Rede von
Gerald
Häfner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Prozeß der Aufarbeitung ist nicht beendet - das, so glaube ich, ist uns allen zum Ende dieser Debatte klar -; wir stehen vielmehr mittendrin.
Mir persönlich war es von Anfang an wichtig, den Schwerpunkt meiner Arbeit in der Enquete-Kommission nicht so sehr auf die Fragen der historischen Aufarbeitung zu legen, und zwar auch deshalb, weil ich meine, daß es Kollegen im Hause und außerhalb gibt, die dazu weitaus berufener sind, als ich dies gewesen wäre. Ich habe mich insbesondere den Fragen zugewendet, von denen ich glaubte, daß dieser Bundestag da noch eine zwingende Aufgabe der Gesetzgebung und auch der Gestaltung hat. Es gab eine ganze Reihe solcher Aufgaben: von der Verbesse-
Gerald Häfner
rung der meines Erachtens unzureichenden Entschädigungs- und Rehabilitierungsgesetze bis zur Verstetigung des Prozesses der Aufarbeitung und gleichzeitigen Förderung von Beiträgen zur Aufarbeitung aus der Mitte der Gesellschaft durch die Errichtung einer Bundesstiftung.
Ich muß sagen: Dies alles ist gelungen. Wir hatten nach anfänglichen Unsicherheiten und gelegentlichen Spannungen in dieser Enquete-Kommission ein Klima und einen Stil, die ich dem ganzen Deutschen Bundestag für alle seine Sitzungen und Entscheidungen wünschen möchte. Wir haben eine Vielzahl notwendiger Änderungen in den Gesetzen, einschließlich der Errichtung dieser so notwendigen Stiftung, zum Teil auch gegen anfänglichen Widerstand in Fraktionen und Bürokratie durchgesetzt. Das ist eine Leistung, auf die die Kommission stolz sein kann.
Ich will einen weiteren Punkt beispielhaft hier nur kurz andeuten: Während wir schon mit der Formulierung unseres Abschlußberichtes beschäftigt waren, gab es noch einen weiteren, vorher in dieser Form nicht absehbaren Vorgang, der gar nicht originär in die Zuständigkeit unserer Enquete-Kommission fällt. Es ging dabei um den Verkauf des Hauses der Demokratie in Berlin. Sie wissen, das Haus der Demokratie ist ehemaliger Sitz der SED-Kreisleitung und ist auch der Ort, wo seit 1989 die Bürgerbewegung und ihre Nachfolgeorganisationen, die so lange keine Möglichkeit hatten, sich zu treffen und zu beraten, ihren Sitz hatten. Dieses Haus sollte verkauft werden. In Berlin war keine Lösung mehr absehbar.
Wir haben uns in die Gespräche eingeschaltet, und zwar nicht durch öffentliches Trara, sondern indem wir uns mit allen Beteiligten in unzähligen Gesprächen an einen Tisch gesetzt haben. Wir haben auch hier eine Lösung gefunden, die, wie ich meine, allen Seiten - dem Erwerber, den Mietern und Nutzern des Hauses wie auch der künftigen, aus der EnqueteKommission heraus initiierten Stiftung - gerecht wird; denn diese Stiftung wird ihren Teilsitz im Haus der Demokratie haben. Ich glaube, daß dies eine kluge Entscheidung ist. Welchen besseren Ort für die Stiftung könnte es geben, abgesehen von der Lage Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden, als diesen ehemaligen Sitz der Hauptstadt-Nomenklatur-Kader der SED - diese wird übrigens häufig bei der Debatte über die Stasi als der eigentliche Drahtzieher und Befehlsgeber vergessen -, heute: Haus der Demokratie?
Auch ich halte heute meine letzte Rede im Deutschen Bundestag und möchte deshalb, wenn Sie erlauben, zum Schluß noch einen Gedanken aussprechen. Nur 53 Jahre liegt das Ende des Nationalsozialismus hinter uns, neun Jahre das Ende des DDR-Totalitarismus. Noch kann man die Spuren sehen, nicht nur in den kilometerlangen Akten, in den Geruchsproben und Handschriftensammlungen, die die Stasi angelegt hat. Ich empfehle allen, die das noch nicht getan haben, sich diese schrecklichen Dokumente eines totalitären Wahns einmal anzusehen. Nein, man kann es nicht nur dort sehen, nicht nur an den Gebäuden und an den Grabsteinen der Opfer. Man sieht es auch in den Gesichtern der Lebenden. Diktaturen hinterlassen ihre Spuren für die, die in Gesichtern lesen können, unauslöschlich, ein Leben lang.
Erst wenn ich in die Gesichter dieser Menschen blicke, auf ihre Biographien, dann weiß ich, was für ein unendliches und im übrigen auch völlig unverdientes Glück ich hatte und viele hier im Hause hatten, jetzt mehr als 40 Jahre lang mit einem im Weltmaßstab doch ungewöhnlich großen Maß an persönlicher Freiheit, Frieden, sozialer und materieller Sicherheit und Demokratie aufgewachsen sein zu dürfen. Ich glaube, daß nicht nur der Blick in die eigene Geschichte, sondern auch der Blick um uns herum - aktuell etwa nach Kosova, nach Bosnien - zeigt, wie dünn doch das Eis ist, auf dem diese menschliche Kultur lebt, die wir alle eigentlich schon als selbstverständlich voraussetzen.
Dieses Innewerden macht meines Erachtens zugleich auch deutlich: Jeder einzelne von uns hat die Verpflichtung, mutig dafür zu sorgen, daß nicht nur im eigenen Umkreis, sondern daß weltweit Frieden, Freiheit, Demokratie und Solidarität erkämpft und gesichert werden. Das ist, glaube ich, die Konsequenz, die wir aus der Aufarbeitung des Totalitarismus ziehen können.
Ich meine, daß wir auch die Begriffe prüfen müssen, mit denen wir umgehen und nach denen wir unsere Entscheidungen treffen; denn - auch dies ist eine Erfahrung - das Böse kommt in der Regel nicht bewußt und gewollt in die Welt, sondern es ist häufig die Verzerrung eines ursprünglichen Ideals, eines guten Willens. Es ist für mich eine besondere Tragik, zu erkennen, daß das Schlimmste, was in der Weltgeschichte angerichtet worden ist, meistens von Menschen angerichtet worden ist, die sich ein System ausgedacht hatten, mit dem sie glaubten, menschliche Gesellschaft, so wie sie sie verstanden haben, für die Menschen richtig und glückhaft organisieren zu können. Ich glaube, die Konsequenz daraus ist, sich weniger ein abstraktes Bild vom Menschen zu machen, als die konkreten Menschen vielmehr so zu akzeptieren, wie sie sind.
Ich glaube, daß eine zweite Konsequenz daraus folgt - das sei der letzte Gedanke -: Die französische Revolution hat die drei großen Ideale Freiheit, Gleichheit - man könnte auch sagen: Demokratie - und Brüderlichkeit - man könnte auch sagen: Solidarität - formuliert. Vieles an Vereinseitigung in der Geschichte liegt meines Erachtens daran, daß immer wieder versucht worden ist, von diesen dreien, die nur gemeinsam verwirklicht werden können, das eine auf Kosten des anderen zu erreichen, also möglichst viel Gleichheit zu erreichen und dabei die Freiheit der Menschen absolut mit Füßen zu treten. Aber auch in der anderen Richtung gibt es Vereinseitigungen. Gegenwärtig habe ich mehr Angst vor der anderen Vereinseitigung als vor dieser.
Deshalb mein Appell: Lassen Sie uns versuchen, bei all den Entscheidungen, die vor uns und vor Ihnen, die Sie hier im Parlament weiter wirken werden, liegen, diese Trias, die Gemeinsamkeit dieser drei
Gerald Häfner
Ideale zu begreifen und immer die Balance zwischen Freiheit, Demokratie und Solidarität, die Integration dieser drei zum Maßstab zu nehmen. Jeder Versuch der Vereinseitigung in dieser Trias ist meines Erachtens der Anfang von Unterdrückung und von Systemen, die sich gegen die Menschen kehren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich danke insbesondere Ihnen, Frau Präsidentin, dafür, daß Sie mit der Redezeit großzügig waren.