Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir verabschieden heute umfangreiche und gravierende Änderungen im Strafrecht. Das Ausmaß der Veränderungen und
Eingriffe ist durchaus vergleichbar mit der in den 70er Jahren durchgeführten Strafrechtsreform. Damals hat sich der Bundestag für sein Reformvorhaben mehrere Jahre Zeit genommen. Es gab eine hochkarätig besetzte Kommission, die Vorschläge erarbeitet hat. Vor der Verabschiedung des Gesetzes fand eine öffentliche Diskussion auf breiter Basis statt. Wissenschaft und Praxis waren intensiv einbezogen.
Diesmal haben wir das alles im Schnellgang gemacht, in der Art, wie in letzter Zeit leider immer häufiger auch wichtige Gesetze verabschiedet werden, so als handele es sich um irgendeine dritte Durchführungsverordnung zum fünften Ausführungsgesetz.
- Die Hackfleischverordnung wäre ein Beispiel.
Wir verabschieden in letzter Zeit zunehmend wichtige Gesetzesvorhaben unter großem Zeitdruck auf der Grundlage umfangreicher Formulierungshilfen aus dem Justizministerium, die uns kurz vor der abschließenden Beratung auf den Tisch gelegt werden und kaum noch verarbeitet werden können.
- Wir können immer wieder feststellen, daß sie in sich nicht stimmig sind.
Ich finde das nicht gut, weil die Qualität der Gesetzgebung darunter leidet, ja leiden muß, und weil wir uns durch ein solches Verfahren um die Chance bringen, bei den Bürgerinnen und Bürgern die für so weitgehende Rechtsänderungen notwendige Akzeptanz zu schaffen.
Lassen Sie mich beginnen mit Änderungen des Strafgesetzbuches, die zunächst Gegenstand eines gesonderten Gesetzentwurfs der Bundesregierung waren und nun im großen Aufwasch mit in das 6. Strafrechtsreformgesetz gekommen sind. Es handelt sich um die Neufassung der Regelung des sexuellen Mißbrauchs von kranken und hilfsbedürftigen Menschen in stationären Einrichtungen, des sexuellen Mißbrauchs in ambulanten Beratungs-, Betreuungs- und Therapieverhältnissen und des sexuellen Mißbrauchs von widerstandsunfähigen Personen. Das sind die §§ 174a, 174c und 179 StGB. Ich möchte dazu gerne etwas sagen, weil ich seit längerer Zeit an dem Thema arbeite und die Aufgabe der Berichterstattung hatte.
Die Tatsache sollte hier nicht untergehen, daß in diesem Bereich tatsächlich etwas geschehen ist. Ich finde es gut, daß mit der Neuregelung der Schutz kranker und behinderter Menschen vor sexuellen Übergriffen verbessert und insbesondere nun auch der sexuelle Mißbrauch in Therapieverhältnissen unter Strafe gestellt wird. Es hatte dazu bereits vor zwei Jahren eine Initiative aus dem Bundesrat gege-
Erika Simm
ben. Wir meinten aber, ihr in der Form, in der sie damals vorlag, nicht folgen zu können.
Der - zugegebenermaßen - wesentlich verbesserte Gesetzentwurf der Bundesregierung, der in das 6. Strafrechtsreformgesetz Eingang gefunden hat, war bei der ersten Lesung im September bezüglich einer Reihe von, wie ich meine, nicht unwichtigen Details nicht nur bei mir auf Kritik gestoßen. Diese Kritik ist mit den zwischenzeitlich vorgenommenen Änderungen nur zum Teil erledigt. So wurde zwar beim sexuellen Mißbrauch Widerstandsunfähiger - das ist der § 179 StGB - der für den Grundtatbestand völlig unangemessene Strafrahmen - Freiheitsstrafe oder Geldstrafe - auf eine Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten angehoben, so daß nun wenigstens die für derartige Vergehen völlig unangemessene Geldstrafe als Regelstrafe ausscheidet. Dennoch bleibt eine sachlich nur schwer zu rechtfertigende Diskrepanz zum Strafrahmen insbesondere des § 178 StGB - es handelt sich um die sexuelle Nötigung -, der eine Mindeststrafe von einem Jahr vorsieht, wenn die sexuelle Nötigung unter Ausnutzung einer hilflosen Lage des Opfers begangen wird.
Ich vermag nicht zu erkennen, daß das völlig hilflose Opfer, das nicht einmal einen entgegenstehenden Willen bilden oder einen solchen äußern kann, weniger schützenswert wäre oder daß der sexuelle Mißbrauch ein geringeres Unrecht als die sexuelle Nötigung ist, die im § 178 StGB behandelt wird. Die jetzt ausgewiesene, immer noch niedrigere Strafe erscheint in meinen Augen nicht gerechtfertigt.
Insbesondere aber finde ich ärgerlich, daß nach wie vor bei den §§ 174a und 174c StGB - diese regeln die ambulanten und stationären Betreuungs-
und Obhutsverhältnisse und die Therapieverhältnisse - neben Freiheitsstrafe immer noch Geldstrafe als Regelstrafe neben der Freiheitsstrafe vorgesehen ist, und zwar nicht etwa für einen minderschweren Fall oder dergleichen. Gerade dabei geht es doch um Menschen, die auf Grund einer Behinderung oder Krankheit in besonderem Maße des Schutzes vor sexuellen Übergriffen bedürfen.
Nicht aufgegriffen haben Sie unsere Vorschläge zur Verjährungsverlängerung bei derartigen Straftaten;
nicht aufgegriffen haben Sie das Problem, daß es bei Therapieverhältnissen auch noch für einen gewissen Zeitraum nach Beendigung der Therapie eines strafrechtlichen Schutzes bedarf.
Hier hätten wir Beratungsbedarf gehabt. Ich habe diesen Beratungsbedarf bei der ersten Lesung ausdrücklich angemeldet, aber der Zeitdruck, unter den Sie uns bei der Verabschiedung auch dieses Teils der Reform gestellt haben, hat dies alles nicht mehr zugelassen, so daß wir wahrscheinlich auf diesen Komplex auch noch einmal werden zurückkommen müssen.
Ich möchte nochmals feststellen, daß ich sehr unglücklich darüber bin, wie diese wichtigen Gesetzes vorhaben behandelt wurden, bei denen es um den Schutz von Kindern vor sexuellem Mißbrauch, um die Behandlung von Sexualstraftätern, um einen verbesserten Schutz von Zeugen im Strafverfahren und um die Änderung einer Vielzahl von Vorschriften im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches geht.
Sie, die Mehrheit in diesem Hause, haben uns - ich bleibe dabei - zu einem wahren Parforceritt durch die Paragraphen gezwungen. Eine der Bedeutung der zu regelnden Sachverhalte angemessene Beratung wurde jedenfalls uns, der Opposition, nicht ermöglicht.
Für das Ergebnis tragen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, die Verantwortung.
Sie haben uns kaum Gelegenheit gegeben, fachlich begründete Korrekturen anzubringen.
Allein zum 6. Strafrechtsreformgesetz haben wir in dem Versuch - die Grundstruktur war bei dem vorgegebenen Zeitablauf nicht mehr zu verändern -, wenigstens in Einzelpunkten noch Änderungen anzubringen, die, wie ich meine, alle gut begründet waren, 13 Anträge eingebracht; einen davon haben Sie mit Ihrer Mehrheit akzeptiert. Dieser betraf die Änderung bei § 226 StGB, weil es nun wirklich unerträglich war, daß bei den schweren Verletzungsfolgen zwar der Verlust der Empfängnisfähigkeit der Frau straferhöhend berücksichtigt worden wäre, nicht aber der Verlust der Gebärfähigkeit.
Wohlbegründete Einwände wurden regelmäßig von Ihnen damit abgetan, in der Koalition habe man darüber eingehend beraten und anders entschieden. Was Sie uns in den letzten zwei Wochen zugemutet haben, war - ich betone es noch einmal - alles andere als ein geordnetes Gesetzgebungsverfahren. Das Ergebnis dieses Verfahrens kann nicht befriedigen. Die Praktiker, die künftig mit diesem Gesetz umgehen müssen, werden Ihnen das auch bestätigen. Das ist für mich so sicher wie das Amen in der Kirche.
Sie reden ständig davon, daß die Justiz entlastet werden müsse, und schaffen gleichzeitig mit dieser Strafrechtsreform ein gigantisches Arbeitsbeschaffungsprogramm für die Strafgerichte.
Straftatbestände werden aufgebläht, ohne Not werden neue Begriffe eingeführt und beliebig verwen-
Erika Simm
det, Ungereimtheiten produziert und Fallen eingebaut, die Fehler geradezu provozieren.
- Ich bringe sie gleich.
Die Folge wird sein, daß die Gerichte zu sehr unterschiedlichen Auslegungen und Entscheidungen kommen und die Obergerichte lange damit beschäftigt sein werden, das aufzuarbeiten und zu einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung zu kommen.
Wir waren uns mit Ihnen durchaus einig, daß wir diese wichtigen Gesetzgebungsmaterien regeln wollten: Schutz der Kinder, Zeugenschutz, Harmonisierung im Strafrahmen. Ich finde es gut, daß wir beim sexuellen Mißbrauch von Kindern die Strafrahmen bei den schwereren Fallgestaltungen erhöht haben.
Aber bitte erklären Sie mir, warum der Vollzug des Beischlafes - das ist ein Tatbestandsmerkmal; da haben wir den alten Begriff beibehalten - oder die gemeinschaftliche Begehungsweise beim sexuellen Mißbrauch an Kindern nach § 176a StGB ein Qualifizierungsmerkmal und zwei Paragraphen weiter bei der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung ein Regelbeispiel für einen besonders schweren Fall ist. Ich vermag den Unterschied nicht zu erkennen. Die Rechtsprechung wird sich darüber den Kopf zerbrechen müssen.
Sie haben mit dem neuen § 176a im Strafgesetzbuch einen Rückfallparagraphen durch die Hintertüre wiedereingeführt, nachdem wir einen solchen 1985 glücklicherweise mit dem alten § 48 StGB abgeschafft hatten. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel, daß allein die Anwendung dieser Bestimmung Anlaß für unzählige Rechtsmittel sein wird.
Im Zusammenhang mit der Behandlung von Sexualstraftätern haben Sie darauf bestanden, die Voraussetzungen für die Strafaussetzung zur Bewährung und die Aussetzung von Maßregeln neu zu formulieren. Angeblich soll sich dadurch an dem Sinn des Gesetzes nichts ändern. Ich bin gespannt darauf, wie die Gerichte damit umgehen werden, und befürchte, daß das zu einer restriktiveren Handhabung bei Aussetzungen führen wird mit der Folge - dies betrifft gerade die Belastung der Länder mit dem Strafvollzug -, daß die Gefängnisse, die schon jetzt voll sind, künftig noch voller werden. Wenn dann im Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts steht: „Kosten der öffentlichen Haushalte: keine", dann ist festzustellen, daß den Ländern noch die Augen übergehen werden angesichts dessen, was da auf sie zukommt; denn höhere Strafen wirken sich kostenerhöhend aus.
Sie haben die Fristen für die Löschung der Daten von
Sexualstraftaten im Bundeszentralregister verlängert. Das ist im Prinzip in Ordnung. Es ist aber nicht in Ordnung, daß Sie die Daten eines Jugendlichen, der eine geringfügige Sexualstraftat unter Jugendlichen begangen hat, für 20 Jahre im Bundeszentralregister stehenlassen wollen und er mehr als zehn Jahre lang im polizeilichen Führungszeugnis diese Verurteilung mit sich herumschleppen muß, nur weil er zufällig noch andere Straftaten, die nichts mit dem Sexualstrafrecht zu tun haben, begangen hat und er zu einer Haftstrafe von beispielsweise 13 Monaten verurteilt worden ist.
Sie haben im 6. Strafrechtsreformgesetz mit Ihrer Mehrheit unser Anliegen, den strafrechtlichen Schutz der höchstpersönlichen Rechtsgüter wie Gesundheit und sexuelle Selbstbestimmung gegenüber dem Schutz von Eigentum und Vermögen zu stärken, durch eine allgemeine Strafschärfungsorgie - ich bleibe dabei, genau das ist es -
ad absurdum geführt. Die sowieso schon hohen Strafrahmen für Eigentums- und Vermögensdelikte wurden nicht nur beibehalten, sondern teilweise noch erhöht, während die Strafen für Sexual- und Körperverletzungsdelikte lediglich angehoben wurden.
Ich hatte den Eindruck, man verfährt nach dem Motto - Frau Präsidentin, ich bin gleich fertig -: Jeder, der hier im Rahmen einer Strafschärfung etwas einbringen möchte, kann das tun, soweit er der Koalition angehört. Zuvörderst hat Herr Geis als Sprachrohr der Bayerischen Staatsregierung
im Rechtsausschuß das durchgesetzt, was im Bundesrat nicht mehrheitsfähig war. Auch das, Herr Geis, kann ich Ihnen belegen.