessen aufwenden, was wir für Forschung und Technologie, Bildung und Wissenschaft ausgeben - das Siebenfache! Das soll eine Politik sein, die Vorsorge für die Zukunft reklamiert? Es zeigt sich doch schon allein an den finanziellen Entwicklungen - übrigens auch am inneren Willen Ihrer Politik -: Sie sind nicht mehr fähig, Prioritäten zu setzen, Sie sind nicht mehr fähig, sich auf eine gemeinsame Politik zu verständigen, und Sie sind auch nicht fähig, die notwendigen Maßnahmen für die Zukunft auf den Weg zu bringen, und zwar so, daß unser Volk eine gemeinsame gute Zukunft hat.
Es ist wahr: Nur sozial gerechte Gesellschaften sind auf Dauer leistungsfähig. Das, was ich hier formuliere, ist nicht allein die Haltung der sozialdemokratischen Fraktion in diesem Hause; es ist auch die Haltung der großen gesellschaftlichen Gruppen. Normalerweise würde man sagen: Nun gut, daß die Gewerkschaften in diese Kritik einstimmen, daß vielleicht von den großen Wohlfahrtsverbänden die Arbeiterwohlfahrt in diese Kritik einstimmt, das erwartet man. Das wäre auch nichts besonders Neues. Aber man findet zum Beispiel in den beiden christlichen Wohlfahrtsverbänden - übrigens bei dem größten Arbeitgeber der Bundesrepublik Deutschland; beide Wohlfahrtsverbände zusammengenommen sind Arbeitgeber von etwa 800 000 Menschen -, die in Deutschland in Krankenhäusern, Sozialstationen oder auf anderen Feldern bis hin zu Kindergärten tätig sind, mittlerweile fast keinen Hauptamtlichen, fast keinen Ehrenamtlichen mehr, der sagen würde, er fühle sich mit der gegenwärtigen Politik wohl, er erkenne sich in ihr wieder, er sei der Auffassung, sie trage für die Zukunft. Sie finden niemanden mehr! Wie weit entfernt sich christdemokratische Politik von ihrem eigenen Anspruch, wenn sie noch nicht einmal mehr im Umfeld der Kirchen den Widerhall findet, den sie im Interesse des Landes eigentlich finden müßte?
Das ist nicht nur die Folge davon, daß Sie keine Idee mehr haben, sondern auch davon, daß Sie an die Stelle der fehlenden Idee ein Prinzip gesetzt haben, das gerade im Umfeld der Kirchen sehr genau erkannt wird. Nie zuvor haben sich die beiden christlichen Kirchen so klar und deutlich in einem gemeinsamen Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage unseres Landes besorgt und kritisch geäußert - nie zuvor! Dahinter steckt - auch das findet sich in die-
Rudolf Scharping
sem Wort ausdrücklich wieder - die Sorge, daß die Verletzung der Idee sozialer Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalts noch einen anderen Grund hat. Sie haben nämlich begonnen, die Gesellschaft, das Zusammenleben von Menschen „durchzuökonomisieren". Sie haben alles, was in diesem Haus debattiert worden ist - wenn es um die Lage Behinderter ging, wenn es um die Lage chronisch Kranker ging, wenn es um die Frage der kleinen Renten ging, wenn es um viele andere bedrängte und besorgte Menschen ging -, immer mit den angeblichen Zwängen von Kosten beantwortet. Wer einer Gesellschaft dadurch den Zusammenhalt raubt, daß er ihr suggeriert, es sei alles nur Ökonomie und kurzatmige Betriebswirtschaft, der ruiniert den sozialen Kitt, Toleranz, Rücksichtnahme und Zusammenhalt im alltäglichen Leben.
Meine Damen und Herren, es wäre gut, wir hätten eine Regierung - wir werden sie ja bekommen -, die wieder Stärken mobilisiert, anstatt Schwächen auszunutzen. Herr Bundeskanzler, ich hatte in vielen Situationen das Gefühl, daß Sie eher die Schwächen der Menschen kennen, als daß Sie deren Stärken mobilisieren. Im Zweifel nutzen Sie eher jene und setzen sie auch taktisch ein. Man sieht das ja daran, wie vorher „Weggebissene" jetzt plötzlich aus wahltaktischen Erwägungen wieder herangezogen werden.
Sie vermitteln Menschen nicht mehr das Gefühl, daß sie eine Hoffnung begründen. Sie ermutigen Menschen nicht und bündeln keine Kräfte, sondern Sie bauen eher auf Eigennutz, Schwäche oder anderes. Vor diesem Hintergrund ist zu sagen, daß nur ein im Innern stabiles, starkes Deutschland auch für seine Freunde und Partner stabil und verläßlich ist.
Es mag lange Zeit gutgehen, wenn man den einer großen Volkswirtschaft und einem bedeutsamen Land in Europa geschuldeten Respekt mit persönlicher Anerkennung verwechselt. Das haben Sie ja oft getan. Wenn aber Deutschland im Innern seine Möglichkeiten zu Stabilität und Verläßlichkeit nicht ordentlich nutzt und ausbaut, dann ist es auch nach außen nicht so stabil und verläßlich, wie wir uns das wünschen. Das ist heute nicht das aktuelle Thema; das weiß auch ich. Es ist auch keine aktuelle Gefahr; auch das weiß ich. Dennoch sollten wir uns bewußt bleiben - auch wegen unserer eigenen historischen Erfahrungen -, daß wir bei unseren Reden hier nicht nur die Dimensionen der nächsten dreieinhalb Wochen vor Augen haben, sondern in den Dimensionen einer längerfristig angelegten Politik denken und dementsprechend reden. Wir sollten nicht nur über Zukunftshoffnungen reden, die Sie jetzt kurioserweiser wieder als Flucht vor der eigenen Bilanz vermitteln wollen. Das wird Ihnen niemand durchgehen lassen.
Wir müssen natürlich auch über die Frage der Gestaltung der Zukunft unseres Volkes reden. Es ist ganz offenkundig so, daß sich, wenn der Weg weiter so wie in den letzten acht Jahren - wegen der deutschen Einheit sage ich das jetzt so - gegangen wird, für manche Gruppen in der Bevölkerung etwas verbessern wird. Das kann man gar nicht bestreiten. Dann wird sich möglicherweise aber auch sehr schnell herausstellen, daß die Freude an der Verbesserung der Lebenssituationen kleinerer Gruppen - soweit man jedenfalls ein Gefühl und ein Gewissen für andere hat - einfach dadurch geschmälert und getrübt wird, daß sich dieses Land zu stark auseinanderbewegt und man nicht mehr für alle Jugendlichen, für alle sozial Schwachen und für alle Benachteiligten etwas zu tun versucht. Sie haben oft genug versucht, uns einzureden, daß sich die SPD, wenn sie sich so äußere, wie der Betriebsrat der Nation verhalte; sie kümmere sich nicht um die Leistungsträger.
Aber in dieser Rede, Herr Bundeskanzler, steckte immer zugleich eine mißachtende Vorstellung von dem, was Leistungsträger sind, nämlich Egoisten.
In dieser Rede steckte immer die Unterstellung, der Leistungsträger sei nicht willens und nicht bereit, denen zu helfen, die auf die Starken angewiesen sind. Solidarität und Zusammenhalt in unserem Verständnis ist nicht nur Zusammenhalt zwischen den Schwächeren, sondern täglich praktizierte Verantwortung der Stärkeren. Das steckt hinter Solidarität und Zusammenhalt.
Ihre Politik hat aber bei alldem - nicht immer und nicht bei jeder einzelnen Entscheidung, aber doch insgesamt - nicht beachtet, daß nur eine kluge Verbindung von wirtschaftlicher Kraft, sozialer Verantwortung und kluger Vorsorge für die Zukunft - sei es bei Bildung und Ausbildung, beim Schutz der Lebensgrundlagen oder an anderer Stelle - unserem Land am Ende eine gute Zukunft öffnet. Sie haben versäumt, zu berücksichtigen, was Ihre Entscheidungen für das alltägliche Leben der Menschen bedeuten. Sie haben versucht, uns einem Wandel zu unterwerfen, anstatt ihn gemeinsam mit allen gesellschaftlichen Kräften zu gestalten.
Herr Bundeskanzler, ich habe Ihnen vorgeworfen, daß Sie Ihr eigenes Wort nicht ernst nehmen. Am 9. Oktober 1994 erschien in Bonn im Zusammenhang mit einer Debatte, wie wir sie auch in diesen Tagen erleben, eine Meldung, die im Kopf den Bundesadler und die Überschrift „Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland" trägt. Diese Meldung enthält eine persönliche Erklärung von Ihnen zu einer Diskussion, die wir vor vier Jahren schon einmal erlebt haben:
Ich habe wiederholt erklärt, daß ich für die Dauer der gesamten nächsten Legislaturperiode, d. h. in der Zeit von 1994 bis 1998, als Bundeskanzler zur Verfügung stehe. Dabei bleibt es. Außerdem habe ich deutlich gemacht, daß ich auf keinen Fall beabsichtige, über 1998 hinaus erneut für das Amt des Bundeskanzlers zu kandidieren.
Rudolf Scharping
Immerhin handelt es sich um eine offizielle Meldung der Bundesregierung.
Ich kann verstehen, daß Sie vielleicht nur noch aus Gewohnheit an den Sesseln kleben, auf denen Sie sitzen. Nehmen Sie sie ruhig mit - das ist nicht das Problem -, aber nehmen Sie Ihre eigenen Worte wenigstens in diesem Falle ernst!