Rede von
Waltraud
Lehn
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wissen Sie, was man in Bayern unter „waigeln" versteht?
- Ganz genau; das werde ich Ihnen jetzt verraten, Herr Möllemann.
Wenn ein Mann sich für ein altes Auto neue AluFelgen kauft und auf Nachfrage seiner Frau sagt: „Etwas mehr als 10 DM haben die gekostet" - obwohl der eigentliche Preis 2000 DM ist -, dann heißt es im Volksmund inzwischen: Er hat ein bißchen „gewaigelt".
Wird das Volk Sie, Herr Minister Seehofer, demnächst den Wunderprediger aus Ingolstadt nennen? Bereits in einem Jahr könnte es zu folgendem politischen Nachruf kommen: Er glaubte an das Wunder, durch Nichtstun oder falsches Tun das Gesundheitssystem zu verbessern.
Alle hier konnten sich gerade darüber wundern, wie der Minister aus einem katastrophalen Minushaushalt ein Trugbild der Zukunft hervorzuzaubern bemüht war. Er empfahl den chronisch oder psychisch erkrankten genauso wie den alten Menschen, an das Wunder einer Selbstheilung zu glauben, wenn das Portemonnaie die Bezahlung notwendiger Medikamente und Hilfsmittel nicht mehr möglich macht.
Ob er in die Annalen des Bundestages als Wunderprediger eingehen wird, das weiß ich nicht, aber sicher bin ich, daß es in fünf Jahren niemanden mehr wundern wird, warum es den Gesundheitsminister Seehofer schon seit vier Jahren nicht mehr gibt.
Mit der Vorlage des Haushaltsentwurfs 1998 für den Einzelplan 15 hat Herr Seehofer endgültig vor seinem Parteichef, Bundesfinanzminister Waigel, kapituliert und erneut jede vernünftige Gesundheitspolitik zunichte gemacht.
Bereits Anfang des Jahres, als der Finanzminister mal wieder nicht weiterwußte in seinem finanzpolitischen Chaos und als er bei den einzelnen Ressorts nach Einsparungsmöglichkeiten suchte, eilte Herr Seehofer, wie wir erleben mußten, als Musterschüler voran und bot von sich aus stolz eine globale Minderausgabe für seinen Haushalt in Höhe von 26 Millionen DM an. Hauptsächlich betroffen von dieser Rotstiftpolitik, wie wir inzwischen aus dem Haushaltsplan ersehen können, waren die Aufklärungs- und Präventionsarbeit mit einem Volumen von über 15 Millionen DM, wobei für Forschung und Modellvorhaben noch einmal rund 6 Millionen DM hinzukommen.
Von dieser Basis ausgehend, rechnet er jetzt ein paar Mark drauf und gibt das als Gewinn aus. Das ist
Waltraud Lehn
nun wirklich nicht nur Schönfärberei, sondern das möchte ich als
unverschämt bezeichnen.
Diese Politik setzt sich mit dem Haushaltsentwurf 1998 nun nahtlos fort. Entweder ist dieser Gesundheitsminister der Auffassung, daß Prävention und Gesundheitsförderung reine Privatangelegenheiten sind, oder er hat seinen klammheimlichen Beitrag zur Kabinettsumbildung geleistet und das Finanzressort bereits übernommen.
Ich wage allerdings zu bezweifeln, daß Sie, Herr Seehofer, als Finanzchef auch nur einen Deut besser aussehen könnten als Herr Waigel. Denn Ihre Gesundheitspolitik ist nicht nur menschenfeindlich, Herr Seehofer, sie ist auch ökonomisch höchst unsinnig.
Schon einem Kind im Kindergartenalter wird heute beigebracht, daß es besser ist, sich regelmäßig die Zähne zu putzen, wenn man anschließend nicht zahnkrank werden will und viel Geld beim Zahnarzt lassen möchte. Sie, Herr Gesundheitsminister, sind von diesem Stadium frühkindlicher Lebenserfahrung offensichtlich noch weit entfernt. Wie anders ist es zu erklären, daß gesundheitliche Aufklärung und Prävention bei Ihnen so gut wie nicht mehr stattfinden?
Geradezu verräterisch sind die Erläuterungen zu der Neuorientierung der Aufgaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die man im Haushalt übrigens nur im Kleingedruckten wiederfindet. Bei den Schwerpunkten ist die Gesundheitsförderung überhaupt nicht mehr aufgeführt.
- Das ist wirklich wahr, Herr Möllemann. Man müßte in der Tat aus Scham stillschweigen. Dann würde ich Ihnen aber ersparen, sich das anzuhören. Das möchte ich dann doch nicht.
Wer nicht weiß, was krank macht, wer nicht forscht, wie Krankheiten zu heilen sind, wer nicht alles tut, um Krankheiten zu verhindern, der vermeidet wirklich alles, was man mit den Begriffen „kostengünstig" und „effektiv" umschreiben könnte.
Man mag miteinander darüber streiten, welche Form der Aufklärung, zum Beispiel über die Gefahren des Rauchens, am wirkungsvollsten ist. Man mag darüber streiten, wie die Darstellung des Gebrauchs von Kondomen zur Vermeidung von Aids am eindrucksvollsten erfolgen kann. Nicht darüber streiten kann man, daß Aufklärung notwendig ist und daß der Verzicht auf Aufklärung uns viel zu teuer zu stehen kommt.
Für Ihre unökonomische Sichtweise sprechen die von Ihnen vorgenommenen Abstriche im Gesundheitswesen ganze Bände.
Bei den vier großen Schwerpunkten Krebsbekämpfung, Aidsbekämpfung, Maßnahmen auf dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs und Maßnahmen auf dem Gebiet der Psychiatrie wird, wie in den letzten fünf Jahren - mein Kollege hat das ausgeführt -, weiter gekürzt.
Wenn ein Bauarbeiter, der 40 Jahre alt ist, einen Herzinfarkt bekommt, frühzeitig aus dem Krankenhaus muß, dann zur Vermeidung von erheblichen Einkommenseinbußen zu früh wieder arbeiten geht, sich eine Kur wegen der Zuzahlung nicht leisten kann,
dann einen Reinfarkt bekommt, schließlich berufs- und erwerbsunfähig wird, fällt er nicht nur durch das Loch in den kommunalen Kassen - er wird nämlich Sozialhilfeempfänger -, sondern er wird auch zum Nichtsteuerzahler, produziert vom verantwortlichen Gesundheitsminister.
Weil es eben nicht nur im Einzelfall, sondern wie wir bereits jetzt erkennen, in einer Vielzahl von Fällen dazu kommt, daß Menschen nach ernsthafter Erkrankung zu früh wieder arbeiten gehen, daß Menschen aus Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes trotz Erkrankung arbeiten gehen, daß Kuren aus eben diesem Grund, oder weil man sie sich nicht leisten kann, nicht mehr angetreten werden, muß man sagen, daß Sie, Herr Seehofer, Ihren ganz eigenen Beitrag zur Verschlechterung der Finanzsituation dieses Landes leisten,
schlimmer noch: zur Verschlechterung der Lebenssituation der betroffenen Menschen.
Ökonomisch unsinnig und gesundheitspolitisch schädlich nenne ich Ihr Handeln - das sich in diesem Haushalt ganz konsequent wiederfindet - für den Arbeitsmarkt Gesundheitswesen.
Diesen Markt, Herr Möllemann, auf einen Wachstumsmarkt zu reduzieren ist einer der zentralen Fehler, den Sie machen. Sie schaffen es nicht, die Arbeitslosigkeit in diesem Land zu bekämpfen, weil Sie nicht verstehen, daß Wachstum nicht nur keine Garantie für zusätzliche Beschäftigung ist, sondern daß Wachstum in ganz bestimmten Kombinationen Arbeitsplätze vernichten kann.
Die Ausgaben im Gesundheitswesen wurden durch keine Ihrer Taten gebremst, aber Arbeitsplätze wurden konkret vernichtet bzw. sind akut und ernsthaft gefährdet. Ich nenne hier beispielhaft den Kurbereich. Mehr als die Hälfte der Kur- und Rehaeinrichtungen steht heute vor dem Ruin. Die bereits beschlossenen Kürzungen führten zu einem Belegungsrückgang von bis zu 60 Prozent. Mehr als 80 000 hochqualifizierte Arbeitsplätze drohen verlorenzugehen. 20 000 sind bereits weg.
Waltraud Lehn
Herr Sauer, da stellen Sie sich hier hin und prahlen mit 181 Arbeitsplätzen. Da frage ich Sie: In welchen Relationen leben Sie denn gegenüber diesen Zigtausenden, die bereits verlorengegangen sind?
Während Sie, Herr Seehofer, die Zahl der Arbeitslosen durch Ihre Maßnahmen signifikant erhöht haben, haben Sie gleichzeitig - das ist besonders perfide - einzelne Ärzte und die Pharmaindustrie mit Geldgeschenken überhäuft.
Durch die Abschaffung der Vermögensteuer haben Sie sichergestellt, daß die Anhäufung von Geld nicht etwa zur Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben verwendet wird.
Wer auf die Durchführung von Modellvorhaben verzichtet, wer die Mittel für die Forschung zusammenstreicht,
der schadet dem Wirtschaftsstandort Deutschland,
und er vernichtet auch hier erneut und in nennenswerter Zahl besonders zukünftige Arbeitsplätze. Das
mag Ihnen nicht gefallen, aber das ist die bittere Wahrheit.
Ich fordere Sie auf: Ändern Sie Ihre krankmachende Politik, machen Sie die von Ihnen beschlossene Reduzierung der sozialen Krankenversicherung auf eine Minimalversorgung rückgängig.
Beenden Sie den Griff ins Portemonnaie der Kranken, der Alten und der Familien! Stellen Sie ausreichend Mittel zur Verfügung, damit sich die Qualität der Gesundheitsversorgung in unserem Land weiterentwickeln kann! Handeln Sie zukunftsweisend, indem Sie Arbeitsplätze erhalten, ja, sogar Chancen für neue eröffnen! Beenden Sie Ihre Demontagepolitik!