Rede von
Anni
Brandt-Elsweier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe zwei entzükkende Enkel: ein vierjähriges Mädchen und einen fast sechsjährigen Jungen. An beiden habe ich große Freude. Aber wenn ich oft lese und höre, welche Gewalttätigkeiten an Kindern verübt werden und was ihnen alles geschehen könnte, erfaßt mich das blanke Entsetzen. Ich frage mich: Wie kann ich meine Enkel schützen? Wie kann ich unsere Kinder vor jeder Form von seelischer und körperlicher Gewalt schützen?
Ich sage vorab: Wir können einem Kind keinen umfassenden Schutz vor Gewalt geben. Wir können Eltern nicht versprechen, daß ihrem Kind kein Mißbrauch widerfahren wird. Kinder werden immer wieder Gewalt - auch sexueller Gewalt - ausgesetzt sein. Wir werden sie sogar in der engsten Schutzgemeinschaft, in der Familie, nicht vollkommen dagegen schützen können. Aber wir alle in diesem Hause haben die Pflicht - ich möchte in diesem Hause nicht fluchen, wie es der Bundesminister der Justiz vorhin getan hat - und Schuldigkeit, unseren Kindern den höchstmöglichen Schutz vor sexueller Gewalt zu bieten.
Die vorgesehenen Änderungen des Sexualstrafrechts sind zu begrüßen. Sie sind aber kaum geeignet, Straftaten einzudämmen, geschweige denn sie zu verhindern. Ich bin fast 30 Jahre lang zuerst als Anwältin und später als Richterin tätig gewesen. Ich kann Ihnen aus meiner beruflichen Erfahrung sagen: Kaum ein Straftäter läßt sich von einer empfindlichen Strafandrohung abschrecken und an der Tatausübung hindern. Selbst Wiederholungstäter, denen Sicherungsverwahrung drohte, erklärten mir auf Vorhalt, sie seien davon ausgegangen, dieses Mal nicht erwischt zu werden. Wir müssen also mehr tun, als hart zu bestrafen oder nur wegzusperren. Wir müssen hier den umfassenden Schutz unserer Kinder gewährleisten.
Gewalt, insbesondere sexuelle Gewalt - das sagt die Erfahrung -, findet in überwiegendem Maße im sozialen Nahbereich statt. Rund 50 Prozent der Täter sind Bekannte, rund 20 Prozent Familienangehörige. Dies sind Tatsachen, aus denen wir endlich Konsequenzen ziehen müssen. Wenn wir den Täterkreis betrachten, stellen wir fest, daß dies überwiegend, nämlich zu 96 Prozent, Männer sind. Die Opfer sind vorwiegend Mädchen, nämlich zu 80 Prozent. Das wird insbesondere in weiten Bereichen der Medienindustrie und ihrer Kontrollinstanzen zuwenig berücksichtigt. Durch Film und Fernsehen werden Jungen durch Gewaltdarstellungen in Überlegenheitsphantasien bestärkt, während Mädchen in der Opferrolle dargestellt werden. Diese geschlechtsbezogenen Machtverhältnisse werden so weiter verfestigt. Das müssen wir möglichst ändern.
Ich möchte Ihren Blick aber auch noch auf einen anderen Punkt lenken. In vielen Fällen sind sexuelle Straftäter von gewalttätigen Eltern erzogen worden,
sind in ihrer Kindheit selbst Opfer von Gewalt, auch sexueller Gewalt, gewesen. Das ist natürlich keine Entschuldigung für ihr heutiges Verhalten; denn selbstverständlich ist die sogenannte schlechte Kindheit und Jugend keine Rechtfertigung für Gewalt. Aber es lassen sich dennoch Verhaltenswiederholungen bestimmen. Eine Kindheit, in der der Wert eines Menschen nicht geachtet wird, fördert ein menschenverachtendes Verhalten des Erwachsenen. Eine Erziehung, die von Gewalt nicht frei ist, begünstigt ein gewalttätiges Verhalten im späteren Leben. Gewalt erzeugt oft Gewalt, und Gewalt wird weitergegeben.
Dabei bedient sich der Täter oft eines Vorgehens, das wir alle schon seit frühester Jugend aus der Märchenwelt kennen. Vielleicht waren Märchen die Möglichkeit unserer Eltern und Großeltern, uns auf die drohende Gefahr aufmerksam zu machen. Denn Pädophile suchen sich wie der böse Wolf im Märchen eine meist kinderfreundliche Tarnung. Sie suchen in vielen Fällen eine Tätigkeit, die ihnen beruflich oder auch ehrenamtlich die Betreuung von Kindern ermöglicht. Hier knüpfen sie oft den ersten Kontakt zu den späteren Opfern. Das ist eine Erkenntnis aus der Untersuchung von Täterprofilen.
Es ist aber leider kein Märchen, das uns jetzt den Schauer aus der Kinderzeit über den Rücken jagt. Heute geht es um die Wirklichkeit, um die brutale, böse Realität, in der viel zu viele Kinder leben müssen.
Zur Wirklichkeit gehört auch, daß ein Sexualstraftäter die Möglichkeit hat, sich an einem anderen Ort unerkannt niederzulassen, wenn er seine Strafe verbüßt hat und sie auch verjährt ist. Niemand in seinem neuen Umfeld, weder Arbeitgeber noch Verantwortliche aus der Kinder- und Jugendfreizeit, erfahren etwas über seinen entsprechenden Hindergrund.
Kennen Sie Megans Gesetz? Ich nehme an, nicht. Nach dem Sexualmord an ihrer Tochter Megan erkämpfte ihre Mutter in New Jersey, USA, ein Gesetz: Der Wohnort von Sexualstraftätern wird öffentlich bekanntgegeben, und zwar ohne Rücksicht auf Verjährung. - Soweit kann man sicher nicht gehen. -
Im Sommer 1994 war die siebenjährige Megan von einem bereits zweimal wegen sexuellen Mißbrauchs Minderjähriger einschlägig vorbestraften Nachbarn der Familie sexuell mißbraucht und umgebracht worden. Die Mutter: „Hätten wir gewußt, wer auf der anderen Straßenseite wohnt, wäre meine Tochter noch am Leben. "
Ich kann das Leiden dieser Mutter und die Verzweiflung spüren. Ich spüre auch die Einsamkeit in ihrem Schmerz. Ich frage mich: Was können wir für die Opfer und ihre Familienangehörigen in ihrem Leid tun? Sie fragen uns zu Recht oft: Wer hilft uns denn?
Leider sehen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, fast den alleinigen Weg zur Problemlösung in härteren Strafen. Sie rufen nach dem
Anni Brandt-Elsweier
Staat zur Gefahrenabwehr; das ist in Ordnung. Sie rufen nach schärferen Strafen; auch das tragen wir mit. Wir sind stets auch für eine große Strafrechtsreform gewesen, die die Wertigkeit der geschützten Rechtsgüter richtigstellt, die aber auch gründlich durchdacht ist. Wir sind gegen ein in sich widersprüchliches und hektisch durchgepeitschtes neues Strafrecht, das nur neue Probleme mit sich bringt.
Wir tragen deshalb auch die Verschärfung des Sexualstrafrechts mit und stellen einen Entschließungsantrag - der auf dem Tisch liegt -, der noch mehr umfaßt. Erkennen Sie nicht die Vielzahl der Möglichkeiten, die Prävention zum Schutze unserer Kinder bietet? Sie nehmen sie offensichtlich nicht ernst genug.
- Den kenne ich. Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit dem Kostenargument; das habe ich heute morgen schon öfter gehört. Wir haben alle die Pflicht, den Schutz unserer Kinder über jede finanzielle Frage zu stellen. Da ist mein Appell auch an die Länder gerichtet.
Nur wenn wir allen Verantwortlichen der Kinder- und Jugenderziehung die notwendigen Rahmenbedingungen verschaffen, werden wir sexuellen Mißbrauch eindämmen können. Sie müssen in die Lage versetzt werden, Kinder so zu erziehen, daß sie keine Opfer werden.
Jedes Kind hat seine eigene Persönlichkeit. Wir als Erwachsene haben diese zu respektieren. Wir müssen ihnen helfen, selbstbewußt und optimistisch in die Zukunft zu schauen. Ich möchte, daß sich meine Enkel und ihre Spielkameraden ihres eigenen Wertes bewußt werden. Dann werden sie auch als Erwachsene die Würde jedes anderen achten.
- Das tue ich auch. - Ich möchte, daß sie lernen, nein zu sagen. Dann werden sie auch selbstbewußte Erwachsene sein. Ich möchte, daß sie zwischen guten und schlechten Geheimnissen unterscheiden lernen; denn dann werden sie auch als Erwachsene wissen, was Recht und Unrecht ist. Kurz: Kinder sollen zu selbstbewußten und mündigen Erwachsenen erzogen werden.
Deshalb lehne ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der SPD Gewalt in jeder Form als Erziehungsmittel ab. Die gewaltfreie Erziehung von Kindern gehört eigentlich in die Verfassung. Leider sind die Mehrheitsverhältnisse in diesem Hause nicht so angelegt, daß wir das erreichen könnten.
Zum Wohle unserer Kinder sollten Sie jedoch zumindest in der Lage sein, die gewaltfreie Erziehung im Familienrecht zu verankern. Aber auch das ist noch sehr fraglich.
Wir wollen weiterhin - da wissen wir uns mit dem Kinderschutzbund einig -, daß alle Maßnahmen ergriffen werden können, die präventiv wirken. Dies ist ein entscheidender Punkt, wenn wir Kinder wirklich vor sexueller Gewalt schützen und den Eltern Schutz nicht nur vorgaukeln wollen.
Präventionsarbeit als Pflicht aller Verantwortlichen muß im Kinder- und Jugendhilfegesetz abgesichert werden. Das Schutzbedürfnis von Kindern und Jugendlichen, so umfassend wie wir es verstehen, erfordert aber mehr.
Ich möchte auch sicherstellen, daß Personen, die wegen mit sexuellem Mißbrauch zusammenhängender Delikte vorbestraft sind, nicht als Betreuer mutmaßlicher Opfer beschäftigt werden können. Wir müssen im Interesse des Schutzes von kindlichen Opfern wirklich überlegen, wie wir hier helfen können. Ich frage mich, ob der Schutz von Kindern nicht wichtiger ist als der Datenschutz.
Wir fordern in unserem Gesamtkonzept ferner staatliche Hilfe für die Opfer und ihre Familienangehörigen. Es reicht nicht, über die Täter, ihre harte Bestrafung und ihre anschließende Behandlung zu reden; Ziel muß vielmehr sein, mögliche Straftaten zu verhindern.
Deshalb fordern wir in unserem Entschließungsantrag den Gesetzgeber auf, auf vier Ebenen statt nur auf einer einzigen zu handeln. Neben der Verschärfung des Strafrechts setzen wir gleichermaßen auf Beratung, Therapie und umfassenden Opferschutz. Wir haben nicht nur einen Zeugenbeistand, sondern auch einen Opferanwalt gefordert, der das Opfer in der Verhandlung uneingeschränkt begleitet und seine Nöte kennt.
Die Koalition will heute offensichtlich jedoch nur den halben Weg gehen. Das ist zuwenig. Ich fordere Sie auf: Zeigen Sie Verantwortungsbewußtsein! Machen Sie weitere Schritte, um den langen Weg zum Ziel mit uns gemeinsam zu gehen!
Das folgende Zitat ist schon gefallen; ich möchte es trotzdem wiederholen: Die beste Kriminalpolitik - so hat bereits im vorigen Jahrhundert ein Jurist gesagt - ist immer noch eine gute Sozialpolitik.
Ich danke Ihnen.