Verehrte Frau Kollegin Odendahl, Sie wissen, daß ich Sie persönlich schätze, aber das war jetzt nun wirklich ein typisches Beispiel für die bürokratische Denkweise der SPD. Wenn man über ein inhaltliches Problem redet, reden Sie über Zuständigkeiten. Ja, wo sind wir denn eigentlich? Da geht es um Kinder und nicht um Zuständigkeiten. Es kann uns doch nicht in Ruhe lassen, wenn ein neuer Lehrer auf 150 neue Schüler kommt.
Nehmen Sie als Beispiel doch einmal Niedersachsen, Frau Kollegin Odendahl: Dort nimmt die Zahl der Schüler in diesem Jahr um 20 000 zu. Herr Schröder streicht aber 700 Lehrerstellen. Was heißt das denn? Hat das etwas mit Zukunft oder Innovation zu tun? Das sind vergeudete Chancen. Es ist furchtbar, wenn so etwas passiert.
Nehmen wir einmal Hessen unter einer rot-grünen Landesregierung. Dort gibt es 18 200 neue Schüler, aber 200 Lehrer weniger. Auch ich kenne den Zustand der öffentlichen Kassen; auch ich weiß, wie schwierig das alles ist. Aber es handelt sich um eine Frage der Prioritäten und der Posterioritäten.
Es war auch nicht einfach, den Ansatz für diesen Haushalt angesichts der Lage zu erhöhen. Wir haben es trotzdem gemacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen auch ein Bildungssystem, das denjenigen gerecht wird, die sich für das duale Bildungssystem entscheiden. Ich will nicht verhehlen, daß mir die au-
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
genblickliche Lage am Lehrstellenmarkt Sorge macht. Wir müssen zur Zeit noch von einer Lücke von 35 000 Lehrstellen ausgehen. Es gibt leider - oder Gott sei Dank, wie man will - keinen Königsweg, um mit diesem Problem fertig zu werden. Wer bei jungen Leuten jetzt den Eindruck erweckt, man könne das Problem auf einen Schlag lösen, der belügt sie; das muß man ganz klar sagen. Der Weg ist steinig, aber wir müssen ihn gehen. Wir müssen alles tun, damit diese 35 000 neuen Lehrstellen auch geschaffen werden.
Das ist nicht nur eine Frage der Bereitschaft der Betriebe, sondern auch eine Frage der Einstellung der jungen Leute. Man weiß zum Beispiel, daß sich 60 Prozent der Bewerber zur Zeit auf sieben Berufe konzentrieren und nur diese sieben Berufe nachfragen, während es in 200 Berufen noch mehr Lehrstellen als Bewerber gibt. Diese beiden Zahlen zeigen, daß wir noch mehr Aufklärungsarbeit leisten müssen. Das hat dann auch wieder etwas mit den Schulen zu tun.
Die Schulbuchstudie, die ich veranlaßt habe, hat ja gerade wieder gezeigt: Wenn junge Leute in den Schulen nichts von betrieblicher Wirklichkeit lernen und ein Berufsbild und eine Arbeitswelt vermittelt bekommen, in der noch der Bauer hinter dem Pflug hergeht, wenn sie auf der anderen Seite lange Zeit über die Frage der Agglomeration von Kapital unter marxistischem Gesichtspunkt nachdenken mußten,
wenn also eine solche Wirklichkeit dort vermittelt wird, muß man sich nicht wundern, wenn die Ergebnisse so sind, wie sie sind. Deshalb ist es wichtig, daß auch dieses wieder im Zusammenhang gesehen wird. Das Beispiel zeigt, daß das nicht nur ein Mengenproblem ist, sondern auch ein qualitatives Problem.
Wir haben deshalb von Anfang an - Sie wissen, daß wir das seit Monaten mit Akribie machen; ich renne persönlich jeder einzelnen Lehrstelle hinterher - den Versuch gemacht, alle ausbildungshemmenden Vorschriften wegzunehmen, neue Berufe einzuführen, dafür zu sorgen, daß der Berufsschulunterricht flexibel organisiert wird. Viele Maßnahmen - Lehrstellenentwickler in den neuen Bundesländern, Sonderprogramme in den neuen Bundesländern - haben dazu geführt, daß viele Tausende Lehrstellen neu entstanden sind. Die Lage wäre noch viel schlimmer, wenn wir diesen Weg nicht gegangen wären.
Ich will deutlich machen, daß das Ziel völlig klar ist, trotz aller Schwierigkeiten. Es bleibt dabei - das ist die Meinung der Bundesregierung -: Auch in diesem Jahr müssen wir es schaffen - und wir werden es schaffen -, jedem jungen Mann und jeder jungen Frau, der bzw. die kann und will, eine Lehrstelle anzubieten. Wir werden nicht nachlassen. Das ist eine nationale Herausforderung. Jeder in den Betrieben und auch jeder von den jungen Leuten muß so wie die Politik, seinen Beitrag leisten, dieses Ziel zu erreichen.
Wir müssen gerade in diesen Wochen herausgehen und um jede Lehrstelle kämpfen. Da hilft es nicht, wenn die SPD - in dieser Woche im Präsidium, in der nächsten Woche in der Fraktion - sagt: Wir haben den Lösungsweg; er heißt Ausbildungsplatzabgabe. Ich bitte Sie herzlich: Sie wissen genau wie jeder andere in diesem Saal, daß Sie zwar an Gesetzentwürfen einbringen können, was Sie wollen, daß aber dieser Gesetzentwurf keine einzige neue Lehrstelle in diesem Lehrjahr bringen wird. Das hilft den jungen Leuten in diesem Lehrjahr keinen Deut weiter; sie bleiben durch diesen Weg auf der Straße. Stellen Sie Ihren innerparteilichen Streit ein!
Sie haben nicht einmal eine Mehrheit im Bundesrat für den Gesetzentwurf, den Ihre Fraktion jetzt beschließen wird. Bringen Sie ihn in den Bundesrat ein! Dann wollen wir einmal sehen, was geschieht, nachdem Herr Schröder, Herr Clement, Herr Steinbrück, Herr Höppner - und wie sie alle heißen - gesagt haben: Mit mir nicht! Es gibt nicht einmal im Bundesrat eine Mehrheit für die Ausbildungsplatzabgabe und im Deutschen Bundestag auch nicht, weil sie kontraproduktiv ist, weil sie ein bürokratisches Monstrum ist und keinem jungen Menschen hilft.
Ich setze mehr darauf, daß wir diejenigen, die mit gutem Beispiel vorangehen, unterstützen.
Sie wissen, daß ich vor wenigen Tagen beim Autohaus Yvel in Köln gewesen bin. Das ist ein kleiner mittelständischer Autohändler.
- Das ist für mich wirklich ein Held.
- Wenn Herr Lafontaine nicht gestern vom Präsidenten kritisiert worden wäre, würde ich Sie mit dem gleichen Wort bezeichnen.
Dieses Autohaus Yvel hat bei 71 Angestellten 23 Lehrlinge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Ausbildungsquote bei einem Mittelständler von 32 Prozent.
Ich habe gesagt: Ich werde auch einmal Leute benennen, die das anders machen. Wenn ich zum Beispiel an die Firma Porsche denke, deren Vorstandsvorsitzender in letzter Zeit mit klugen Ratschlägen an die Politik von sich reden macht, dann, finde ich, sieht sie im Vergleich dazu verdammt alt aus: Porsche hat nur eine Ausbildungsquote von 2,8 Prozent. Das muß einmal benannt werden. Ich habe Hochachtung vor dem Mittelständler, und was ich von dem anderen Herrn halte, sage ich jetzt nicht.
Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer ausbildet, der soll belohnt werden. Deshalb hat das Bundeskabinett beschlossen, daß die Unternehmen, die ausbilden, in Zukunft bei der Vergabe öffentlicher Aufträge des Bundes bevorzugt werden. Ich fordere die Länder und die Kommunen auf, sich dem anzuschließen.
Kurzum: Es gibt keinen Stillstand in Deutschland, allenfalls in einigen Köpfen der SPD.