Rede von
Marina
Steindor
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesundheitshaushalt ist so geschrumpft, daß er in einer großen deutschen Zeitung überhaupt nicht mehr aufgeführt worden ist. Ich möchte mich hier lieber der Politik widmen, die mit diesem Geld gemacht wird.
Das NOG II ist nun in Kraft, und Sie sind stolz darauf. Aber von seiner vorgeblichen Problemlösungskapazität ist nichts zu spüren. Abbau staatlicher Reglementierungen und die Stärkung der Eigenverantwortung der Selbstverwaltung - das sind Ihre Slogans. Aber die Krankenkassen und die Anbieterverbände sind doch so in ihren Eigeninteressen verhaftet, daß sie überhaupt keine übergeordnete Rationalität für ein patientenorientiertes Gesundheitswesen entwickeln können.
Im Gegenteil: Sie müssen erleben, daß einige Kassenärzte die von Ihnen als Versichertenwahlrecht gemeinte Kostenerstattung zu einem Arztwahlrecht umdeuten. Sie müssen erleben, daß Ärzte mit dem NOG II im Rücken jetzt anfangen, den gesetzlichen Leistungskatalog auszuhöhlen, um mehr Geld durch private Abrechnungen mit Kassenpatienten zu verdienen.
Geben Sie doch zu: Insgeheim fangen Sie doch schon wieder an, Gesetzeswerke zu ersinnen, wie sie jetzt ein weiteres gesetzliches „SelbstverwaltungsSitting" machen können, weil Ihnen die Ereignisse aus dem Ruder laufen.
Bei dem bestehenden Defizit helfen die NOGs den Kassen wenig. Diese Gesetze bewirken keine Neuorientierung der GKV, sondern belasten einseitig die Krankenversicherten.
Jahrelang, sehr geehrter Herr Minister Seehofer, haben Sie hier von diesem Platz aus über die Kostenexplosion im Gesundheitswesen doziert und diese falsche Analyse zur Grundlage Ihrer Gesundheitspolitik gemacht. Am 3. September jedoch verblüfften Sie die Öffentlichkeit nicht nur mit einer neuen
Frisur, sondern auch mit einer argumentativen 180Grad-Wendung.
Plötzlich problematisierten Sie die Einnahmesituation der gesetzlichen Krankenversicherung. Nun wissen wir zwar ziemlich genau, daß Ihre Haare wieder nachwachsen werden. Aber wie ist das mit der neuen Erkenntnis, die Sie gewonnen haben? Wenn Sie nämlich diese Erkenntnis beibehalten, müssen Sie daraus Konsequenzen ziehen.
In Ihrer Presseerklärung stehen Sätze, die glatt aus einem bündnisgrünen Antrag stammen könnten:
Es gibt keine Krise im Gesundheitssystem, sondern ein Einnahmenproblem verursacht das Defizit.
Sie geben zu, daß Sie bereits vor der Verabschiedung der NOGs das dramatische Kassendefizit in den Ostkrankenkassen gesehen haben. Damit haben Sie bewußt in Kauf genommen, daß durch die absehbaren, gesetzlich vorgeschriebenen Beitragserhöhungen die Menschen im Osten schlagartig mit hohen Zuzahlungen belastet würden.
Wenn Sie wegen der strategischen Umgehung des Bundesrats an der kostenträchtigen Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Versorgung eben nicht gesetzgeberisch gearbeitet haben, dann müssen Sie doch wissen, daß Ihre Beitragserhöhungsabschreckung in diesem Fall ins Leere läuft. Sie haben mit Ihrer Politik die soziale Spaltung in diesem Lande verstärkt,
und zwar einmal durch die erhöhten Zuzahlungen und auf der anderen Seite zwischen Ost und West.
Im SGB V stehen die Übergangsregelungen zur Angleichung von Ost- und Westkassensystemen. Da aber die Grundlöhne in Ost und West weiter auseinanderdriften und auch die Arbeitslosigkeit unterschiedlich hoch ist, verschiebt sich das Erreichen der legendären Bezugsgröße von 80 Prozent bis auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
Dauerkredite können Sie laut SGB V rechtsstaatlich nicht tolerieren; Sie haben in diesem Sinne ja auch einen Brief geschrieben. Bei der Beachtung der Rechtsnormen müssen Sie die Ostkrankenkassen zur Erhöhung von Beitragssätzen zwingen, was immense Zuzahlungserhöhungen für die Menschen im Osten nach sich zieht.
Sie reden hier immer von einer historischen Sondersituation und beginnen mit Geheimdiplomatie. Aber ich frage Sie: Haben Sie vor, sich mit den ostdeutschen Sozialministern in einer Art Gemeinschaft zur Unterlaufung des SGB V zusammenzufinden?
Marina Steindor
Das hätte sicherlich strategisch den Vorteil, daß Sie wegen der bunten politischen Landschaft im Osten auf einen Schlag fast alle Parteien in diesen Deal eingebunden hätten.
Die Abwärtsspirale im Osten betrifft alle Kassenarten und nicht nur die AOK, wie wir es immer in der Zeitung lesen. Allerdings muß man deutlich machen, daß der verdeckte Finanztransfer in den Osten für die Ersatzkassen wesentlich einfacher als für die AOKs zu bewerkstelligen ist.
Wir vertreten weiterhin die Auffassung, daß man mit einem Ideenwettbewerb in der GKV ohne diesen ökonomischen Kassenwettbewerb eine Fortentwicklung hätte bewerkstelligen können. Wir sind weiterhin der Auffassung, daß der ökonomische Kassenwettbewerb unserem Gesundheitssystem schadet. Wenn Sie aber weiterhin diesen Wettbewerb aufrechterhalten wollen, dann müssen Sie zwangsläufig den Risikostrukturausgleich weiterentwickeln.
Sie waren politisch auch schon einmal weiter; denn Sie haben in Ihrem GKV-Weiterentwicklungsgesetz genau dies mit dem Stichtag des 1. Januar 1999 vorgehabt und wollten einen bundesweiten Risikostrukturausgleich schaffen. Vielleicht paßt es jetzt ja nicht mehr in die großpolitische Wetterlage.
Einigkeit herrscht in Ihren Reihen auch nicht. Der scheidende brandenburgische Fraktionschef fordert den bundesweiten Risikostrukturausgleich. Gleichzeitig schürt die bayerische Sozialministerin den West-Ost-Sozialneid. Hier zeigt sich exemplarisch, daß wir mit den Bestimmungen des SGB V weiterhin eine soziale Mauer in Deutschland haben.
Allerdings muß man auch richtigstellen, daß eine abrupte Einführung des bundesweiten Risikostrukturausgleichs zu einer paradoxen Schieflage im Westen führen würde.
Deshalb muß er abgefedert werden. Aber auch für einen AOK-internen Finanzausgleich brauchen Sie Gesetze.
So, wie Sie sich derzeit verhalten, daß Sie sich nämlich hinter einer historischen Sondersituation verschanzen, ohne irgend etwas zu tun, kommen wir nicht weiter. Wenn Sie unserer Problemanalyse folgen, wie Sie es öffentlich dargelegt haben, dann müssen Sie eigentlich die Konsequenz ziehen und Ihre Politik neu orientieren; denn Sie haben auf die Frage, wie in dieser historischen Situation unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit die Sozialsysteme finanziert werden müssen, keine Antwort gegeben. Der Griff in die Taschen der Krankenversicherten ist nicht genug. In der Diskussion über eine Wertschöpfungssteuer wird versucht, einen analogen
Mechanismus zur lohnbezogenen paritätischen Finanzierung zu liefern.
Wir fordern die Einbeziehung weiterer Besserverdienender und haben neben den Reformprojekten der einzelnen Sozialsysteme - ich komme gleich zum Schluß - ein sehr ausgefeiltes Ökosteuerkonzept zur Entlastung der Lohnnebenkosten vorgetragen.
Ihre Politik geht in Richtung Krankenkassenpleiten und wird das Vertrauen in die bundesdeutsche Gesundheitsgesetzgebung zerstören.