Herr Blüm, ich habe nicht behauptet, daß die erwähnte Schlagzeile in einer Tageszeitung ein Zitat von Ihnen war. Aber es entspricht der Einschätzung der Öffentlichkeit, daß Sie offensichtlich nicht mehr Herr dieses Verfahrens sind. Das liegt auch an Schwierigkeiten in Ihren eigenen Reihen.
Die Frage, ob Sie eine Nullrunde der Renten im Wahljahr in Kauf nehmen, oder ob Sie deswegen, weil Sie auf das kurze Gedächtnis des Wahlvolks set-
Annelie Buntenbach
zen, diese Nullrunde um ein Jahr verschieben, ist eine der interessanten Fragen, die deutlich machen, daß Sie offensichtlich genau an dieser Stelle das Verfahren nicht mehr steuern.
Es ist doch klar, daß die ganze Politik dieser Regierung - das zeigt der Haushalt ganz deutlich - auf das kurze Gedächtnis der Leute setzt, die diese Regierung wiederwählen sollen, was sie hoffentlich nicht tun.
In diesem Jahr soll Ruhe sein. Es soll keine Belastungen, keine Einschnitte mehr geben. Alle wissen, daß diese Regierung nach der Wahl genauso weitermachen würde, wenn sie denn dazu die Chance hätte. Sie wird die immensen Probleme nicht lösen. Vielmehr werden die Probleme genauso wie bisher bestehen, wenn nicht ein zentraler Politikwechsel passiert.
Die Arbeitslosenzahlen steigen von einem tragischen Rekordstand auf den nächsten. Im August waren 4,37 Millionen Menschen als arbeitslos registriert. Das ist eine trockene Zahl; aber Sie alle wissen, daß die wirkliche Joblücke viel größer ist. Das ist auch das Ergebnis der falschen Politik dieser Bundesregierung. Die kann auch Herr Fuchtel mit seinen Krokodilstränen nicht vom Tisch wischen.
Diese Regierung hat nur noch Werbekampagnen und Schönfärberei der traurigen Fakten zu bieten. Sie hoffen, daß die schöne Farbe auf dem durchgerosteten Wagen bis zum Wahltag hält.
Sie haben natürlich auch den immer wieder vorgebrachten Blockadevorwurf an die SPD zu bieten. Herr Fuchtel, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß die SPD nicht in der. Bundesregierung ist. Leider hat diese Bundesregierung trotz des immer wieder vorgebrachten Blockadevorwurfes eine Menge an Gesetzen durchsetzen können, und diese Gesetze sind in genau die falsche Richtung gelaufen.
Der Rückzug des Staates aus der Wirtschaft hat keine neuen Arbeitsplätze gebracht. Im Gegenteil, immer mehr Menschen sind ohne Job. Wo sind denn all die neuen Arbeitsplätze, die Sie im vorigen Jahr versprochen haben, als Sie hier trotz massiver öffentlicher Proteste die Deregulierung mit der Brechstange und die Durchlöcherung der sozialen Sicherungssysteme beschlossen haben? Wo sind denn die vielen Arbeitsplätze, die die Aufweichung des Kündigungsschutzes gebracht hat? Ich sehe nur die Entlassungen. Wo sind die neuen Arbeitsplätze auf Grund der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten? Damit meine ich jetzt nicht die 610-DM-Verträge - die haben ohne Zweifel rasant zugenommen -, sondern die vernünftig abgesicherten, von denen man auch leben kann. Wo sind denn trotz Dienstleistungsscheck und steuerlicher Privilegierung die vielen neuen Jobs im Haushalt, die Sie uns immer wieder als ganz große Chance angekündigt haben?
Sie, Herr Fuchtel, sprachen wieder von der 1 Million Arbeitsplätze, die in Frankreich entstanden sind, und halten uns das hier als Mohrrübe her. Die Bilanz der Bundesregierung in dieser Frage ist - das wissen Sie genausogut wie ich - einfach erbärmlich. Aber wahrscheinlich lag das wieder nicht an der Bundesregierung, sondern an der SPD.
Wo sind denn all die Ausbildungsstellen für die vielen Jugendlichen, die erst gar keinen vernünftigen Einstieg in das Arbeitsleben finden können? Statt hier mit einer Ausbildungsumlage endlich politisch einzugreifen, ermüden Sie seit Jahren Ihre Umwelt mit folgenlosen Selbstverpflichtungen und hilflosen Appellen an die Arbeitgeber sowie, versteht sich, mit Werbekampagnen.
Entgegen Ihrer vollmundigen Ankündigung, die Arbeitslosigkeit bis zur Jahrtausendwende zu halbieren, sind heute mehr Menschen als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Arbeit. Gerade im Osten ist die Situation schlicht dramatisch. Die Talsohle der Arbeitslosigkeit ist noch lange nicht erreicht. Wir alle hier wissen, daß aktive Arbeitsmarktpolitik die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen kann und daß dafür ein ganzes Bündel von Maßnahmen nötig wäre: ökologischer Umbau, Arbeitszeitverkürzung, Förderung von Beschäftigung in ökologisch und sozial sinnvollen Bereichen, eine andere Wirtschaftspolitik. Aber wenn Sie in einer Situation, in der so viele Menschen arbeitslos sind, aktive Arbeitsmarktpolitik auch noch zurückfahren, dann muß das gerade den Menschen im Osten doch als Hohn erscheinen.
Zur Zeit sind 300 000 Menschen weniger als im Vorjahr in Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung; allein im Osten sind es 220 000 weniger. Der negative Beschäftigungseffekt dieser Absenkung des Niveaus der aktiven Arbeitsmarktpolitik ist erheblich größer. Von jeweils zehn Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hängen ungefähr vier Stellen vom sogenannten ersten Arbeitsmarkt ab. Der Kahlschlag im Osten wird weitergehen, obwohl die Arbeitslosenquote dort inzwischen in einer Reihe von Regionen höher als 20 Prozent ist, weil die Mittel nicht ausreichen und weil im AFRG grundfalsche Strukturentscheidungen getroffen worden sind. Vielleicht hätten die Ost-Abgeordneten aus den Regierungsfraktionen bei ihrer Zustimmung zum AFRG zu Nebenwirkungen und Risiken doch die Gebrauchsanweisung im Haushalt lesen sollen.
Zu den falschen Grundentscheidungen im AFRG gehört, daß Erfolg künftig nur noch in Eingliederungsbilanzen gemessen werden soll. Das verstärkt die Tendenz, daß sich Arbeitsförderung auf diejenigen konzentriert, die leichter integrierbar sind, und die anderen aus den Augen verliert. Wir haben die Benachteiligung von Frauen sehr deutlich kritisiert und auf die Benachteiligung von Behinderten aufmerksam gemacht.
Nach einem langen Hin und Her und einem lauten Aufschrei der Betroffenen und ihrer Lobbyverbände ist
Annelie Buntenbach
inzwischen der Rechtsanspruch auf Rehabilitationsmaßnahmen zwar wiederhergestellt; aber Sie stellen keine ausreichenden Mittel dafür zur Verfügung. Zur Zeit werden die Mittel für Rehabilitation beim Arbeitsamt aus dem ABM-Topf genommen. In manchen Orten sind fast die gesamten Mittel für das letzte Quartal dafür schon verplant. Da gibt es dann überhaupt keine Chance auf AB-Maßnahmen. Gruppen werden gegeneinander ausgespielt und in den Wettbewerb der Schwächsten gedrängt.