Rede von
Siegfried
Vergin
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Verehrte Sachverständige und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Enquete-Kommission! Liebe Kolleginnen und
Siegfried Vergin
Kollegen! Es ist für mich eine ganz persönliche Genugtuung, heute, am 17. Juni 1998, im Deutschen Bundestag als frei gewählter Abgeordneter vor Ihnen zu stehen. Und es ist mir eine besondere Freude, heute in meiner letzten Bundestagsrede über die Überwindung der Folgen der SED-Diktatur sprechen zu können.
Daran war vor 45 Jahren, am 17. Juni 1953, in meinem damaligen mecklenburgischen Heimatort nicht zu denken. Freiheit und Demokratie hatten wir als junge Deutsche in der DDR bis dahin nicht selbst erlebt. Aber wir waren bereit, uns dieses Menschenrecht zu erkämpfen. Die Ereignisse am und um den 17. Juni 1953 öffneten mir die Augen, wiesen mir den Weg letztendlich in die Freiheit, meine dritte Heimat.
Heute, am 45. Jahrestag des Volksaufstandes vom 17. Juni, sind meine Erlebnisse jener Zeit wieder präsent. Am heutigen Tag wird meine Erinnerung konkret. Welche Kraft können Gedenktage haben, wenn man sie nicht nur kalendermäßig nimmt!
Darum möchte ich eine der Empfehlungen der Enquete-Kommission gerade heute betonen: Wir wollen den 17. Juni zu einem lebendigen Gedenktag in ganz Deutschland machen und dabei insbesondere Opposition und Widerstand gegen die SED-Diktatur würdigen. Dieses Gedenken muß darüber hinaus sichtbar werden in einem Denkmal an dem Ort, an dem die Berliner am 17. Juni 1953 freie Wahlen forderten, vor dem Haus der Ministerien, dem künftigen Bundesfinanzministerium.
Ich appelliere an Bundesregierung und Berliner Senat, ihre Finanzzusagen einzulösen und für eine zügige Errichtung des Denkmals zu sorgen.
Wir denken heute auch an den Mut derer, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen und riefen: Wir sind das Volk!
Auf diese friedliche Revolution für die Freiheit können die Ostdeutschen besonders stolz sein. Sie ist die größte und wirkliche Errungenschaft der DDR; denn sie hat unser aller Freiheitstradition in Deutschland bereichert und gestärkt. Wie aber können wir die Erinnerung daran wachhalten? Was ist zu tun, um Aufarbeitung von Vergangenheit zu fördern? Das waren die wichtigen Fragen, die uns in den letzten Jahren in der Enquete-Kommission beschäftigt haben.
Die Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit, die Frage nach Schuld und Verantwortung, die Bereitschaft, zu lernen und zu versöhnen, sind Teil und ein Stück weit Bedingung der gewonnenen Freiheit. In meiner langjährigen politischen Arbeit in der Bundesrepublik habe ich selbst erfahren, wie schwer wir uns mit der Aufarbeitung der NS-Diktatur taten. Die Aufhebung der NS-Unrechtsurteile vor wenigen Tagen hat dies noch einmal dokumentiert.
Willy Brandt war es, der uns bei der ersten Bundestagsdebatte zur Einsetzung der Enquete-Kommission gemahnt hat, nicht ähnliche Versäumnisse wie nach 1945 zu begehen.
Ich danke an dieser Stelle unserem Obmann Markus Meckel, daß er mit seiner vollen Kraft die Einsetzung der beiden Enquete-Kommissionen letztendlich durchsetzte. Es ist bedauerlich, daß er heute bei dieser Debatte nicht hiersein kann.
Die Arbeit der zweiten Enquete-Kommission hat unser aller Wissen über die DDR-Diktatur vergrößert. Dieses genaue Wissen über die Diktatur und ihre Herrschaftsmechanismen ist Voraussetzung dafür, aus der Vergangenheit lernen zu können.
Für die Fraktion der SPD bedanke ich mich bei all jenen, die an dieser Arbeit mitgewirkt haben, sei es in Anhörungen und Diskussionen oder einfach dadurch, daß sie uns Abgeordneten die Meinung gesagt oder geschrieben haben. Der Dank gilt auch den Sachverständigen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Büros, in den Fraktionen und insbesondere im Sekretariat der Enquete-Kommission.
Wir haben heute ein differenzierteres Bild von der Lebenswirklichkeit der Menschen in der DDR. Wir erkennen, wie lange und tiefgehend Prägungen aus dieser Zeit fortwirken. Sicherlich kann man Leben und Leistung von 16 Millionen Menschen der DDR nicht auf einen Begriff bringen. Aber eines können wir nach zwei Enquete-Kommissionen klar und unmißverständlich auf den Punkt bringen: Der Staat DDR war von Anfang an eine Diktatur.
Ich erinnere daran, daß es zuerst die Arbeiter waren, die sich im Juni 1953 gegen die SED erhoben, die ihre Diktatur gegen die Arbeiter und die Bürger in der DDR errichtete. Eines tat sie seit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD im Jahre 1946 bis zum Zusammenbruch 1989: Sie bekämpfte erbittert - offen und geheim - die Partei des demokratischen Sozialismus, die deutsche Sozialdemokratie.
Wie schlecht müssen sich eigentlich diejenigen fühlen, die sich in ihrem Namen mit einer Idee schmük-
Siegfried Vergin
ken, deren Vertreter sie bis zum Herbst 1989 verhaftet und verfolgt haben?
Ich frage aber auch: Ist aus der Geschichte gelernt worden, wenn man mit dem Symbol der Zwangsvereinigung Wahlkampf machen will?
Wir Deutschen müssen am Ende des 20. Jahrhunderts mit der Erinnerung an zwei deutsche Diktaturen leben. Als einzige Nation in Europa haben wir selbst die Diktaturen der beiden großen totalitären Bewegungen in diesem Jahrhundert erfahren. Diese beiden Bewegungen, die kommunistische und die nationalsozialistische, verband die Feindschaft gegen Rechtsstaat und Demokratie; sie waren Feinde der Freiheit und einer offenen Gesellschaft.
In der Auseinandersetzung mit dieser doppelten Diktaturerfahrung können wir unseren Blick und unser Bewußtsein für Freiheit, Recht und Demokratie schärfen. Das ist der Kern des antitotalitären Konsenses und der demokratischen Erinnerungskultur in Deutschland.
Ein solch geschärfter Blick zeigt uns auch die Dimension der Diktaturen und ihrer Verbrechen und macht klar: Eine Gleichsetzung von SED-Diktatur und NS-Terrorherrschaft verbietet sich. Und vergessen wir nie: Es war die von uns Deutschen herbeigeführte Diktatur des Nationalsozialismus, die ganz Europa mit Völkermord und Vernichtungskrieg überzog.
Zum antitotalitären Konsens gehört auch, die Opfer der Diktaturen nicht gegeneinander aufzurechnen oder auszuspielen. Man darf sie auch nicht einfach aufaddieren.
Den Opfern der Diktaturen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen - das war ein leitender Gedanke der Arbeit in der Enquete-Kommission. Diese Gerechtigkeit zeigt sich nicht nur in angemessenen Entschädigungsleistungen und materiellen Hilfen, sondern auch an den Orten ehemaliger Verfolgung und Inhaftierung. Die Einrichtung von Gedenkstätten an authentischen Orten ist darum ein Zeichen moralischer Rehabilitierung der Opfer.
Wir betonen in unserem Abschlußbericht die Bedeutung von Gedenkstätten als Orten der Aufklärung und Bildung, der Dokumentation und Forschung. Die Gedenkstätten an den authentischen Orten zur Erinnerung an die NS-Diktatur und an die SED-Diktatur sind die stärksten Pfeiler in unserer demokratischen Erinnerungskultur. Als Orte der offenen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Diktaturen sind sie nicht nur Lernorte der Geschichte, sondern auch Orte der Demokratiesicherung. Es ist daher konsequent, daß die Enquete-Kommission die Unterstützung und Förderung der dezentralen und pluralen Gedenkstättenlandschaft in der Bundesrepublik fordert. Der Bundestag schuldet allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätten Respekt und Anerkennung für ihre Arbeit.
Wir benennen in unserem Bericht auch die Verantwortung für die Gedenkstätten außerhalb Deutschlands. Wo würde diese Verantwortung besser sichtbar als in der Unterstützung der Gedenkstätten in Auschwitz oder Treblinka? Wäre es nicht wirklich eine Zukunftsaufgabe der Versöhnung, die Gedenkstätten in Theresienstadt und Lidice durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds zu fördern?
Die Empfehlungen der Enquete-Kommission für eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes sind ein wichtiger und entscheidender Fortschritt. Vor vier Jahren habe ich an dieser Stelle bedauert, daß sich die Regierungskoalition nicht bereit fand, die Arbeit der Gedenkstätten von gesamtstaatlicher Bedeutung in ganz Deutschland wirklich zu sichern. Heute, nach drei Jahren Arbeit in der Enquete-Kommission, sind wir uns einig und empfehlen Bundestag und Bundesregierung, Gedenkstätten an historisch herausragenden Orten in Ost- und Westdeutschland künftig dauerhaft durch den Bund und das jeweilige Sitzland zu fördern.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei dem Obmann der CDU/CSU-Fraktion, dem Kollegen Hartmut Koschyk, bedanken. Sie, lieber Herr Koschyk, haben erkannt - Sie haben auch für die Umsetzung dieses Gedankens geworben -, daß es wichtig ist, die Erfahrungen der Diktaturen den Nachgeborenen gerade in den Gedenkstätten zu vermitteln. Dies spreche ich hier in aller Offenheit aus.
Ich glaube, das ist der richtige Stil des Umgangs mit diesem Thema.
Ich selbst werde dem nächsten Deutschen Bundestag nicht mehr angehören. Daher möchte ich den Verantwortlichen hier im Hohen Hause, aber auch in den Ländern und Kommunen unsere Gedenkstättenkonzeption ans Herz legen. Sorgen Sie alle dafür, daß die wichtige Arbeit der Gedenkstätten für unsere Demokratie gesichert und fruchtbar gemacht werden kann. Richten Sie wieder einen Unterausschuß für Kultur zur parlamentarischen Kontrolle und zur Beratung der Regierung auch im Hinblick auf andere gesamtstaatliche Kulturaufgaben ein!
Meine Damen und Herren, heute enden sechs Jahre parlamentarische Aufarbeitung durch zwei Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages; aber keineswegs endet die Aufarbeitung unserer doppelten Diktaturgeschichte. Die Aufarbeitung bleibt eine Aufgabe von Bürgerschaft, Politik und Wissenschaft.
In diesen Wochen beginnt die von der EnqueteKommission initiierte Bundesstiftung zur Aufarbei-
Siegfried Vergin
hing der SED-Diktatur ihre Arbeit. Sie soll die wertvolle Arbeit der Aufarbeitungsinitiativen und -vereine fördern. Wenn es ebenso erfolgreich gelingt, unsere Vorschläge für eine Gedenkstättenkonzeption des Bundes parlamentarisch umzusetzen, dann hätte diese Enquete-Kommission ihren Zweck, den antitotalitären Konsens und die demokratische Erinnerungskultur in Deutschland zu fördern und zu festigen, erfüllt.
Ist damit aber der Erinnerung und des Gedenkens Genüge getan? Im vorgelegten Bericht heißt es:
Die Glaubwürdigkeit des Gedenkens mißt sich am politischen Handeln im Alltag.
Ich habe die große Sorge, daß bei vielen in den neuen Bundesländern die Freude an der gewonnenen Freiheit und Einheit hinter der Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit der Jugend zurücktritt.
Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit muß daher unsere wichtigste Aufgabe sein. Denn Arbeitslosigkeit macht Angst, und Angst ist ein schlechter Ratgeber. Angst ist der Nährboden für Vorurteile und die stärkste Quelle der radikalen Rattenfänger.
Ängste abbauen und Vertrauen wachsen lassen - das sind die Aufgaben verantwortungsvoller demokratischer Politik. Das kostet Geld, im Großen wie im Kleinen. Aber der Verlust von Vertrauen in die Demokratie und die Aufgabe der Freiheit wären ein weit höherer Preis.
Der Blick in unsere Geschichte, besonders auch bei dem Besuch einer Gedenkstätte, zeigt, welchen Preis Menschen zahlen mußten, die in Freiheit leben wollten und für die Freiheit anderer kämpften. Eine lebendige Demokratie, eine gerechte und solidarische Republik - das kostet uns heute nicht mehr als das Wollen ehrlicher Politik. Unser Land und unsere Demokratie sollten uns das wert sein. Meine Damen und Herren, was hätten wir am 17. Juni 1953 dafür gegeben!