Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht wird es jetzt ein wenig munterer, aber mir ist sehr daran gelegen, mit den Kolleginnen und Kollegen der Koalition in einen Dialog zu treten; denn es gibt eine ganze Reihe von offenen Fragen am Ende der Debatte über Wirtschaft und Soziales.
Zunächst eine Bemerkung zur Rentenpolitik. Ich glaube, es handelt sich hier, Herr Kollege Blüm, um ein wirklich unwürdiges taktisches Spiel. Sie haben gesagt: Wir wollen eigentlich die Rentenreform der Koalition - im Klartext: die Kürzung der Renten - auf Grund der demographischen Entwicklung bereits im Jahre 1998 durchsetzen, können das aber nicht tun, solange die SPD nicht bereit ist, der Erhöhung der Mehrwertsteuer zuzustimmen, dann werden wir das in 1999, also ein Jahr später, tun. Wer sagt Ihnen denn, daß die SPD dann bereit ist, einer Erhöhung der Mehrwertsteuer in diesem Zusammenhang zuzustimmen?
Allein dieser Sachverhalt belegt, daß es sich ausschließlich um eine taktische Maßnahme handelt: Sie wollen die Zustimmung der SPD zur Erhöhung der Mehrwertsteuer in diesem Zusammenhang, um im nächsten Jahr durch die Lande zu ziehen und die SPD für ein Rentenkonzept mitzuverhaften, das wir kategorisch ablehnen. Das ist der eigentliche Beweggrund Ihrer ganzen taktischen Geschichten.
Über die Erhöhung der Mehrwertsteuer kann man ja reden. Ich will Sie aber daran erinnern, daß die Koalition heute morgen in Gestalt des Abgeordneten Schauerlich, der gerade noch hier war, ausdrücklich vor einer Anhebung der Mehrwertsteuer gewarnt hatte, indem er ausführte, eine Anhebung der Mehrwertsteuer sei gewissermaßen der Untergang des deutschen Mittelstands.
Ich will Sie daran erinnern, daß der Bundeskanzler vor einem guten Jahr in diesem Parlament auf die ausdrückliche Frage des Abgeordneten Fischer, Bündnis 90/Die Grünen, an ihn, ob er kategorisch ausschließen könne, daß es in dieser Legislaturperiode zu einer Anhebung der Mehrwertsteuer kommen könnte, geantwortet hat, er schließe dies kategorisch aus.
Jetzt hören wir von Herrn Blüm und anderen, daß die Erhöhung der Mehrwertsteuer offenkundig die einzig denkbare Finanzierungsgrundlage im Rahmen seines Konzeptes ist. Das würde bedeuten, daß Sie den Bundeskanzler erneut zum Umfallen treiben, daß der Bundeskanzler erneut zum Lügner gemacht wird.
Herr Blüm, es ist nicht verantwortlich, daß Sie Ihren Bundeskanzler zum Lügner machen. Das geht nicht, das müssen wir als Opposition mit vermeiden.
- Auch in der SPD gibt es viele Christen.
Es ist ein grundlegendes Mißverständnis von Herrn Geißler, wenn er die Christen allein in der CDU/ CSU-Fraktion ortet. Ich vermute, daß es bei uns mehr Leute gibt, die sich gewissen Grundhaltungen der christlichen Lehre verhaftet fühlen, als dies bei der CDU/CSU der Fall ist.
Ich orte bei der CDU/CSU überwiegend eine Ansammlung von Heuchlern und Pharisäern. Derjenige, der vor 2000 Jahren die Heuchler und Pharisäer aus dem Tempel herausgetrieben hat, würde, wenn er heute in diesem Parlament wäre, dafür sorgen, daß es auf der rechten Seite dieses Hauses ziemlich leer wäre. Aber das nur am Rande. Ich will das Thema nicht ausführen.
Zum zweiten. Frau Kollegin Babel hat auf die 610- DM-Arbeitsverhältnisse hingewiesen. Sie betrachtet die Idee, diese ungeschützten, sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse der Sozialversicherungspflicht zu unterziehen, als eine arbeitsmarktpolitische Katastrophe. Das würde zum Verschwinden dieser Verhältnisse führen.
Ich sage Ihnen: Manchmal ist man ganz froh, wenn gewisse Entwicklungen zum Verschwinden von bestimmten Verhältnissen führen. Wenn sie zum Verschwinden dieser Verhältnisse führten
- zum Verschwinden sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse -, dann wäre sehr viel erreicht. Es gibt innerhalb der Europäischen Union, Frau Dr. Babel, so gut wie kein einziges Land, in dem es einen ähnlichen Mißstand wie in Deutschland gibt.
Wir haben in den letzten Jahren einen dramatischen Zuwachs an 610-DM-Beschäftigungsverhältnissen zu verzeichnen, weil viele reguläre Arbeitsverhältnisse klein gestückelt worden sind, damit die Arbeitgeber in den Genuß sozialversicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse kommen. Das ist glatter Mißbrauch des deutschen Sozialversicherungsrechts. Hier müßten wir dringendst einen Riegel vorschieben.
Ottmar Schreiner
Im übrigen: Das Land, was Sie uns gewissermaßen spiegelbildlich immer wieder vorführen, nämlich Holland mit einer außergewöhnlich hohen Teilzeitquote, hat unter anderem deshalb eine außergewöhnlich hohe Teilzeitquote, weil es dort keine sozialversicherungsfreien Mini-Teilzeit-Arbeitsverhältnisse gibt.