Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor zirka 15 Jahren hat der amtierende Bundeskanzler seinen Vorgänger im Deutschen Bundestag mit dem Hinweis zu verspotten versucht, er verstehe sich ja nur als der erste Angestellte der Republik. Helmut Schmidt war viel mehr. Aber wie schön wäre es doch, hätten wir wenigstens wieder einen soliden ersten Angestellten der Republik!
Vor 15 Jahren hat Helmut Kohl hier im Deutschen Bundestag die Notwendigkeit einer neuen Regierung mit dem Hinweis darauf begründet, daß man die Verantwortung übernehmen müsse für wachsende Schulden, für fortdauernde Pleiten bei den Unternehmen und für Dauerarbeitslosigkeit. Damit, Herr Bundeskanzler Dr. Kohl, haben Sie den Maßstab für die Beurteilung Ihrer eigenen Arbeit geliefert und die Begründung für eine neue Regierung, die dringend notwendig ist.
Rudolf Scharping
Vor 15 Jahren gab es gängige Vorurteile über konservative Politik und über konservative Politiker: Sie gingen ordentlich mit dem Staat um - so dachte man -, könnten solide mit dem Geld wirtschaften, gingen pragmatisch mit den gesellschaftlichen Kräften um und wüßten, was sie wollten. Das waren Vorurteile, wie sich herausgestellt hat; denn sie können nicht ordentlich mit dem Staat umgehen.
Und solide mit dem Geld wirtschaften: Wissen Sie, ich schaue gerade so in Ihre Reihen und stelle mir vor, wie Sie sich entweder im Kabinett oder im Koalitionsausschuß treffen. Das sind ja Sitzungen auf Schuldenbergen.
Und pragmatisch mit den gesellschaftlichen Kräften umgehen, und sie wüßten, was sie wollten: Ich habe mir einmal eine Liste nur der Punkte geben lassen, über die Sie sich in den letzten drei Monaten gestritten haben: der Haushalt und der Solidaritätszuschlag, die Steuererhöhungen und die 610-DM-Verträge, die Renten und die steuerfinanzierte Familienkasse, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und die Zuzugsregelungen bzw. das Staatsbürgerschaftsrecht, die Ostförderung und das Sexualstrafrecht, die Kabinettsumbildung und die Arbeitserlaubnis für Ausländer, die Drogenpolitik und Rechtsradikale in der Bundeswehr, der Lauschangriff und die Wehrpflicht, das Postgesetz, ausländische Studierende, das Mietrecht, usw.
Nur in einem ist sich diese Koalition noch einig: Sie will unbedingt den 27. September 1998 erreichen, koste es, was es wolle. Sie haben keine Substanz mehr, Sie sind sich in nichts einig, nur im Machterhalt!
Herr Bundeskanzler, es mag ja sein, daß Ihnen der Bogen der 15 Jahre zu weit gespannt ist. Wir können uns auch an Ihrer letzten Regierungserklärung orientieren. Da haben Sie gesagt: Wir haben in kürzester Zeit die Koalitionsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen, wir haben zielstrebig und kollegial zusammengearbeitet, und so wird es in den vier Jahren dieser Legislaturperiode auch bleiben.
Daran ist richtig - und nur das ist richtig -, daß Legislaturperioden in aller Regel vier Jahre dauern.
Sie haben gesagt: Wir wollen die Einbürgerung erleichtern und für in Deutschland geborene Kinder der dritten Generation eine deutsche Kinderstaatszugehörigkeit einführen. - Selbst über dieses Schrittchen streiten Sie immer noch!
Sie haben gesagt: Wir wollen einen schlanken Staat. Im Rahmen der Steuerreform wird das Steuerrecht spürbar vereinfacht. Die Bundesanstalt für Arbeit wird stärker dezentralisiert und ortsnäher organisiert, die Instrumente der Wirtschaftsförderung werden gestrafft und die Antragsverfahren vereinfacht. - Außer Spesen nichts gewesen.
Meine Damen und Herren, Sie haben dann auch noch gesagt, Sie seien sich einig darin, den Solidaritätszuschlag baldmöglichst abzubauen und entsprechende Rückführungsmöglichkeiten jährlich festzustellen. - Na, wenigstens ein bißchen war das ja schon.
So könnte ich ein Zitat nach dem anderen aus Ihrer Regierungserklärung aufrufen, und dann würde sich zeigen, daß Sie vielleicht noch gute Vorsätze, aber keinen Willen, keine Fähigkeit, keinen Mut und keine Entscheidungsstärke hatten, um das durchzusetzen, was Sie gegenüber der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland versprochen haben. Ihre Regierung ist eine komplett unfähige Regierung geworden, die noch nicht einmal ihre eigenen Ziele erreichen kann.
Sie haben damals gesagt, Sie wollten Ihren Ehrgeiz daransetzen, daß Deutschland das erste Land wird, in dem das Fünfliterauto Standard wird. - Ich zweifle, daß Sie den Eichtest bestehen würden. -
Sie haben hinzugefügt, Sie würden selbstverständlich prüfen, wie regenerative Energien und ihre Markteinführung stärker gefördert werden könnten. - Sie prüfen immer noch.
Und was viel wichtiger ist: Sie haben auch gesagt, Sie hätten den Spitzenvertretern von Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsame Gespräche vorgeschlagen und Sie hätten sich darüber gefreut, daß die Sozialpartner dies ebenfalls als notwendig ansähen. Wir müssen jetzt, so sagten Sie, alle Kraft aufwenden, um eine neue Beschäftigungsinitiative zum Erfolg zu führen. Sie haben auch diese Möglichkeit wahltaktisch mißbraucht und nach dem März 1996 den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften ins Gesicht geschlagen, statt das Bündnis für Arbeit wirklich zustande zu bringen.
Meine Damen und Herren, jedenfalls ist es Ihnen - ob jetzt in den letzten 15 Jahren oder in den letzten vier Jahren, das lasse ich dahingestellt - gelungen, die Vorurteile über angeblich konservative Werte und Verhaltensweisen gründlich zu widerlegen. Sie gehen nicht ordentlich mit dem Staat um, Sie wirtschaften nicht solide mit dem Geld, Sie haben kein pragmatisches Verhältnis zu den gesellschaftlichen Kräften, Sie wissen nicht, was Sie wollen, außer an der Macht zu bleiben, solange es irgend geht.
Ihre Regierung, Herr Bundeskanzler, ist eine Regierung der Vergangenheit geworden. Sie sind nichts anderes mehr als eine Vergangenheit, die allerdings auch eine schwere Belastung der Gegenwart und eine massive Hypothek für die Zukunft bedeutet. Sie sind eine Regierung der Enttäuschungen und der negativen Rekorde geworden. Sie haben Schulden auf-
Rudolf Scharping
gehäuft. Sie haben auf diese Weise die Bundesrepublik Deutschland in eine fast ausweglose Lage geführt, dem Staat die Fähigkeit geraubt, etwas für die Zukunft zu tun und in der Gegenwart wirtschaftlichen Gefahren entgegenzuwirken. Und Sie haben das alles zu bemänteln versucht, indem Sie im Sommer 1997 davon sprachen, nun müsse eben Wahlkampf sein.
Ich sage, wenn der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland 14 Monate vor einem Wahltermin von nichts anderem beherrscht wird als von der Überlegung, wie er seine Koalition zusammenhalten und wie er den Wahltermin erreichen kann, dann verfehlt er seine Pflichten, verletzt seinen Amtseid und sorgt dafür, daß die Glaubwürdigkeit politischer Institutionen noch mehr verringert wird.
Ich fürchte, daß angesichts dieser Haltung keine Chance mehr besteht, wirklich durchgreifende Reformen in den nächsten 10 Monaten zu vereinbaren. Wenn das aber nicht möglich ist, dann sollten wir doch wenigstens die Schritte tun, die angesichts der drängenden Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger und der großen Gefahren für das Gemeinwesen wirklich notwendig und sinnvoll sind.
Wenn wir dazu wegen Ihrer Selbstblockade, wegen Ihrer Unfähigkeit, in der Koalition zu gemeinsamen Auffassungen zu kommen, wegen Ihres Willens, 14 Monate Wahlkampf zu führen, schon nicht mehr in der Lage sind, dann sollten wir wenigstens noch einmal den Versuch machen, in den Fragen, die mit der Erosion von Grundlagen des Gemeinwesens zu tun haben, Ergebnisse zu erzielen.
Dazu gehört die fortschreitende Erosion der Sozialversicherungen. Sie, wie auch alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, wissen, daß ein Rentenversicherungsbeitrag von 21 Prozent eine Gefahr für Arbeitsplätze, eine Gefahr für die Konjunktur in Deutschland und eine Gefahr für die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Bereich ist.
Deswegen will ich Ihnen noch einmal in aller Deutlichkeit und Konsequenz anbieten, die Erosion der Grundlagen der sozialen Sicherheit in Deutschland zu stoppen. Dem Ziel, die Erosion des Sozialstaates zu beenden, könnten wir in Schritten näherkommen, indem wir das Ausufern der versicherungsfreien Tätigkeiten, die Flucht aus der Sozialversicherung und die Flucht in die Scheinselbständigkeit endlich stoppen.
Wenn auf Grund dieses Haushalts in der Bundesrepublik Deutschland das Sechsfache für Zinsen aufgewendet wird, verglichen mit jenen Aufwendungen für Bildung und Wissenschaft - also für die Zukunft unseres Landes -, dann sollten wir wenigstens auf diesem fortdauernden Marsch in den verschuldeten Staat die Erosion der Steuergrundlagen beenden, weil sie zugleich eine Erosion des Vertrauens der
Bürgerinnen und Bürger in die Gerechtigkeit und die Sinnhaftigkeit staatlichen Handelns bedeutet.
Sorgen Sie mit uns dafür, daß wenigstens die Steuerschlupflöcher geschlossen werden!
Wenn man hinter die Entwicklungen im Sozialsystem und im Steuersystem schaut, dann stellt man fest: Das bedrückendste Ergebnis von 15 Jahren konservativer Regierung und des Mißbrauchs ihrer Möglichkeiten ist, daß uns auf der einen Seite die Bürgerinnen und Bürger in ihrem privaten Leben und in ihrem persönlichen Engagement Tag für Tag demonstrieren, wie stark die Bereitschaft zur Leistung und Verantwortung in Deutschland ist - sie zeigen uns das durch ihre Mitarbeit in den Betriebsräten und in den Gewerkschaften, in den Kirchen und ihren Wohlfahrtsorganisationen, durch ihr freiwilliges Engagement in den Vereinen, bei der Feuerwehr, beim Roten Kreuz und vielen anderen Stellen -, daß wir aber auf der anderen Seite eine Regierung haben, die die tiefste Kluft zwischen diesem persönlichen Engagement und der Entwicklung im Bereich des öffentlichen Lebens verantworten muß.
Es ist aus meiner Sicht das bedrückendste Ergebnis, daß eine Partei, die das Christliche für sich beansprucht, verantworten muß, daß die Rücksichtslosigkeit, die Kaltherzigkeit und der Egoismus noch nie zuvor wie in diesen Tagen einen so hohen öffentlichen Stellenwert haben.
Deshalb will ich nicht nur über das, was Sie verantworten müssen, reden, sondern auch darüber, wie man diese Kluft schließen könnte. Es geht darum, in Deutschland wieder Chancen zu öffnen, Zusammenhalt zu fördern und Gerechtigkeit durchzusetzen.
Eine gute Regierung, Herr Bundeskanzler, würde Chancen eröffnen, anstatt Chancen zu verbauen. Sie würde den Menschen Mut machen, anstatt sie mit Angst in eine Entwicklung hineinzutreiben, die sie tatsächlich nicht wollen. Die Vereinigung Deutschlands war eine große Chance. Sie haben diese Chance in wirtschaftlicher, in sozialer, in finanzieller und in kultureller Hinsicht in vielen Fragen vertan. Globalisierung ist eine Chance, eine Chance, unter neuen wirtschaftlichen Bedingungen und neuen Herausforderungen das zu behaupten, was die Zivilisation in Europa eigentlich ausmacht, nämlich die kluge Verbindung von wirtschaftlicher Stärke, sozialer Verantwortung und Vorsorge für die Zukunft.
Aber wenn man sich die Ergebnisse Ihrer Regierung über den Zeitraum der letzten Jahre, insbesondere in dieser Legislaturperiode, anschaut, dann kann man sehen: Sie tun nichts gegen die Gründe für Sorgen und Angst. Im Gegenteil: Sie versuchen sogar, sie zu nutzen. Die Erfahrung beispielsweise mit der Arbeitslosigkeit ist allgegenwärtig. Sie rauben den Menschen das Vertrauen, daß wir gemeinsam noch etwas dagegen tun können, manchmal so-
Rudolf Scharping
gar schon das Zutrauen, daß Sie wirklich etwas dagegen tun wollen.
Was ist mit den vielen Menschen, die zur Seite gedrängt werden? Was ist mit den jungen Menschen?
Ich habe hier vor etwa vier Jahren Ihr Stichwort vom Wirtschaftsstandort Deutschland aufgegriffen und versucht, darauf aufmerksam zu machen, daß es um mehr geht, nämlich um den Lebensstandort Deutschland. Wenn wir, das Parlament, und vor allen Dingen Sie, die Regierung, nicht mehr klarmachen können, daß Sie mit Leidenschaft und Mut wirklich darum ringen, daß jeder junge Mensch in Deutschland ausgebildet wird, wenn Sie das alles auf eine pseudotechnokratische Debatte um irgendwelche Finanzierungsfragen verkürzen, dann wird das Hauptanliegen verschüttet. Es müßte doch möglich sein, daß ein so reiches Land wie Deutschland seiner Jugend eine Chance eröffnet und jedem die Ausbildung garantiert.
Wenn Sie achselzuckend darüber hinweggehen, daß hier ein Mitglied Ihrer Regierungskoalition sagt, die Tätigkeit ohne Sozialversicherung sei das letzte Stück Freiheit auf dem Arbeitsmarkt, dann nenne ich das eine Fehlentwicklung des Denkens, wie sie schlimmer nicht sein kann. Diese Ausbeutung, diese Ausnutzung von Menschen muß beendet werden.
Herr Bundeskanzler, ich kann nicht bestreiten, daß Sie am Anfang Ihrer Regierungstätigkeit auch die eine oder andere Entscheidung getroffen haben, die für Deutschland insgesamt nützlich und gut war.
Ich will das auch nicht bestreiten. Aber das, was Sie jetzt tun, ist eine Ignoranz, eine Mißachtung, ein ZurSeite-Drängen von Millionen Menschen, an deren Entwicklungschancen auch die Zukunft unseres Landes hängt. Wenn ich mir die Jugendlichen in Deutschland betrachte, dann muß ich sagen: Sie haben es nicht verdient, so behandelt zu werden, wie Sie das tun.
Auch wenn ich mir die Frauen in Deutschland betrachte - über fünf Millionen von ihnen werden außerhalb der Sozialversicherung beschäftigt, und andere müssen dafür höhere Beiträge zahlen -, dann muß ich feststellen: Diese Frauen haben es nicht verdient, so behandelt zu werden, wie Sie das tun, und so zur Seite gewischt zu werden, wie das manchmal geschieht.
Hinsichtlich der Globalisierung und der Angst, die Sie den Menschen damit manchmal machen, sage ich: Jawohl, wir könnten in Europa gemeinsam etwas zur Behauptung unserer sehr speziellen, unserer historisch gewachsenen Vorstellungen von einem würdevollen und freiheitlichen Zusammenleben der Menschen tun. Das war es eigentlich, was hinter der Debatte um das Beschäftigungskapitel im Europäischen Vertrag stand. Das stand dahinter, als es darum ging, den Beschäftigungsgipfel zu einem Erfolg werden zu lassen.
Mich macht besorgt, daß wir jetzt in Deutschland eine Bundesregierung haben, die Gefahr läuft, vielleicht noch an der Seite Spaniens zu sein, aber jedenfalls isoliert von den wichtigen Entwicklungen in Europa zu sein, die auf Vollbeschäftigung, Wachstum, soziale Verantwortung und Schutz der Umwelt zielen.
Es ist besorgniserregend, zu sehen: Sie haben sich hier lange Jahre damit geschmückt - jedenfalls haben Sie den Versuch gemacht -, uns, die Sozialdemokratie, als isoliert in Europa darzustellen. Auch gestern klang das noch einige Male an.
Tatsächlich ist es aber so, daß Ihre Regierung in keiner Weise verstanden hat, daß die Bevölkerung Frankreichs, Großbritanniens und vieler anderer europäischer Länder mittlerweile gemeinsam mit ihren Regierungen den Versuch machen, den Sie hier in Deutschland verweigern, nämlich den Versuch, wirtschaftliche Stärke zu entwickeln und dabei die soziale Verantwortung nicht kaputtgehen zu lassen.
Nein, eine gute Regierung würde Chancen für die vielen Menschen eröffnen, und sie würde dafür sorgen, daß man wieder Vertrauen in eine gemeinsame, gegenseitig verantwortete, rücksichtsvolle Entwicklung unseres Landes fassen kann. Eine gute Regierung würde Zusammenhalt und Gemeinsinn stärken.
Man hat einmal von Konservativen vermutet, daß sie sich vielleicht den einen oder anderen Fehler leisten, daß sie vielleicht die eine oder andere falsche Entscheidung treffen, daß sie aber auf keinen Fall das Prinzip des Zusammenhalts und der Gemeinsamkeit gefährden.
Ich habe noch nie erlebt, wie eine Regierung mit diesem Anspruch so konsequent und ignorant gegen diesen Anspruch selbst gehandelt hat. Sie haben auf Konfrontation gesetzt, wo es um Gemeinsamkeit gegangen wäre. Man kann das mit vielen Beispielen belegen. Sie sind zur Kooperation nicht mehr fähig.
Ich bleibe bei dem einen Beispiel: Die Menschen wußten ganz genau, daß das Leben nach der deutschen Einheit nicht so weitergehen konnte wie zuvor.
Rudolf Scharping
Sie wußten, daß es mit der Verteilung von Zuwächsen und dem Versuch, auf diese Weise ein Stück mehr Gerechtigkeit zu verwirklichen, vorbei sein würde. Sie wußten ganz genau, daß wir von der westdeutschen Verteilungs- und Wohlstandsgesellschaft zu einer gesamtdeutschen Aufbaugesellschaft werden würden.
Was haben Sie getan? - Sie haben im Wahlkampf 1990 die Illusion erzeugt, es könne alles so weitergehen. Sie haben die Illusion erzeugt, es bedürfe keiner Anstrengung, und Sie haben damit Egoismus gefördert und Gemeinsamkeit geschwächt.
Sie haben die Bereitschaft von Menschen, Verantwortung zu übernehmen, zurückgewiesen.
Ich will gar nicht auf die einzelnen Beispiele eingehen. Aber in dieser Grundlinie gibt es zwei Entwicklungen, die hoch bedenklich sind: Sie trafen erstens die historische Fehlentscheidung, einen großen Teil der finanziellen Folgen der deutschen Einheit in der Sozialversicherung zu verankern. Dies hat uns Arbeitsplätze gekostet, das hat uns Ausbildungsplätze gekostet. Es hat bei den Menschen - leider zu Recht - das Gefühl erzeugt, daß es mit der Gerechtigkeit nicht mehr sehr weit her sei und daß die deutsche Einheit in der Verantwortung derjenigen liege, die dem Handeln ihrer Regierung nicht ausweichen konnten.
Sie haben das zweitens mit Schulden und - wie wir gesehen haben - zunehmend durch Privatisierungserlöse finanziert. Ein solider Haushälter, eine solide konservative Regierung würde auf solche Schnapsideen überhaupt nicht kommen. Den laufenden Haushalt aus einmaligen Erträgen zu finanzieren, ist unverantwortlich.
Es wäre gut gewesen, wenn man diese Privatisierungserlöse für Zukunftsinvestitionen, für den Ausbau der Hochschulen, für die Entwicklung des Bildungswesens, für die Forschung und Entwicklung sowie für die Stärkung der erneuernden, der innovatorischen Kräfte der Gesellschaft insgesamt verwendet hätte.
Sie aber haben damit laufende Ausgaben finanziert. Dies war die Frucht Ihrer Feigheit, den Bürgerinnen und Bürgern und damit allen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern die Wahrheit über die große Aufgabe zu sagen, die vor uns stand. Sie haben eine historische Chance nicht nur verpaßt, sondern Sie haben sie in eine immer stärker wachsende Belastung des Gerechtigkeitsempfindens und des Gemeinsinns in Deutschland verkehrt.
Es ist nicht so, daß sich die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land nicht dagegen wehrten. Ich fand es erstaunlich, daß eine solche Regierung, die von christlichen Demokraten geführt wird, jedenfalls von Menschen, die dieses Etikett für sich beanspruchen, nichts von dem aufgreift, was die beiden christlichen Kirchen in einem bemerkenswerten Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage unseres Landes gesagt haben.
Sie sind nicht in einen öffentlichen Dialog eingetreten. Sie haben so weitergewurschtelt, anstatt einen Moment zu überlegen, ob nicht die Mahnungen beider christlichen Kirchen einen wirklich harten und bedenkenswerten Kern haben.
Sie haben das Angebot aus der eben zitierten Regierungserklärung taktisch mißbraucht, als die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer es ernst genommen hatten. Sie haben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zunächst den Eindruck vermittelt, Sie wollten gemeinsam mit den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern etwas tun. Tatsächlich aber haben Sie dieses Angebot nur taktisch benutzt und den Gewerkschaften und den Arbeitnehmern nach den Landtagswahlen im März 1996 ins Gesicht geschlagen.
Die Spaltung, die daraus folgt, die Enttäuschung des Vertrauens, die Schwächung des Gemeinsinns sind bedrückende Ergebnisse. Jede neue Regierung, die mit dieser Erbschaft beginnen muß - es bleibt ihr nichts anderes übrig -, wird Monate und Jahre darauf verwenden müssen, Schritt für Schritt das Vertrauen in die Fähigkeit zu stärken, gemeinsam Verantwortung zu tragen, ein Bündnis für Arbeit herzustellen, Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen und eine Steuer- und auch eine Rentenreform zu machen, die den Menschen nicht ins Gesicht schlägt, sondern ihnen die Gewißheit gibt, daß wir alle gemeinsam eine große Anstrengung unternehmen, daß dieses Land eine gerechte Zukunft erfährt.
Eine gute Regierung würde in die Zukunftsaufgaben investieren, anstatt Schulden zu machen, den Staat in die Zinsfalle zu stürzen sowie Forschung und Entwicklung, Bildung und Wissenschaft immer weiter zu kürzen. Sie würde nicht nur Ausverkauf betreiben, sondern ganz im Gegenteil etwas tun für einen leistungsfähigen Staat, für Investitionen in die Zukunft, für eine vernünftige, für eine gerechte Steuerreform.
Herr Bundeskanzler, ich sprach von der Kluft, die Sie erzeugt haben zwischen dem privaten Verhalten, den privaten Hoffnungen und Erwartungen, dem persönlichen Leben, den Maßstäben, die für Millionen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland gelten, dem Beweis für den Willen zur Gerechtigkeit, die Fähigkeit zur Verantwortung und die Chance auf gemeinsame Entwicklung, den uns die Bürgerinnen und Bürger Tag für Tag liefern, und Ihrem Verhalten: Eine gute Regierung würde Chancen eröffnen und Zusammenhalt stärken. Sie tun das nicht mehr.
Ich weiß sehr genau, daß alle Appelle, diese Regierung möge ihre hilflosen Versuche aufgeben, diese
Rudolf Scharping
Regierung möge auf einen Pfad der Vernunft zurückkehren, der uns bis zum Wahltag Entscheidungen im Interesse unseres Landes ermöglicht, diese Regierung möge ihre hilflosen Dummheiten beenden, wie wir sie in diesen Tagen erlebt haben, nichts bringen. Ich will Ihnen sagen, was ich für eine solch hilflose Dummheit halte: daß auf einem bayerischen CSU-Parteitag beschlossen werden kann - und zwar mit dem dabeisitzenden Bundesfinanzminister,
der schweigt -, man solle jetzt das gemeinsame Prinzip der Sozialversicherung aufgeben. Diese Übertragung separatistischen Denkens in die Bundespolitik ist eine Schande für das Land und ein Ausweis für die Unfähigkeit ihrer Führer.
Herr Bundeskanzler, wenn man Ihre Ansprüche mit den Realitäten vergleicht und wenn man miteinander vergleicht, was die Menschen hoffen und erwarten und wozu Sie bereit sind, dann muß man leider sagen: Es wäre besser, diese Regierung würde noch einen Akt der Selbstachtung und der Bewegungsfähigkeit ermöglichen, nämlich den Weg frei machen für eine sofortige Entscheidung. Das wird nicht möglich sein; auch ich weiß das. Deswegen will ich das auch gar nicht fordern.
Was wir aber vielleicht tun könnten - ich mache dieses Angebot, obwohl ich weiß, daß das schon mehrfach geschehen ist -, das ist, wenigstens die dringend notwendigen Entscheidungen zu treffen, die einer weiteren Erosion der sozialen und der finanziellen Grundlagen unseres Landes entgegenwirken.
Meine Damen und Herren, wenn man über die Generallinien eines Haushaltes und über die Generallinien der Politik eines Bundeskanzlers spricht, dann kann man über viele Einzelheiten reden und tatsächlich über die Grundlinien.
Für mich und für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und ihre Bundestagsfraktion bleibt es dabei: Das bedrückendste Ergebnis dieser Regierungszeit ist die Tatsache, daß noch nie zuvor das Empfinden und der Wunsch der Menschen nach Solidarität, nach Gerechtigkeit, nach einer soliden und anständigen Zukunft so weit entfernt war von dem, was diese Regierung tut. Es wäre besser, wir könnten morgen wählen.
Wenn das aber nicht möglich ist, dann lassen Sie uns wenigstens die Entscheidungen treffen, die der genannten Erosion entgegenwirken, und lassen Sie uns wenigstens diese Zeit mit dem Anstand zu Ende bringen, der ihr die ganze Zeit gefehlt hat.