Rede von
Gisela
Schröter
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Mit dem Zwischenbericht haben wir ein
Gisela Schröter
ganz schön hartes Stück Weg hinter uns gebracht. Ich denke, es liegt auch noch ein schweres Stück Weg vor uns.
Gestatten Sie mir, daß ich in meinen Ausführungen zum Zwischenbericht auf den ganz besonders sensiblen Bereich „Kinder und Jugendliche in sogenannten Sekten und Psychogruppen" eingehen werde. Die Verstöße gegen die Rechte von Kindern und Jugendlichen haben in unserer Arbeit eine sehr zentrale Rolle gespielt. Im Bereich der sogenannten Sekten und Psychogruppen gibt es ein besonders dunkles Kapitel, den Umgang mit Kindern. Der Kollege Kohn hat dazu schon ein Beispiel gebracht.
Wir müssen wissen, daß nach Schätzungen in der Bundesrepublik zwischen 100 000 und 200 000 Kinder bis 18 Jahre in sogenannten Sekten und Psychogruppen aufwachsen, viele von ihnen schon in der zweiten Generation. Die Probleme bei der Erziehung sind vielfältig und reichen von körperlicher Mißhandlung bis hin zu sozialer Ausgrenzung und sexueller Ausbeutung. In manchen Gruppierungen werden systematisch Ängste erzeugt; den Kindern wird mit Endzeit und Dämonen gedroht. Hierfür gibt es genügend Beispiele. Viele von uns kennen sicher auch das Problem bei den Zeugen Jehovas, die Bluttransfusionen ablehnen.
Ich denke, wir sind uns darüber einig - auch auf Grund dieser Beispiele - daß es keinen Zweifel an der Wichtigkeit gibt, hier staatlich zu handeln. Vielfach aber werden die Zweifel daran mit dem Hinweis begründet: Wenn sich jemand einer sogenannten Sekte oder Psychogruppe anschließt, dann ist das seine freie, individuelle Entscheidung.
Wie fragwürdig diese Behauptung in bezug auf einen erwachsenen Menschen ist, belegen unsere Untersuchungen zu den sogenannten Psychotechniken, die in einzelnen dieser Gruppierungen angewendet werden. Schon gar nicht aber kann bei Kindern und Jugendlichen, die in diesen sogenannten Sekten und Psychogruppen sind, von einer freien Willensentscheidung gesprochen werden. Davon kann wirklich nicht die Rede sein. Selbstverständlich muß auch hier differenziert werden. In den einzelnen Gruppierungen verläuft die Einflußnahme auf Kinder in unterschiedlichem Ausmaß. Die Fälle aber, in denen es zu massiven Schädigungen kommt, sind zahlreich. Hier muß der Staat, müssen wir als Gesetzgeber handeln.
Für unsere Fraktion war der Mißbrauch gerade von Kindern und Jugendlichen und die Petitionen, die dazu an uns gerichtet worden sind, ein zentraler Beweggrund, nachdrücklich für die Einsetzung dieser Enquete-Kommission einzutreten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in drei Anhörungen hat sich die Kommission allein mit diesem Thema befaßt. Ein eigener Arbeitskreis der Enquete-Kommission hat dieses Feld bearbeitet.
In der ersten Anhörung haben Betroffene Einzelfälle geschildert. Es handelte sich um Betroffene, die selbst als ehemalige Mitglieder oder Anhänger dieser Gruppierung den Umgang mit den Kindern erlebt haben. Dabei wurde allen klar, daß eine große Bandbreite von erzieherischen Einflußnahmen gegenüber
Kindern an der Tagesordnung ist. Wie schon angesprochen, reichen sie von ganz subtilen Methoden der Angsterzeugung bis hin zur offenen Form physischer Gewalt.
Besondere Schwierigkeiten treten für die Kinder immer dann auf, wenn das Wertesystem der einzelnen Gruppe mit den Wertemaßstäben der übrigen Gesellschaft kollidiert. Schwierige Situationen entstehen für die Kinder auch dann, wenn ein Elternteil die Gruppe verläßt und das Kind mitnimmt. Oft nutzt der in der Gruppe verbleibende Elternteil die daraus entstandene Zerrissenheit des Kindes für die Durchsetzung eigener Interessen.
In der Anhörung der wissenschaftlichen Experten zu den pädagogischen und psychologischen Aspekten wurde klar, daß wir in diesem Bereich enorme Forschungsdefizite haben. Aus den Stellungnahmen der Fachleute ergibt sich ein umfangreicher Katalog von Forschungsthemen zur Situation von Kindern und Jugendlichen in sogenannten Sekten und Psychogruppen. Hier brauchen wir also große Anstrengungen, vor allem in den Erziehungswissenschaften.
Genauso dringend oder noch dringender - das hat die Anhörung der juristischen Experten bestätigt - brauchen wir eine zielgruppenorientierte Aufklärung und Information. Familiengerichte, beteiligte Jugendämter und psychologische Gerichtsgutachter müssen für das Thema sensibilisiert werden.
Zum Beispiel brauchen wir eine besondere Sensibilisierung von Familienrichtern. Die Erfahrung zeigt, daß viele Ehen, in denen nur ein Partner Mitglied einer solchen Gruppierung ist, irgendwann scheitern. Wenn es gemeinsame Kinder gibt, muß über das Umgangs- und Sorgerecht entschieden werden. Die bisherige Praxis bei den Familiengerichten sieht in der Regel so aus, daß unter Hinweis auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit die Mitgliedschaft des einen Elternteils einfach tabuisiert wird. Damit werden Sachverhalte systematisch ausgeblendet, die für das Wohl des Kindes von entscheidender Bedeutung sind.
Natürlich darf es nicht so sein, daß die Sorgerechtsentscheidung wegen der bloßen Mitgliedschaft in einer sogenannten Sekte oder Psychogruppe zuungunsten des betreffenden Elternteils ausfällt. Hier ist eine Einzelfallklärung ganz besonders notwendig, aber auch die Sensibilisierung der Gerichte und der Rechtsprechenden.
Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen: Es geht hierbei nicht um alle diejenigen Religionsgemeinschaften, die sich bereits seit längerer Zeit etabliert haben und mit denen es keine Probleme gibt. Genauso möchte ich aber betonen: Im Interesse einer klaren Differenzierung darf die Bezugnahme auf das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht dazu führen, daß das Schicksal von Kindern und Jugendlichen in sogenannten Sekten und Psychogruppen tabuisiert wird.
Strafrechtlich relevante Tatbestände bleiben sonst unentdeckt und damit der strafrechtlichen Verfolgung entzogen.
Gisela Schröter
Ich wiederhole: Notwendig ist ganz besonders eine gezielte Aufklärung von Familienrichtern, Mitarbeitern von Jugendämtern und Gerichtspsychologen. Mittels Schulungen müssen sie mit der Problematik von Kindern und Jugendlichen in sogenannten Sekten und Psychogruppen vertraut werden.
Es geht jedoch auch um die Schaffung von gesetzlichen Grundlagen, um an dem spezifischen Gefährdungs- und Konfliktpotential der sogenannten Sekten und Psychogruppen anzusetzen. Wir müssen also genau herausfinden, wie die Ziele, Praktiken und Binnenstrukturen der Gruppierung aussehen, die das Recht der Religionsfreiheit für sich in Anspruch nehmen. Darauf haben auch meine Vorredner immer wieder hingewiesen.
Wir müssen die Fälle unterscheiden, in denen sich sogenannte Sekten und Psychogruppen mißbräuchlich auf das Recht der Religionsfreiheit berufen, um etwa steuerliche Vorteile zu genießen oder um kriminelle Handlungen einer Strafverfolgung zu entziehen. Es ist unsere Aufgabe, das Grundrecht selbst vor Mißbrauch zu schützen.
Wir haben bezüglich einer Expertenanhörung zu verfassungsrechtlichen Fragen im Zwischenbericht festgehalten:
Nach Einschätzung der Rechtsexperten ist die Geltung von Artikel 4 nicht absolut, sondern sie unterliegt verfassungsimmanenten Schranken.
Danach sollte die Religionsfreiheit nicht so weit gehen, daß andere verfassungsmäßig geschützte Güter mißachtet werden. So darf zum Beispiel die kritische Auseinandersetzung mit der jeweiligen Gemeinschaft nicht beschnitten werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Zwischenbericht gibt auch erste Empfehlungen für einzelgesetzliche Maßnahmen; diese sind heute schon genannt worden: das Psychotherapeutengesetz, das Heilpraktikergesetz. Es geht um den Verbraucherschutz. Nur so sind Mißbrauch und Gefährdungen zu verhindern, nur so werden Schädigungen klar als Straftatbestände definiert und rechtliche Grundlagen für staatliches Eingreifen geschaffen.
Meiner Meinung nach haben wir noch einiges an Arbeit zu leisten. Ich hoffe, daß wir die Arbeit gut bewältigen und daß wir im Interesse vor allen Dingen auch der Kinder und Jugendlichen zu einem guten Ergebnis kommen.
Herzlichen Dank.