Rede von
Ottmar
Schreiner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Dr. Babel, wenn ich Ihrer Auffassung folgen - ich tue es einmal - und sagen würde, es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Zuwachs an 610-DM-Arbeitsverhältnissen und den gestiegenen Lohnnebenkosten der letzten Jahre, dann muß ich sagen: Was haben wir für eine Regierung, die in den letzten Jahren maßlos die Lohnnebenkosten erhöht hat, um Dinge zu finanzieren, die mit den Lohnnebenkosten überhaupt nichts zu tun haben! Das geht voll mit Ihnen nach Hause.
Wir haben seit 1991 immer wieder darauf hingewiesen, daß ein erheblicher Teil der einheitsbedingten Leistungen, gegen die wir im Prinzip überhaupt nichts einzuwenden haben, von Ihnen mißbräuchlicherweise über die Lohnnebenkosten, und zwar bis zur Stunde, finanziert wird. Meine Güte, da müssen Sie sich schon - mit Verlaub gesagt - an die eigene Nase oder an die von Herrn Rexmann, Herrn Blüm oder anderen fassen. Aber das können Sie doch nicht gewissermaßen als einen Vorgang der Opposition darstellen.
Seit Jahren finanzieren Sie über die Lohnnebenkosten Dinge, die mit den Lohnnebenkosten nichts zu tun haben. Wir haben Ihnen die Vorgänge genannt: Zweites SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Ich bin sehr dafür, die Leistungen an die Menschen in der ehemaligen DDR auszuzahlen. Aber was hat das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz mit den Beitragszahlern zur Rentenversicherung zu tun? Ich könnte die Beispiele fortsetzen. Es bringt nichts.
Ich will Ihnen dann noch einige Sätze zu Ihrer Bemerkung sagen: Ein Drittel des Bundeshaushalts geht in soziale Leistungen. Ich höre dieses Argument aus den Reihen der Koalition immer wieder. Es wird seit Jahr und Tag gewissermaßen als Entlastungsargument gebraucht, um weitere Kürzungen propagandistisch vorzubereiten.
Wir haben seit Jahrzehnten - das galt damals schon für Westdeutschland - eine Sozialleistungsquote von etwa einem Drittel des Bruttoinlandsprodukts. Die Sozialleistungsquote ist in den letzten Jahren, bezogen auf Westdeutschland, deutlich abgesunken.
Wenn Sie auf ein Drittel hinweisen, müssen Sie dazusagen, daß die Zahl derjenigen Menschen, die mit sozialen Leistungen über Wasser gehalten werden, in den letzten 15 Jahren dramatisch zugenommen hat. Vergleichen Sie die Arbeitslosenzahlen zu Beginn der 80er Jahre mit denen von heute! Vergleichen Sie die Zahl von Sozialhilfeempfängern von 1982 mit der Zahl von heute! Allein 300 000 Jugendliche und Kinder unter 18 Jahren sind in Deutschland auf die Sozialhilfe angewiesen. Meine Güte! Deshalb sind diese Hinweise auf ein Drittel abstrakt und ohne jede Aussagekraft.
Nächster Punkt - das ist der eigentliche Punkt, zu dem ich etwas sagen wollte -: Meine Damen und Herren, bei nahezu 4,4 Millionen registrierten Arbeitslosen - ein Zuwachs von fast einer halben Million im Verhältnis zum Vorjahresmonat August - ist die Koalition sowohl in der Wirtschaftsdebatte heute morgen wie auch in der Arbeits- und Sozialdebatte am späten Vormittag und in der Mittagszeit jeden Hinweis schuldig geblieben, was Sie zu tun gedenken, um diese dramatisch hohe Arbeitslosenzahl abzusenken.
Jeden Hinweis sind Sie schuldig geblieben.
Wenn wir miteinander ins Gespräch kommen wollen, könnten wir uns vielleicht zunächst einmal im Rahmen einer kritischen Bestandsaufnahme verständigen, daß Ihre bisherige Strategie, nämlich über eine rigorose Kürzungspolitik im Sozialbereich mehr Beschäftigung zu schaffen, nicht nur gescheitert ist und tiefere soziale Gräben in der Bundesrepublik aufgerissen hat, als wir sie jemals hatten, sondern die Arbeitslosigkeit von Jahr zu Jahr sogar noch erhöht hat. Wenn Sie auch nur ansatzweise bei Ihrem alten Lehrvater Nell-Breuning nachlesen würden, dann würden Sie sehr schnell merken, daß es geradezu der falscheste Weg ist, in konjunkturell schwierigen
Ottmar Schreiner
Zeiten in den sozialen Bereichen massiv zu kürzen. Sie nehmen den Menschen die Kaufkraft weg. Der dümpelnde Binnenmarkt, die dümpelnde Binnenkonjunktur ist seit vielen Jahren unser Problem. Diese Strategie ist rigoros gescheitert.
Ebenso gescheitert ist eine Strategie, die annahm, über eine Deregulierung - das heißt im Klartext: über die Abschaffung bzw. über Eingriffe in soziale Schutzrechte der Arbeitnehmerschaft - mehr Beschäftigung zu schaffen. Das war Ihr Kernargument in den Debatten im vorigen Jahr. Sie, die Kollegen Geißler, Blüm und Rexrodt, haben uns hier immer wieder gesagt, Sie schnitten nicht gerne in den Kündigungsschutz ein, Sie griffen nicht gerne in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein, aber Sie müßten es tun, denn dies bringe Hunderttausende von zusätzlichen Beschäftigungsverhältnissen.
Sie haben nicht ein einziges zusätzliches Beschäftigungsverhältnis auf Grund dieser gesetzlichen Eingriffe vorzuweisen. Sie haben eine miserable Bilanz vorzuweisen: Anstieg der Arbeitslosigkeit im gleichen Zeitraum um rund eine halbe Million.
Das heißt, Ihre bisherigen Strategien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sind restlos, ohne jede Ausnahme, gescheitert. Wenn wir uns auf diese kritische Bestandsaufnahme verständigen könnten, dann könnte man vielleicht weitersehen.
Im übrigen: Sie sind auch nicht das Opfer von Sachzwängen. Arbeitslosigkeit ist kein schicksalhafter Vorgang, der von Ihnen nicht politisch beeinflußbar wäre.
All dies ist nicht der Fall. Blicken Sie um sich in die Europäische Union! Es wird immer wieder mit dem Finger auf Holland, auf Großbritannien, auf Frankreich und auf Dänemark gezeigt.
In keinem Land der Europäischen Union ist die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren so dramatisch gestiegen wie in Deutschland. Schon das, für sich genommen, zeigt, daß wir es hier nicht mit schicksalhaften Entwicklungen zu tun haben, sondern mit politisch beeinflußbaren Größen.
Nun will ich Ihnen sagen - wenn Sie auch das nachvollziehen könnten -, daß allein der Zuwachs bei den Arbeitslosen innerhalb von Jahresfrist um rund eine halbe Million nicht das Ergebnis von Wirtschaftsverläufen oder von konjunkturellen Entwicklungen ist, sondern der Zuwachs - eine halbe Million mehr Arbeitslose als vor Jahresfrist - ist ausschließlich das Ergebnis von unmittelbar von Ihnen zu verantwortenden politischen Fehlentscheidungen.
Diese werde ich Ihnen jetzt im einzelnen auflisten, damit hier einmal klar wird, wer wen blockiert.
Ihr ehemaliger Kanzlerkandidat Barzel hat völlig recht: Sie blockieren sich selbst.
Der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker hat völlig recht: Ihnen geht es primär um Machterhalt; Konzeptionen haben Sie keine.
Wenn Sie also solche Zwischenrufe riskieren, denken Sie daran: Sie adressieren Ihre Zwischenrufe auch an Ihren ehemaligen Partei- und Fraktionsvorsitzenden Barzel und an den ehemaligen Bundespräsidenten.
Ich will Ihnen sagen, warum die halbe Million Arbeitslose zusätzlich ausschließlich auf politisch zu verantwortenden Fehlentscheidungen beruht. Es ist ein Debakel, das Sie selbst angerichtet und zu verantworten haben.
Die Kollegin Buntenbach hat darauf hingewiesen, daß allein vom August vorigen Jahres bis zum August dieses Jahres die Zahl der Arbeitslosen um rund 300 000 Menschen gestiegen ist, weil Sie in diesem Ausmaß Menschen aus den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik herausgenommen haben. Die rigide Kürzungspolitik bei der Arbeitsmarktpolitik ist eine wesentliche zentrale Ursache für den neuerlichen dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit um mehrere Hunderttausend innerhalb der letzten zwölf Monate.
Meine Güte, man faßt sich an den Kopf: Hätten Sie damals bei fast 4 Millionen Arbeitslosen unser Arbeits- und Strukturreformgesetz, das Sie hier mit Geifer abgelehnt haben, das Sie als ABM-Sozialismus denunziert haben, angenommen, hätten wir heute, ein Jahr später, nicht 300 000 Arbeitslose mehr, sondern 500 000 Arbeitslose weniger. Das war die erklärte Zielsetzung des Arbeits- und Strukturreformgesetzes.
Nun können Sie sagen, der SPD fällt gar nichts anderes ein als Arbeitsmarktpolitik. Meine Güte! Bei 4 Millionen Arbeitslosen - der Stand im vorigen Jahr - haben wir, bescheiden wie wir sind, vorgeschlagen, die Arbeitsmarktpolitik einzusetzen, um die Zahl der Arbeitslosen um 500 000 zusätzlich zu verringern. Mehr war dies nicht. Das war ein bescheidener Anspruch.
Ottmar Schreiner
Heute sitzen Sie bei fast 41/2 Millionen Arbeitslosen. Was ist das für eine Politik, die jetzt, ein Jahr später, einen Nachtrag in Höhe von 21 Milliarden DM zur Finanzierung von zusätzlicher Arbeitslosigkeit beschließen muß? Das ist das Resultat Ihrer Politik: Sie brauchen 21 Milliarden DM zusätzlich zur Finanzierung des von Ihnen erzwungenen Nichtstuns.
Was ist das für ein Leistungsbegriff der deutschen Konservativen? Sie finanzieren Nichtstun. Wir haben vorgeschlagen, die Menschen zu aktivieren, ihnen Lohnkostenzuschüsse zu geben, damit sie eine reguläre Arbeit bekommen. Weiter haben wir Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen vorgeschlagen. 1,5 Millionen Menschen sind langzeitarbeitslos. Hier haben wir im Vergleich zum Vorjahr einen Anstieg von über 20 Prozent zu verzeichnen. Der Bundeskanzler höchstpersönlich wies gestern darauf hin, daß über die Hälfte dieser Langzeitarbeitslosen ohne berufliche Qualifikation sei.