Guten Morgen, Frau Präsidentin! Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Am letzten Tag der Haushaltsberatungen ist es an der Zeit, eine Bilanz dessen zu ziehen, was wir in dieser Woche hier im Plenum und in den letzten Wochen im Ausschuß getan haben.
Wenn man die zurückliegenden Beratungen im Ausschuß verfolgt, könnte man bei oberflächlicher Betrachtung sagen, daß sie sich nicht sehr von denen der vergangenen Jahre unterschieden. Bei etwas genauerer Betrachtung wurde aber doch relativ schnell deutlich, daß insbesondere die Koalition gelegentlich Mühe hatte, deutlich erkennbare Motivationsmängel zu kompensieren, war doch allen klar, daß ein wesentlicher Teil der Beratungen insoweit obsolet war, als er durch das Ergebnis der Steuerschätzung vom 11. November überholt werden würde. Das galt nicht für die kleineren Einzelpositionen, um die, genau wie in jedem Jahr, gerungen wurde, sondern mehr für die großen Eckpunkte, deren Beratung regelmäßig bis zur Bereinigungssitzung verschoben wurde.
Schon dieser Zeitablauf, der die Frage nach der Seriosität der Beratungen aufwarf mündete aus meiner Sicht folgerichtig in den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen, die Haushaltsberatungen so lange auszusetzen, bis die Ergebnisse der Steuerschätzung vorliegen.
Die SPD-Fraktion hatte sich diesem Antrag angeschlossen. Bei der Koalition war keine Veränderung der Grundhaltung zu sehen, die da hieß: Augen zu und durch.
Meine Damen und Herren, die Fülle der Änderungsanträge im Haushaltsausschuß - man muß sich das einmal vorstellen: zirka 700 Anträge - war ein Grund dafür, daß die Beratungen manchmal unübersichtlich wurden. Ein weiterer, politisch gewiß wesentlich bedeutsamerer Grund für die Unübersichtlichkeit war die häufige Uneinigkeit in der Koalition, die zu Auseinandersetzungen in der Koalition führte. Diese wurden zwar so ausgetragen, daß nach Möglichkeit die Öffentlichkeit nichts davon hörte, waren aber deutlich erkennbar.
Daß die Beratungen in einer solchen Situation nicht aus dem Ruder liefen, war sicherlich der disziplinierten Arbeit der Obleute zu verdanken: der Kollegen Adolf Roth, Karl Diller, Wolfgang Weng und Oswald Metzger, aber auch von Frau Christa Luft, die für die PDS in gleicher Funktion gearbeitet hat. Ich danke den Obleuten, und in diesen Dank schließe ich natürlich auch meinen Vertreter Bartholomäus Kalb ein, der immer dann eingesprungen ist, wenn es an der Zeit war.
Danken möchte ich natürlich auch den vielen Beamten aus den Haushaltsabteilungen der Ressorts und insbesondere den Mitarbeitern des BMF, die die Ausschußbeschlüsse ja auch administrativ umsetzen mußten.
Daß mein besonderer Dank und meine Anerkennung dem Ausschußsekretariat zukommen, dessen Mitarbeiter auch die diesjährigen Beratungen gut über die Runden gebracht haben, versteht sich von selbst.
Um Ihnen die Dimension der Arbeit des Sekretariats vor Augen zu führen, will ich Ihnen nur eine Zahl nennen. Unser Umdruckapparat steht seit den Haushaltsberatungen bei der Textziffer 122000. So viele Einzelblätter sind im Ausschußsekretariat umgedruckt und hoffentlich auch von allen gelesen worden.
Meine Damen und Herren, bereits vor der parlamentarischen Sommerpause hat der Ausschuß beschlossen, seine diesjährigen Haushaltsberatungen mit einer öffentlichen Anhörung zum Haushaltsrechts-Fortentwicklungsgesetz zu beginnen. Ich habe diesen Gedanken einer Anhörung zu diesem auf den ersten Blick und für Nichtfachleute vielleicht gar nicht so spektakulären Gesetzentwurf von Beginn an deshalb sehr unterstützt, da ich das Gefühl hatte, daß auch wir nicht alle die politische Brisanz der dort vorgesehenen Änderungen erkannt haben.
Dieses Thema ist aber schon deshalb für uns von Interesse, da wir doch alle in zunehmendem Maße verspüren, daß sich das Kräfteverhältnis zwischen Legislative und Exekutive mehr und mehr verschiebt. Dies hat - und die nachdenklichen Köpfe in der Koalition werden mir hier nicht widersprechen - natürlich mit der zunehmenden Kraftlosigkeit der Mehrheit auf der rechten Seite des Hauses zu tun.
Nun hilft es nicht sonderlich, eine solche Kräfteverschiebung zu konstatieren, sondern wir alle sind aufgerufen gegenzusteuern. Dies aber setzt - Sie wissen, ich neige gelegentlich zu analytischen Betrachtungen - eine kritische Überprüfung der eigenen Position voraus.
Wir alle müssen uns fragen, ob wir die uns eingeräumten Rechte auch kraftvoll und machtbewußt anwenden und mithin unsere Rechte gegenüber der Regierung selbstbewußt wahrnehmen. Dazu gehört eine ständige Überprüfung unseres eigenen Selbstverständnisses. Tun sich hier Schwächen auf, so ist es doch naturgemäß so, daß sich die Exekutive in geradezu mathematisch-logischer Folge Schwächen des Parlamentes zunutze macht.
Helmut Wieczorek
Der Begriff der Gewaltenteilung - darüber muß man nicht lange herumphilosophieren - hat etwas mit Macht, dem Willen und dem Anspruch, diese auszuüben, zu tun. Wenn wir uns gegebene Kompetenzen nicht ausfüllen, dürfen wir nicht erstaunt sein, wenn die Exekutive versucht, uns mit ihrem schon von der Manpower her viel umfangreicheren Sachverstand in die Ecke zu drängen.
Dazu gehört unter anderem, gelegentlich gegenüber der Regierung mit einer Stimme des Parlaments zu sprechen.
Meine Damen und Herren, dazu gehört auch, daß Anträge nicht deshalb abgelehnt werden, weil sie von der Opposition kommen,
obwohl sie erkennbar und zugegebenermaßen vernünftig sind.
Meine Damen und Herren, ist es nicht so, daß immer dann von parlamentarischen Sternstunden die Rede ist, wenn sich die Grenzen zwischen Koalition und Opposition verschieben oder verwischen und die Grenzen zwischen Parlament und Regierung deutlich werden?
Lassen Sie mich bei diesem Aspekt noch einen Moment verweilen. Seit Beginn dieser Legislaturperiode habe ich sehr darauf hingewirkt, daß wir den § 96 unserer Geschäftsordnung wieder mehr in unsere parlamentarischen Beratungen einfließen lassen und ihn beachten. Mit diesem § 96 ist dem Haushaltsausschuß ein Instrument an die Hand gegeben, das als scharfes Schwert des Parlamentes gegenüber der Regierung wirken kann.
Ich will nicht verhehlen, daß die Koalition die Möglichkeiten des § 96 der Geschäftsordnung fast begraben hat. Hierdurch sind Sie und wir alle für unsere jetzige schwierige finanzpolitische Situation mitverantwortlich geworden. Rechtlich hätte uns das vorhandene Instrumentarium - selbstbewußt genutzt - nicht nur nicht daran gehindert, sondern nachgerade dazu verpflichtet, der Regierung auf einem finanzpolitisch nicht vertretbaren Weg nicht zu folgen.
Insofern, meine Damen und Herren, tragen Sie und wir alle Mitverantwortung für die jetzige Situation, wobei die deutsche Einheit, und das will ich hier ganz offen sagen, eine spezifische Behandlung verdiente. Daß es aus meiner Sicht besser gewesen wäre, die deutsche Einheit nicht über Staatsverschuldung zu finanzieren und aufgelaufene Schulden mit Zinsen bedienen zu müssen, das wissen Sie.
Auch an dieser Stelle ist es notwendig, im Sinne der intellektuellen Redlichkeit darauf hinzuweisen, daß wir uns selbst mit unserer Argumentation in eine Schieflage bringen, wenn wir das neue Deutschland mit den Instrumenten und Maßstäben der alten Bundesrepublik messen.
Mir kommt in der ganzen Diskussion zu kurz, daß das neue Deutschland auch Zukunftsperspektiven hat, die weiterentwickelt werden müssen.
Unser vordringliches Ziel muß es sein, die Maßstäbe wieder in Ordnung zu bringen, die nicht nur Schulden und Nettokreditaufnahme heißen, sondern vor allen Dingen auch die Bruttowertschöpfung beinhalten müssen. Hier ist unser Ansatzpunkt, wobei wir gleiche Lebensverhältnisse im gesamten Land herbeiführen müssen.
Denn gerade wenn man die Fragen der deutschen Einheit und die Kriterien der Finanzierung redlich beleuchtet, muß man feststellen, daß bei aller Kritik an der Art der Finanzierung der deutschen Einheit kein Platz für Selbstgerechtigkeit ist, egal, von welcher Seite sie kommt.
Meine Damen und Herren, wenn wir kraftvoll und selbstbewußt unsere Rechte wahrnehmen - und ich möchte damit zur Änderung des Haushaltsrechts zurückkommen -, scheint mir eine Einschränkung unserer Rechte an anderer Stelle erträglich zu sein, wenn die Exekutive vernünftige und sachgerechte Gründe hat, auf Änderungen hinzuwirken. Die Darstellung von bloßen Aufgabenschwerpunkten im Rahmen eines Haushaltes als perspektivisches Ziel bedeutet eine andere Beratung und damit auch eine andere Art der Einflußnahme.
Wir werden uns mit der Frage von Zieldefinitionen auseinanderzusetzen haben. Dem Begriff Aufgabenüberprüfung, nämlich der Frage, ob eine Aufgabe überhaupt noch einen Sinn hat, wird eine vollkommen neue Bedeutung zukommen.
Wir beraten einen Haushalt letztmalig auf der Basis des jetzigen Haushaltsrechtes. An dieser Stelle, meine Damen und Herren, drängt es sich auf, ein paar Worte zum Bundesrechnungshof zu sagen, wenigstens ein paar Anmerkungen zu machen.
Auf den Bundesrechnungshof kommt in diesem Zusammenhang auch eine geänderte Aufgabe zu. Wenn sich der Hof künftig im Rahmen seiner Vorprüfung von den bloßen Ordnungsmäßigkeitsüberprüfungen - so heißt dieses schlimme Wort - entfernt und primär Wirtschaftlichkeitsüberlegungen anstellt, ist das ein guter Weg. Querschnittlich angelegte Kriterien bei der Überprüfung werden eine bessere Beurteilung des Bundeshaushaltes in toto möglich machen. Von daher habe ich die Hoffnung, daß der Bundesrechnungshof diese Chance, die Finanzkontrolle zu stärken, auch nutzen möge. Mit der Wertung politischer Grundannahmen sollte sich der Hof jedoch zurückhalten.
Helmut Wieczorek
Es kommt darauf an, meine Damen und Herren, die Dinge nicht nur im nachhinein zu überprüfen, sondern bereits im Vorfeld transparent zu machen, Risiken aufzuzeigen und dem Parlament Hilfestellung zu geben.
Der Bundesrechnungshof muß sich zu einem Controlling-Instrument des Parlaments entwickeln.
Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei einem neuen Stichwort, das mir sehr am Herzen liegt, der Reform der Finanzverfassung. Ich habe schon vor vier Jahren hier im Hause versucht, dieses Thema zu problematisieren.
Für mich persönlich ist eine grundlegende Überarbeitung unserer Finanzverfassung das größte Anliegen seit der Wiedervereinigung. Dabei bin ich mir vollkommen dessen bewußt, daß eine neue Finanzverfassung davon auszugehen hat, daß die heutigen Verhältnisse überholt sind. Das bedeutet, daß ich nicht nur die Verteilung der Finanzmasse neu ordnen muß, sondern auch die Verteilung der Aufgaben im Staat neu zu strukturieren habe. Daß dies eine geradezu historische Aufgabe sein wird, liegt auf der Hand. Sie muß angegangen werden, weil wir sonst in eine Sackgasse laufen. Hierzu bedarf es des Mutes und der Kraft.
Mut und Kraft sind auch die Stichworte, die mich zu Überlegungen hinsichtlich eines anderen Themenkreises bringen. Mir macht - ich glaube, genauso wie Ihnen - die Frage große Sorgen, wie es weitergehen soll, wenn die Hektik der Auseinandersetzung zwischen den Parteien nach der nächsten Wahl nicht mehr das Handeln bestimmt. Ich rechne damit, daß wir zu einem Paradigmenwechsel, zu einem Umsteuern in der gesamten Finanzpolitik kommen müssen. Dabei wird die Frage, wie wir wieder zu politischen Handlungsspielräumen kommen können, trotz der ungeheuren Vorbelastungen im Mittelpunkt stehen.
Ich will Ihnen heute kein Rezept dafür geben, obwohl ich Vorstellungen habe, wie man es machen könnte; denn ich glaube, daß diese Vorstellungen im Moment noch von allen Seiten derart in kleinkarierten Diskussionen im Rahmen der Wahlauseinandersetzung zerpflückt würden, so daß ich mir ersparen möchte, heute darauf einzugehen. Sie können sich aber darauf verlassen, daß wir für unseren Teil sehr wohl Vorstellungen haben, wie wir den Staat wieder zu einer gestalterischen Kraft machen können.
Ich möchte gerne noch über Reformen sprechen, weil sie mir sehr am Herzen liegen. Aber es wird immer schwerer, seriös über das Thema Reformen in unserer Gesellschaft zu reflektieren. Was mir in diesem Zusammenhang große Sorgen macht, ist die
ritualisierte Oberflächlichkeit unserer Politik. Anstatt Gedanken und Ideen zu überprüfen, zu hinterfragen und abzuwägen, wird gelegentlich sofort - man glaubt fast: aus dem Handgelenk - eine Stellungnahme mit dem Ziel produziert, eine Schlagzeile zu machen, und nicht mit dem Ziel, das Problem seriös anzugehen.
Wenn ein junger Mensch als Volontär oder als Praktikant in eine Redaktion kommt, dann lernt er in den ersten Stunden, daß sich die wesentlichen Dinge, die ein Journalist beherrschen muß, in drei Worte zusammenfassen lassen: wer, wann, wo? Diese drei Worte sind Grundlage und Bedingung für die Vollständigkeit und Seriosität einer Nachricht.
Auf uns übertragen würde ich sehr empfehlen, diese drei Worte durch folgende zu ersetzen - das wäre auch für Sie, Herr Kollege Dr. Weng, ganz gut -: warum, weshalb, wieso?
Ich gebe zu, daß analytisches Denken nicht unbedingt jedermanns und jeder Frau Sache ist; aber es ist eine Voraussetzung für gestalterische Politik. Da in dieser Woche die Tendenzen des CSU-Parteitages hier angesprochen und diskutiert worden sind, muß ich sagen: Mich hat es ungeheuer getroffen, was auf diesem Parteitag in aller Öffentlichkeit diskutiert wurde.
Es war der ernsthafte Versuch, Kollege Riedl, eine Region aus dem Solidarverband einer Nation zu lösen.
Konkret bedeutet das: Die Bayern sollen einen anderen Beitrag zu den sozialen Sicherungssystemen als zum Beispiel die Berliner bezahlen. Bei dieser Gelegenheit muß ich fragen: Was ist denn eigentlich Solidarität? Was verstehen die Menschen heute darunter? Ich gebe ja zu, daß sich dieses Wort in der letzten Zeit abgenutzt hat. Genauso wie das Wort Toleranz wird es immer von denen gebraucht, die von anderen etwas haben wollen. Es wird aber nicht von denen gebraucht, die etwas geben müssen. Solidarität ist nie eine Einbahnstraße, sondern beinhaltet immer eine Zweigleisigkeit.
Ich bitte alle unsere Kollegen sehr darum, dann, wenn sie das Wort Solidarität gebrauchen, wieder
Helmut Wieczorek
zur ursprünglichen Bedeutung des Wortes zurückzukommen.
Solidarität muß aufrechterhalten werden. Menschen in einem Land, die von ihrer gewählten Obrigkeit - das sage ich jetzt ganz bewußt - in eine Entsolidarisierung getrieben werden, werden in eine Ich-Bezogenheit getrieben, die wir insgesamt als verwerflich bezeichnen müssen. Diese Gesellschaft kann nur leben, wenn sie zu einem Verhalten des solidarischen Ausgleichs findet.
Wir werden die Spannungen sonst nicht aushalten. Wir dürfen die Menschen nicht bewußt in eine solche Spannungslage hineintreiben.
Hier tut sich eine ganz schlimme Entwicklung auf. Im Ruhrgebiet würde man sagen - Sie mögen mir verzeihen -: Es sind verkommene Sitten. Aber das sage ich hier natürlich nicht.
Lassen Sie mich zu den Reformen zurückkommen, die ich eigentlich ansprechen wollte. Es muß die Frage erlaubt sein, welchen großartigen und umwälzenden strukturellen Veränderungen dieser moderne Begriff zugeordnet wird. Wir reden von Gesundheitsreform, Bildungsreform, Rentenreform und Steuerreform. Ich könnte noch einige aufzählen. Was versteckt sich dahinter wirklich?
Ist es nicht so - man kann es nicht oft genug anprangern, auch wenn es sich allmählich banal anhört -, daß sich angeblich alle Verantwortlichen darüber im klaren sind, daß unsere Gesellschaft vor riesigen Herausforderungen steht und echte Reformen benötigt? Aber was tun wir? Muß man nicht den Eindruck haben, als ob sich hinter der Gesundheitsreform primär die Zuzahlung durch die Patienten verbirgt? Denkt man bei der Bildungsreform nicht nur an die Wiedereinführung von Studiengebühren? Ist nicht das einzige Thema der Rentenreform die Höhe des Beitragssatzes? Gilt es hier nicht primär, sich ehrlich, offen und nüchtern mit unserer demographischen Entwicklung und deren Konsequenzen für die Zukunft auseinanderzusetzen?
Denken wir ausreichend darüber nach, welche Veränderungen in der Vergangenheit dieses System belastet haben? Darauf komme ich gleich noch zurück.
Ist es eigentlich ausschließlich Sinn einer Steuerreform, die Reichen weitgehend ungeschoren zu lassen
und die Ärmeren in unserer Gesellschaft dafür noch etwas mehr zu belasten?
Warum wird das Thema Erbschaftsteuer so zurückhaltend diskutiert?
Liegt es nur an der bevorstehenden Bundestagswahl? - Die Liste der Beispiele ließe sich endlos fortführen, und Sie von der Koalition wissen doch, daß ich weitgehend recht habe.
Wir kennen die Gegenargumente und wissen, daß sich die politisch Verantwortlichen in immer stärkerem Maße hinter den immensen Haushaltszwängen verstecken und behaupten, schon deshalb könnten Reformen nicht vorankommen. Aber macht man es sich nicht viel zu einfach, wenn man mit diesen Argumenten auf die gestalterische Rolle der Politik verzichtet? Ist es nicht nachgerade so, daß der Staat in wirtschaftlich schwierigen Zeiten mutig und kraftvoll neue Wege beschreiten, seine Aufgaben weitgehend überprüfen und all das abbauen sollte, was nicht notwendig ist? Wir brauchen auch die Entwicklung radikaler Lösungsansätze. Dies ist unsere vornehmste Pflicht, auch unsere Verpflichtung gegenüber kommenden Generationen. Denn dies ist die Aufgabe der Politik, die nicht nur das Heute, das Jetzt gestalten darf.
Wir aber bewegen uns nach wie vor in alten Strukturen und nehmen allenfalls Retuschen am System vor. Wirkliche Reformen müssen sich mit den Grundlagen des Systems auseinandersetzen, also mit der Frage, wie und unter welchen Rahmenbedingungen dieses System eigentlich entstanden ist.
Ich erinnere daran, daß die Grundlagen unseres Steuersystems aus der Mitte der 50er bis Mitte der 60er Jahre stammen. Damals gab es Vollbeschäftigung, ja, Überbeschäftigung. Aus der Tatsache, daß es damals sogar mehr Arbeit als Arbeitskräfte gab, haben wir seinerzeit ein System entwickelt, das nicht berücksichtigt, daß irgendwann einmal eine erhebliche Zahl von Arbeitssuchenden auf uns zukommen könnte.
In den ersten Jahrzehnten unserer Republik waren die umwälzenden technologischen Fortschritte nicht absehbar. Die in diesem Jahrzehnt eingetretenen historischen Veränderungen waren von niemandem vorhersehbar. Gleichwohl haben wir weitgehend alles beim alten gelassen. Muß es nicht eine dringende Warnung sein, schon fast ein SOS-Zeichen, wenn immer mehr deutsche Unternehmen ihren Produktionsstandort überprüfen?
Da die Globalisierung ständig zunimmt, muß der Standort Deutschland zwingend seine Wettbewerbsfähigkeit steigern, zum Teil erst wiederherstellen.
Das haben wir in dieser Woche von allen Seiten einige Male gehört.
Helmut Wieczorek
Ist das nicht aber auch ein Teil unseres Steuersystems? Ich meine nicht die Steuertarife - nicht, daß wir uns hier mißverstehen.
Es ist doch ein absolutes Unding
- hören Sie gut zu -: In unserem Steuerrecht haben wir 400 Bestimmungen, die den Einsatz von Kapital in einem Unternehmen begünstigen; wir haben aber keine einzige Bestimmung, die den Einsatz von Menschen im Betrieb belohnt. Glauben Sie nicht auch, daß unserem Steuerrecht eine andere Philosophie zugrunde liegt als die, die wir heute benötigen?
Meine Damen und Herren, wie schwer tun wir uns bei diesem Thema, obwohl wir uns doch alle einig sind, daß die Arbeitslosigkeit das gravierendste Problem in unserer Gesellschaft ist. Warum war dies nicht Anlaß, unser System radikal, das heißt an die Wurzel gehend, zu ändern?
Meine Damen und Herren, eine Steuerreform muß da ansetzen, wo sie im Interesse der Gesamtheit der Menschen in unserem Lande nötig ist. Es kann nicht darum gehen, primär eine Nettoentlastung bestimmter Steuerzahlergruppen herbeizuführen, sondern es muß darum gehen, die Interessen der Allgemeinheit zu befriedigen. Der Steuerzahler und der Steuerverteiler sind eine Einheit, die die Notwendigkeiten in einem Staat auszugleichen hat.
Darum sehe auch ich persönlich bei der Neuordnung unseres Systems überhaupt keine Spielräume für eine Nettoentlastung. Es ist doch ein Unding, wenn wir die Nettoentlastung einzelner Bereiche oder Bevölkerungsgruppen durch zusätzliche Schulden, die Verpflichtung und Hypothek für kommende Generationen sind, finanzieren müssen.
Meine Damen und Herren, daß die Grenzen unseres heutigen Systems überschritten sind, geht aus einem Vergleich hervor, den ich hier im Deutschen Bundestag kaum anzusprechen wage, nämlich dem Vergleich der veranlagten Einkommensteuer in der Bundesrepublik Deutschland mit der Biersteuer. Ich hätte nie für möglich gehalten, daß die veranlagte Einkommensteuer, also die Steuer, die Menschen gehobener Einkommensklassen zahlen, die ihre Steuern nicht über eine Steuerkarte abführen, in Deutschland zu einer vernachlässigbaren Größe verkommen würde. Daß die Biersteuer in NordrheinWestfalen mittlerweile bei 250 Millionen DM und die veranlagte Einkommensteuer unter 250 Millionen
DM liegt, kann man keinem in diesem Lande mehr erklären. Das ist ein Unding!
- Herr Dr. Schäuble, Sie wissen doch genau, daß die Grenzen unseres Systems - und darauf will ich hinaus - seit langem überschritten sind. Sie wollen es nur nicht zur Kenntnis nehmen; das ist der Punkt.
Ich denke, daß unser Steuersystem - in Systemen zu denken fällt gelegentlich demjenigen schwer, der nur in Tarifen zu denken gewohnt ist - wirklich neu gestaltet werden muß.
Ich erspare es Ihnen auch nicht, noch einmal auf die Rentenreform zurückzukommen. Natürlich ist es für jeden einleuchtend, daß sich unser System ändern muß, wenn die Menschen infolge des demographischen Wandels durchschnittlich immer älter werden und damit länger Rente beziehen. Natürlich ist auch einsichtig, daß immer weniger Beschäftigte nur bis zu einer bestimmten Größenordnung im Rahmen des Generationenvertrages belastet werden können. Das bedeutet, daß dies bei einer Änderung des Vertrages für lohnabhängige Beschäftigte auch Auswirkungen auf die Unternehmer haben muß. Es kann doch nicht angehen - diese Frage wird von Ihnen überhaupt nicht angesprochen -, daß die Unternehmer, die den Menschen nicht durch Maschinen oder Computer ersetzen können oder wollen, auf Grund unseres sozialen Sicherungssystems oder auf Grund unseres starren Steuersystems Lasten solcher Unternehmer mittragen müssen, die sich von der Solidarverantwortung der Unternehmer gelöst haben.
Es kann doch nicht sein, daß sich ein Unternehmen, das in den 60er und 70er Jahren Leistungen der sozialen Sicherungssysteme verursacht hat, durch Kapitalinvestitionen von seiner Beitragspflicht abkoppelt, sich von ihr freimacht und die Beitragsleistung denjenigen Unternehmen überläßt, die sich solidarisch fühlen.
Willy Brandt hat einmal vor zehn, zwölf Jahren gesagt: Ich bin froh darüber, daß der Computer und der Automat den Menschen die Arbeit erleichtern. Ich hoffe nur sehr, daß diese Computer und Automaten demnächst auch Teile unserer Rentenversicherung mitbezahlen. - Da hat er recht gehabt. Ich schließe mich dem ausdrücklich an.
Ich vermisse auf allen Seiten dieses Hauses eine wirkliche Aufbruchstimmung, wenn es darum geht, diese Fragen zu lösen. Es geht nicht nur um die Beitragszahlenden, sondern auch darum, wer die Lasten verursacht hat. Deshalb glaube ich, daß wir eine Soli-
Helmut Wieczorek
dargemeinschaft der Unternehmer einklagen müssen und einen Generationenvertrag der Unternehmer untereinander.
Bei gleichem Umsatz müssen Unternehmen auch die gleichen Lasten aus den sozialen Sicherungssystemen tragen.
Ich könnte Ihnen dafür massenhaft Beispiele bringen, die Sie aber wahrscheinlich nicht hören wollen.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß Sie mir den engagierten Exkurs verzeihen. Aber als Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet weiß ich natürlich, wovon ich rede: Diese Fragen haben für uns in keiner Weise nur theoretischen Wert; sie haben unmittelbare Auswirkungen auf die Menschen in unserer Region.
Das Thema Arbeitslosigkeit gehört nicht nur für einen Sozialdemokraten, sondern für jeden von uns an die erste Stelle, wenn es darum geht, zu fragen, welches Problem am dringlichsten zu lösen sei. Dazu gehören Mut und Ehrlichkeit. Aber was geschieht? - Schon heute, da wir das Haushaltsgesetz für das nächste Jahr verabschieden, ist jedem von uns weitgehend klar, daß die in ihm enthaltenen Ausgaben für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit wiederum nicht ausreichen.
Gleichzeitig legen Sie uns einen Entschließungsantrag vor, mit dem Sie die Bibliotheken der Universitäten angeblich besser ausstatten wollen. Jeder von Ihnen weiß, daß dieser Antrag eine Luftbuchung ist, weil sich die Position nicht im Haushalt wiederfindet.
Sie wecken bei den Menschen Hoffnung, hoffen aber selbst darauf, daß die Länder ihren Anteil nicht erbringen können, um die Finanzierung sicherzustellen.
Sie lassen die Ehrlichkeit, mit der man vor die Menschen treten sollte, vermissen.
Ich glaube, daß wir zur Ehrlichkeit zurückkommen müssen, auch und gerade hier im Parlament.
Es ist auch und gerade die Unehrlichkeit, die Politikverdrossenheit auslöst. Sie haben sich in den letzten 15 Jahren immer mit Lügen über die Runden geschummelt. Damit muß Schluß sein!
Herzlichen Dank.