Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist immer das gute Recht der Opposition, die Leistungen einer Regierung kritisch zu bewerten. Der Kollege Fischer hat das eben für die Zeit vom Beginn der Bundesregierung von CDU/CSU und F.D.P. an bis zum jetzigen Stand getan. Es muß allerdings einiges richtiggestellt werden.
Diese Bundesregierung ist 1982 in einer Situation angetreten, in der Helmut Schmidt die Lage nicht mehr bewältigen konnte, weil seine eigene Partei weder willens noch konzeptionell fähig war, die wirtschafts- und finanzpolitischen Entscheidungen zu treffen, die notwendig waren.
Die jetzige Bundesregierung hat bis zum Zeitpunkt der deutschen Einheit die Staatsquote erfolgreich reduziert, Haushalte konsolidiert, Vorsorge getroffen, zwei Steuerreformen in Gang gesetzt, Investitionsanreize geschaffen und nahezu 3 Millionen neue Arbeitsplätze in Deutschland ermöglicht.
Als die deutsche Einheit kam, Herr Kollege Fischer, an deren Beispiel Sie die Bundesregierung kritisiert haben, daß sie ihr konzeptionell nicht ausreichend geantwortet hat, befanden sich in den Oppositionsreihen Kräfte, denen ich heute die Frage stelle, ob sie die deutsche Einheit überhaupt wollten. Als die deutsche Einheit kam, waren das die Kräfte, die im Grunde keinen Änderungsbedarf erkannt und die eher gesagt haben: Es kann in den Systemen alles so weitergehen; wir brauchen überhaupt nichts zu verändern. Sie haben, ohne etwas ändern zu wollen, auf die 17 Millionen Deutschen geblickt, die jetzt unter dem Druck großer Veränderungsnotwendigkeiten stehen.
Wo war denn die Assistenz der Grünen bei dem Beginn der Diskussion über einen neuen Generationenvertrag? Wo haben die Grünen konzeptionell auch nur ein Wort gefunden, der älteren Generation zu sagen, daß wir ihr nicht an die Rente wollen, daß aber ein langsamerer Anstieg der Rente unabdingbar notwendig ist, um die junge Generation nicht über Gebühr zu belasten? Nein, Herr Fischer, Sie haben in das Horn der Sozialdemokratischen Partei hineingeblasen, die bei dem Versuch der Koalition, einen neuen Generationenvertrag konzeptionell zu gestalten, uns in der Öffentlichkeit bezichtigt hat, wir wollten den Rentnern ans Portemonnaie.
Wo waren die Grünen, als wir ein Stück Flexibilität im Arbeitsmarkt eingefordert haben, als wir die Tarifvertragsparteien aufgefordert haben, die Flächentarife für betriebliche Optionen und eigene Entscheidungen in Betrieben zu öffnen? Sie sind ein Vertreter des starrsten und reguliertesten Arbeitsmarktes, den die Bundesrepublik Deutschland je hatte und der Arbeitsplätze nicht ermöglicht, sondern sie vernichtet.
Wo waren die Grünen bisher in der Mineralölsteuer-Diskussion? Ich weiß gar nicht, wie der jetzige Wasserstand bei Ihnen ist. Sie wissen, daß diese Branche 25 000 neue Arbeitsplätze geschaffen hat, daß sie einen Produktionszuwachs hat, daß sie weltweit den Wettbewerb bewältigt und daß sie ein Wachstumsbereich ist, der international Respekt gewinnt. Sie erklären hier die Erhöhung der Mineralöl-
Dr. Wolfgang Gerhardt
Steuer als einen Lösungsbeitrag zur Reform sozialer Sicherungssysteme und zu den staatlichen Haushalten.
Wie ist denn Ihr Verhältnis zur NATO und zur Bundeswehr? Wollen Sie rein, wollen Sie raus? Wollen Sie sie auflösen oder beibehalten? Wie ist Ihr Verhältnis zur Europäischen Union? Wollen Sie sie erweitern, wollen Sie sie vertiefen? Wollen Sie Verträge halten, oder wollen Sie Verträge brechen? Es ist Ihnen nicht vorzuwerfen, daß Sie an die Macht wollen. Die Öffentlichkeit sollte aber erfahren, was Sie damit anzufangen beabsichtigen.
Sie sagen ja zum Euro. Sie sagen nein zum Maastricht-Vertrag. Sie werfen uns vor - das ist die Beschlußfassung Ihres Parteitages in Kassel -, daß wir einseitig auf die Geldwertstabilität setzen. Lieber Herr Fischer, das ist völlig richtig. Wir setzen bei einer zukünftigen europäischen Währung auf die Geldwertstabilität,
und zwar ganz klar und zuallererst. Sie wollen eine demokratische Einbettung der unabhängigen Zentralbank. Lieber Herr Fischer, verbergen Sie mit solchen Formulierungen doch nicht, daß Sie unter demokratischer Einbettung eindeutig die Verletzung der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank meinen.
Das ist die politische Bestimmung Ihrer Politik, die sich gegen Geldwertstabilität richtet.
Auch in Ihrer Antwort auf die Frage des Kollegen Schäuble sollten Sie die Öffentlichkeit nicht täuschen. Wer die hohe Steuerlast beklagt, der Bundesregierung und dem Bundeskanzler vorwirft, daß sie für die Brutto- und Nettolöhne verantwortlich seien, die niemand mehr begreift und von denen sich Menschen belastet fühlen, der muß der deutschen Öffentlichkeit überzeugend klarmachen, was es bedeutet, eine Grundsicherung für jedermann ohne Bedürftigkeitsprüfung vorzuschlagen, die sich bei Familien mit zwei Kindern auf nahezu 4500 DM beläuft. Wissen Sie, was das ist? - Das ist ein Angriff auf die Leistungsbereitschaft der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Das ist die Bestrafung der Leistungsbereitschaft.
Zur Bildungspolitik sage ich ganz klar: Herr Kollege Fischer, uns unterscheidet nicht die Bewertung, daß neben der Steuerreform, der Rentenreform und der Reform sozialer Sicherungssysteme die Ausgaben für Bildung und Qualifizierung ein Indikator dafür sind, ob sich dieser Standort nach vorn bewegen will. Bei Ihrer vielfachen Regierungsverantwortung in den Ländern sind Sie der letzte Kollege, der die Verantwortung für dieses Thema hier abladen könnte. Sie haben sich überall dort, wo Sie mitregieren, unter Zurückdrängung Ihrer eigenen Beschlußlage auf den Kurs begeben, die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft in den Landeshaushalten zurückzuführen.
Es gibt kein Land, in dem Sie Regierungsverantwortung tragen, in dem das nicht geschehen ist. Sie wissen wie ich: Der Kern der verfassungsrechtlichen Zuständigkeit für Bildung, Hochschulen und Kultur liegt bei den Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Wir geben den Auftrag an sie weiter. Wenn Sie glaubwürdig sein wollen, gehen Sie zu Ihren jeweiligen Koalitionspartnern in den Ländern und fordern diese auf, die entsprechenden Haushalte zu erhöhen. Dann können Sie hier wieder anklagend auftreten.
Wenn Sie über Bildung und Qualifikation in der jungen Generation sprechen, dürfen Sie der Öffentlichkeit nicht vorenthalten, daß Sie glauben, daß diese junge Generation in den Schulen acht Jahre lang durch Lernentwicklungsberichte unter Zurückdrängung pädagogisch verantwortbarer Leistungsfeststellungen bewertet werden könnte. Frühere Programme der Grünen schlugen die Entschulung der Gesellschaft und die Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler vor. Glauben Sie wirklich, daß mit einer solchen Schul- und Bildungspolitik die junge Generation in Deutschland für die Zukunft wettbewerbsfähig gemacht wird? Wir glauben das nicht.
Deshalb sind an Sie einige Kernfragen zu richten: Warum erhöhen Sie nicht dort, wo Sie Regierungsverantwortung tragen, die Haushalte für Bildung, Wissenschaft und Forschung? Warum verdrängen Sie auf Ihrem Parteitag eine Beschlußfassung über einen zentralen, existentiellen Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland, nämlich über die Bündnisverpflichtung dieses Landes? Warum wollen Sie die Mineralölsteuer erhöhen und damit einen Wirtschaftszweig treffen, der durch die Neuschaffung von Arbeitsplätzen in der jetzigen ökonomischen Situation ein Zugpferd ist? Warum wollen Sie in einem Bildungsbereich Leistungsfeststellungen zurückdrängen? Warum verlängern Sie in Sachsen-Anhalt die Schulzeit um ein weiteres Jahr und klagen hier die Problematik des Generationenvertrages ein, wo Sie die junge Generation noch später ins Erwerbsleben entlassen?
Warum wenden Sie sich an einen möglichen Koalitionspartner, der überhaupt nicht in der Lage ist, sich konzeptionell von alten Positionen wegzubewegen? Die Schröder-SPD hält eine Umlagebelastung der ausbildungswilligen Betriebe für Teufelswerk, die Lafontaine-SPD beschließt sie. Herr Schröder hält die 610-Mark-Verträge bei Zeitungsverlegern und kleinen Geschäften für notwendig, bei großen Firmen will er Quoten einführen. Herr Schreiner sagt: absoluter Quatsch. Die Schröder-SPD fordert in Dresden die Senkung der Unternehmenssteuern, die Lafontaine-SPD lehnt dies ab. Oskar Lafontaine for-
Dr. Wolfgang Gerhardt
dert einen Mindeststeuersatz von 20 bis 25 Prozent, der Rest der SPD lehnt diese Kopfsteuer ab. Die Beck-SPD fordert jetzt eine Mehrwertsteuererhöhung von 3 Prozent, das ist nicht die Meinung der Lafontaine-SPD. Die Schröder-SPD glänzt vor jedem Wirtschaftspublikum mit einer angebotsorientierten Investitionsförderung, die Lafontaine-SPD propagiert die Nachfragepolitik der 70er Jahre und die Kaufkrafttheorie der Löhne.
Es ist nicht der Vorsitzende der F.D.P., der Ihnen das hier vorhält. Man liest jetzt in den Zeitungen, daß auch die Wirtschaft allmählich den Eindruck gewinnt, daß Schröder ein Programm in der Tasche trägt, das ihm der saarländische Ministerpräsident hineingeschoben hat. Das ist ein Programm von vorgestern. Deshalb sage ich Ihnen, Herr Kollege Fischer: Wer hier einen Machtwechsel will, der muß Programme von morgen vortragen. Sie aber gehören zur erstarrtesten Opposition mit den ältesten Programmen, die hier jemals einen Machtwechsel eingefordert hat.
Nun komme ich zu dem Steuerthema: Wir sind bereit, ohne Vorbedingungen - auch ohne Vorurteile - in Verhandlungen zu gehen. Eines wollen wir aber klarstellen: Die alte sozialdemokratische Politik, der sich die Grünen angeschlossen haben, die Bedienung von Gruppenwünschen aus dem Haushalt, ist zu Ende. Wer die Staatsquote senken will, kommt um Sparprogramme nicht herum. Sonst darf er aber nicht sagen, er sei für die Zukunft gerüstet, hier aber säßen die Vertreter der Vergangenheit.
Eine Steuerreform muß das Grundübel, das wir jetzt zu bewältigen haben, angehen. Dieses Grundübel liegt nicht darin, daß die Menschen in Deutschland unterschiedlich hohe Steuern zahlen; sondern es liegt in der Investitionsschwäche des Standortes Deutschland, die klar zu erkennen ist. Wer die nicht im Ansatz behebt, der kann auch keine Rahmenbedingungen für neue Arbeitsplätze schaffen.
Deshalb dürfen die Gespräche zur Steuerreform keine Gespräche eines neuen Binnenverteilungskampfes in der Bundesrepublik Deutschland sein, in dem sich SPD und Grüne als Vertreter der kleineren Einkommen darstellen und die Koalition als Vertreter größerer Einkommen diffamieren.
Die größte soziale Sicherheit, Frau Matthäus, ist ein Arbeitsplatz und nicht die soziale Begleitung von Arbeitslosigkeit.
Darauf wollen wir mit der Steuerreform hinaus.
Wir hätten sie ja schon beschlossen, wenn Sie sie nicht blockiert hätten. Darauf muß eindeutig hingewiesen werden. Dieses Haus hat im August dieses
Jahres ein Steuergesetz beraten, das all diejenigen Steuerbefreiungstatbestände, die polemisch als Schlupflöcher bezeichnet werden, zugunsten einer klaren Steuerpflicht beseitigt hätte, der man dann nicht hätte ausweichen können. Das hätte die Steuerstruktur in Deutschland auf gesunde Füße gestellt. Nicht die Koalition hat das abgelehnt, sondern Sie von der Opposition haben das verhindert.
Weil die Steuerstruktur nicht haltmacht vor einem Land, das CSU-regiert ist, das CDU-regiert ist, das CDU-F.D.P. regiert ist oder das rotgrün regiert ist - die Steuerstruktur interessiert das nicht -, spüren Sie derzeit in allen Ländern, daß Sie vor demselben Problem stehen wie die Bundesregierung und die Mehrheit in diesem Haus.
Jetzt sagen Sie: Auch wir sind zu Gesprächen bereit. - Herzlichen Dank. Ich meine das jetzt nicht abwertend und nicht polemisch. Aber diese Gespräche müssen dann auch zum Kern der Beschäftigungsproblematik vorstoßen, zu dem vorzustoßen wir bereit sind.
Deshalb schlage ich vor, daß wir uns hier in öffentlicher Debatte auf drei Gesprächsthemen verständigen:
Erstens. Eines der Themen ist nach meiner Überzeugung: Wie gestalten wir in Deutschland eine Steuerstruktur, die Ausweichtatbestände wegnimmt, Entlastungen im Tarifverlauf möglich macht und zugleich Investitionen wieder anregt? Das Gespräch kann nur stattfinden mit dem Blick auf die Gestaltung einer Steuerstruktur zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Zu keinem anderen Zweck sollte es stattfinden.
Das zweite Thema lautet: Welche unserer umlagefinanzierten sozialen Sicherungssysteme haben sich eher zu einem Hindernis für Beschäftigung entwikkelt? Wie müssen wir sie in ihrem inneren System renovieren? Welchen Beitrag können wir durch indirekte Steuern hilfsweise leisten, um die Beitragsexplosion zu mildern? Das Hinzufügen von indirekten Steuern ist ein hilfsweiser Beitrag; es ist keine Dauerlösung. Es wäre nur ein Verschiebebahnhof, wenn man nicht die Systeme selbst ändern würde.
Deshalb gehört das zusammen.
Drittens. Sie von der SPD müssen bis zu den Gesprächen die Frage beantworten: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich der Altersaufbau der deutschen Bevölkerung weiter unabhängig davon entwickeln wird, wer in diesem Haus die Verantwortung hat? Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Wenn Sie die junge Generation glauben machen wollen, es müsse im System der Rentenversicherung nichts geändert werden, es könne alles so bleiben - auch angesichts höherer Lebenserwartung der älteren Generation, angesichts eines Altersaufbaus mit
Dr. Wolfgang Gerhardt
größerem Anteil der älteren Generation, angesichts eines späteren Berufseintritts der jungen Generation -, dann betrügen Sie die junge Generation um ihre Zukunftschancen. Sie müssen in der Rentenversicherung zu Änderungen bereit sein, egal, welches Parteibuch Sie in der Tasche haben. Sie kommen darum nicht herum.
Deshalb ist der Vorschlag „Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Punkt zur Reduzierung der Rentenbeiträge, aber keine Strukturreform" falsch. Unter beiden Aspekten kann ein Beitrag geleistet werden, wenn man es verantwortlich macht. Die alleinige Erhöhung der Mehrwertsteuer löst das Problem nicht. Sie entlastet punktuell, und ein Jahr später holt uns das Thema - egal, wer hier Verantwortung hat - wieder ein. Die Rentenreform kann nicht über eine Reduzierung der Beitragsbelastung durch Erhöhung indirekter Steuern vonstatten gehen. Vielmehr muß sie in einen neuen Generationenvertrag in der Bundesrepublik Deutschland eingebettet sein.
Der alten Generation müssen wir sagen, daß sie nicht in Angst versetzt werden soll. Sie muß wissen, daß ihr von der Rente, die sie sich im Erwerbsleben verdient hat, niemand etwas nehmen will. Sie muß nur akzeptieren können, daß sie einen geringeren Anstieg in Kauf nehmen muß, um ihren eigenen Kindern - das ist die junge Generation - in der Zukunft eine Chance auf dem Arbeitsmarkt zu geben. Wer dies als Griff in das Portemonnaie der Rentnerinnen und Rentner diffamiert, wer dies öffentlich so darstellt, als wolle die Koalition der älteren Generation an redlich erworbenes Geld, der sagt - ich drücke das jetzt noch vorsichtig und zurückhaltend aus - nicht die Wahrheit.
Ich glaube, daß diejenigen die Wahrheit sagen, die beiden Generationen das Problem vor Augen führen und diesem Problem nicht ausweichen.
Das Gespräch kann auf Grund von drei Komponenten sinnvoll sein: neuer Generationenvertrag, neues Austarieren von direkten und indirekten Steuern, aber auch Rentenstrukturreform für ein Stück Beitragsabsenkung. Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, aber auch dann dürfen wir nicht glauben, wir hätten die Probleme der Bundesrepublik Deutschland gelöst. Diese sind viel tiefergehend.
Es mag ja beklagt werden, daß die Bundesregierung an manche Aufgaben zögerlich herangegangen ist, an manche zu spät, an manche nicht ausreichend. Aber sie ist überhaupt an Aufgaben herangegangen. Ich habe bisher kein einziges Konzept der SPD dafür erkennen können, wie sie das Steuergefüge in Deutschland durch eine Strukturreform auf neue Beine stellen will. Ich kenne kein Konzept der SPD zur Reform der sozialen Sicherungssysteme. Mir ist von der SPD bisher nur bekannt, daß die sozialen Sicherungssysteme so bleiben sollen, wie sie sind. Jeder kleinste Änderungsvorschlag aus den Reihen der
Koalition ist eher öffentlich diffamiert worden, als daß man auf seiner Grundlage sachlich diskutiert hätte.
Jeder, der heute nur das Wort von der Einführung des Kapitaldeckungsverfahrens als Ergänzung der umlagefinanzierten Systeme in den Mund nimmt, wird als ganz übler, kaltherziger Mensch beschimpft. Sie wissen - Herr Fischer hat das hier eigentlich ausgedrückt; er müßte nur noch etwas ehrlicher sein -, daß das bisherige Umlageverfahren bei der Rente zukünftig nicht mehr die Monopolstellung bei der Sicherung der älteren Generation behalten kann. Herr Fischer, ich ergänze die Diskussion gerne um die Sicherung im Rahmen der betrieblichen Möglichkeiten, ich ergänze sie auch gerne um die Möglichkeiten der Gewinnbeteiligung und Vermögensbildung.
Nur, dann müssen Sie das auch sagen. Dann müssen Sie eine Reduzierung des Rentenbeitrags der jungen Generation vorschlagen, die auch eine Strukturreform bedeutet. Dann müssen Sie für die Grünen sagen: Der Beschluß einer Grundsicherung, den wir gefaßt haben, ist absoluter Unsinn. - Das Rentensystem der Zukunft muß die Standbeine haben, die Sie hier diskutiert haben.
Ich kenne diese schwierigen Situationen, aber sage Ihnen voraus: Sie werden die konzeptionelle Beschlußlage der Grünen zwar einige Zeit vor der Öffentlichkeit verbergen können.
Auf Dauer, bis zur Bundestagswahl, wird das aber nicht gelingen, weil sich die deutsche Öffentlichkeit am Ende nicht damit zufriedengeben wird, daß Sie als medienwirksame Persönlichkeit der Vorturner sind. Sie möchte auch wissen, was hinterher gemacht werden soll. Die deutsche Öffentlichkeit sollte wissen, daß sie dann mit Steuererhöhungen, mit weiteren Regulierungsmaßnahmen und mit weiteren Vorkehrungsmaßnahmen von seiten der Behörden konfrontiert wird.
Ihre Unentschiedenheit in der Frage der NATO bedeutet, daß unsere Partner uns nicht mehr als verläßlichen Bündnispartner ansehen können. Die Frage „Raus aus der NATO oder rein in die NATO?" ist keine beliebige Frage für irgendeinen Parteitag; das ist fundamental für die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Wer diese Frage nicht beantworten kann, ist nicht regierungsfähig.
Wer das nicht beantwortet, ist international nicht handlungsfähig und national nicht regierungsfähig. Das ist keine beliebige Frage wie etwa die Frage der Rentenstrukturreform oder anderer Gesellschaftsverträge, die wir kennen. Die Frage, ob die Bundesrepu-
Dr. Wolfgang Gerhardt
blik Deutschland in der NATO bleibt oder nicht, ob wir eine Bundeswehr brauchen - ja oder nein -, ist eine der Kernfragen dieses Landes; sie zielt auf unsere Beständigkeit und Zuverlässigkeit ab.
- Ich habe mich zu der Frage der Wehrpflicht in aller Öffentlichkeit geäußert und gegenüber meiner eigenen Partei nicht gedrückt. Ihnen, Herr Fischer, werfe ich vor: Sie drücken sich bei dem Thema Grundsicherung und bei dem Thema NATO davor, die erforderlichen Auskünfte zu geben.
Sie können uns vorwerfen, daß wir zuwenig erreicht haben. - Ja, die Staatsquote ist immer noch zu hoch. Aber die einzigen Vorschläge zur Absenkung der Staatsquote kommen von der Koalition und nicht von der Opposition.
Die Freiheit bei den Ladenöffnungszeiten ist immer noch zu gering. Aber die Gegner sitzen in der Opposition; es sind Leute, die das für den Untergang des Abendlandes gehalten haben.
Die bescheidenen Schritte, die wir bei der Flexibilisierung des Arbeitsrechts erreicht haben, reichen den Betrieben nicht. Auch mir reichen sie nicht. Aber von seiten der Opposition ist überhaupt kein Flexibilisierungsvorschlag gekommen. Allein das, was wir beim Kündigungsrecht geändert haben, ist schon ideologisch diffamiert worden, und uns wurde unterstellt, wir wären für Kündigungswellen. Niemand von der Opposition begreift diese Änderung als Chance für Einstellungen, wie wir das tun.
Wir haben eine Steuerreform beschlossen, und Sie haben sie blockiert. Ich will für das Protokoll sagen - zum Mitschreiben; es gerät sonst leicht in Vergessenheit -: Die Koalition von CDU/CSU und F.D.P. hat in diesem Haus im Juli eine Steuerreform beschlossen, die die gleichen Konturen wie die Steuerreformen aufwies, die Wim Kok in Holland, Klima in Österreich und andere Sozialdemokraten in Europa beschlossen haben. Das hatte in diesen Ländern zur Folge, daß das Beschäftigungsproblem besser gelöst werden konnte als in der Bundesrepublik Deutschland. Wir befinden uns im Einklang mit der Mehrheit auch der Sozialdemokraten in Europa. Sie als letzte Bastion der Ewiggestrigen hindern uns daran, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Deswegen tragen auch Sie Verantwortung.
Die Gesundheitsreform konnte mühselig nur dadurch vorangebracht werden, daß wir die Gesetze so änderten, daß sie nicht mehr zustimmungspflichtig waren. Selbst eine Sozialklausel, die eine Belastung der niedrigen Einkommen verhindern sollte - die wir ja vorgesehen haben -, hat Sie nicht davon abgehalten, das als Teufelswerk zu kennzeichnen,
die Öffentlichkeit eher zu desinformieren als zu informieren.
Wenn Sie Ihre Positionen für richtig halten - das kann man ja tun; das muß ich akzeptieren -, dann müssen Sie sich das Etikett, Sie seien zukunftsträchtige Koalitionspartner, abschminken. Das sind Sie nicht, weil Sie bei nahezu jedem großen Problem eine Wirklichkeitsflucht betreiben.
Wir haben die Privatisierungsmaßnahmen langsam und zäh gegen Widerstände vorangebracht. Was steckt denn in den Postkästen der Bundesrepublik Deutschland? Die Postgewerkschaft macht doch mit Ihrer Unterstützung die Menschen glauben, eine private Post würde ihnen fast keine Briefe mehr zustellen. In Finnland ist die Post schon lange privat; dort werden Briefe und Pakete immer noch zugestellt. Die Behauptungen, die der deutschen Öffentlichkeit eingeredet werden, wonach Briefe nur von staatlichen Beamten und Angestellten zugestellt werden könnten, daß im anderen Fall das Abendland zusammenbreche und eine private Post keine ausreichende Versorgung biete, sind kompletter Unsinn. In nahezu allen anderen Ländern gibt es günstigere Tarife bei der Post, und die Menschen bekommen trotzdem Briefe und Pakete.
Wenn ich dem Vorsitzenden der finnischen liberalen Partei schreibe, wird ihm der Brief auch zugestellt, obwohl die Post dort privat ist. Ich möchte das hier einmal erwähnen.
Sie haben sich in allen Bereichen gesperrt, bei denen wir staatliche Aufgaben abgeben wollten. Herr Fischer, Sie sind im Laufschritt auf die jeweilige Barrikade gesprungen, zuletzt bei der Steinkohle, und tragen hier vor, wir würden die Reformaufgaben nicht anpacken. Sie sind dafür verantwortlich, daß Ihre grünen Kollegen in der Regierung von Nordrhein-Westfalen, die genauso wie Sie großartig über die Zukunftsaufgabe Bildung reden, aus ganz engstirnigen Gründen der Regierungsbeteiligung und des Machterhalts viel Geld in der Steinkohleförderung vergraben haben.
Sie sollten uns nicht erzählen, Sie seien der Reformer!
Dr. Wolfgang Gerhardt
Wir stehen nicht nur vor einer schweren und aufwühlenden Wahlentscheidung.
Wir stehen vor der Frage,
ob wir in diesen Wahlkampf gehen nach dem Motto: „Es muß keine großen Veränderungen geben; es kann alles so bleiben". Ich glaube, das können wir nicht. Ich glaube, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland wollen sich in den Kernfragen entscheiden. Sie wollen sagen, ob sie sich für morgen oder für gestern entscheiden, für Reformen oder für keine, für Leistungsbereitschaft oder für staatliche Versorgungsvorstellungen, für pädagogisch verantwortbare Leistungsfeststellungen im Bildungssystem oder nur für schulische Begleitung, für ein Land, das seinen Bündnisverpflichtungen nachkommen will, für Aufbruch, für all das, was Tony Blair, Wim Kok, Gonzalez und Aznar in Spanien und Klima in Österreich gemacht haben.
Diesen Weg will die Koalition gehen. Wir wollen das in die Wege leiten, was anderswo zu großen Erfolgen geführt hat. Wir wollen gemeinsam mit der CDU/CSU, daß sich Deutschland im weltweiten Wettbewerb behaupten kann. Das wollen wir mit einer Politik tun, die die Arbeitslosigkeit zurückdrängt,
die eine Steuerreform möglich macht, die eine Renten- und Bildungsreform, die die Öffnung der Märkte, die Absenkung der Staatsquote, den Aufbau in den neuen Ländern und eine einheitliche stabile europäische Währung ermöglicht, sie nutzt, eine europäische Antwort auf die Märkte der Welt gibt und so deutschen Arbeitnehmern hilft, ihre Beschäftigungsinteressen zu verwirklichen - und damit ihre Lebensinteressen. Das ist eine Politik für den Wandel. Sie gibt Menschen Zukunftschancen.
Sie vertreten eine Politik der Wirklichkeitsflucht. Sie zerstören am Ende soziale Sicherheit. Deshalb möchte ich, daß wir die Bundestagswahl gewinnen. Wir werden unser Bestes tun.
Herzlichen Dank.