Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat in der Tat die Blockade der Brennerautobahn bei Schönberg in Tirol für den Schwerverkehr am 12./ 13. Juni dieses Jahres durch österreichische Umweltschutzgruppen und ihre offensichtliche Billigung durch regionale staatliche Stellen ausdrücklich und nachdrücklich verurteilt.
Weil dies kritisiert worden ist, nutze ich gerne die Gelegenheit, zu begründen, warum wir das getan haben.
- Die Spannung wird ähnlich groß sein wie unsere Spannung auf Ihre Rede, Herr Kollege Schmidt.
Die zweitägige Blockade, die zusammen mit dem Feiertags- und Sonntagsfahrverbot am 14. Juni zu einer viertägigen Unterbrechung des Lkw-Verkehrs auf der wichtigsten Route im Alpentransit geführt hat
- nicht für wenige Stunden, wie Sie zu formulieren für angemessen gehalten haben, Herr Kollege Schmidt -, stellt einen massiven Eingriff in den freien Warenverkehr und damit eine Maßnahme gegen eines der wichtigsten völkerrechtlich vertraglich verbindlich vereinbarten Ziele der Europäischen Union dar. Das wird man als Sachverhalt doch feststellen dürfen. Nach Art. 7 des EG-Vertrages
umfaßt der EU-Binnenmarkt, dem Österreich zum 1. Januar 1995 beigetreten ist, „einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren gewährleistet ist". Dies ist keine Zumutung von Nachbarstaaten gegenüber den Österreichern, das ist eine vertragliche Verpflichtung, die der österreichische Staat mit seinem selbst angestrebten Beitritt selber auf sich genommen hat.
Die Brenner-Autobahn ist, wie wir wissen, die wichtigste Route im Alpentransit; Ausweichmöglichkeiten, die auch nur annähernd vergleichbar oder gleichwertig wären, sind nicht gegeben. Blockaden, wie die am 12. und 13. Juni, gefährden nicht nur die Mobilität, sondern sie gefährden auch die Sicherheit im Straßenverkehr, verursachen erhebliche wirtschaftliche Schäden und können mittelständische, kleine Unternehmen des Transportgewerbes in ihrer Existenz bedrohen. Ich kann die Angaben nicht überprüfen, aber betroffene Transportunternehmen machen immerhin einen Schaden in zweistelliger Millionenhöhe geltend.
Es ist für die Bundesregierung völlig inakzeptabel, daß in einem freien europäischen Binnenmarkt durch gezielte Blockaden, auch in Nachbarländern, Produktions- und Versorgungsengpässe zu Lasten ganzer Volkswirtschaften entstehen können.
Das ist völlig unabhängig von der Frage, ob man Verständnis für Anliegen von Anliegern und Betroffenen hat. Vielmehr geht es um die Frage: Wie geht diese Europäische Gemeinschaft mit den eigenen rechtlichen Verfahren um, auf die sie sich verständigt hat, wenn es um die Abwägung solcher Interessen geht.
- Ich bewundere Ihr souveränes Urteilsvermögen. Wir werden nachher möglicherweise noch eine zweite Gelegenheit zur ausführlichen Besichtigung desselben haben.
Ich mache noch einmal deutlich: Es geht nicht darum, daß zwischen dem einen und dem anderen Anliegen jetzt in einer Entweder-Oder-Alternative zu entscheiden wäre - wie Sie das offenkundig zu sehen belieben -,
vielmehr geht es darum, ob die Verfahren gelten, zu denen wir uns, wie die Österreicher auch, als Mitglieder ein und desselben Binnenmarktes und als Unterzeichnerstaaten derselben Römischen Verträge verpflichtet haben. Natürlich muß das Recht der Versammlungsfreiheit gewahrt werden, aber es muß - wie andere Rechte auch - unter Beachtung der Ver-
Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert
hältnismäßigkeit und nicht auf Kosten unbeteiligter Dritter wahrgenommen werden.
Deswegen hat sich der Bundesverkehrsminister mit vollem Recht nicht nach, sondern vor den angekündigten Brenner-Blockaden sowohl an den zuständigen EU-Kommissar Kinnock als auch an den österreichischen Kollegen Einem mit der Bitte gewandt, alles in ihrer Macht Stehende zu veranlassen, um die Blockade zu unterbinden. Dabei, Herr Kollege Schmidt, geht es nicht um römische Stadthalterattitüden, sondern es geht um die Römischen Verträge
und um die Verpflichtungen, die wir, wie die Österreicher, in diesen Verträgen eingegangen sind. Wir bedauern sehr, daß es dennoch - und sogar mit Billigung von regionalen Verwaltungsstellen in Tirol und Vorarlberg - zu der erheblichen Beeinträchtigung des internationalen Straßengüterverkehrs durch die Brenner-Blockade gekommen ist, auch deshalb, weil damit natürlich die Wiederholung solcher Aktionen eher begünstigt als vermieden wird.
Gerade vor diesem Hintergrund muß man in der Tat großes Verständnis für die Haltung von Spediteuren haben, ihre durch die Brenner-Blockade entstandenen Schäden gegebenenfalls im Wege der Klage geltend zu machen. Wenn Sie sich hier hinstellen und ausdrücklich sagen: Das war keine einmalige Aktion, die wir nach gründlicher Überlegung auch nicht für angemessen halten, sondern das war der Beginn einer Reihe von Folgeaktivitäten, dann ist es nur folgerichtig, wenn diese von Ihnen ausdrücklich Angesprochenen auch in gleicher Weise ausdrücklich ihre Rechte geltend machen, die beispielsweise in den einschlägigen Verträgen festgelegt sind.
Natürlich ist sich die Bundesregierung der Probleme bewußt, die ein steigender Transitverkehr für Mensch und Natur mit sich bringt.
Uns muß doch niemand erzählen, welche Belastungen sich durch ein steigendes Verkehrsaufkommen ergeben.
Es gibt kein Land in Europa, das in stärkerem Maße vom Transitverkehr betroffen ist als die Bundesrepublik Deutschland.
Wer stellt sich eigentlich mit dem Anspruch hierher und sagt, daß wir darüber erst mühsam aufgeklärt werden müßten?
Deswegen sind wir beispielsweise auch - weil hier natürlich ein wichtiger inhaltlicher Zusammenhang besteht - gegen jede Aufweichung des Wochenend-
und Feiertagsverbots für Lkws, wie sie die EU-Kommission in ihrem vor wenigen Wochen vorgelegten Richtlinienvorschlag vorgesehen hat. Das Wochenend- und Feiertagsverbot, das wir in Deutschland seit mehr als drei Jahrzehnten haben, ist Ausdruck unseres besonderen Verständnisses der Sonntagsruhe, die sich seit jeher auf den Tag und die Nacht erstreckt. Deswegen werden wir uns aus vielen Gründen - und hoffentlich mit allgemeiner Unterstützung - gegen eine entsprechende Veränderung wehren.
Einmal davon abgesehen, fällt dies nach unserem Verständnis auch unter das Subsidiaritätsprinzip. Eine Notwendigkeit zur Regelung auf europäischer Ebene ist dafür überhaupt nicht zu erkennen.
In bezug auf die besonderen Verkehrsverhältnisse im Alpenraum will ich darauf hinweisen, daß die berechtigten ökologischen Belange Österreichs schon bei seinem Beitritt in die EU - mit der Einführung des Ökopunktsystems für Lkw über 7,5 t im Transitverkehr - berücksichtigt worden sind. Das heißt, daß man in diesem Zusammenhang nicht nur auf die steigende Zahl der Fahrzeuge einfach verweisen darf, sondern man muß auch darauf hinweisen, daß hier im Rahmen des Ökopunktsystems jedes Jahr nur ein bestimmtes Kontingent verfügbar ist. Danach gilt: Je mehr Stickoxide ein Laster ausstößt, desto mehr Ökopunkte verbraucht er. Wenn die Punkte verbraucht sind, sind keine weiteren Fahrten mehr möglich.
Weil soviel von Zahlen die Rede war: Die EU-Kommission hat erst kürzlich einen Bericht vorgelegt, aus dem sich ergibt, daß sich trotz weiter steigenden Transitverkehrs durch die Öffnung Osteuropas der Ökopunkteverbrauch und damit der Schadstoffausstoß 1997 wiederum um 6,6 Prozent vermindert und keineswegs gesteigert hat.
Hauptgrund dafür ist der vermehrte Einsatz umweltfreundlicher Fahrzeuge. So sind inzwischen mehr als 98 Prozent aller Brenner-Lastwagen als lärm- und schadstoffarm eingestuft.
Ich empfehle jedenfalls sehr, die Sachverhalte nicht selektiv darzustellen, sondern bitte, das eine und das andere gleichzeitig zu verdeutlichen.
In den vier Jahren von 1993 bis 1997 sind die durchschnittlichen NOT-Emissionen bei Lkw, die Österreich durchqueren, um mehr als 27 Prozent zurückgegangen. Das wird auch von der EU-Kommission
Parl. Staatssekretär Dr. Norbert Lammert
ausdrücklich als ein ganz wesentlicher und substantieller Fortschritt gewertet.
Wir haben Verständnis für die Interessen von Menschen, wir haben auch Verständnis dafür, daß sich diese Interessen artikulieren wollen.
Aber wir müssen schon großen Wert darauf legen, daß das durch Schaffung entsprechend vereinbarter Rahmenbedingungen geschieht.
Ich will noch gern einmal in Erinnerung rufen, daß frühe deutsche Bemühungen, Herr Kollege Schmidt, auch und gerade mit den Österreichern beispielsweise Vereinbarungen über die Ertüchtigung von Schienenwegen zur Verlagerung des Verkehrs herbeizuführen, nicht - vorsichtig formuliert - aufgegriffen worden sind, um nicht zu sagen, mit erhobenen Händen dankend zurückgewiesen worden sind.
Deswegen muß bitte schön auch den Österreichern klar sein, daß sie ihre berechtigten ökologischen Belange auch künftig wirksam nur auf dem Wege gemeinsamer, konstruktiver Verhandlungen im Rahmen der EU geltend machen können. Es kann nicht nach dem Prinzip verfahren werden: „Jeder nimmt die Vorteile einer Europäischen Gemeinschaft in Anspruch, und wenn bestimmte Interessen für vorrangig gehalten werden, dann gilt das Prinzip der Selbsthilfe".
Damit werden dann nämlich faktisch Vereinbarungen und Verpflichtungen der europäischen Verträge außer Kraft gesetzt.
Die Europäische Union ist nicht der Wilde Westen, in dem die jeweiligen eigenen Interessen - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - notfalls auf eigene Faust durchgesetzt werden können.
Gerade deshalb, weil Sie, Herr Kollege Schmidt, es für angemessen gehalten haben, in diesem Zusammenhang anzukündigen, dies sei erst der Anfang, muß zu dieser fröhlichen Ankündigung der ernste Hinweis erfolgen: Wehret den Anfängen.