Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich
Becker-Inglau, Ingrid SPD 13. 11. 97
Bindig, Rudolf SPD 13. 11. 97 *
Dr. Däubler-Gmelin, SPD 13. 11. 97
Herta
Dreßler, Rudolf SPD 13. 11. 97
Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 13. 11. 97
Hoffmann (Chemnitz), SPD 13. 11. 97
Jelena
Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 13. 11. 97
Hovermann, Eike SPD 13. 11. 97
Klose, Hans-Ulrich SPD 13. 11. 97
Kriedner, Arnulf CDU/CSU 13. 11. 97
Kurzhals, Christine SPD 13. 11. 97
Lehn, Waltraud SPD 13. 11. 97
Lotz, Erika SPD 13. 11. 97
Marx, Dorle SPD 13. 11. 97
Metzger, Oswald BÜNDNIS 13. 11. 97
90/DIE
GRÜNEN
Reschke, Otto SPD 13. 11. 97
Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 13. 11. 97
Schoppe, Waltraud BÜNDNIS 13. 11. 97
90/DIE
GRÜNEN
Schumann, Ilse SPD 13. 11. 97
Singer, Johannes SPD 13. 11. 97
Stübgen, Michael CDU/CSU 13. 11. 97
Terborg, Margitta SPD 13. 11. 97 *
Vosen, Josef SPD 13. 11. 97
*) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Rede
zu Tagesordnungspunkt 5
(a - Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes über die Festlegung
eines vorläufigen Wohnortes für Spätaussiedler,
b - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Bundesvertriebenengesetzes,
c - Antrag: Für eine integrative Aussiedlerpolitik,
d - Beschlußempfehlung zu dem Antrag:
Bericht des Beauftragten der Bundesregierung
für Aussiedlerfragen)
Ulla Jelpke (PDS): In nur zwei Wochen wird hier ein Gesetzentwurf durch die Gremien geprügelt, ohne daß eine parlamentarische Beratung stattfinden konnte, die diese Bezeichnung auch verdienen würde. Zudem wurde weder den Betroffenen noch
Anlagen zum Stenographischen Bericht
den Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden Gelegenheit gegeben, angehört zu werden. Der Evangelischen und Katholischen Kirche blieb nur die Möglichkeit, in eiligen Brandbriefen auf die Verfassungswidrigkeit und Verlogenheit des Gesetzentwurfes hinzuweisen.
Und warum diese Hektik? Nur weil die Bundesregierung die letzten zwei Jahre schlichtweg gepennt hat. Sie hatte übersehen, daß das Wohnortgesetz für Aussiedlerinnen und Aussiedler Ende diesen Jahres ersatzlos ausläuft. Und fünf Minuten vor Zwölf fällt es Ihnen wie Schuppen aus den Haaren - zu Lasten nicht nur der Rechte der Betroffenen, sondern auch der parlamentarischen Kontrolle.
Wir können diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Die PDS lehnt die Beschränkung der Freizügigkeit für Aussiedlerinnen und Aussiedler grundsätzlich ab. Wir fordern gleiche Rechte für alle Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben. Nicht nur aus dem Aussiedlergesetz, sondern auch aus dem Ausländer- und dem Asylverfahrensgesetz muß die Einschränkung der Freizügigkeit gestrichen werden.
Eine Kleine Anfrage meines Büros machte deutlich: die Bundesregierung verschließt die Augen davor, daß Aussiedlerinnen und Aussiedler immer öfter Ziel fremdenfeindlicher Überfälle werden. Diese unverhohlene Ignoranz der Bundesregierung ist nachvollziehbar. Hat doch die Bonner Politik zu dieser neuen Form des Rassismus maßgeblich beigetragen. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurden sie euphorisch begrüßt - unsere Blutsbrüder und -schwestern aus Osteuropa. Heute gelten diese Menschen als unerwünscht.
Aussiedlerinnen und Aussiedlern werden von Union und SPD faktisch zu Staatsangehörigen zweiter Klasse gemacht. Sie werden Sondergesetzen unterworfen, die immer zahlreicher werden. Dazu zählen nicht nur das heute zur Debatte stehende Wohnortgesetz, sondern auch die Kürzungen nach dem Fremdrentengesetz, die Absenkung von Eingliederungsgeld auf Eingliederungshilfe und die Kürzung von Sprachkursen. So wird Integration verhindert.
Aussiedlerinnen und Aussiedler werden zudem zwangsweise in Orte gewiesen, in denen - darauf weisen die Kirchen hin - oftmals Arbeitslosenraten von bis zu 40 % herrschen. Dort gibt es in der Regel zumeist keine angemessenen Wohnmöglichkeiten. Immer wieder werden Generationen von Aussiedlerinnen und Aussiedler notdürftig in einem Wohnraum zusammengepfercht.
Ausländerfeindliche Politik wird in Bonn konzipiert und in der Provinz nachvollzogen, sei es in Rostock oder wie jüngst in Gollwitz.
Die Bundesregierung - und leider auch die SPD - betrieb auch gegenüber den Spätaussiedlern eine systematische Politik der Abschreckung: Verelendung, Ausgrenzung und Rassismus fallen nicht vom Himmel. Sie sind Teil einer Strategie, die darauf abzielt, Spätaussiedler aus Deutschland rauszutreiben. Und diejenigen, die hierbleiben, sollen ruhig über die
Mißstände hierzulande nach Hause schreiben. Dann
bleiben vielleicht die Daheimgebliebenen in Rußland.
Und wozu das alles? Damit sich ein sichtlich nervöser Innenminister zurücklehnen und mit geschlossenen Augen mit einer „Beruhigung des Aussiedlerzuzugs" prahlen kann.
Anlage 3
Erklärung nach § 31
der Abgeordneten Christa Lörcher (SPD)
zur Abstimmung über den Entwurf
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
über die Festlegung eines vorläufigen Wohnortes
für Spätaussiedler
(Tagesordnungspunkt 1 a)
Ziel dieser gesetzlichen Regelung ist eine gleichmäßige Verteilung von Spätaussiedlern und Spätaussiedlerinnen auf das Bundesgebiet sowie eine gleichmäßige Inanspruchnahme von Ländern und Kommunen durch die Aufnahme und Ansiedlung von Spätaussiedlern und Spätaussiedlerinnen. Das Wohnungszuweisungsgesetz, zuletzt geändert zum 1. März 1996, hatte das gleiche Ziel; die Koppelung von Wohnortzuweisung mit dem Anspruch auf Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz und dem Arbeitsförderungsgesetz war auf zwei Jahre befristet.
Das Ziel einer möglichst gleichmäßigen Aufnahme von Spätaussiedlern und -aussiedlerinnen in Bundesländern, Kommunen und Wohngebieten, durch die eine Integration der Zugewanderten und ein gutes Zusammenleben aller erleichtert wird, teile ich ausdrücklich. Eine Verlängerung der auf zwei Jahre befristeten Maßnahmen halte ich allerdings für außerordentlich problematisch, und zwar aus folgenden Gründen: Die Wohnortzuweisung und die damit verbundenen Bedingungen sind ein Eingriff in die verfassungsmäßig verbürgten Rechte von Freizügigkeit, Art. 11 GG, und Benachteiligungsverbot, Art. 3 GG. Diese gesetzlichen Regelungen sind für die Betroffenen eine große Härte; die durch das Gesetz in ihrem Wohnort festgelegten Menschen haben sich in ihrer Lebensplanung auf das Auslaufen dieses Gesetzes im nächsten Jahr eingestellt. Die mit der neuerlichen Änderung vorgesehene Verlängerung dieser Maßnahmen ist ein Vertrauensbruch Gegenüber den zu uns gekommenen Menschen, die von diesen Regelungen betroffen sind, und denjenigen, die sich in der Betreuungs- und Beratungsarbeit mit Spätaussiedlern und Spätaussiedlerinnen auf das bisher gültige Gesetz verlassen haben.
Zum anderen bedauere ich, daß eine für die betroffenen Menschen so weitgehende gesetzliche Regelung verabschiedet werden soll ohne Anhörung und Einbeziehung der Betroffenen, ihrer Verbände und der zuständigen Wohlfahrtsorganisationen in den Entscheidungsprozeß. Dieses Verfahren halte ich für undemokratisch und nicht geeignet, das Vertrauen in unseren Staat zu stärken.
Aus den angeführten Gründen stimme ich dem oben genannten Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. nicht zu.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zu Tagesordnungspunkt 8
(Antrag: Störung des gesamtwirtschaftlichen
Gleichgewichts)
(Es folgen Reden 4/1 bis 4/5)
Karl Diller (SPD): Die SPD-Fraktion fordert mit dem vorgelegten Antrag den Bundestag auf, festzustellen, daß das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht im Sinne des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes gestört ist. Diese Feststellung ist notwendig, weil das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Art. 115 von 1989 ausdrücklich verlangt, daß das Parlament sich mit dieser Frage auseinandersetzt und einen entsprechenden Beschluß faßt, wenn die Kreditaufnahme die Summe der Investitionen übersteigen soll.
Die Bundesregierung hat mit der Vorlage des Entwurfs des Nachtragshaushalts diese Ausnahmeregelung zur Kreditaufnahme in Anspruch genommen und die Kreditaufnahme von 53,3 auf 71,2 Milliarden DM aufgestockt bei Investitionsausgaben von 59,1 Milliarden DM. Sie hat auch im Kleingedruckten, das heißt in der Begründung zum Haushaltsgesetz, dann dafür die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts reklamiert. Dies reicht nicht. Zum einen lassen wir es nicht im kleingedruckten durchgehen, daß die Bundesregierung so offensichtlich ihre Ziele und insbesondere ihre beschäftigungspolitischen Ziele verfehlt bzw. die Öffentlichkeit bewußt getäuscht hat. Zum anderen bedarf es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes eben schlicht des parlamentarischen Aktes der Beschlußfassung.
Die Bundesregierung hat das Eingeständnis der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts über Monate bewußt verschleppt. Schon bei der Aufstellung und Beschlußfassung zum Haushalt 1997 im Herbst vorigen Jahres wäre bei ehrlicher Veranschlagung dieses Eingeständnis fällig gewesen. Wir hatten schon damals den entsprechenden Antrag gestellt, den Sie von der Koalition wider besseres Wissen abgelehnt haben. Wir haben damals auch in einem Entschließungsantrag festgehalten, daß die Arbeitsmarktkosten eklatant zu niedrig angesetzt waren. Zur Erinnerung: Die Bundesregierung legte vor einem Jahr für 1997 eine durchschnittliche Arbeitslosenzahl von 3,95 Millionen zugrunde, und nun werden es etwa 4,4 Millionen DM, also fast 500 000 mehr. 500 000 mehr, obwohl das Wirtschaftswachstum, wie danach geplant, etwa 2,5 vom Hundert erreichen wird. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit gegenüber der Vorausschätzung der Bundesregierung ist mithin nicht konjunkturell bedingt, sondern liegt schlicht an den rosaroten Prognosen dieser Regierung.
Spätestens nach der Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts war ganz offensichtlich, daß der Haushalt nur noch Makulatur war und sich ein Finanzierungsloch von rund 20 Milliarden DM auftat. Wir haben gedrängt, endlich einen Nachtrag einzubringen, um der Entwicklung gegenzusteuern; aber die Regie-
rung hat in ihrer Halsstarrigkeit den Kopf in den Sand gesteckt und den Canossagang verweigert, bis ihr die Zahlungsunfähigkeit drohte. Dann erst hat sie sich zum Eingeständnis gezwungen gesehen, daß das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestört ist.
Aber lediglich formal die Störung festzustellen und dann ungeniert die Haushaltslöcher mit neuen Krediten zu stopfen geht nicht. Das entspricht nicht der Verfassung. Ihr bloßes Lippenbekenntnis ist kein Freibrief zur hemmungslosen Schuldenaufnahme, weil das Bundesverfassungsgericht die Überschreitung der Verschuldungsgrenze glasklar an eine Bedingung gebunden hat: Mit der Kreditaufnahme muß eine Politik umgesetzt werden, die geeignet ist, die Massenarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen. Da haben Sie nun wirklich aber überhaupt nichts vorzuweisen. Sie streichen im Gegenteil noch Arbeitsmarkthilfen und erhöhen durch diese Politik ganz unmittelbar die Arbeitslosenzahl. Ihr Nachtragshaushalt 1997 und Ihre Politik sind deshalb verfassungswidrig.
Die verhängnisvolle Beziehung dieses Finanzministers zur verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenze wird mehr und mehr zur traurigen unendlichen Geschichte: 1996 waren Aufstellung und Vollzug verfassungswidrig. Der Bundesrechnungshof hat dies jüngst erst festgestellt, und die SPD-Fraktion hat das Bundesverfassungsgericht zur Klärung angerufen. Zu 1997 habe ich gerade unsere Bewertung dargelegt. Der Haushalt 1998 wird, wenn er denn so von der Koalition verabschiedet wird, wie sie ihn im Haushaltsausschuß beschlossen hat, ebenfalls verfassungswidrig sein. Über 16 Milliarden DM des Investitionsvolumens sind nämlich mit Haushaltsvermerken belegt, die eine Deckungsfähigkeit für konsumtive Ausgaben, zum Beispiel für Personal, vorsehen. Damit sind sie keine eindeutigen Investitionen mehr. Die Nettokreditaufnahme für 1998 liegt deshalb weit über der Summe der eindeutigen Investitionen.
Außerdem ist 1998 die tatsächliche Neuverschuldung um rund 24 Milliarden DM höher als ausgewiesen infolge der Parklösungen für Telekom und Ausgleichsbank bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Schließlich sind die Privatisierungen in einem Volumen von 28 Milliarden DM nichts anderes als Desinvestitionen, die von der Summe der Investitionen abzusetzen sind, wenn die Investitionssumme als ökonomische Kategorie im Sinne des Art. 115 GG einen Sinn machen soll.
Und in den Jahren nach 1998, in der Finanzplanung bis 2001, geht der Konflikt der Bundesregierung mit der Verfassung unvermindert weiter, wenn sie denn an der Regierung bliebe. Die Hiobsbotschaften der Steuerschätzung, die Beitragsanhebung in der Rentenversicherung, die Absenkung des Solidaritätszuschlages haben nämlich die vorgelegte Finanzplanung völlig über den Haufen geworfen. Durch diese zusätzlichen Belastungen steigt das Finanzierungsdefizit 1999, 2000 und auch 2001 weit über die Summe der jeweils geplanten Investitionen. Deshalb muß die Bundesregierung mit einer Überarbeitung der Finanzplanung vor der Bundestagswahl den Bürgern sagen, wie sie durch Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen oder sonstige Maßnahmen die riesigen Löcher schließen will.
Nach den jetzigen Zahlen für die von der Bundesregierung vorgelegten Planungen ist die Feststellung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts jedenfalls nicht nur für dieses Jahr, sondern gleich für den gesamten Zeitraum bis 2001 fällig. Wir nehmen diesen Verfassungsverstoß nach wie vor sehr ernst, wie wir mit dem Gang nach Karlsruhe gezeigt haben, und werden weitere Schritte sorgfältig prüfen.
Gunnar Uldall (CDU/CSU): Mit ihrem Antrag und der beigefügten Begründung hat die SPD wieder einmal ihre hervorragenden Kenntnisse des Haushaltsrechts unter Beweis gestellt. Meinen Glückwunsch zu dieser herausragenden Leistung möchte ich jedoch verbinden mit dem Hinweis darauf, daß sie damit nichts Neues zu Papier gebracht hat. Die SPD hat vielmehr aus der Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung zum Nachtragshaushaltsgesetz 1997 - Drucksache 13/8199 - abgeschrieben. Es ist schon etwas merkwürdig, daß ein Antrag, der sich zur Zeit in der Ausschußberatung befindet, noch einmal in ähnlicher Form gestellt wird.
Wir alle wissen, daß nach Art. 115 des Grundgesetzes die Nettokreditaufnahme die Summe der im Haushalt veranschlagten Investitionen nur bei einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtsüberschreiten darf. Wir alle wissen ebenso, daß diese Ausnahmesituation 1997 gegeben war auf Grund der dramatischen Entwicklung am Arbeitsmarkt. Gerade deswegen sahen wir uns ja auch bereits bei den Haushaltsberatungen im September gezwungen, einen Nachtragshaushalt für 1997 einzubringen.
Der Nachtragshaushalt 1997 zeigt in dramatischer Weise, wie sehr der Bundeshaushalt dem Zangengriff der Konjunktur ausgesetzt ist. Die Eckwerte des Nachtragshaushalts 1997 werden durch Mehrbelastungen auf Grund von Steuermindereinnahmen und Arbeitsmarktaufwendungen von zusammen rund 30 Milliarden DM bestimmt. Noch im September 1997 gingen wir dabei von steuerlichen Einnahmeausfällen in Höhe von 9 Milliarden DM aus. Vor diesem Hintergrund haben wir im Nachtragshaushalt eine zusätzliche Neuverschuldung von 17,9 Milliarden DM beschlossen. Die gesamte Neuverschuldung steigt damit in 1997 auf 71,2 Milliarden DM und überschreitet somit die im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen um 12,1 Milliarden DM. Angesichts der negativen Arbeitsmarktlage ist die Überschreitung der verfassungsmäßigen Kreditgrenze wirtschaftlich begründet und politisch vertretbar.
Seit den letzten Haushaltsberatungen im September sind nun einige Wochen Verordnung vergangen und haben uns allen neue Erkenntnisse gebracht. So auch die neueste Steuerschätzung, deren Zahlen wir alle erst seit Dienstag nachmittag kennen. Die Zahlen bescheren allen Gebietskörperschaften - also Bund, Ländern und Gemeinden - weitere Steuerausfälle. Keiner der Betroffenen kann es sich leisten, diese Zahlen achselzuckend zur Kenntnis zu nehmen und nichts zu tun. Alle müssen handeln, um die Steuerausfälle im Haushalt 1997 aufzufangen. Was den Bund anbelangt, so hat Finanzminister Waigel am Dienstag bereits ein Finanzierungskonzept auf den Tisch gelegt, das nun noch in die weiteren Haus-
haltsberatungen einfließen wird. Mit diesem Finanzierungskonzept wird es uns sogar gelingen, trotz weiterer Steuerausfälle für den Bund in Höhe von 6,7 Milliarden DM die Nettokreditaufnahme auf dem Niveau von 71,2 Milliarden DM - wie im Nachtragshaushalt vorgesehen - zu belassen.
Die eingehenden Beratungen hierzu werden - wie Sie alle wissen - in der kommenden Sitzungswoche stattfinden. Vor diesem Hintergrund halte ich es für angebracht, heute den Antrag der SPD nicht abschließend zu beraten. Gerade im Lichte der neuen Steuerschätzungszahlen werden sich die Ausschüsse noch einmal damit beschäftigen müssen. Deshalb schlage ich heute vor, den Antrag der SPD an die Ausschüsse, nämlich den federführenden Wirtschaftsausschuß und den Haushaltsausschuß, zu überweisen.
Selbst wenn wir alle wissen, daß in diesem Jahr auf Grund der hohen Arbeitslosigkeit das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht - so wie es im Stabilitätsgesetz von 1967 formuliert ist - gestört ist, so würde die Annahme des Antrags heute und hier im Plenum gar nichts bringen. Mit dem vorgelegten Antrag demonstriert die SPD ihren bloß vordergründigen Aktionismus. Welche Folgen würden denn eintreten, wenn der Deutsche Bundestag heute feststellen würde: „Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ist gestört." Antwort: Keine!
Ich fordere die SPD dazu auf, keine Showanträge zu stellen, sondern in der nächsten Sitzung des Wirtschaftsausschusses konkrete Vorschläge auf den Tisch zu legen, wie zukünftig das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht besser gewahrt werden kann. Nur so macht dieses Thema Sinn, und deshalb muß dieser Antrag an den Wirtschaftsausschuß überwiesen werden.
Uns darf die Höhe der Arbeitslosigkeit nicht gleichgültig sein. Im Gegenteil: Wir müssen alles daran setzen, um mit geeigneten Reformmaßnahmen die notwendigen Voraussetzungen für mehr Arbeitsplätze am Standort Deutschland zu verwirklichen. Die Koalitionsfraktionen haben in den letzten Monaten hierzu umfangreiche Vorschläge auf den Tisch gelegt, die teils in Kraft treten konnten, teils aber auch an der Blockade der SPD im Bundesrat scheiterten.
Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Die Behandlung des Themas Arbeitslosigkeit als Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts wird dem Problem nicht gerecht und wirkt auf die Betroffenen wie ein Hohn. Die Arbeitslosen erwarten von uns nicht irgendwelche Feststellungen, sondern konkrete Handlungen. Machen Sie den Weg frei für Reformen im Steuer- und Sozialversicherungssystem. Nur so können wir den Arbeitslosen helfen und das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht wieder herstellen.
Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Noch am Freitag verkündet der SPD-Ministerpräsident Schröder - ganz Wilhelm II.: Zuerst das Land, dann die Partei. Heute müssen wir nun auf Wunsch der SPD den vorliegenden Antrag debattieren. So groß ist bei der SPD der Unterschied zwischen eigenem Anspruch und Wirklichkeit! Der Antrag zeigt, auf welchem Niveau die SPD zur Zeit Politik betreibt. Sie setzt auf Taktik statt auf Konzeption. Sie schreibt aus dem Entwurf des
Nachtragshaushaltsgesetzes 1997 der Koalition ab. Nun hofft sie, uns in die Zwickmühle zu bringen mit der Wahl, entweder ihrem SPD-Antrag zuzustimmen oder Teile unseres eigenen Gesetzentwurfes abzulehnen. Das ist sehr einfach gestrickt! Solche Mätzchen sind nicht vermittelbar, nicht hier in Bonn und nicht draußen bei den Wählern. Sie tragen zur Politikverdrossenheit bei.
Wir haben eine ausführliche Begründung vorgelegt, weshalb eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt und warum wir die verfassungsrechtliche Ausnahme des Artikels 115 für 1997 in Anspruch nehmen müssen: Die Entwicklung der Arbeitslosigkeit ist deutlich höher ausgefallen, als bei der Planaufstellung erwartet, und um eine gleichgewichtige Entwicklung von Wachstum und Beschäftigung zu fördern, müssen die unvorhergesehenen Zusatzausgaben für den Arbeitsmarkt sowie die steuerlichen Mindereinnahmen auch durch eine begrenzte Erhöhung der Kreditaufnahme getragen werden. Steuererhöhungen hätten die Störung auf dem Arbeitsmarkt weiter verschärft.
Daß diese Überlegungen der Koalition richtig waren, zeigen die ersten Prognosen für 1998. Das Wachstum wird sich mit zirka 3 % festigen. Auf dem Arbeitsmarkt zeichnet sich im Jahresverlauf eine Besserung ab.
Der SPD-Antrag geht auf die detaillierte Analyse der Koalition leider nicht ein. Er bleibt an der Oberfläche. Er zeigt daß die SPD die Argumentation der Koalition nicht verstanden hat - oder bewußt verkürzen will. Denn mit der Zustimmung zum SPD-Antrag wäre das Tor geöffnet, immer dann, wenn Arbeitslosenzahlen steigen, die Kreditaufnahme über die Investitionen steigen zu lassen. Genau dieses Tor öffnet der Koalitionsantrag aber nicht.
Die SPD will eine hemmungslose Kreditaufnahme. Das ist sicherlich im Sinne ihrer Pleiteländer Niedersachsen und Saarland. Es ist jedoch nicht im Sinne einer soliden Finanzpolitik für Deutschland.
Wir haben zum Nachtragshaushalt 1997 festgestellt, daß zur Stabilisierung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nur eine Verbesserung der Angebotsbedingungen in Frage kommt: die Senkung der Staatsquote, der Steuer- und Abgabenlast, die mittelfristige Rückführung der öffentlichen Defizite sowie strukturelle Reformen der sozialen Sicherungssysteme, des Arbeitsmarktes und des Steuersystems.
Der Antrag der SPD übernimmt diese wichtige Passage nicht. Warum, wenn Sie sonst schon bei uns abschreiben? Wie sieht denn Ihre Alternative zur Überwindung der hohen Arbeitslosigkeit aus?
Sie setzen auf Kaufkrafttheorie: Als wenn man sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen könnte! Der SPD-Vorsitzende Lafontaine empfiehlt kräftige Lohnsteigerungen: Das ist die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Das ist ein Investitionsprogramm für das Ausland. Wenn die SPD auf Nachfragepolitik setzt, verkennt sie die Realitäten hier und heute. Sie hat aus den 70er Jahren nichts gelernt. Leider ist der überwiegende Teil der Arbeitslosigkeit strukturell bedingt. Hier verweigert die SPD jedoch jede Antwort. Die SPD sollte nicht nur die
Minderheitsposition des DIW lesen. Die Mehrheit der Wissenschaft und der wirtschaftswissenschaftlichen Institute unterstützt die angebotspolitische Konzeption der Koalition. Wenn die SPD es ernsthaft meinte und an der Überwindung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts interessiert wäre, so sollte sie folgendes tun: Aufhebung der Blockade im Bundesrat, mit Einsparvorschlägen von 6 Milliarden DM, Zustimmung zur großen Steuerreform, Zustimmung zur Rentenreform, Zustimmung zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Aufforderung zur moderaten Lohnpolitik.
Tony Blair hat sich als wirtschaftspolitische Berater amerikanische Ökonomen geholt. Vielleicht sollte die SPD auch einmal weiter als nach Berlin schauen. Die glänzende Arbeitsmarktentwicklung in den USA ist ein Beleg, daß man mit Marktwirtschaft und Eigenverantwortung mehr erreicht als mit Sprücheklopferei.
Dr. Christa Luft (PDS): Für 1997 gibt die Bundesregierung nach langem Zaudern eine Störung des gesamtgesellschaftlichen Gleichgewichts zu. Sie spricht allerdings beschwichtigend von einer Ausnahmesituation.
Ich kann diese Einschätzung nicht nachvollziehen, denn 1996 hatten wir ebenfalls die Lage, daß die öffentlichen Investitionen die Nettokreditaufnahme sogar um über 17 Milliarden DM unterschritten.
Und auch im 98er Haushaltsentwurf ist der Keim für die Verfassungswidrigkeit bereits gelegt: Ein schmaler Puffer von rund 400 Millionen DM zwischen Investitionen und Neuverschuldung wird nach der ersten Haushaltssperre, die der Bundesfinanzminister gewiß im März/April nächsten Jahres verhängt, rasch aufgebraucht sein. Es kann doch nicht übersehen werden, daß die Massenarbeitslosigkeit andauert und das Wirtschaftswachstum im Osten vor sich hinkümmert, die Inlandsnachfrage bleibt gedämpft, die Pleitewelle rollt, die nächsten Steuerausfälle stehen ins Haus.
Die anhaltende Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist das unverkennbare Signal dafür, daß diese Koalitionsregierung die Staatsfinanzen völlig ruiniert hat. Der immer enger werdende finanzpolitische Spielraum ist insbesondere Folge der verfehlten, den neuen Bedingungen nicht angemessenen Beschäftigungs- und Steuerpolitik.
Den freien Fall der Staatsfinanzen werden Sie mit dem, was Sie sparen nennen, oder mit immer ausgeklügelteren Tricks der optischen Einnahmen und Ausgabereparatur nicht aufhalten. Sie müssen sich Zwecks spürbarer Beschäftigungsimpulse zu anderen Lösungen durchringen als zur Aufhebung des Ladenschlußgesetzes, der Lockerung des Kündigungsschutzes oder der Schaffung von Niedriglohnbereichen.
Wir brauchen öffentliche Investitionen, um die ökologische Wende und die Verkehrswende in diesem Lande einzuleiten und zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Höchste Zeit ist es, Finanzhilfen des Bundes und Steuervergünstigungen für Unternehmen an Beschäftigungswirkungen zu binden. Daß die Effekte verausgabter öffentlicher Gelder sich immer nur in privaten Gewinnen niederschlagen, die dann nicht einmal investiert werden, die Finanzierung der Arbeitslosen aber eine Aufgabe der öffentlichen Hand bleibt, ist ein untragbarer Zustand.
Stoppen Sie unverzüglich den gesellschaftlichen Unsinn, daß per üppiger Sonderabschreibungen im Osten am Bedarf vorbei weitere Bürowolkenkratzer und ausladende Gewerbeparks gebaut werden. Die öffentliche Hand finanziert hier private Leerstände. Für dringliche öffentliche Investitionen aber fehlt das Geld. Gerade in finanziell angespannten Zeiten darf das nicht so bleiben.
Das sind nur einige Vorschläge. Hören Sie auf, die katastrophalen Haushaltsdaten immer nur neu zu interpretieren. Leiten Sie eine dauerhafte Konsolidierung der Staatsfinanzen ein! Der Hauptweg läuft über Einnahmebescheinigungen und nicht über rigorose Ausgabenkürzungen im sozialen Bereich.
Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft: Der Antrag der SPD ist unnötig und überflüssig.
Wie so oft in der Vergangenheit geht es der SPD auch bei diesem Antrag offensichtlich allein um Effekthascherei und um selbstdeklarierten Vorwahlkampf.
Bereits in ihrem Entwurf zum Nachtragshaushalt hat die Bundesregierung eingehend begründet, daß im Jahr 1997 in der Tat eine Ausnahmesituation vorliegt, die eine Überschreitung der Kreditobergrenze nach Art. 115 GG notwendig macht. Dieser Entwurf wurde hier Anfang September ausführlich debattiert.
In unserer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Nachtragshaushalt 1997 Ende Oktober haben wir das nochmal sehr ausführlich dargelegt und begründet. Mittlerweile scheint dies ja auch die SPD zur Kenntnis genommen zu haben.
Die Ausnahmesituation des Jahres 1997 zeigt sich in der Tat - wie die SPD in ihrem Antrag ja auch ganz richtig bei der Bundesregierung abgeschrieben hat - in einer Entwicklung am Arbeitsmarkt, die aus unserer Sicht bedrückend und unakzeptabel ist. Daran will ich gar keinen Zweifel lassen.
Während jetzt, nach der letzten Schätzung der gesamtwirtschaftlichen Eckwerte, mit einer Arbeitslosenzahl von knapp 4,4 Millionen im Jahresdurchschnitt 1997 gerechnet werden muß, konnte noch bei der 3. Lesung des Bundeshaushalts im November 1996 von rd. 400 000 Arbeitslosen weniger ausgegangen werden. Dies entsprach im übrigen auch dem Prognoserahmen des Sachverständigenrats in seinem Jahresgutachten vom November 1996.
Um diesen unerwarteten und dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit nicht weiter zu verschärfen - etwa durch Steuererhöhungen -, haben wir uns im Nachtragshaushalt 1997 neben weiteren Privatisierungsmaßnahmen auch zu einer begrenzten Erhöhung der Nettokreditaufnahme entschlossen.
In dieser konjunkturellen Ausnahmesituation müssen wir den automatischen Stabilisatoren in den öffentlichen Haushalten Raum zum Wirken lassen. Um so eher können die starken außenwirtschaftlichen Impulse auf die Binnenwirtschaft durchschlagen.
Den Antrag der SPD kann ich nur so verstehen, daß auch sie dies für die richtige Entscheidung hält. Ich rechne insofern fest mit Ihrer Zustimmung zum Nachtragshaushalt 1997.
Gleichzeitig möchte ich aber unterstreichen: Eine dauerhafte Reduzierung der Arbeitslosigkeit ist nur über grundlegende strukturelle Reformen zu erreichen. Reformen auf dem Arbeitsmarkt, bei den sozialen Sicherungssystemen und vor allem im Steuersystem.
Ohne eine durchgreifende Verbesserung der Investitionsbedingungen in Deutschland führt kein Weg aus dem Dilemma am Arbeitsmarkt. Hier setzt die Bundesregierung an, und das ist auch der Ansatz, der von den meisten in- und ausländischen Wirtschaftsexperten gefordert und unterstützt wird. Allerdings bislang nicht von der SPD. Ihre Ablehnung der Steuerreform hat gezeigt, daß es Ihnen tatsächlich nicht ernst mit durchgreifenden Verbesserungen am deutschen Arbeitsmarkt ist.
Der jetzige Antrag reiht sich da ein. Es zeigt wenig Phantasie, einen unbefriedigenden Zustand mit durchsichtigen politischen Motiven einfach festzustellen.
Es würde von Verantwortungsbewußtsein sprechen, an der Beseitigung ebendieses Zustandes mitzuarbeiten. Auch im Rahmen der laufenden Haushaltsberatungen wird für die SPD nochmals Gelegenheit dazu sein. In diesen Zusammenhang gehört auch die Debatte über Art. 115.
Ich bitte daher, den Antrag der SPD abzulehnen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zu Tagesordnungspunkt 11
(Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes
- Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung)
Norbert Röttgen (CDU/CSU): Sich für den Tierschutz einzusetzen ist nicht nur sympathisch, sondern notwendig. Die CDU/CSU-Fraktion mißt dem Tierschutz eine hohe politische Bedeutung sowie eine ethische Dimension zu. Der Tierschutz gehört zu einer humanen Gesellschaft. Für uns Christen gehören die Tiere zur Schöpfung Gottes. Sie haben darum eine eigene Würde. Der Mensch, das vernunftbegabte Wesen der Schöpfung, hat die Verantwortung, die Tiere ihrer Art und Würde entsprechend zu behandeln.
Gerade wegen der hohen Bedeutung des Tierschutzes steht das Parlament in der Verantwortung, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Die Frage, was zu den geeigneten Maßnahmen zählt, ist dabei keine Frage des guten Willens, sondern nüchterner rationaler Bewertung. Die Novelle des Tierschutzgesetzes, die derzeit im Parlament beraten und bald verabschiedet werden wird, zählt zu den geeigneten Maßnahmen. Das hohe Schutzniveau, das unser Tierschutzgesetz bereits heute aufweist, wird durch diese Novelle erweitert und nochmals gesteigert.
Dagegen läßt sich die Aufnahme des Tierschutzes als weitgefaßte Staatszielbestimmung in das Grundgesetz zwar politisch gut vermarkten, sie bringt aber keinen Fortschritt für das Anliegen des Tierschutzes. Warum ist das so? Auszugehen ist dabei von der bisherigen Rechtslage. Wie ich bereits ausgeführt habe, weist unser Tierschutzgesetz ein sehr hohes Schutzniveau auf. So lautet § 1 gleichsam als Generalnorm des Tierschutzgesetzes: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen."
Diese allgemeine Norm wird etwa in § 7 des Tierschutzgesetzes für den Bereich der Tierversuche konkretisiert. Diese Bestimmung definiert legitime Zwecke, zu deren Verfolgung Tierversuche überhaupt nur durchgeführt werden dürfen. Weiterhin ist der wissenschaftlich begründete Nachweis der Unerläßlichkeit der Tierversuche sowie ihre ethische Vertretbarkeit zu belegen. Für den Fall, daß diese Tierschutzbestimmungen in Kollision mit dem Grundrecht der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit geraten, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß das Tierschutzrecht im Lichte der Verfassung auszulegen ist.
Mehr wird für den Tierschutz auch nicht durch die Aufnahme eines weitgefaßten Staatsziels erreicht. Dies liegt an einer doppelten Schwäche der vorgeschlagenen Staatszielbestimmungen. Zum einen stehen diese Staatszielbestimmungen unter einem Ausgestaltungsvorbehalt des Gesetzgebers. Dies bedeutet, daß das, was genau unter Tierschutz zu verstehen ist, wie weit er reicht, wie die Abwägungskonflikte zu lösen sind, wie bisher durch den einfachen Parlamentsgesetzgeber zu entscheiden sein wird.
Außerdem besteht auch innerhalb des Grundgesetzes eine Normenhierarchie. Ein weitgefaßtes Staatsziel ist nicht in der Lage, das in Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes gewährte Individualgrundrecht der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit zu beeinträchtigen. Eine Abwägung beider Rechtsgüter auf gleicher Ebene kann deshalb nicht stattfinden. Die Befürworter des Staatsziels Tierschutz müssen sich deshalb - soweit sie die Rechtslage durchschauen - vorhalten lassen, daß es sich hierbei um eine politische Werbekampagne mit rechtlicher Folgenlosigkeit handelt.
Wir sind der Auffassung, daß dies kein angemessener Umgang mit dem Tierschutz ist. Wir sind dagegen entschlossen, die weiterhin noch vorhandenen Defizite im Tierschutz - diese sollen hier überhaupt nicht in Abrede gestellt werden - weiter abzubauen. Diese Defizite liegen etwa im Bereich des Tiertransportes, insbesondere wenn sie durch ausländische Unternehmen von außerhalb der Europäischen Union durchgeführt werden, sowie auch im Bereich der Massentierhaltung.
Aber in keinem der Fälle, in denen wir Defizite des Tierschutzes beklagen müssen, hindert uns unsere Verfassung daran, etwas für den Tierschutz zu tun. Die Probleme haben vielmehr zwei andere Ursachen. Zum einen stoßen wir an die Grenze des internatio-
nalen Rechts bei dem Bemühen, Unternehmen aus Ländern von außerhalb der Europäischen Union für den Tiertransport durch Deutschland Vorgaben zu machen. Allerdings ist gerade auf diesem Feld durch die jüngste Tiertransportrichtlinie der Europäischen Union schon ein erheblicher Fortschritt erzielt worden, den wir mit der anstehenden Tierschutzgesetznovelle in deutsches Recht umsetzen.
Zum anderen können wir uns gerade auch unter dem Gesichtspunkt des Tierschutzes nationale Alleingänge auch deshalb nicht leisten, weil dann Verlagerungen von Unternehmen in das Ausland zu befürchten sind, wo die deutschen Tierschutzstandards bei weitem nicht erreicht werden.
Die Aufgabe eines effektiven Tierschutzes liegt also darin, unserem hohen deutschen Tierschutzniveau möglichst breite internationale Anerkennung zu verschaffen. Insbesondere der Prozeß der europäischen Rechtsangleichung hat hier besondere Bedeutung, und hier sind auch Fortschritte zu verzeichnen, für die sich insbesondere auch der deutsche Landwirtschaftsminister beharrlich einsetzt.
Neben der Wirkungslosigkeit eines Staatsziels Tierschutz gibt es aber noch einen zweiten Grund, warum die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein solches Staatsziel ablehnt. Dieser Grund liegt in unserer Verfassungs- und Rechtskultur. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben nicht viel von weitgefaßten Staatszielen und politischen Programmsätzen in unserer Verfassung gehalten. Das Grundgesetz hat sich vielmehr darauf beschränkt, den Bürgerinnen und Bürgern konkrete Rechte zu gewähren, statt politische Versprechungen zu machen. So ist das Grundgesetz eine Verfassung, die hält, was sie verspricht.
In dieser ausgeprägten Zurückhaltung gegenüber politischen Staatszielen steckt ein tieferer demokratischer Sinn. Je mehr politische Vorgaben eine Verfassung macht, desto mehr wird der demokratisch-parlamentarischen Auseinandersetzung und Willensbildung entzogen. Die Verlagerung genuin politischer Fragen in das Verfassungsrecht führt über den Weg der Verrechtlichung zu einer Auszehrung des Parlamentes. Es kommt auf diese Weise zu einer Verrechtlichung der Politik und zu einer Politisierung des Rechts, insbesondere des Verfassungsrechts.
Dies ist kein guter Trend leider gerade auch in der jüngeren Verfassungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland, der auch von der Fachwelt äußerst kritisch beurteilt wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, daß politische Fragen - und um eine solche handelt es sich bei aller grundsätzlichen Bedeutung beim Tierschutz - ins Parlament gehören und nicht vor Gericht.
Marianne Klappert (SPD): Die SPD-Bundestagsfraktion hält Ihr Versprechen. Nachdem in der letzten Legislaturperiode die Aufnahme eines Staatszieles Tierschutz in die Verfassung an der Blockadehaltung der CDU/CSU-Fraktion gescheitert ist, haben wir angekündigt, in der 13. Legislaturperiode einen erneuten Anlauf zu diesem Staatsziel zu unternehmen. Das haben wir mit der Einbringung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Grundgesetzes getan. Und ich freue mich, daß andere Fraktionen bzw.
Gruppen dieses Hauses ebenfalls Entwürfe eingebracht haben, auch wenn ich mich mit ihnen nicht in allen Teilen anfreunden kann. Darüber hinaus befaßt sich auch der Bundesrat zur Zeit mit einer Gesetzesinitiative des Landes Rheinland-Pfalz zur Aufnahme des Tierschutzes in die Bundesverfassung.
Zumindest diese Initiatoren haben ein Ohr für die Anliegen des größten Teiles unserer Bevölkerung. Und sie haben in dieser Frage die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, haben mit Ihrer ablehnenden Haltung diese Mehrheit nicht. Bei ihrer ansonsten aber sehr ausgeprägten Fähigkeit, auf fahrende Züge aufzuspringen, sollte Ihnen das auch in diesem Falle möglich sein. Wir von der SPD-Fraktion sind gerne bereit, Ihnen dazu ausdrücklich die Hand zu reichen, damit wir Sie auf diesen Zug ziehen können und Sie den Anschluß nicht verlieren.
Natürlich weiß ich so gut wie Sie, daß wir ohne Ihre Zustimmung die nötige Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung nicht erreichen werden. Natürlich weiß ich so gut wie sie, daß unsere Initiative ohne Ihre Teilhabe hinsichtlich des Gesetzgebungsvorgangs ins Leere laufen muß. Ich sage: hinsichtlich des Gesetzgebungsvorganges. In politischer Hinsicht wird unsere Initiative ein Erfolg sein, weil sie nämlich am Bürgerwillen orientiert ist.
Daß die verfassungsrechtliche Absicherung des Tierschutzes überfällig ist, wird nicht nur durch eine Forsa-Umfrage von 1993, wonach 84 Prozent aller Deutschen die Festschreibung des Tierschutzes in der Verfassung wünschen, sondern auch durch eine Reihe von Gerichtsurteilen aus der jüngsten Zeit belegt, in denen der Tierschutz hinter vorbehaltlos gewährten Grundrechten zurückstehen mußte.
So hat zum Beispiel der Hessische Verwaltungsgerichtshof 1993 kurz und bündig entschieden, daß die Postulate eines ethischen Tierschutzes bis heute keinen Verfassungsrang haben und daher keine immanente Schranke für die Lehrfreiheit im Sinne des Art. 5 Abs. 3 GG bilden.
In ähnlicher Weise hat das Verwaltungsgericht Berlin in einem Vorlagebeschluß zum Bundesverfassungsgericht die seines Erachtens gegebene verfassungsrechtliche Nachrangigkeit des Tierschutzes gegenüber den sogenannten vorbehaltslosen Grundrechten, also gegenüber der Forschungs- und Lehrfreiheit, der Kunstfreiheit, der Religionsfreiheit, begründet. Das unterstreicht nachdrücklich den Handlungsbedarf für den Grundgesetzgeber.
Dabei geht es gar nicht darum, den Tieren Vorrang vor den Menschen einzuräumen. Es geht auch nicht darum, die notwendige - im Wortsinne Not-wendige - Tiernutzung unmöglich zu machen. Es geht vielmehr darum, so etwas wie Waffengleichheit zwischen den Interessen der Menschen und denen der Tiere herzustellen.
Das gern gebrauchte Argument von Wisssenschaftlern und Industrie, daß mit einem solchen Staatsziel der Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland in Gefahr gerate, daß Forscher und Forschungsprojekte massenweise ins Ausland abwandern würden, bleibt bislang unbelegt. In der
Schweiz, in der der Tierschutz seit 1992 Verfassungsrang hat, haben sich keinerlei Fluchtströme von Wissenschaftlern und Forschungsvorhaben bemerkbar gemacht. Mir scheint, daß dieses Argument ebenso gern gebraucht wie fadenscheinig ist.
Im übrigen will ich darauf hinweisen, daß die gebetsmühlenhaft gebrauchte Befürchtung, daß Tierversuche zum Beispiel durch ein Staatsziel Tierschutz nahezu unmöglich und somit Menschenleben in Gefahr gebracht würden, nach meinem Verständnis so nicht stimmt.
Art. 1 des Grundgesetzes, der die Unantastbarkeit der Menschenwürde garantiert, gehört zu den sogenannten Ewigkeitsrechten. Deshalb würde also bei einer Abwägung zwischen dem Tierschutz und dem unter Umständen nur durch einen Tierversuch zu erreichenden Menschenschutz die Entscheidung immer zugunsten des Menschen ausgehen. Mit einem Staatsziel Tierschutz wird kein einziges Schutzrecht der Menschen aufgehoben. Nur wird die Auseinandersetzung auf die gleiche Ebene gehoben: Sie findet im Verfassungsrecht statt und nicht zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht.
Ich betone es noch einmal: Nach meinem Rechtsverständnis wird das Schutzrecht des Menschen, werden die Menschenrechte immer höherrangig sein als irgendwelche Tierrechte. Eine Gleichrangigkeit ist nicht gewollt, und sie ist auch nicht möglich. Aber „höherrangig", das impliziert eben auch, daß Tiere einen Rang haben, daß sie nicht ohne Rang sind. Welchen Sinn sollte sonst die Formulierung im Tierschutzgesetz von der Mitgeschöpflichkeit der Tiere haben? Durch ein Staatsziel Tierschutz werden unter Umständen die Rechte der Menschen eingeschränkt, aber sie werden nicht entwertet. Die Polarität - hier Mensch, dort Tier - bleibt gewahrt.
Wenn wir aber das Wort von der Mitgeschöpflichkeit des Tieres ernst nehmen und - vor allem - damit Ernst machen wollen, dann geht das wirksam nur über ein Staatsziel Tierschutz. Eine Einschränkung von Grundrechten ist nur möglich durch Rechtsgüter mit Verfassungsrang.
Ich wiederhole es noch einmal: Es geht nicht um eine Entwertung von Menschenrechten, es geht lediglich um die Einschränkung von Grundrechten da, wo es um der Mitgeschöpflichkeit des Tieres willen geboten ist.
Das Thema ist ein Politikum von hohem Rang; darüber sind sich alle Mitglieder dieses Hauses einig. Die Bevölkerung ist durch die intensive Medienberichterstattung über unvertretbare Methoden in der Tierhaltung, bei Tiertransporten, bei Tierexperimenten etc. hochgradig sensibilisiert. Der Tierschutz ist zu einer Sache unserer Humanität geworden, zu einer Anfrage an unser politisch-moralisches Selbstverständnis. Der Tierschutz ist eine Aufgabe, der sich unsere Gesellschaft mit Verfassungsrang annehmen muß.
Art. 20a des Grundgesetzes reicht dazu aber nicht aus. Das Staatsziel Umweltschutz bewirkt allenfalls einen sogenannten minimalen Tierschutz, insoweit er sich aus der Pflicht zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen herleiten läßt.
Gerade in den kritischen Bereichen, in denen ein verfassungsrechtlich festgeschriebener Tierschutz dringend geboten ist, etwa bei der Intensivtierhaltung, bei den Tiertransporten, beim Tierhandel und bei Forschung und Lehre, hat das Staatsziel Umweltschutz kaum eine Verbesserung für den Tierschutz gebracht. Das ist auch kein Wunder. Denn - so ein Jurist - „die Rechtsprechung verlangt, daß ,Tierschutz' gesagt wird, wenn Tierschutz gemeint ist".
So hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil vom 18. Juni 1997 wörtlich ausgeführt: „Der Tierschutz hat aber keinen Verfassungsrang, so daß er nicht als eine mit der Lehrfreiheit kollidierende Grundrechtsnorm in die Lösung des verfassungsrechtlichen Spannungsverhältnisses einzubeziehen ist. Eine entsprechende Rechtsposition kann weder aus Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde), Art. 2 Abs. 1 GG (Sittengesetz) noch aus Art. 20a GG... hergeleitet werden. "
Es geht uns mit einem expliziten Staatsziel Tierschutz eben darum, dem einzelnen Tier im Abwägungsprozeß zwischen den Interessen des Menschen und denen des Tieres einen verfassungsrechtlichen Rang einzuräumen - dem einzelnen Tier, nicht der Gattung Tier als natürlicher Lebensgrundlage.
Wer den Bürgern und Bürgerinnen weismachen will, mit dem Staatsziel Umweltschutz sei der Tierschutz auch erfaßt, spiegelt ihnen vor, daß er die Tiere grundgesetzlich geschützt habe. Mit dem Staatsziel Umweltschutz ist für das Tier nichts gewonnen. Deswegen bestehen wir auf einem eigenen Staatsziel für den Tierschutz.
Und das von uns beantragte Staatsziel hat folgenden Wortlaut: „Tiere werden als Mitgeschöpfe geachtet. Sie werden vor nicht artgemäßer Haltung, vermeidbaren Leiden und in ihren Lebensräumen geschützt."
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn Ihnen schon - wofür ich ein gewisses Verständnis habe - eine SPD-Initiative nicht sonderlich sympathisch ist, dann müßten Ihnen aber doch die auch in CDU/CSU-geführten Bundesländern - ich nenne hier Sachsen, Thüringen, Bayern, BadenWürttemberg - schon existierenden oder geplanten Staatszielbestimmungen zum Tierschutz die Zustimmung zu unserer Initiative erleichtern. Es besteht offensichtlich doch ein hoher verfassungsrechtlicher Konsens in dieser Frage, dem sich nur die CDU/ CSU-Fraktion beharrlich entzieht. Gestern hat auch der Landtag Niedersachsens einstimmig den Tierschutz in die Landesverfassung aufgenommen.
Oder sollten Sie sich etwa auf diesen Länderregelungen ausruhen wollen? Sollten Sie der Ansicht sein, daß damit der Bevölkerung suggeriert werden könnte, es täte sich ja etwas in punkto verfassungsrechtlicher Absicherung des Tierschutzes? Da sollten Sie sich aber besser keiner Selbsttäuschung hingeben. Viele Bürgerinnen und Bürger wissen sehr gut, daß es mit der rechtlichen Erheblichkeit solcher Tierschutzklauseln in Landesverfassungen nicht weit her ist.
Es führt kein Weg daran vorbei: Wer einen effektiven Tierschutz in Deutschland will, muß auch die
Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz wollen. Im übrigen wird ja selbst in Ihrer eigenen Fraktion erkannt, daß man nicht einerseits der Aufnahme des Tierschutzes in die Europäischen Verträge zustimmen, auf nationaler Ebene aber einer Grundgesetzänderung nach wie vor ablehnend gegenüberstehen kann. So jedenfalls hat es der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im März dieses Jahres in einem Schreiben geäußert. Wie will man denn auch allen Ernstes auf der Ebene der EU weitergehende Initiativen ergreifen, wenn man in seinem eigenen Land die Hausaufgaben nicht gemacht hat?
Ich hoffe sehr, daß sich auf seiten der CDU/CSU- Fraktion in dieser Frage doch noch etwas bewegt. Mich wundert allerdings, daß von seiten der F.D.P. bis jetzt kein eigener Gesetzentwurf vorgelegt worden ist, mußten wir doch nach den Initiativen des Kollegen Hirsch fast sicher davon ausgehen, daß die F.D.P. einem Staatsziel Tierschutz positiv gegenübersteht. Ich bin jedenfalls sehr gespannt darauf, wie sich die Kollegen von der F.D.P. in der Beratung und Abstimmung der verschiedenen Entwürfe verhalten werden. Der Kollege Bredehorn hat sogar in einer Presseerklärung vom 26. September dieses Jahres behauptet, die F.D.P. habe nun auch die Agrarpolitiker der CDU/CSU-Fraktion in der Frage des Verfassungsranges für den Tierschutz auf ihre Seite ziehen können. Mal sehen, wer sich da auf welcher Seite wiederfinden läßt.
Lassen Sie uns in die anstehenden Ausschußberatungen mit der erklärten Absicht gehen, den Willen des überwiegenden Teiles der Bevölkerung zu respektieren und ihn in Form einer Staatszielbestimmung umzusetzen. Unser Vorschlag bietet dazu eine gute Grundlage. Soll der vielversprechende Satz in § 1 des Tierschutzgesetzes, in dem es heißt, daß es Zweck dieses Gesetzes sei, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen, nicht nahezu wirkungslos verpuffen, dann muß der Tierschutz endlich im Grundgesetz verankert werden. Machen Sie dabei mit.
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Grundgesetzänderungen zur Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung ist eine rechtliche Notwendigkeit. Der einfachgesetzliche Tierschutz stößt dort an die Grenzen seines Auftrages, wo er mit den Grundrechten der Forschungs-, Berufs-, Religions-
oder Kunstfreiheit kollidiert. Die im Tierschutzgesetz geforderte Abwägung zwischen Tierschutz und anderen Rechten kann somit nicht stattfinden. Ebenso kann der Anspruch des Tierschutzgesetzes „Tiere als Mitgeschöpfe" zu betrachten, in der gesellschaftlichen Praxis durch die Nichtvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nicht erfüllt werden. Aus diesem Grunde haben wir im Juli unseren Antrag zum Tierschutz in die Verfassung in den Bundestag eingebracht. Dabei haben wir uns für die folgende Gesetzesformulierung „Tiere werden als Mitgeschöpfe um ihrer selbst willen geachtet und geschützt" entschieden.
Die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung trägt dem veränderten Bewußtsein in unserer Gesellschaft in ihrer Haltung gegenüber Tieren Rechnung und ist auch aus rechtsharmonisierenden Gründen dringend geboten. In den Bundesländern Brandenburg, Thüringen, Sachsen, Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Berlin ist der Tierschutz bereits eindeutig in den Landesverfassungen verankert bzw. beschlossen worden. Aus diesen Aktivitäten ergibt sich eine uneinheitliche Rechtslage, die Rechtsunsicherheit schafft und in Widerspruch zu dem Mindestgebot an Homogenität innerhalb der bundesstaatlichen Ordnung steht. Der Bundestag darf dieses schwerwiegende Wertgefälle und die damit verbundene Rechtsunsicherheit aus rechtlichen und verfassungsrechtlichen Gründen nicht fortbestehen lassen. Die Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung ist daher zwingend geboten. In die gleiche Richtung zielt auch der von Rheinland-Pfalz im September in den Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes.
Gegen die Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung wird von den Gegnern angeführt, daß diese zu erheblichen Beeinträchtigungen der Freiheit von Forschung und Wissenschaft führen wird. Diese Befürchtung ist unzutreffend, denn die Verankerung des Tierschutzes in der Verfassung als Staatszielbestimmung bedeutet, daß Tierversuche nur dann erheblich eingeschränkt bzw. ganz verboten werden können, wenn das Verfassungsgut Tierschutz gegenüber dem Grundrecht der Freiheit der Forschung überwiegt. Die dadurch ermöglichte Einschränkung von Tierversuchen führt unserer Einschätzung nach nicht zu einer Beeinträchtigung von Forschung und Wissenschaft, zumal viele Tierversuche durch anerkannte Alternativmethoden überflüssig sind.
Die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung will weder die Nutzung der Tiere noch Tierversuche gänzlich ausschließen oder verbieten, sondern einen wirklich wirksamen Tierschutz durchsetzen. Angesichts stark erweiterter Möglichkeiten der Wissenschaft, wie zum Beispiel der Anwendung von Klonierungsverfahren, ist eine Verstärkung der ethischen Abwägungsanforderungen notwendig. In der gewerblichen Tierhaltung und der Landwirtschaft kann die Verbesserung der Umsetzungsfähigkeit geltender Gesetze den Standard des Tierschutzes verbessern und die Wettbewerbssituation von Betrieben stärken, die bereits artgerechte Tierhaltung praktizieren. Da die Tiere selbst nicht in der Lage sind, die ihnen im Rahmen der gesetzlichen Umsetzung der Staatszielbestimmung zuerkannten Rechte geltend zu machen, fordern wird die Einführung einer Verbandsklage durch anzuerkennende Verbände.
Die Bundesregierung hat sich selbst in eine politische Zwangslage gebracht, denn sie befindet sich im Widerspruch zu ihrem eigenen Handeln. Auf der einen Seite erfüllt das geltende Tierschutzgesetz nicht den ihm zugedachten Auftrag und auf der anderen Seite schaffen immer mehr Bundesländer - mit CDU- Regierungen - Tatsachen, indem sie den Tierschutz in den Landesverfassungen definieren.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD, PDS und F.D.P. und zahlreiche Bundesländer setzen sich inzwischen für eine Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung ein. Damit sind erhebliche Erwartungen der Bevölkerung an die Bundesregierung gerichtet. Mit
einer Verweigerung der Zustimmung zur vorliegenden Grundgesetzänderung stellt sich die CDU selbst ins absolute Abseits und beugt sich den Lobbyisten der Pharmaindustrie. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordern daher die CDU auf, ihre Ablehnungsverhalten aufzugeben und den massiven Forderungen und dem Willen der Bevölkerung Rechnung zu tragen, indem sie der Grundgesetzänderung zustimmt.
Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Die F.D.P.-Fraktion ist für die Aufnahme des Tierschutzes in unsere Verfassung. Das ist für uns nicht nur eine juristische oder verfassungsrechtliche Frage, sondern eine Frage des Herzens und unserer Grundeinstellung. Tiere sind nicht die Untertanen des Menschen, sie sind keine beliebige Verfügungsmasse, es sind nicht bewegliche Gegenstände, sondern sie sind, ebenso wie der Mensch selbst, ein Teil der Schöpfung und in ihrem Schicksal dem Menschen seit Anbeginn verbunden.
Wir haben ihnen gegenüber eine besondere Verantwortung, und das sollte in unserer Verfassung ebenso zum Ausdruck kommen, wie das inzwischen in den Verfassungen der Länder Sachsen, Brandenburg, Thüringen, Berlin, Bayern und in Kürze auch in Baden-Württemberg schon der Fall ist. In diesen Ländern haben die Fraktionen aller Parteien zusammengewirkt.
Der Bundesgesetzgeber hat schon 1990 auf Betreiben des damaligen Justizministers Engelhardt im Bürgerlichen Gesetzbuch formuliert, daß Tiere keine Sachen sind und durch besondere Gesetze geschützt werden. Wir haben dann in der Gemeinsamen Verfassungsreformkommission des Bundes und der Länder 1992 den Antrag eingebracht, in der Verfassung zu formulieren, daß Tiere im Rahmen der Gesetze vor vermeidbaren Leiden und Schäden geschützt werden müssen. Mit diesem Antrag haben wir die absolute Mehrheit der Kommission gefunden.
Leider bemühen wir uns seit damals vergeblich, für diese Verfassungsänderung auch die Zustimmung unseres Koalitionspartners zu gewinnen. Immerhin hat der Bundestag damals in einer gemeinsamen Entschließung festgestellt, daß seiner Meinung nach der Tierschutz ein Teil des Umweltschutzes sei. Die Rechtsprechung ist dem aber nicht gefolgt. Damit entsteht das Bedürfnis, nun zu vollenden, was wir gemeinsam angefangen haben.
Dazu werden wir durch einen Antrag nach § 71 Abs. 2 der Geschäftsordnung unsere Vorstellungen erneut zur Abstimmung stellen. Es geht uns nicht darum, etwa den Tierschutz zu verabsolutieren oder die Interessen des Tierschutzes über die berechtigten Interessen der Menschen zu stellen. Aber es muß erreicht werden - wie es auch der Bundesrat gefordert hat -, daß die Gedanken des Tierschutzes in einen fairen Abwägungsprozeß mit anderen verfassungsrechtlichen Zielsetzungen einbezogen werden wie die Gewerbefreiheit oder die Freiheit von Forschung und Lehre.
Kein Recht, kein Grundsatz gilt uneingeschränkt. Jeder Gedanke stirbt an seiner Übertreibung. Aber es kommt darauf an, den Abwägungsprozeß zu sichern, an dem auch Tiere als unsere Mitgeschöpfe einen fairen Anteil haben müssen. Da gibt es Unterschiede in Formulierungen, da gibt es Schwierigkeiten aus der Tatsache, daß die Bedeutung von Tieren für Umwelt und Menschen ganz unterschiedlich sind und auch die Zuneigung des Menschen zu ihnen. Alles das sind Dinge, die im Ausschuß behandelt werden müssen. Hier kommt es darauf an, insbesondere an unsere Kollegen aus der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union zu appellieren, daß auch sie sich dem Ziel öffnen, zu dem sich die Kollegen aus allen Fraktionen der Parlamente des Bundes und der Länder vereinigt haben und in denen sich auch alle anderen Fraktionen dieses Hauses einig sind: den Tierschutz in unserer Verfassung als ein Gebot der Menschlichkeit zu verankern.
Eva Bulling-Schröter (PDS): Eigentlich finde ich es beschämend, daß wir hier in diesem Hause lange über das Thema verhandeln müssen; denn es spricht kein vernünftiges Argument dafür, den Tierschutz nicht ins Grundgesetz aufzunehmen. Und ich meine, was in Bayern mit seiner CSU-Mehrheit möglich ist, muß auch in Bonn möglich sein.
Mit einem Kanzler Kohl, der von sich behauptet, ein Verfechter der „abendländischen Kultur" zu sein, müßte dieses Anliegen schon lange durchgesetzt sein. Doch weit gefehlt, schon in der 12. Legislaturperiode verfehlte ein diesbezüglicher Antrag die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Und ob wir dieses Mal die erforderliche Mehrheit zustande bringen steht noch in den Sternen.
Wer seine Politik der Standortideologie unterordnet und damit alles den heiligen Kühen Flexibilisierung, Wettbewerb und Globalisierung opfert, wird auch mit dem verfassungsgemäßen Schutz von Tieren Probleme haben. In einer Gesellschaft, die alles zur Ware degradiert, liegt das in der weiterführenden Logik. Schließlich dürfen der Forschung keine einschränkenden Maßnahmen aufgebürdet werden, weil sonst das scheue Reh Kapital ins Ausland abwandert, wie immer wieder zu hören ist. Daß derlei Drohungen mit wenig Realität verbunden sind, zeigen Angriffe in allen Politikfeldern. So unter dem Motto: „Schau ma mal, was geht".
Viele Menschen haben uns in den letzten Wochen zum Thema „Tierschutz ins Grundgesetz" Briefe geschrieben und uns daraufhin angesprochen: Es ist der Wunsch der Mehrheit der Bevölkerung in diesem Lande, daß hier etwas getan wird, und zwar schnell. Es ist der Wunsch vieler, daß das verfassungsrechtliche Gut „Freiheit von Forschung und Technik" künftig gegen das verfassungsrechtliche Gut Tierschutz abgewogen wird. Die gegenwärtige Verfassungsrechtslage ist hier äußerst unbefriedigend. Auch in Gerichtsurteilen wird auf die mangelnde Ausgestaltung im Grundgesetz hingewiesen, so daß sich Richterinnen und Richter gezwungen sehen, Tierversuche zu genehmigen, weil ihnen die Möglichkeit der Güterabwägung fehlt.
Ich weiß, daß eine Grundgesetzänderung noch keine Tierversuche abschaffen kann, aber sie kann ein Umdenken bewirken, kann Bewußtseinsprozesse befördern und eine Evaluierung von Alternativmethoden beschleunigen.
Der Tierschutzbericht 1997 weist für 1995 eine Zahl von 1,643 Millionen Versuchstieren aus. Hier, denke ich, kann in kürzester Zeit reduziert werden, wenn der Wille vorhanden ist. Zum Beispiel müssen Doppelversuche unterbunden werden, und für bestimmte Studiengänge müssen Tierversuche, die, wie viele Sachverständige beteuern, unnötig sind, abgeschafft werden. Ob eine Haltung von Hühnern in Legebatterien dann noch einer Formulierung standhält, wie sie in unserem Antrag steht, ich zitiere: „Tiere werden in ihrer artgemäßen Haltung, vor der Zerstörung ihrer Lebensräume sowie vor vermeidbaren Schmerzen und Leiden geschützt", wage ich zu bezweifeln.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zu Zusatztagesordnungspunkt 7
(Entwurf: 3. Verjährungsgesetz)
Zusatztagesordnungspunkt 8
(Antrag: Wirtschaftskriminalität in Deutschland
insgesamt bekämpfen)
Zusatztagesordnungspunkt 10
(Antrag: Keine Verlängerung
der Verjährungsfristen)
Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Kurz vor Ende diesen Jahres treffen wir uns hier im Deutschen Bundestag, mit uns mit dem Thema der drohenden Verjährung von Straftaten, die sozialistische Machthaber und ihre Kumpanen in der ehemaligen DDR begangen haben, zu befassen.
Wir behandeln dieses Thema im Deutschen Bundestag nicht zum ersten Mal. Bereits 1992 haben wir hier im Deutschen Bundestag festgestellt, daß in einer Diktatur staatlich verordnetes Unrecht nicht verfolgt werden kann, auch wenn das formal nach den Gesetzen dieses Staates möglich gewesen wäre.
Aus diesem Grund haben wir in Anlehnung an Urteile des Bundesverfassungsgerichtes zur Verjährung von nationalsozialistischen Straftaten festgestellt, daß die Verjährung generell bis zum Tag der Deutschen Einheit geruht hat.
Später haben wir die Verjährungsfristen um zwei Jahre verlängert, weil der Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern noch am Anfang war und demzufolge sowohl Ermittlungs- als auch Verfolgungsbehörden nicht in der Lage waren, das Unrecht zu ahnden.
Zwischenzeitlich haben wir ein differenzierteres Bild. Aus der Unterrichtung durch die Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, Drucksache 13/8450, geht hervor, wieviel Ermittlungsverfahren zum Thema Regierungs- und Vereinigungskriminalität durch das Land Berlin, aber auch durch die neuen Bundesländer in der Summe eingeleitet, erledigt und zur Anklage gebracht wurden. Für diese gute Arbeit ist insbesondere der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität und der Staatsanwaltschaft 2 in Berlin zu danken.
Die Frage steht: Ist es notwendig, die Verjährungsfristen nun zum zweiten mal zu verlängern? Frau Justizsenatorin Peschel-Gutzeit von Berlin betonte immer wieder, daß überall verjährungshemmende Maßnahmen eingeleitet worden wären. Richtig! Und das ist auch gut so und auch ein Grund, warum wir erst am Ende diesen Jahres über das Thema im konkreten reden.
Wir wollten den Druck des drohenden Verjährungsendes aufrechterhalten. Was aber Frau PeschelGutzeit geflissentlich verschweigt, ist die Tatsache, daß die Verjährung in all den Fällen eintreten wird, die heute noch unerkannt sind.
Die Enquete-Kommission zur „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", dessen Bericht wir heute gehört haben, hat aus seiner eigenen Erkenntnis heraus uns deutlich aufgefordert, SED-Straftaten nicht verjähren zu lassen.
Auch durch die Aufarbeitung der Unterlagen der Staatssicherheit oder durch Untersuchungsausschüsse in diesem Bereich kommt langsam Licht in das Dunkel der Machenschaften der Diktatur des Sozialismus in der DDR. Deshalb halte ich es für notwendig, Verjährungsfristen noch einmal zu verlängern.
Nun gibt es viele Gründe, die gegen eine Verlängerung von Verjährungsfristen sprechen: Erstens. Wir haben sie schon einmal verlängert, und aus verfassungsrechtlicher Sicht können wir das Argument des mangelnden Gerichtsaufbaus in den neuen Bundesländern nicht mehr heranziehen. Zweitens. Verjährung soll einen befriedigenden Charakter haben. Deshalb gibt es Verjährung. Drittens. Es gibt die absolute Verjährung, die im Jahr 2000 erreicht wird. Deshalb verstehe ich, wenn einige Kollegen sich strikt gegen ein nochmaliges Verlängern wenden.
Aber es gibt drei für mich sehr gewichtige Gründe, die uns auffordern, trotz dieser rechtsförmlichen und verfassungsrechtlichen Einwände die Verjährungsfristen noch einmal zu verlängern.
Erstens. Ich hatte es schon erwähnt, eine Diktatur, zumal eine 40jährige, rechtliche aufzubereiten braucht Zeit. Erst heute bekommen wir nach und nach einen besseren Einblick in das Dunkel dieser Zeit. Die juristische Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen. Die bereits erwähnte Unterrichtung durch die Bundesregierung - ich zitiere -, sagt aus:
Für die Zukunft gehen einige der neuen Bundesländer davon aus, daß die juristische Aufarbeitung des SED-Unrechts bis zum Jahres 2000 im wesentlichen abgeschlossen werden kann.
Selbst das ist keine sichere Prognose.
Deshalb steht für mich die Frage: Warum sollen wir nicht durch ein relativ einfaches Gesetz der Justiz alle Möglichkeiten an die Hand geben, weiter an dieser juristische Aufarbeitung zu arbeiten?
Zweitens. Nicht nur die Täter haben Rechte, sondern ganz besonders auch die Opfer. Die Opfer, das sind diejenigen, die sich in der DDR gegen die politischen Machthaber, gegen die Diktatur und dessen Handlanger gestellt haben und nicht zuletzt dadurch
einen Beitrag für den Fall der Mauer im November 1989 leisteten. Diese fordern, daß jetzt nicht der Mantel der Verjährung über die gegen sie gerichteten Straftaten gedeckt werden darf.
Nicht nur die Opfer von politischer Verfolgung, eine breite Schicht der Bevölkerung fordert: „Laßt jetzt keine Verjährung eintreten".
Ich meine, die Menschen in den neuen Bundesländern fordern das zurecht, denn - und damit komme ich zum dritten Punkt - es muß in Deutschland klargestellt werden, daß es nicht egal sein darf, wie man sich in einer Diktatur verhält. Wir würden jeder demokratischen Bewegung, jedem Kampf für Demokratie und Rechtsstaat innerhalb einer Diktatur den Boden unter den Füßen wegziehen, wenn es denn im Nachhinein egal ist, ob man Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit verletzt oder eingehalten hat.
Ich fordere Sie deshalb auf: Unterstützen Sie den Antrag der Koalition, der heute zur Debatte steht! Für meine Begriffe könnten wir heute unseren Antrag verabschieden. Wir müssen ihn aber auf jeden Fall in 14 Tagen, in der nächsten Sitzungswoche, zum Abschluß bringen.
Gestatten Sie mir noch einige Bemerkungen über unseren Antrag hinaus. Mich wundert es schon, wie sich die Länder im Bundesrat verhalten. Der Antrag von Thüringen in gleicher Sache, der von Sachsen im Bundesrat unterstützt worden ist, wurde in die Ausschüsse verwiesen. Was heißt das? Man will keine Entscheidung. Keine Entscheidung heißt, das Problem auf der Zeitschiene erledigen zu wollen.
Herr Schwanitz, ich fürchte, Sie sind relativ allein mit Ihrer Meinung in Ihrer Partei. Sie streiten für die Verlängerung der Verjährung, und das ist lobenswert. Offensichtlich haben Sie aber damit bei Ihren Parteikollegen keinen Erfolg. Das zeigt doch der Antrag der SPD:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Verfolgungsverjährungsfristen für Vergehen insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht, unter besonderer Berücksichtigung der in Ost- und Westdeutschland aus Anlaß der Wiedervereinigung begangenen Straftaten, vorzulegen.
Wo waren Sie im letzten halben Jahr? Wie oft haben wir im Rechtsausschuß über dieses Thema diskutiert? Sind Sie mit Ihren guten Juristen in der Fraktion nicht in der Lage, gesetzlich zu formulieren, was Sie wollen? Wir hätten heute keine Debatte benötigt. Ihnen fällt nur ein, die Bundesregierung aufzufordern einen Gesetzentwurf vorzulegen. Das kommt reichlich spät. Wissen Sie, wie mir ihr Antrag vorkommt: Als wenn ein kleines Kind partout einen roten Luftballon haben will, obwohl es bloß blaue und weiße gibt.
Unabhängig davon, vereinigungsbedingte Wirtschaftskriminalität fand nicht allein auf dem Boden der ehemaligen DDR statt. Es ist wahr, daß es sehr viele Heller aus dem Westen Deutschlands gab, die viel, viel Gutes in den neuen Bundesländern geleistet haben, und dafür gilt denen auch der Dank der
Bürger der neuen Bundesländer und mein persönlicher Dank.
Es ist leider auch wahr daß es eine Vielzahl von „Verbrechern in Nadelstreifen" gab, die Unternehmen ausgehöhlt oder durch Subventionsbetrug richtig viel Geld verdient haben. Der Gerichtsstand kann auch im Westen liegen.
Deshalb wäre ich sehr dafür, wenn es uns gelingen würde, daß Wirtschaftskriminalität dieser Art ab 1990 im gesamten Bundesgebiet noch heute und auch noch in den nächsten Jahren verfolgbar wäre.
Zum Schluß: Wir müssen - das ist klar - die Verjährungsfristen verlängern, und sei es denn bis zum Tag nahe der absoluten Verjährung. 40 Jahre Diktatur sind nicht so einfach juristisch aufzuarbeiten. Es wäre grobes Unrecht gegenüber denjenigen, die sich anständig in der DDR verhalten haben, oder gar politisch verfolgt worden sind.
Hans-Joachim Hacker (SPD): Während der DDR- Zeit begangenes Unrecht, das aus politischen Gründen nicht verfolgt wurde, sowie Wirtschaftskriminalität im Umfeld der deutschen Wiedervereinigung bis in den Treuhandbereich hinein werfen immer wieder die Frage nach Aufarbeitung des Unrechts und nach Verantwortung und Schuld dafür auf.
Die Gerechtigkeit für die Opfer und die Verantwortung dafür, daß sich ein solches politisches Unrecht nicht wiederholen darf, verlangen eine Auseinandersetzung mit den Unrechtsstrukturen der DDR und strafrechtliche Verfolgung, so sie denn rechtsstaatlich zulässig und strafrechtlich möglich ist - mit aller Konsequenz!
Wegen des drohenden Ablaufs von strafrechtlichen Verjährungsfristen hat der Deutsche Bundestag bereits im September 1993 eine Fristenverlängerung beschlossen. Die damaligen Begründungen für die Fristverlängerung halte ich auch heute noch für zutreffend; denn die besonderen Realitäten, die vor allem aus den politischen Verhältnissen in der DDR und den Schwierigkeiten beim Justizaufbau der neuen Länder resultierten, sind offenkundig. Aber bereits damals habe ich auch ausgeführt: „Es ist unbestreitbar, daß sowohl im Sinne der Verfahrensökonomie als auch im Interesse des Rechtsfriedens das Rechtsinstitut der Verjährung nicht jederzeit zur Disposition gestellt werden kann." Heute füge ich hinzu: Ein solches Dispositionsrecht ist nach grundsätzlichen rechtsstaatlichen Prinzipien auch nicht zulässig.
Jetzt, kurz vor Ablauf der Verjährungsfrist zum 31. Dezember 1997 für sogenannte mittelschwere Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bedroht sind, wird erneut die Diskussion um eine Verjährungsfristenverlängerung geführt. Was den Ablauf dieser Diskussion und den damit verbundenen Meinungsbildungsprozeß angeht, möchte ich folgende Fakten in Erinnerung rufen:
In Kenntnis der zu erwartenden Diskussion über eine erneute Verjährungsfristenverlängerung - insbesondere auch vor dem Hintergrund der Wirtschaftsstrafdelikte, die im Untersuchungsausschuß
„DDR-Vermögen" durchleuchtet wurden - hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits am 19. März 1997 einen Antrag zu dem Problem der strafrechtlichen Aufarbeitung des SED/DDR-Unrechts und der vereinigungsbedingten Wirtschaftskriminalität gestellt (Drucksache 13/7281).
Dieser Antrag, der auch einen Prüfauftrag an die Bundesregierung zur Problematik der Verjährung enthielt, hätte nach unserer Auffassung sofort beschlossen werden können. Dagegen ist der Antrag zur weiteren Beratung in die Ausschüsse verwiesen worden. Im Rechtsausschuß hat bisher keine inhaltliche Beratung stattgefunden. Der Antrag stand viermal auf der Tagesordnung, wurde anberaten oder vertagt.
Ich stelle die Frage, wie ernst wir unsere Pflicht bei der verfassungsrechtlichen Prüfung von Gesetzentwürfen nehmen, wenn eine so wichtige Frage wie die Verlängerung von strafrechtlichen Verjährungsfristen in einer Hauruckaktion durchgezogen werden soll.
Es ist nachvollziehbar, wenn Bürgerinnen und Bürger in den alten wie in den neuen Ländern und Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Fraktionen des Deutschen Bundestages sagen: Das politische Unrecht der DDR und die schwere Wirtschaftskriminalität im zeitlichen Umfeld der deutschen Wiedervereinigung dürfen nicht verjähren. Daher muß die Verjährungsfrist für die sog. mittelschweren Delikte (Strafandrohung 1 bis 5 Jahre) erneut verlängert werden. Ich nehme diese Argumente sehr ernst und achte sie.
Grundsätzliche Überlegungen sind es jedoch, die mich hindern, dieser Argumentation beizutreten. Es sind dies:
1. Ein Grund für die Fristverlängerung 1993 war, daß die im Aufbau befindlichen Strafverfolgungs- und Justizorgane in den neuen Ländern die Aufgabe nicht bewältigen konnten und die betreffenden Stellen in Berlin überfordert waren. Heute stellen wir fest, daß eine der Ursachen für die ungenügende Abarbeitung der Fälle die unzureichende Personalausstattung der Behörden ist. Gerade der Freistaat Thüringen, der eine Initiative zur Verjährungsfristenverlängerung in den Bundesrat eingebracht hat, hat seine Abordnungsquote nicht erfüllt.
2. Wie bei der Diskussion 1993 gilt für mich auch heute, daß das Rechtsinstitut der Verjährung einen hohen Stellenwert hat. Dieser Stellenwert läßt es nicht zu, die damit verbundenen Prinzipien nach politischen Prämissen zur Disposition zu stellen. Auch eine angeblich vorhandene „öffentliche Meinung" allein darf für uns keine Legitimation für die Fristenverlängerung sein.
3. Es stellt sich auch die Frage, was eine erneute Fristenverlängerung tatsächlich praktisch bewirkt; denn bis zum Eintritt der absoluten Verjährung mit Ablauf des 2. Oktober 2000 müßte bei Straftaten, die nach geltendem Recht nach dem 31. Dezember 1997 verjähren würden, die Verurteilung der Straftäter in erster Instanz erfolgt sein. Bei der Überlastung der Polizei, der Staatsanwaltschaft
und der Gerichte (vor allem in Berlin) ist mit dem Erreichen einer erstinstanzlichen Verurteilung wohl nur in den wenigsten der denkbaren Fälle zu rechnen. Die von mir vorgetragenen Zweifel teilt auch eine ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen aus der Koalition, wie ich persönlichen Gesprächen und einem „Spiegel"-Artikel in dieser Woche entnehmen konnte.
4. Ich hätte gewünscht, daß es uns im Zusammenhang mit der Novellierung der Rehabilitierungsgesetze gelungen wäre, eine befriedigende Regelung für die Opfer des DDR-Unrechts zu erreichen. Leider wurden entsprechende SPD-Anträge, vor allem zur Kapitalentschädigung, von der Regierungskoalition abgelehnt. Die jetzt vorgeschlagene Verlängerung der Verjährungsfrist ist kein Ersatz für eine gerechte Behandlung der Opfer, im Gegenteil: Es entsteht der Eindruck einer Alibifunktion. Und viele werden es so empfinden.
Die SPD-Fraktion hat Überlegungen angestellt, ob diese Debatte nicht geeignet ist, die Frage der einheitlichen Verlängerung von Verjährungsfristen, insbesondere für Wirtschaftsstraftaten, zu erörtern und einer sachgerechten Lösung zuzuführen. Wir knüpfen damit an unsere Vorschläge im Antrag vom 19. März 1997 an. Eine solche Regelung wäre von dem Vorwurf frei, daß damit weiterhin „Sonderrecht Ost" erhalten bleibt.
Ich bitte Sie, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen des Rechtsausschusses, diese Gedanken mit uns ernsthaft zu prüfen und nach einer rechtsstaatlichen Lösung des Problems zu suchen.
Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Die Entscheidung für eine weitere Verlängerung der Verjährungsvorschriften für die vereinigungsbedingte Wirtschaftskriminalität und der unter dem Einfluß der SED-Herrschaft in der ehemaligen DDR begangenen Straftaten war für die Mitglieder der F.D.P.-Fraktion nicht leicht.
Das Rechtssystem der Verjährung von Straftaten ist ein wesentlicher Teil unseres Rechtsstaatsprinzips. Es ist das Ergebnis einer über Jahrhunderte gewachsenen und entwickelten Rechtskultur. Es bewirkt nicht nur, daß Straftaten nicht mehr verfolgt werden können, sondern ist notwendig und unverzichtbar für die Herstellung des Rechtsfriedens, ohne den unsere Gesellschaft nicht existieren kann. Denn das friedliche Zusammenleben von Menschen in einem Staat ist auf Dauer nur möglich, wenn der zur Verfolgung von Straftaten aufgerufene Staat nur im Rahmen ihm vorgegebener Fristen handeln kann. Wir halten daher grundsätzlich an dem Rechtsinstitut der Verjährung fest.
Gerade deshalb sind sowohl aus juristischer, ethischer als auch moralischer Sicht mehrfach wiederholte Verjährungsverlängerungen sehr problematisch; sie stehen sicher im Konflikt mit unserem Rechtsstaatsprinzip. Verjährungsfristen stehen aber auch im Konflikt mit einem tiefen Bedürfnis: dem Hunger der Menschen in den neuen Ländern nach Gerechtigkeit. Dieser Hunger, dieses Bedürfnis ist besonders groß, da jahrzehntelang Grundrechte vorenthalten wurden, niedergeschriebenes DDR-Recht willkürlich ausgelegt und auch mißachtet wurde.
Recht wurde parteilich im Sinne von Partei und Regierung in der DDR behandelt und benutzt.
Hinzu kommt die ständig neue Aufdeckung zurückliegender Regierungskriminalität und in der Wendezeit vereinigungsbedingt begangener Straftaten. Die Menschen in den neuen Bundesländern und ganz besonders die stark Betroffenen hoffen und erwarten seit dem Tag der Wiedervereinigung, daß das, was ihnen angetan wurde, verfolgt wird, ganz besonders auch die mittelschweren Straftaten.
Auch fürchten wir, daß sich ein sehr großer Teil der Straftaten - davon sind alle Experten überzeugt - bisher der Kenntnis der Staatsanwaltschaften entzieht. Wollen wir als Vertreter des gesamten deutschen Volkes das in den neuen Ländern allmählich entwikkelte Vertrauen in den Rechtsstaat nicht beschädigen, müssen wir dem Empfinden, dem Wunsche der dortigen Menschen entsprechen und Voraussetzungen schaffen, daß bis zur äußersten rechtlich vertretbaren Grenze die Möglichkeit besteht, regierungs-
und vereinigungsbedingte Kriminalität zu verfolgen und zu ahnden.
Wir dürfen dabei auch nicht der Versuchung erliegen, in verschiedenen Arten der Straftaten zu unterteilen, sondern wir müssen alle in gleicher Weise gerecht behandeln. Deshalb müssen wir die Anträge von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS ablehnen.
Rechtsfrieden kann nicht verordnet werden. Rechtsfrieden muß gewünscht und angenommen werden. Vertrauen in gesetztes Recht, das über 40 Jahre hinweg so nicht existierte, muß seit der Wiedervereinigung von den Menschen in den neuen Ländern erst nach und nach angenommen und verinnerlicht werden. Wir müssen den Menschen in den neuen Ländern die Möglichkeit einräumen, die Chance geben, in den Rechtsfrieden hineinzuwachsen und ihn anzunehmen. Damit sich das Vertrauen festigt, muß dieser Rechtsstaat alles unternehmen, um Unrecht zu verfolgen.
Die F.D.P.-Fraktion hat sich der Besorgnisse und Wünsche der Menschen in den neuen Ländern angenommen. In einer langen und sehr ernsthaften Diskussion und Abwägung haben wir uns entschlossen - und ich danke dafür besonders unseren Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern -, einer nochmaligen, aber letzten Verlängerung der Verjährungsfrist für vereinigungsbedingte Kriminalität und der unter dem Einfluß der SED-Herrschaft begangenen Straftaten bis zum 2. Oktober 2000, d. h. bis 10 Jahre nach der Wiedervereinigung, zuzustimmen. Ich danke auch unserem Koalitionspartner und allen anderen Angehörigen des Hauses, die diesem Gesetzentwurf zustimmen. Es ist unsere Absicht, nicht nur Recht, sondern auch Gerechtigkeit im wiedervereinigten Deutschland herzustellen.
Ministerin Christine Lieberknecht (Thüringen): SED-Unrecht muß bekämpft werden zu Lande, zu Wasser und in der Luft - bei Tag und, wie diese Debatte zeigt, auch bei Nacht. Natürlich würden manche es gerne sehen, wenn der Mantel der Dunkelheit ihre Untaten verdecken würde. Aber das kann nicht in unserem Interesse sein.
Die Uhrzeit des heutigen Tages ist zwar fortgeschritten, aber es ist noch nicht zu spät, SED-Unrecht beim Namen zu nennen, aufzuklären und zu verfolgen. Wir dürfen es auch nicht zu spät werden lassen. Da haben wir in den vergangenen Jahren noch nicht alles getan, noch nicht alles erledigt. Deshalb darf nach meiner Überzeugung noch nicht Schluß sein, das sogenannte mittelschwere SED-Unrecht zu den Akten zu legen und verjähren zu lassen.
Vor wenigen Tagen haben wir uns dankbar und glücklich an den Fall von Mauer und Stacheldraht im November 1989 erinnert. Unsere Erwartungen 1989/90 waren, das Unrecht untersucht wird, daß die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Verjährung die zu früh eintritt, trägt aus ostdeutscher Sicht wirklich nicht zum Rechtsfrieden bei, entgegen der Behauptung der Verjährungsbefürworter. Auf diese Debatte möchte ich mich jetzt aber nicht einlassen. Die Argumente sind bekannt. Wir müssen abwägen und entscheiden.
Für meine Mitbürgerinnen und Mitbürger in Thüringen stellt sich die Frage ganz konkret: Was zählt mehr: Die Gewißheit der Täter, daß sie bald frei von Verfolgung und Bestrafung sein sollen, oder die Sicherheit und Überzeugung der Bürger, daß der Rechtsstaat alles, und das mit Nachdruck, zur Aufklärung und Verfolgung des SED-Unrechts getan hat?
Ich denke, wir sollten den Strafverfolgungsbehörden die Chance geben, ihre Arbeit auch über den 31. Dezember dieses Jahres hinaus zu tun. Ich plädiere deshalb eindeutig dafür, die Verjährungsfrist noch einmal zu verlängern. Sie wissen, daß der Freistaat Thüringen einen entsprechenden Antrag in den Bundesrat eingebracht hat. Der Thüringer Landtag hat sich mit übergroßer Mehrheit dafür ausgesprochen, die Frist zu verlängern. Heute haben Sie es in der Hand, ein wichtiges - und vor alles das richtige Zeichen zu setzen. Dafür möchte ich den einbringenden Fraktionen der Koalition und allen Unterstützern hier im Hause ausdrücklich Dank sagen. Ich hoffe auf zügige und konstruktive Beratung.
Sie sehen an der Präsenz auf der Bundesrats-Bank zu dieser späten Stunde: Das Thema ist uns wichtig. Wir sind da, und wir bleiben dran!
Anlage 7
zu Protokoll gegebene Reden
zu Tagesordnungspunkt 14
(Antrag: Belarus muß zu Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren)
Klaus Francke (Hamburg) (CDU/CSU): Mit großer Sorge verfolgen wir alle die bedenkliche Entwicklung in Belarus. Die autoritäre Präsidialherrschaft Lukaschenkos wird immer fester verankert. Er regiert mit Hilfe des von ihm eingesetzten Unterhauses und durch seine, ihm in der neuen Verfassung zugestandenen Dekrete mit Gesetzeskraft unangefochten. Die parlamentarischen Institutionen bieten kein Gegengewicht mehr, politische Dissidenten unterliegen Repressionen. Im Frühjahr 1997 kam es sogar zu Verhaftungen und Verurteilungen von Oppositionel-
len. Auch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist seit der direkten Ernennung hoher Richterposten durch den Präsidenten nicht mehr gegeben. Die Gewaltenteilung ist faktisch aufgehoben. Die aus den Institutionen verdrängte Opposition wird durch die gravierende Einschränkung von Grundrechten der Versammlungs- und der Meinungsfreiheit in ihrer Arbeit gehindert, die Bevölkerung wird gegängelt. Eine offene Diskussion dieser Zustände wird durch die erdrückende Macht der staatlichen Medien verhindert, denen nur wenige unabhängige Zeitungen und Sender gegenüberstehen. Ihre Arbeit wird zusätzlich dadurch erschwert, daß sie nur eine regional beschränkte und sehr geringe Verbreitung aufweisen. Der Entwurf eines neuen Mediengesetzes soll die Kontrolle des Staates über die Medien weiter verstärken. Diejenigen, die für ihre bürgerlichen und politischen Werte kämpfen, wie die vor wenigen Tagen gegründete Gruppe ,,Charta-97" von oppositionellen Politikern, Journalisten und Schriftstellern, werden dadurch in ihrer Artikulation nachhaltig behindert. Um so wichtiger ist es, daß die europäische Staatengemeinschaft nachdrücklich die Wahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anmahnt, wie es der Deutsche Bundestag heute mit dem vorliegenden Antrag unternimmt. Diese Mahnungen sind bereits durch handfeste Maßnahmen gegenüber Belarus wie das Einfrieren der technischen Hilfe der EU-Staaten unterstrichen worden. Der jetzige Weg von Belarus ist nicht akzeptabel. Wir müssen Präsident Lukaschenko in aller Deutlichkeit sagen, daß er mit einer Fortsetzung dieser Politik jeglichen Kredit in Europa - in politischer, aber auch finanzieller Hinsicht - verspielen wird.
Hinzu kommt ein weiteres Hindernis für die Einbindung Weißrußlands in europäische Strukturen. In ihrem jüngsten Bericht zur Wirtschaftslage Weißrußlands schreiben drei Deutsche Institute -, ich zitiere aus der entsprechenden Pressemeldung -: „Ordnungspolitisches Bild bleibe der Sozialismus. Es wäre verfehlt, in Weißrußland ein Wirtschaftssystem zu vermuten, das sich zwar der Marktwirtschaft, nicht aber der Demokratie verschrieben habe. Dort spielten weder Demokratie noch Marktwirtschaft eine tragende Rolle." Auch in diesem Bereich muß sich noch einiges verändern, bis Belarus der Anschluß an westliche Strukturen gelingt.
Trotzdem kann es nicht unser Ziel sein, Belarus dauerhaft zu isolieren: Nur im Dialog mit dem Land werden wir zu einem innenpolitischen Umdenken und damit langfristig zu seiner politischen Stabilität beitragen können, die auch in die Region ausstrahlt. Nicht umsonst sprechen sich insbesondere die direkten Nachbarn Belarus' dagegen aus, das Land dauerhaft zu isolieren. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß mit der Öffnung der Europäischen Union und der NATO Belarus zu einem unmittelbaren Nachbarn beider Organisationen werden wird und uns damit näherrückt. Damit ist die politische Stabilität von Belarus ein wichtiges Anliegen unserer Politik - auch im Interesse unserer Partner in Mittel- und Osteuropa.
Der Europarat hat konsequenterweise daher den besonderen Gaststatus von Belarus bei dieser Organisation nur suspendiert und keinen endgültigen Ausschluß des Landes angestrebt. Konsequenterweise hat auch die Europäische Union ihre Hilfe für technische Projekte eingestellt, aber den Dialog gemeinsam mit der OSZE unverändert gesucht. Wenn sich aber die Lage in Belarus verschlimmern sollte, muß diese Politik möglicherweise überdacht und verschärft werden.
In jüngster Zeit sind jedoch meines Erachtens auch einige positive Entwicklungen zu verzeichnen. So hat Belarus vor kurzem im Grundsatz der Errichtung einer OSZE-Repräsentanz zugestimmt und sich damit auf die Erfüllung einer der Forderungen unseres Antrages zubewegt. Ich sehe diese aber erst mit der faktischen Errichtung eines ständigen Büros und der Gewähr von Arbeitsmöglichkeiten vor Ort tatsächlich umgesetzt. Die Zustimmung Belarus ist nur ein erster Schritt, die Umsetzung jedoch das Entscheidende.
Eine andere Entwicklung, die weitere Zugeständnisse Lukaschenkos bewirken könnte, ist die zwischen Rußland und Belarus aufgetretene Abkühlung der Beziehungen. Durch die Behinderungen der Presse in Belarus, darunter auch der russischen Fernsehsender, und die Verhaftung mehrerer russischer Korrespondenten ist Rußland von der autoritären Politik Lukaschenkos unmittelbar betroffen. Rußland hat über den mit Belarus geschlossenen Unionsvertrag, der eine enge Zusammenarbeit auf allen Gebieten vorsieht, aber auch wegen der engen wirtschaftlichen Beziehungen gute Möglichkeiten, auf Belarus einzuwirken. Bei einem kürzlichen Gespräch mit russischen Abgeordneten habe ich den Eindruck gewonnen, daß dort unsere Einschätzung der Lage in Belarus geteilt wird. Nach den Spannungen der jüngsten Zeit ist zu hoffen, daß Rußland von seinen Einflußmöglichkeiten Gebrauch macht.
Unser Ziel ist es, die Wahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Belarus einzufordern und damit die Forderungen der weißrussischen Bevölkerung nach Wahrung bei der Einforderung ihrer politischen und bürgerlichen Rechte zu unterstützen. Dazu gehört, daß demokratiefördernde Maßnahmen weiterhin durchgeführt werden, daß ausländische humanitäre Organisationen vor Ort, wie beispielsweise die Hilfsorganisation für die Kinder von Tschernobyl, unbelastet arbeiten können müssen und die unabhängigen Medien Belarus' Unterstützung erfahren sollten, wie in dem Antrag gefordert. Die Beziehungen zu der Regierung von Belarus aber steht auf einem anderen Blatt: Solange sich keine sichtbaren Fortschritte bei der Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Belarus abzeichnen, sollten die bislang eingefrorenen Unterstützungsgelder aus dem Ausland auch weiterhin nicht ausgezahlt und bilaterale und andere Kontakte nicht auf hochrangiger Ebene gepflegt werden. Unsere Bemühungen um eine Besserung der Lage in Belarus dürfen wir aber keineswegs auf Eis legen - die Tür nach Europa muß für das Land offen bleiben.
Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): In diesen Tagen will der Präsident der Repulik Weißrußland, Alexander Lukaschenko, das Mediengesetz durch das von ihm eingesetzte „Parlament" ziehen. Gelänge ihm auch dies, wäre es absehbar, bis der letzte Rest journalistischer Freiheit getilgt sein wird. In sei-
nem Aufstieg spiegelt sich das Gegenbild zur demokratischen Transformation. Trotz aller inneren Konflikte konnte sich in den osteuropäischen Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgingen, ein Typ des Systemwechsels von der Diktatur zur parlamentarischen Demokratie durchsetzen. Zwar gestalten sie die internen Beziehungen der Teilung von Macht verschieden; auch folgen sie den Standards nicht immer, wie sie die Familie der westeuropäischen Demokratien als bindend erklärt haben; und doch haben sie den Pfad betreten, der sie in die Stabilität führt. Anders Weißrußland. Lukaschenko ist der erste Repräsentant der „sozialen Utopie des nachsowjetischen politischen Denkens" (Swetlana Naumova). Demagogisch befähigt, stieg der frühere KolchosManager in der Gunst der verarmten Landbevölkerung, als er sich im Kampf gegen Korruption und alte Nomenklatur zum „Robin Hood von Belarus" profilieren konnte. Das macht die Gefahr seiner Herrschaft aus: Populistisch nutzt er jede Chance, die sozialen Ängste der Menschen auszubeuten und ihre negativen Erfahrungen aus den Umbrüchen abzulenken auf Feindbilder. Verrat und Unterwerfung bleiben die Verhaltensmuster, die er aus der Sowjetdiktatur bruchlos übernimmt. So wird der Feind vom Freund unterschieden. Lukaschenko ist es, der sich die Macht angeeignet hat, darüber zu bestimmen. Er spricht direkt mit dem Volk und führt es in die Illusion, über das manipulativ eingesetzte Instrument des Referendums politisch zu entscheiden. In einem „Staatsstreich von oben" hat er das frei gewählte Parlament abgesetzt, Verfassungsrichter entlassen und willkürlich neu eingesetzt. Lukaschenko beherrscht virtuos die Klaviatur des Gewinns und Erhalts der Macht des sowjetischen Typus. Er spaltet die Gesellschaft in Gegner und Hörige. So schafft er die mentalen Bedingungen einer aggressionsgeladenen Stimmung, die er schürt und lenkt. Zugleich Ausdruck der Gewalt, die er auf den Feind im Innern richtet, ist Lukaschenko Gefangener der Sowjetdiktatur, aus deren Zwängen er sich nicht lösen kann und wohl nicht will. Als Repräsentant der permanenten Krise verlängert sie Lukaschenko, weil sein autoritäres Regime eine ihrer Ursache ist, und sie verschwindet nicht, weil der Preis dafür die Aufgabe seiner Macht wäre. Unter diesen Umständen kann er politisch nur weiterleben, solange der „psychologische Ausnahmezustand" (Anatol Maisenya) bestehenbleibt, die ihn hat emporkommen lassen.
Lukaschenko hat klar erkannt, daß seine Herrschaft sich nicht wird sichern lassen, wenn sie in diesem in sich kreisenden Machtzirkel verharrt. Um aus ihm auszubrechen, versucht Lukaschenko in das Dunkel der Utopie von der Verschmelzung zwischen Weißrußland und Rußland zu springen. Er schlägt damit eine Melodie an, die beim Abgesang der Sowjetunion bereits intoniert wurde. Sie trifft auf Stimmungen des Phantomschmerzes, wie sie in weiten Teilen des vormaligen Sowjetreiches verbreitet ist: die großrussische Idee als fernes Ersatzbild für die schwindenden Hoffnungen der Gegenwart. Die nationalkommunistische Linke wie die extreme Rechte in der Duma sah denn auch im Start des weißrussischen Präsidenten eine Chance. Lukaschenkos Unionsgedanke findet auch in den slawischen Sammlungsbestrebungen der Russisch-Orthodoxen Kirche von Aleksij II. und dem Minsker Metropoliten Filaret einen wirkungsvollen Resonanzboden. Er gefällt sich in der Rolle des Großintegrators, der die Slawen wiedervereinigen will. Je deutlicher jedoch die Schwächen seines Handelns besonders in der Innenpolitik hervortreten, desto klarer beginnen sich Widerstandslinien gegen ihn zu formieren. Trotz intensiver Bemühungen ist es ihm nicht gelungen, die Union mit Rußland über ein formales Bündnis hinaus zu entwickeln. Das Pathos der Vereinigung endete in einem schwachen Vertragstext, der mehr Absichten formuliert als verbindliche Aufgaben festlegt. Die neue russische Regierung unter Tschubais und Nemzow und mit ihr die russischen Demokraten haben dem ideologischen Umarmungsversuch sichtbar eine Grenze gesetzt. Nüchtern ist abgewogen worden, welchen Preis Rußland für die Vereinigung zu bezahlen hätte. Und in der Tat: die wirtschaftliche Lage Weißrußlands ist dramatisch. Im Vergleich zum Vorjahr verfügte ein Bürger Weißrußlands mit einem mittleren Einkommen zu Beginn diesen Jahres nur noch über die Hälfte der Kaufkraft. Das ist zum einen zurückzuführen auf das ungebrochen nach oben steigende Preisgefüge und zum anderen auf den Verfall der durchschnittlichen Einkommen. Die Erneuerung des Produktionsapparates kommt kaum voran. Immer noch werden 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Staatssektor erwirtschaftet, mehr als in jedem anderen osteuropäischen Staat. Zwei Drittel aller Betriebe sind rein staatlich. Vom restlichen Drittel kann jedoch nur ein geringer Teil als vollprivatisiert gelten. Verglichen mit den Wirtschaftsreformen in Rußland, die begonnen haben, die russische Industrie in zentralen Sektoren zu modernisieren, stellt sich Weißrußland als „letzte Bastion des real existierenden Sozialismus" (Rainer Lindner) dar.
Lukaschenko hat Weißrußland in die Selbstisolation geführt. Seine Präsidialdiktatur versucht Schritt für Schritt jegliches demokratische Potential zu zerstören. Der Herbst des Diktators steht bevor. Die Angriffe auf die Freiheit des kritischen Journalismus sind gestartet. Die Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen, wie der Soros-Stiftung oder der Vereinigung, die den Kindern von Tschernobyl humanitär hilft, wird unterbunden und mit fadenscheinigen Gründen bürokratisch verfolgt. Die über zweihundert weißrussischen Nicht-Regierungsorganisationen haben sich in einer Notgemeinschaft für Demokratie und den Schutz der Menschenrechte vereinigt. Soeben ist eine internationale Kommission der NichtRegierungsorganisationen aus Weißrußland zurückgekehrt. Sie hat versucht, die weitere humanitäre Zusammenarbeit der Hilfe für Kinder zu sichern, die an den Folgen des Unfalls von Tschernobyl leiden. Unermüdlich und mit großem Einsatz arbeitet die Stiftung „Den Kindern von Tschernobyl", damit tausenden junger Menschen ein wenig geholfen wird. Dieser Stiftung droht, und allen freien Initiativen in Weißrußland ebenso, die Verstaatlichung. Sie sollen wissen: Der Deutsche Bundestag ist solidarisch mit ihnen. Wir unterstreichen, was die belarussischen NGO's in ihrer Charta '97 festhalten: „Alle, die den Weg des Kampfes für ihre Rechte eingeschlagen haben, müssen sich der allgemeinen Unterstützung sicher sein können."
Alle Demokratinnen und Demokraten in Weißrußland sollen wissen: Wir werden kritisch beobachten, wie sich die Demokratie in Weißrußland entwickelt. Dem Urteil von Prof. Michail Pastuchow, dem ehemaligen Richter beim Verfassungsgericht, den Lukaschenko eigenhändig aus dem obersten weißrussischen Gericht entfernt hat, schließe ich mich an, wenn er in einem Gutachten über das neue Mediengesetz beschließt: „Wenn das vorgeschlagene Pressegesetz verabschiedet wird, würde der Prozeß der Monopolisierung der Medien durch die Exekutive vollendet."
Im Namen der SPD-Bundestagsfraktion begrüsse ich den gemeinsamen Antrag „Belarus muß zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren". Wir ermutigen alle Demokraten in Weißrußland und warnen Präsident Lukaschenko. Die Familie der europäischen Demokratien wird es nicht länger hinnehmen, wenn ein Mitglied der gemeinsamen Familie unterdrückt wird.
Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): TOP 14 - Ich will hier nicht alle Argumente ausbreiten, die uns im vorliegenden interfraktionellen Antrag zu dem Urteil kommen lassen, daß in Belarus unter Lukaschenko eine autoritäre Präsidialherrschaft errichtet wurde. Erkennbar ist dies an einer ganzen Reihe von Umständen: dem der geltenden Verfassung zuwiderlaufenden Referendum, an der Entmachtung des legal gewählten Parlaments, der verfassungswidrigen Einsetzung einer Repräsentantenkammer, der Beschneidung der Rechte des Verfassungsgerichts, dem Abbau demokratischer Rechte, der Maßregelung kritischer Journalisten, der Verfolgung und Schikanierung der Opposition - um nur einiges zu nennen. All dies wird im Antrag in Übereinstimmung mit dem Europäischen Parlament und mit dem Europarat gerügt. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat im Frühsommer eine Reihe dieser Probleme in Kleinen Anfragen angesprochen. In den dankenswert ausführlichen und klaren Antworten der Bundesregierung und bei anderen Gelegenheiten zeigte sich bereits, daß Koalition und Opposition in der Einschätzung der Situation in Belarus übereinstimmen.
Zwei Probleme möchte ich noch einmal hervorheben:
Erstens: Nach dem Schock der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gab es sowohl in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in der damaligen DDR große Hilfsbereitschaft. Die Initiativen zur Hilfe, vor allem für die vom Reaktorunglück betroffenen Kinder, zeigen sehr deutlich, was ziviles Engagement bedeuten kann. Aus vielen der nach wie vor über 1000 solcher Initiativen bekommen wir zunehmend Hilferufe. Bürokratische Auflagen und behördliche Schikanen behindern die humanitäre Hilfe. Es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß die Hilfe diejenigen erreicht, für die sie bestimmt ist. Das Gefühl drängt sich auf, daß Lukaschenko wie jede autoritäre Herrschaft unabhängiges gesellschaftliches Engagement systematisch erschweren und schließlich ganz verhindern will. Dies ist schädlich nicht nur für die hilfsbedürftigen Menschen und für die gesellschaftliche Entwicklung in Belarus, sondern auch für ein demokratisches Zusammenleben der Völker in der Mitte Europas.
Zweitens: Vor einigen Tagen erhielt der Auswärtige Ausschuß einen Brief aus der Botschaft von Belarus, in dem uns unterstellt wird, Belarus unangemessen zu kritisieren und isolieren zu wollen. Niemand von uns verkennt die großen wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, mit denen Belarus im Transformationsprozeß konfrontiert ist. Auch will niemand von uns die Republik Belarus isolieren. Im Gegenteil: Eine ganze Reihe auch von Mitgliedern der Fraktion und der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat in den letzten Monaten Belarus besucht. Wir wünschen das Gespräch und die Zusammenarbeit mit den Menschen in Belarus. Wir setzen uns dafür ein, daß die trilateralen Verhandlungen zwischen Vertretern des 1995 gewählten Parlaments, Vertretern der Exekutive und Vertretern europäischer Organisationen fortgesetzt wird. Wir können aber nicht akzeptieren, daß unser legaler Partner in der parlamentarischen Zusammenarbeit, der 13. Oberste Sowjet, von Lukaschenko entmachtet wird. Wir können nicht akzeptieren, daß Lukaschenko die in verschiedenen Verträgen von der Republik Belarus anerkannten Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit in erschreckendem Maße verletzt. Wir können nicht akzeptieren, daß die Mitglieder zahlreicher ökologischer, menschenrechtlicher und humanitärer Initiativen in Belarus verfolgt und an der Ausübung ihrer demokratischen Grundrechte gehindert werden.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geht es heute darum, nach welchen Grundsätzen und Prinzipien eine neue Ordnung in Europa entsteht. Für uns ist die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte elementar. Wer diese mißachtet, grenzt sich selbst aus und kann nicht mit unserer Unterstützung rechnen.
Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN appelliert gemeinsam mit den anderen Fraktionen des Deutschen Bundestags an Präsident Lukaschenko, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren. Und wir unterstützen die Forderung, Hilfsmaßnahmen nur noch an unabhängige gesellschaftliche Organisationen zu geben und die Unterstützung staatlicher Strukturen in Belarus auszusetzen, solange keine Fortschritte bei der Demokratisierung erzielt worden sind.
Ulrich Irmer (F.D.P.): Fast ein Jahr ist es her, daß Präsident Lukaschenko nach Durchführung eines verfassungswidrigen Referendums am 24. November 1996 eine neue Verfassung einführen ließ, bei der grundlegende demokratische Normen wie das Gewaltenteilungsprinzip abgeschafft wurden. Lukaschenko war damit seinem Ziel eines Umbaus des politischen Systems zu einer autoritären Präsidialherrschaft, einer Herrschaft ohne Parlament, ein erhebliches Stück näher gekommen.
Verschiedene Appelle der Europäischen Union, des Europarats, der OSZE, der Bundesregierung und der Fraktionen des Deutschen Bundestages an Lukaschenko, die Rechte von Parlament und Verfassungsgericht zu achten, einen Kompromiß mit der politischen Opposition zu suchen und Belarus durch sein Vorgehen nicht weiter zu isolieren, haben bislang nicht gefruchtet. Lukaschenko weigert sich nach wie
vor beharrlich, irgendwelche Zugeständnisse an seine Gegner zu machen.
Die Verfassungswirklichkeit in Belarus verstößt gegen grundlegende rechtsstaatliche Mindeststandards, wie sie Ende des 20. Jahrhunderts von jedem OSZE-Mitgliedstaat eingefordert werden müssen. Die Opposition wird schikaniert, die Pressefreiheit wird unterbunden.
Besonders bersorgniserregend ist der Entwurf eines neuen Pressegesetzes, das eine totale staatliche Kontrolle über die Medien vorsieht. Dieses Gesetz ist allerdings von der Oberkammer überraschenderweise noch nicht verabschiedet worden. Möglicherweise ist dies ein Indiz dafür, daß Lukaschenko doch auf internationalen Druck reagiert. Ich begrüße daher, daß der vorliegende Beschlußantrag die Auffassung aller wesentlichen politischen Kräfte in Deutschland zum Ausdruck bringt, daß Belarus bei Fortsetzung dieser Entwicklung mit keiner deutschen und europäischen Unterstützung rechnen kann. Lukaschenko muß wissen, daß es allein an ihm liegt, ob sein Land seinen Weg nach Europa wieder aufnehmen kann.
Uns ist an einer engen und vielseitigen Zusammenarbeit mit diesem großen wichtigen europäischen Nachbarstaat sehr gelegen. Schon heute gibt es ein dichtes Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen und privaten Initiativen, das durch seine humanitäre Hilfeleistung für die leidgeprüfte weißrussische Bevölkerung zeigt, wie stark die Deutschen Anteil an den Entwicklungen in Belarus nehmen. Aber Belarus wird nur dann eine gute Zukunft haben, wenn es zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zurückkehrt.
Einige wenige positive Signale, wie die Freilassung einiger Dissidenten, sind erkennbar. Weitere, wie z. B. die Eröffnung einer OSZE-Repräsentanz in Minsk sowie die Sicherstellung ungehinderter Arbeitsmöglichkeiten für humanitäre Organisationen, müssen folgen. Wir appellieren erneut an Präsident Lukaschenko und seine Regierung, rasch eine Entwicklung einzuleiten, an deren Ende die endgültige Wiederherstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse und die Rückkehr in die Familie europäischer Demokratien stehen.
Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Die Gruppe der PDS teilt die Besorgnis internationaler Organisationen, wie der Vereinten Nationen oder des Europarates, über die derzeitige innenpolitische Situation in Belarus. So ist z. B. im gerade vorgestellten neuen Weißrußland-Bericht der UN-Menschenrechtskommission die Rede von den Übergriffen der Polizei, der Allmacht von Staatsanwälten und der Einmischung der Regierung in die Rechtspflege, von den Schikanen gegen regierungsunabhängige Organisationen, von der Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit.
Gestützt auf das Ergebnis des zweifelhaften Referendums vom November letzten Jahres hat Präsident Lukaschenko eine autoritäre Präsidialherrschaft errichtet und mißachtet grundlegende, in Europa allgemein anerkannte Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten. Insoweit gibt es keinen Dissens zur Situationsbeschreibung im Antrag.
Die entscheidende Frage lautet aber, wie darauf zu reagieren ist. Die PDS hält einen Kurs, der jede Brücke zu einem kritischen Dialog mit Minsk verbaut, für nicht geeignet, positive Veränderungen herbeizuführen. Spricht nicht der Bundesaußenminister selbst stets so gern von der Notwendigkeit eines „kritischen Dialogs"? Zu einem solchen Dialog gehören selbstverständlich immer zwei; dazu bedarf es der Bereitschaft Lukaschenkos. Und diese Bereitschaft erwarten wir von ihm.
Einer weiteren Selbstausgrenzung Belarus' gegenüber Europa muß aber - dies ist nicht nur unsere Auffassung - entgegengewirkt werden. Eine westliche Politik der Isolierung des Landes birgt Gefahren in sich und könnte sich letztlich als Bumerang erweisen. Die Nachbarländer Polen, Litauen und Ukraine haben trotz ihrer Distanz zum Lukaschenko-Regime stets an den Westen appelliert, Belarus nicht zu isolieren - sie werden gute Gründe dafür haben.
Selbstverständlich ist von der belarussischen Führung die Wiederherstellung von paralamentarischer Demokratie, Gewaltenteilung und Medienfreiheit einzufordern. Dafür sollte Hilfe und Unterstützung angeboten werden, wie dies z. B. geschehen ist mit der EU-Initiative einer Vermittlung zwischen belarussischer Exekutive und oppositionellem Parlament. In diesem Sinne sollte sich die Bundesregierung in den europäischen Gremien einsetzen.
Wir sind auch dafür, daß die OSZE-Repräsentanz in Minsk umgehend ihre Tätigkeit aufnehmen kann und daß die Kontakte zur politischen Opposition, zu der im übrigen auch bekannte Vertreter der Linken - Kommunisten und Agrarier - gehören, intensiviert werden.
Aber man ist doch noch lange nicht „Schleppenträger" für Lukaschenko, seine Regierung und sein handverlesenes Parlament, wenn man dem Land nicht gleich - wie im Antrag gefordert - jegliche wirtschaftliche, finanzielle und personelle deutsche und europäische Unterstützung versagt. Einer solchen Forderung können wir uns nicht anschließen - weil dies letztlich doch nur die Bevölkerung treffen würde, und auch, weil sie einen seltsamen Beigeschmack hat. Warum eigentlich war und ist die Bundesregierung bei weitem nicht so rigoros bei Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten, etwa wenn es um das russische Vorgehen in Tschetschenien geht oder um Ankaras Krieg gegen die Kurden - mit deutscher Hilfe - oder um Indonesien?
Die Gruppe der PDS kann daher dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen.
Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Die internationale Staatengemeinschaft blickt voller Besorgnis auf Belarus. Mitten in Europa sehen wir elementare demokratische Prinzipien nicht nur verletzt, sondern erleben den Prozeß ihrer Abschaffung. Entgegen der demokratischen Verfassung von 1994 wurde über ein Referendum, das demokratischen Mindeststandards nicht entsprach, am 24. November 1996 eine belarussische „neue" Ver-
fassung angenommen, die grundlegenden Normen wie dem Prinzip der Gewaltenteilung widerspricht. Das gewählte 13. Parlament wurde de facto aufgelöst, die heutige „Repräsentantenkammer" ist demokratisch nicht legitimiert. Auch die Verfassungswirklichkeit entspricht nicht den Mindeststandards, die an einen europäischen Staat am Ende des 20. Jahrhunderts anzulegen sind: Politisch Andersdenkende sind mannigfachem Druck und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt, es gibt keinen ungehinderten Druck und Vertrieb einer freien Presse in Belarus mehr. Rund 100 Oppositionelle haben sich nun in der Menschenrechtsgruppe „Charta 97" zusammengeschlossen.
Selbst wenn man mangelnde Kenntnis westlicher Standards und mangelnde Erfahrungen mit Demokratie und gesellschaftlicher Offenheit in Rechnung stellt, so ist dieser Zustand für uns nicht hinnehmbar. Der Allgemeine Rat der Europäischen Union hat daher am 15. September 1997 in seinen Schlußfolgerungen beschlossen, auf die Fehlentwicklung mit aller Klarheit zu reagieren und u. a. Belarus' Wunsch, dem Europarat beizutreten, nicht zu entsprechen, bis Präsident und Regierung von Belarus auf den Weg zu Rechtstaatlichkeit und Demokratie zurückgefunden haben.
Ministerielle Kontakte sind auf ein Minimum reduziert und werden nur über die Präsidentschaft bzw. die Troika abgewickelt. Die Programme der Technischen Hilfe für Belarus, sowohl der EU als auch der Mitgliedstaaten, sind eingefroren. Eine Ausnahme gilt nur für diejenigen Programme, die der Demokratieentwicklung oder humanitären Zwecken dienen und die als regionale Maßnahmen der Bevölkerung unmittelbar zugutekommen.
Diese Maßnahmen schmerzen nicht nur Belarus, sondern auch uns selbst. Wir haben kein Interesse an einer Isolierung irgendeines europäischen Nachbarstaates, erst recht nicht eines solchen, dessen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg besonders gelitten hat und der von der Katastrophe in Tschernobyl schwer betroffen ist. Gerade in Deutschland nehmen daher viele Anteil an den Entwicklungen in Belarus. Unzählige Private und Nichtregierungsorganisationen, teils mit Unterstützung von Länderregierungen oder kommunalen Selbstverwaltungsorganen, und zahlreiche Städte unterstützen die belarussische Bevölkerung im Rahmen von humanitären Hilfsaktionen und Städtepartnerschaften. Die hier geleistete, unbürokratische und menschliche Hilfe und die freundschaftlichen Kontakte, die in den letzten Jahren entstanden sind, wollen wir bewahren und weiter pflegen. Aber Belarus hat eine gute Zukunft nur dann, wenn es zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zurückkehrt.
Präsident Lukaschenko muß begreifen: Nicht wir haben ihn isoliert, er hat sich selbst durch sein eigenes Verhalten isoliert. Der Weg zurück steht aber offen: Die EU und wir setzen auf die Einsichtsfähigkeit von Präsident Lukaschenko und seiner Regierung, auf den Weg zur demokratischen Ordnung zurückzukehren und das Land in die politische europäische Zivilisation wieder einzufügen.
Der Beschlußantrag, den die Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die F.D.P.-Fraktion gemeinsam eingebracht haben, trifft ins Schwarze: Es muß Regierung und Präsidenten von Belarus doch zu denken geben, wenn sich die Vertreter aller wesentlichen politischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland mit der Bundesregierung eins sind in einer Verurteilung der politischen Verhältnisse in Belarus!
Dieser Beschlußantrag entspringt der Sorge um Demokratie und Menschenrechte. Er entspringt aber auch der Sorge darum, daß Belarus in einer Zeit des Umbruchs und der Umstrukturierung in ganz Osteuropa wertvolle Zeit und den Anschluß an die anderen, an die Reformstaaten verlieren könnte. Auch die Investoren aus dem Westen wollen saubere Rahmenbedingungen und zögern vor Investitionen in Ländern zurück, in denen sie nicht die Rechtssicherheit haben, die nur ein Rechtsstaat gibt.
Der deutsche Bundestag bringt in dem Beschlußantrag, der hier zur Abstimmung steht, seine Auffassung zum Ausdruck, daß Belarus bei einer Fortsetzung der geschilderten politischen Entwicklung „mit keiner weiteren wirtschaftlichen, finanziellen und personellen deutschen und europäischen Unterstützung rechnen kann und damit seine Einbindung in europäische Strukturen gefährdet". Wir verstehen dies im Interesse der Bevölkerung dahin gehend, daß humanitäre Hilfe, regionale Projekte und solche, die der Demokratieförderung zugute kommen sollen, hiervon nicht betroffen wären, sondern im Interesse der Menschen fortgeführt werden können.
Der Bundesregierung ist nicht entgangen, daß in letzter Zeit kleine Anzeichen für eine mögliche positive Entwicklung erkennbar waren. Dazu gehört, daß das Mediengesetz, das die totale staatliche Kontrolle über die Medien vorsah, nicht verabschiedet wurde. Dazu gehört auch die Freilassung bzw. Nichtverurteilung von Dissidenten. Dazu gehören die Verhandlungen über eine OSZE-Langzeitmission in Minsk.
Wir appellieren an die Einsicht von Präsidenten und Regierung in Belarus, im Interesse ihres Heimatlandes und seiner Bevölkerung den Weg der Rückkehr zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Kooperation zu gehen. Die Bundesregierung wird besonders sorgfältig auch beobachten, ob die neugegründete Abteilung für humanitäre Hilfe im belarussischen Präsidialamt den vielen engagierten, freiwilligen Helfern aus Deutschland hilfreich zur Seite steht oder ob sie diese und ihre Freunde in Belarus nur einer ausufernden Kontrolle unterwerfen will.
Ich hoffe, daß der Beschlußantrag zu Belarus dazu beitragen wird, daß die Entwicklung in diesem Land, dem wir helfen wollen, wieder eine Wendung zum Besseren nimmt.