Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist erstaunlich, zu welchen Reden der Kanzleretat führen kann. Herr Glos, Sie scheinen - wenn ich Ihre Rede richtig verfolgt habe - die rentenpolitische Debatte um die Niveauabsenkung gründlich mißverstanden zu haben.
Die Lage in diesem Land ist, auch wenn die Politik des Bundeskanzlers und seines Kabinetts in der Spätphase in der Tat eine realsatirische Konkurrenz zum Kabarett abgibt, alles andere als heiter und lädt auch nicht zu närrischen Beiträgen ein.
Wenn ich Michael Glos richtig verstanden habe, hat er seine Hilflosigkeit und seine Angst vor dem Machtverlust, der auf diese Regierung zukommt, zum Ausdruck gebracht.
Es ist der letzte Haushalt von Theo Waigel, Herr Kollege Glos. Das haben Sie in Ihrer Weihrauchorgie, die Sie zum besten gegeben haben, zu würdigen vergessen.
Theo Waigel hat auf jeden Fall erklärt, er werde nicht mehr Finanzminister. Für ihn ist mit diesem Haushalt definitiv Schluß.
Man hört und liest zur Zeit, daß selbst die Haushälter der Koalition diesen Haushalt als Wundertüte bezeichnen: Man weiß nicht, was herauskommt, vor allem an negativen Wundern. Wir finden eine haushaltspolitische Trümmerlandschaft vor, das ist der Haushalt 1998, und das dicke Ende kommt mit dem Haushalt 1999.
Wer die letzte Rede des Finanzministers mit seinen früheren Reden in dieser Legislaturperiode vergleicht, stellt einen erstaunlichen Wechsel nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in der Begründung fest. Von Konsolidierung ist keine Rede mehr, sondern es geht nur noch darum, wie man sich mit
Finanzierungstricks und Konkursverschleppung über die Runden rettet.
Wenn Sie das als privater Unternehmer machen würden, Herr Bundesfinanzminister, was Sie sich in den letzten zwei Jahren, vor allen Dingen im letzten Jahr, geleistet haben, dann wären Sie vermutlich ein Fall für staatsanwaltschaftliche Ermittlungen und nicht für Weihrauchschwenken, wie es gerade Michael Glos gemacht hat.
Herr Bundeskanzler, es ist Ihr Haushalt. Sie tragen die Verantwortung für diese Politik. Ich muß mich gar nicht auf Reden der Opposition beziehen; das Jahresgutachten 1997/98 Ihres Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - es ist nur wenige Wochen alt - war nicht nur eine Ohrfeige, waren nicht nur zehn Ohrfeigen, sondern das war ein Faustschlag auf die Kinnspitze dieser Koalition.
Ich will länger aus diesem Gutachten vorlesen, weil ich annehme, Herr Kohl, daß Sie solche negativen Botschaften gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen, weil sie so unangenehm sind.
Dort steht auf Seite 12 - hören Sie gut zu, Herr Glos; da können Sie etwas lernen, und bei Ihnen ist der Lernbedarf groß, wie wir gerade gehört haben -:
„Die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik wiedergewinnen". Das schreiben Ihre Sachverständigen, durchweg konservative Ökonomen, meine Damen und Herren.
Ich zitiere:
Die Finanzpolitik trägt große Verantwortung für die ungünstigen Angebotsbedingungen in Deutschland.
Verantworten tun dies die Herren Kohl und Waigel, füge ich hinzu.
Sowohl über die Einnahmenseite - weil die Steuer- und Abgabenlast seit längerem auf hohem Niveau verharrt - als auch über die Ausgabenseite - insbesondere weil die wichtigen Aufgaben in der Infrastruktur sowie bei Bildung und Wissenschaft zunehmend schlechter erfüllt werden - verantwortet der Staat Belastungen für Investoren und Konsumenten. Die Hoffnung auf eine baldige und grundlegende Besserung erscheint derzeit kaum begründet ...
Die Angebotsbedingungen werden allerdings nicht nur direkt über die Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates belastet, sondern auch dadurch, daß die Finanzpolitik mit ihrem Handeln tiefsitzende Vertrauensschäden verursacht hat:
Joseph Fischer
Als notwendig erkannte und versprochene Maßnahmen wurden nicht umgesetzt; schon beschlossene Änderungen wurden wieder zurückgenommen oder substantiell verwässert; an einer Stelle des Steuersystems wurden Änderungen beschlossen, die in ihrer Wirkung die anderer, mehr oder weniger zeitgleich umgesetzter steuerpolitischer Maßnahmen konterkarierten; entgegen dem wiederholt vorgetragenen Grundsatz, steuerliche Sonderregelungen abbauen zu wollen, wurden neue Steuerprivilegien gewährt; für absehbare Belastungen in den Haushalten wurden keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen; es wurde zu Maßnahmen Zuflucht gesucht, die erkennbar allenfalls temporär den Konsolidierungsdruck mindern; mit Blick auf das finanzpolitische Kriterium des Vertrages von Maastricht wurde sogar ein Konflikt um die Unabhängigkeit der Bundesbank in Kauf genommen.
Ich fahre fort, weil es so schön ist:
Die Misere der öffentlichen Finanzen - so die Sachverständigen -
kommt in ihrer ganzen Schärfe darin zum Ausdruck, daß der Bundesminister der Finanzen in diesem Jahr angesichts deutlich schwächer als erwartet ausfallender Steuereinnahmen und zusätzlicher Belastungen durch die höhere Arbeitslosigkeit den Ausweg nur in einer größeren Verschuldung sah.
Da die Kreditaufnahme die Summe der im Haushalt veranschlagten Investitionsausgaben überstieg, mußte die Ausnahmeregelung des Artikel 115 Absatz 1 GG ... in Anspruch genommen werden ...
Die Zukunft wird nicht nur durch die Tilgungs-
und Zinsverpflichtungen für den übernommenen Schuldenstand belastet, sondern auch
- jetzt hören Sie gut zu, Herr Bundesfinanzminister, Herr Bundeskanzler -
durch Tilgungsstreckungen, Forderungsverkäufe und die Verwendung von Privatisierungserlösen für den laufenden Haushalt. So ist beabsichtigt, die Tilgung der aus der deutschen Vereinigung resultierenden Schulden des Erblastentilgungsfonds ebenso wie die Tilgung für die von den deutschen Bahnen in das Bundeseisenbahnvermögen übernommenen Schulden im Vergleich zu den festgelegten Bedingungen zu strecken; die Erlöse aus dem Verkauf der Aktienanteile des Bundes an den Nachfolgeunternehmen der Post sollen nicht, zumindest nicht vollständig - wie gesetzlich vorgesehen - zur Finanzierung der Versorgungsansprüche der Postbeamten verwendet werden; Forderungen aus dem früheren Verkauf von Liegenschaften sollen veräußert werden.
Alle diese Maßnahmen
- das ist die Conclusio der Sachverständigen -
erhöhen zwar heute den finanzpolitischen Spielraum, sie beschränken ihn aber in der Zukunft;
Probleme werden so nur zeitlich verlagert, nicht aber gelöst.
Hier haben Sie es von Ihren eigenen Sachverständigen schwarz auf weiß: Sie betreiben keine Konsolidierungspolitik der öffentlichen Finanzen, sondern mit Bilanzierungstricks, mit Konkursverschleppung vertagen Sie die Probleme auf die kommenden Haushalte. Ich kann Rudolf Scharping nur zustimmen, wenn er sagt: nach Ihnen die Sintflut. Das ist in der Tat Ihre Politik, die Sie mit dem Haushalt 1998 hier zu Protokoll gegeben haben.
Meine Damen und Herren, wir stehen vor einer Situation, in der dieses Land ein Maximum an Handlungsfähigkeit bräuchte, diese Koalition aber in völligem Immobilismus verharrt. Es ist in der Tat nicht zum Lachen, sondern zum Weinen, wenn man sich anschaut, wie auf der einen Seite Theo Waigel in einem Sommertheater die Notwendigkeit einer Kabinettsumbildung fordert und wie auf der anderen Seite die Realität des Handelns in bezug auf die Kabinettsumbildung aussieht.
Erinnern wir uns doch nur einmal einen Augenblick zurück: Da kreißte in diesem Sommer ja nicht nur ein Berg, sondern die bayerischen Alpen gerieten regelrecht in Aufruhr. Das Kabinett sollte umgebildet werden. Nachdem die bayerischen Alpen wieder zur Ruhe gekommen waren, schritten Helmut Kohl und Theo Waigel zur Tat, und es kreißte nicht nur ein Berg, sondern, wie gesagt, die Alpen dröhnten nachgerade. Heraus aber kam nicht einmal eine Maus, sondern ein neuer Bundesbauminister. Kollege Oswald, ich kann Sie dafür, daß Sie diese wenigen Monate noch ins Amt gehen, nur meines allergrößten Mitleids versichern. Das ist tapfer, aber es wird vergeblich sein.
Theo Waigel hat hier auf ein neues Gesicht gesetzt - immerhin. Helmut Kohl hätte diese Kabinettsumbildung gern ganz anders gehabt - typisch Kohl: ein Maximum an Reform bei einem Minimum an Bewegung.
Der Bundespostminister Bötsch hätte als Bundespostminister aus dem Kabinett ausscheiden sollen. Dann wäre der Bundeskanzler, der große Reformer, gekommen, und, Simsalabim, das Kabinett wäre umgebildet worden, indem Bötsch in Gestalt des Wohnungsbauministers wieder erschienen wäre.
Dieses Verhalten in einer Situation, in der in der Tat - die Sachverständigen haben es Ihnen Marge-macht - ein Maximum an gesellschaftlichen Reformen erforderlich ist und ein Maximum an Veränderungs- und Handlungsbedarf besteht, zeigt, wie ernst Sie es mit Ihren eigenen Ansprüchen meinen.
Joseph Fischer
Herr Bundeskanzler, Sie sind Historiker.
Ich habe mir gedacht, schauen wir - jetzt, am Ende Ihrer Ära - doch mal, was Helmut Kohl ganz zu Beginn, in seiner ersten Regierungserklärung, formuliert hat. Versuchen wir doch mal, sozusagen in einer vergleichenden historischen Forschung
abzugleichen, was der junge Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl damals kritisiert, an Problemen erkannt und an Lösungen versprochen hat. Schauen wir uns einmal seine erste Regierungserklärung an. Was wir da lesen, ist hochinteressant, wenn wir es auf die jetzige Schlußphase beziehen;
denn wir werden feststellen: Die Probleme sind nahezu dieselben geblieben; aber sie haben sich quantitativ wesentlich verstärkt, und das nach 15, 16 Jahren Helmut Kohl.
In Ihrer Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982 - lange ist es her -
stellten Sie die Frage, die ich heute auch stellen will:
Wie ist die Lage der Bundesrepublik Deutschland?
Wir erleben
- so Helmut Kohl -
zur Zeit eine Arbeitslosigkeit, die schlimmer ist als jene in den Jahren des Wiederaufbaus.
Fast jeder vierzehnte Erwerbstätige in der Bundesrepublik ist arbeitslos. Im Winter können fast 2,5 Millionen Menschen arbeitslos sein.
Ihr Herr Rexrodt kündigt gegenwärtig 5 Millionen an.
Noch mehr Mitbürger bangen um ihren Arbeitsplatz... .
Eine schlichte Verdoppelung haben Sie in Ihrer Regierungszeit hingelegt, Herr Bundeskanzler, nicht eine Halbierung.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat es so viele Firmenzusammenbrüche gegeben wie in diesem Jahr, und noch nie sind so viele selbständige Existenzen vernichtet worden...
Helmut Kohl spricht von 1982 und nicht von 1997,
meine Damen und Herren. Wir haben heute - nach
15 Jahren Helmut Kohl - eine einmalig hohe Zahl
von Firmenzusammenbrüchen, einen einmaligen Pleitenrekord in der Bundesrepublik Deutschland.
Was das Schlimmste ist:
- so Helmut Kohl weiter -
Fast 200 000 Jugendliche sind arbeitslos. Wie viele sind es heute, Herr Bundeskanzler?
Mehr als doppelt so viele.
Viele finden keinen Ausbildungsplatz und sind damit nicht nur ohne Arbeit, sondern auch ohne Chance, sich beruflich zu qualifizieren. ...
Während in normalen Wirtschaftsjahren die Investitionsquote bei 24 % des Bruttosozialprodukts lag, sind wir heute bei weniger als 21 % angelangt.
Gleichzeitig erhöhten sich die Abgabebelastungen so sehr, daß heute ein Facharbeiter in der Bundesrepublik von jeder zusätzlich verdienten Mark rund 60 Pfennig an öffentliche Kassen abliefern muß. Aber, meine Damen und Herren, auch dies reichte nicht aus; der Staat hat sich dennoch in höherem Maße verschuldet.
So - und das weiß jeder - kann kein Wachstum entstehen.
So sprach Helmut Kohl 1982. Nun beziehen Sie das einmal auf die Lage heute!
Schauen Sie sich einmal die Abgabenlast an, die heute ein Arbeitnehmer hat. Nehmen Sie einmal die Investitionsquote. Nach dem Jahresgutachten des Sachverständigenrats auf Seite 72 - in der Rechnung der Sachverständigen bezieht sich die Relation auf das Bruttoinlandsprodukt - betrug die Investitionsquote in den Jahren 1980 bis 1984 7,9 Prozent. Heute, 1997, liegen wir darunter, nämlich bei 7,6 Prozent, meine Damen und Herren. Das alles haben Sie damals kritisiert. Sie hatten 15 Jahre Zeit, die Dinge zu ändern. Sie haben es nicht getan.
Fahren wir mit Helmut Kohl fort:
Wo soll Zuversicht herkommen, wenn diese Probleme noch verstärkt werden durch einen nun ebenfalls im zweiten Jahr erlebten
- nun hören Sie gut zu; das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen -
realen Einkommensverlust von Arbeitnehmern und Unternehmern?
Wir liegen heute bei den Reallöhnen auf dem Stand von 1989, Herr Bundeskanzler; das wissen Sie so gut wie ich.
- Doch, doch, das weiß er. Er ignoriert es nur. Unwissen unterstelle ich unserem Bundeskanzler nun wirklich nicht. Den Gefallen sollten wir ihm nicht tun.
Joseph Fischer
Die Eigenkapitalquote der deutschen Wirtschaft, die vor zehn Jahren bei rund 26 % lag, ist inzwischen unter 21 % abgesunken, ...
1997 liegt sie bei 18 Prozent und sektoral sogar darunter. Das ist das Ergebnis der Regierung Kohl.
Ich könnte noch die Sozialversicherung anführen, die Sie beklagen. Sie sagten damals weiter:
Die Neuverschuldung reicht kaum noch aus, um die jährliche Zinslast zu bezahlen.
Mit einer Zinslast in Höhe von 88 Milliarden DM, die wir heute zu entrichten haben, liegen wir über der Neuverschuldung. Auch das ist eine einsame Spitzenleistung der Regierung Kohl.
Sie sagten damals weiter:
Wenn nicht rasch gehandelt wird - und das wäre eben bei sofortigen Neuwahlen nicht möglich gewesen -, würde die tatsächliche Haushaltslücke für 1983 allein beim Bund auf etwa 55 bis 60 Milliarden DM ansteigen.
Heute - auf das Jahr 1997 bezogen - liegen wir über 70 Milliarden DM.
Dann verzeichnet der Sitzungsbericht - das wollte ich noch loswerden -: „Zurufe von der SPD - Dr. Waigel : Da lachen die noch!"
Meine Damen und Herren, ich habe das in dieser Ausführlichkeit einmal klargemacht, weil Bilanz über die Ara Kohl gezogen werden muß.
Nun ignoriere ich nicht die Schwierigkeiten, Herr Bundeskanzler, die die deutsche Einheit mit sich gebracht hat.
Ich unterstelle Ihnen das überhaupt nicht. Das ist nicht mein Punkt; vielmehr ist die entscheidende Frage, was Sie aus der Chance der deutschen Einheit tatsächlich gemacht haben.
Haben Sie diese Chance genutzt? - Sie haben sie nicht genutzt! Sie haben geglaubt, mit einem Nachbau West wäre der Aufbau Ost möglich. Sie haben eben nicht erkannt, daß strukturelle Veränderungen, bedingt durch das Ende des kalten Krieges und die Globalisierung, für beide Teile Deutschlands notwendig wurden. Sie haben den Bürgern nicht die bitteren Wahrheiten der strukturellen Veränderungen klargemacht. Sie haben nicht darauf gesetzt, eine Steuerentlastungsreform zu machen, als das Geld noch da war; vielmehr haben Sie zu dieser Zeit auf „Weiter so!" gesetzt. Sie haben gesagt „keine Steuererhöhungen", als klar war, daß wir Steuererhöhungen brauchen. Sie haben Wahlen gewonnen, indem sie den Menschen erklärt haben, es gehe so weiter wie bisher. „Weiter so!" war Ihre Devise, und dieses „Weiter so!" hieß, den gesamtdeutschen Aufbauprozeß gegen die Wand zu fahren. - Das werfen wir Ihnen vor, und das ist das Ergebnis Ihrer Arbeit.
Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie doch zumindest dem Gutachten, das ich vorhin schon zitiert habe. Es ist eine für die Opposition vergnügliche und für das Land tieftraurige und deprimierende Lektüre. Ich empfehle Ihnen, auf den Seiten 231 und 232 folgendes nachzulesen. Ich lese Ihnen die Worte der Sachverständigen sogar vor:
Die Wirtschaftspolitik unterlag zu Beginn der neunziger Jahre einer zweifachen Fehleinschätzung: Einerseits herrschte die Erwartung, die deutsche Vereinigung ließe sich wirtschaftlich einigermaßen reibungslos unter den Bedingungen der früheren Bundesrepublik bewältigen und eine grundsätzliche Revision der bestehenden Regelwerke in den Bereichen Besteuerung, staatliche Leistungserstellung, föderaler Finanzausgleich, soziale Sicherung, Arbeitsmarkt und Tarifverhandlungssystem sei nicht gefordert, zumindest nicht bald und nicht grundlegend. Andererseits täuschten die quantitativen Erfolge der achtziger Jahre bei der Rückführung der staatlichen Kreditaufnahme und der Verringerung der Arbeitslosigkeit gemeinsam mit den durch den Vereinigungsboom ausgelösten Entwicklungen bei den Steuereinnahmen und auf dem Arbeitsmarkt über die tatsächliche Problemlage hinweg. Diese Fehleinschätzungen haben dazu geführt, daß notwendige Anpassungen hinausgezögert oder gar verhindert wurden.
Diese Fehleinschätzungen von Dr. Helmut Kohl hatten zur Konsequenz, daß wir heute, 1997, einen Stand erreicht haben, der weit hinter den von 1982, den Sie damals beklagt haben, weit hinter die damals von Ihnen kritisierte Realität zurückgefallen ist.
Wir brauchen dringend einen Neuanfang; damit können wir nicht warten. Sie wollen keine Neuwahlen; Sie haben mit Ihrer Mehrheit die Möglichkeit, das hinauszuschieben. Dennoch brauchen wir angesichts dramatischer Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, angesichts dramatisch wegbrechender Steuereinnahmen endlich Aktivität. Ich bin schon heilfroh, daß es in dieser Debatte bereits nicht mehr um die Nettoentlastung bei der großen Steuerreform gegangen ist.
Herr Bundeskanzler, ich appelliere nachdrücklich noch einmal an Sie: Bewegen Sie sich endlich! Wir sind bereit zu einer Senkung von Spitzensteuersatz und Eingangssteuersatz entlang einer linear-progressiven Struktur. Wir sind zu einem Schließen der Steuerschlupflöcher bereit, was Sie schon längst hätten machen können. Wir sind bereit, hier das Notwendige zu tun und den Weg hierzu gemeinsam mit Ihnen zu gehen. Wenn wir nicht länger über eine Vergrößerung von Haushaltslöchern in Gestalt einer angeblichen Nettoentlastung diskutieren müssen, dann sind wir kompromißfähig und bereit, eine Steu-
Joseph Fischer
erreform zu vereinbaren, noch bevor die Bundestagswahlen stattgefunden haben.
Es liegt ausschließlich an Ihnen, Herr Bundeskanzler - ausschließlich. Ich appelliere noch einmal nachdrücklich an Sie: Bewegen Sie sich endlich bei diesem Punkt und auch in der Frage der Rentenreform. Ich bin mir sicher, die Sozialdemokraten werden - die Angebote liegen öffentlich genauso auf dem Tisch, Kollege Scharping hat es heute wiederholt - -
- Indem Sie darüber hinweglärmen, können Sie doch nicht die Tatsache verdrängen, daß die Probleme hier allein an der Bundesregierung und an der F.D.P. liegen.
Ich weiß doch, daß die Union sofort bereit wäre, diesen Schritt zu gehen. Ich weiß doch, daß Sie den Quatsch mit der Soli-Senkung, den Sie schuldenfinanziert gemacht haben, nur gemacht haben, um der F.D.P. einen Gefallen zu tun, weil diese damit die Koalitionsfrage verbunden hat. Ich weiß, daß CDU und CSU sofort bereit wären, auf dieser Grundlage zu handeln, wenn sie durch die F.D.P. nicht ausgebremst würden.
Die F.D.P. möchte sich schlicht und einfach an dem letzten Haar, an dem sie hängt, nämlich an dem Ruf, die Steuersenkungspartei zu sein, festhalten; dadurch sieht sie die fünf Prozent erreichbar. Das ist der wahre Grund dafür, daß sich der Bundeskanzler nicht bewegt.
Ich appelliere hier nochmals an alle: Wir sind so nah beieinander. Es gibt jenseits einer nicht möglichen, weil nicht finanzierbaren, Nettoentlastung wesentliche Übereinstimmung. Es darf doch nicht wahr sein, daß wir angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen, die drohen, und weltwirtschaftlicher Herausforderungen - wir schauen uns mit Sorge die Entwicklung in Ostasien an und das, was auch hier in Europa auf uns zukommen kann - nicht handeln. Es darf doch nicht wahr sein, daß eine Partei, die - rein selbstverschuldet - um ihr Überleben kämpft, letztendlich den strukturellen Erneuerungsprozeß in diesem Lande weiter blockieren kann.
Herr Bundeskanzler, das gleiche gilt für die Rente. Bei der Rente haben wir ein doppeltes Problem. Das erste Problem ist die aktuell zu hohe Beitragslast. Das zweite Problem ist struktureller Art. Beide haben miteinander zu tun, aber nicht in unmittelbarer Art und Weise. Der Kollege Schäuble wird sicherlich
gleich fragen, warum wir dem Rentenreformgesetz der Koalition nicht zustimmen.
Dazu sage ich Ihnen, Herr Kollege Schäuble: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 Prozent, die Sie da veranschlagt haben, sollte nicht zur Abwehr der Beitragserhöhung auf 21 Prozent, sondern zur Gegenfinanzierung einer verbesserten Anrechnung von Kindererziehungszeiten dienen; mit dem Beitragssatz von 21 Prozent hat das nichts zu tun.
Unsere Hauptkritik richtet sich gar nicht so sehr gegen die Absenkung des Rentenniveaus; da besteht ein Widerspruch zwischen uns und den Sozialdemokraten. Aber was Sie bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten in diesem Bereich gemacht haben, bedeutet klar eine Privatisierung des Erwerbsunfähigkeitsrisikos zu Lasten der Erwerbsunfähigen. Das ist eine soziale Sauerei, die wir nicht mitmachen! Das ist für uns der entscheidende Punkt; damit das hier völlig klar ist.
Mich erstaunt, daß Ihr Arbeitnehmerflügel das mitgemacht hat.
Denn Ihre Maßnahmen in bezug auf die Erwerbsunfähigkeitsrenten bedeuten den ersten Schritt raus aus der solidarischen Rente und rein in die Privatisierung eines existentiellen Risikos. Herr Kollege Geißler, Sie wissen so gut wie ich, daß es sich dabei um den Abschied vom Grundgedanken der Solidarität handelt. Den machen wir so nicht mit; das ist mit uns nicht zu machen.
Der drohende Beitragssatz von 21 Prozent ist ein aktuelles Problem; er ist das Ergebnis einer falschen Finanzierung der deutschen Einheit. Anstatt die Steuern zu erhöhen, haben Sie die Abgaben, vor allen Dingen die Rentenversicherungsbeiträge und auch die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, erhöht. Sie haben die Lohnnebenkosten dramatisch nach oben explodieren lassen. Das wiederum führte in einem Verstärkungseffekt zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit, weil Arbeit zu teuer war. Nicht unsere Nettolöhne liegen zu hoch, sondern unsere Bruttolöhne. Verantwortlich dafür ist der Kostenfaktor Kohl und Waigel und nicht der Kostenfaktor Gewerkschaften! Auch das muß man hier einmal klipp und klar sagen.
Schauen Sie sich doch einmal an, was die Menschen gegenwärtig erleben! Sie bekommen ein Weihnachtsgeld in Höhe von 10 000, 12 000 oder 13 000 DM brutto. Bei Steuerklasse I bleiben ihnen 5100 bis 5600 DM. Die Leute fragen sich: Wo sind wir
Joseph Fischer
eigentlich? Sie freuen sich auf das Christkind und blicken Theo Waigel tief in die Augen. Das ist die Konsequenz.
Das ist doch Ihre Politik, meine Damen und Herren.
Nein, hier könnten wir entlang dem Schäuble-Vorschlag sofort vorgehen. Eine Kombination aus Mehrwertsteuererhöhung und Mineralölsteuererhöhung wäre sofort machbar, um die Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags auf 21 Prozent abzuwenden. Dazu sagt aber wiederum die CSU nein; das will sie als Automobil-Partei vor der Landtagswahl in Bayern nicht. Hier gibt es ebenfalls wieder eine Blockade im Regierungslager.
Herr Bundeskanzler, auch hier fordere ich Sie auf: Bewegen Sie sich endlich! Es darf doch nicht wahr sein, daß wir einen weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen, nur weil Sie einen Gegenfinanzierungsvorschlag, den Ihr Fraktionsvorsitzender gemacht hat, nicht durchsetzen können.
Steuern und die Stabilisierung der Rentenversicherungsbeiträge sind zwei Bereiche, in denen sofort gehandelt werden könnte, für die wir keine Neuwahlen brauchen und bei denen wir in der Sache - ich sage es nochmals - weitgehend einer Meinung sind. Wir wären sofort bereit, hier im Interesse des Gemeinwohls auch als Opposition Verantwortung wahrzunehmen und dies mitzutragen. Es muß aber von der Regierung gemacht werden.
Es bleibt jedoch natürlich das strukturelle Problem. Das strukturelle Problem der Rentenkrise hängt unmittelbar an der Entwicklung des Arbeitsmarktes. Arbeitslosigkeit und Rentenkrise hängen direkt und unmittelbar zusammen.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einige Entwicklungen - -
- Daß ausgerechnet Sie, Herr Schäuble, den Zuruf machen „Bloß nicht sparen!", ausgerechnet Sie, der Spitzenverdienern 9 Milliarden einfach hinterhergeworfen hat durch die Abschaffung der Vermögensteuer!
Daß die Bürgerinnen und Bürger es damals nicht wahrgenommen haben, ärgert mich auch. Heute wird man oft angesprochen, wenn man erkannt wird: Was macht ihr da in Bonn? - Da sage ich immer: Warum habt ihr, als die 9 Milliarden gerade mal weggeworfen wurden,
nicht aufgeschrien? Wenn heute die Studenten demonstrieren, dann zeigt das doch, wohin Ihre Politik des billigen Staates tatsächlich führen kann!
Als Helmut Kohl die Regierung übernommen hat, lagen wir bei den Forschungsmitteln weltweit auf Platz zwei, heute sind wir auf Platz sechs zurückgefallen. Das ist eine weitere deprimierende Bilanz, die man erwähnen muß.
Wenn ausgerechnet die F.D.P. glaubt, mit zusätzlich 40 Millionen - Sie können ruhig die 12,4 Millionen, die Sie zurückzahlen müssen, noch drauflegen, denn sie sind voll gedeckt -, auskommen zu können, dann sind das angesichts der Probleme, die wir im Hochschulbereich haben, Peanuts.