Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren jetzt über den Einzelplan 11,
Soziales. Es liegt nahe, daß wir in dieser Debatte eine große Rentenschlägerei veranstalten. Das geht. Sie können es; wir können es; ich kann es. Ich frage nur: Wem nutzt es? Ich habe zu einer solchen Rentenschlägerei keine Lust.
Eigentlich ist es traurig, meine Damen und Herren. Sie wollen das Rentensystem erhalten; wir wollen das Rentensystem erhalten. Sie wollen den Bundeszuschuß erhöhen; wir wollen ihn erhöhen. Dennoch gibt es keine Einigung.
Gewinner dieses Streits, die lachenden Dritten werden diejenigen sein, die das System überwinden wollen. Verlierer sind die Rentner; Verlierer ist die Rentenversicherung - sie wird Vertrauen verlieren.
Ich sage auch jetzt den Satz: Die Rente ist sicher. Aber sie bleibt nicht sicher, wenn wir nicht handeln. Rentensicherheit ist kein Naturereignis; sie fällt nicht vom Himmel, und sie fällt uns nicht in den Schoß. Wir müssen Antworten geben auf neue Herausforderungen. Von der Hand in den Mund zu leben und Rentenpolitik bis zur nächsten Straßenecke zu betreiben, das ist kein Beitrag zur Rentensicherheit.
Immer nur mehr Ausgaben zu fordern, das ist ebenfalls kein Beitrag zur Rentensicherheit. Diese Rechnungen erinnern mich an Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz, dessen Haushalt auch immer ausgeglichen war, weil er nur die Ausgaben zählte.
Zur Rentensicherheit gehört auch, eine langfristige Politik mit erträglichen, verkraftbaren Beiträgen und anständigen Renten zu machen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wollen mit der einen Hand den Bundeszuschuß um 13 Milliarden DM erhöhen; mit der anderen Hand wollen Sie Einschränkungen beim Rentenbezug zurücknehmen, nämlich die Verkürzung der anzurechnenden Ausbildungszeit. Ferner wollen Sie eine gewisse Mindesthöhe der Rente garantieren. Das allein kostet schon 18 Milliarden DM. Was Sie mit der einen Hand unter Beifall als Maßnahme zur Rentensicherheit durchführen, nämlich den Bundeszuschuß zu erhöhen, das machen Sie mit der anderen Hand wieder zunichte.
Zur Umfinanzierung sage ich ausdrücklich ja; ich bekenne mich dazu, auch deshalb, weil bei der Sozialleistungsquote der Beitragsanteil gestiegen und der Steueranteil zurückgegangen ist. Diese Entwicklung geht in die falsche Richtung. Darin stimmen wir überein. Aber nur eine Umfinanzierung ohne entlastende Umstrukturierung vornehmen zu wollen, das halte ich für Flucht aus der Verantwortung.
Was ist richtig, was ist wichtig? Ich verweise noch einmal auf die beiden Begriffe „Rentensicherheit" und „Rentengerechtigkeit". Die Lebenserwartung steigt. Sie steigt jetzt. Die Rentner des Jahres 1997 beziehen im Durchschnitt zwei Jahre länger Renten als die Rentner des Jahres 1980. Das ist ein Anstieg um zwei Jahre in 17 Jahren. Die Beitragszahler des Jahres 1980 haben zwei Jahre weniger Rentenlaufzeit finanzieren müssen. Gemessen an den geleiste-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
ten Beiträgen bekommt der Rentner des Jahres 1996 aus den laufenden Beiträgen ein wesentlich höheres Rentenvolumen ausgezahlt als der Rentner des Jahres 1980. Das ist ein Verstoß gegen das in der Rentenversicherung geltende Prinzip der Beitragsgerechtigkeit. Gleichen Beitragsleistungen sollten gleiche Rentenleistungen gegenüberstehen.
Ich nehme das Wort „Gerechtigkeit" ernst; es ist für mich nicht nur ein abstrakter Oberbegriff. Ich meine die Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Der Sinn des Generationenvertrags ist, daß keine Generation auf Kosten der anderen lebt, die Jungen nicht auf Kosten der Alten und die Alten nicht auf Kosten der Jungen. Deshalb brauchen wir eine demographische Formel, mit deren Hilfe wir die Lasten gerecht verteilen können.
Wenn Sie darauf erwidern: „Wir werden erst im Jahre 2015 auf die demographische Veränderung antworten" , dann sage ich: Das verstehe ich überhaupt nicht. Die Lebenserwartung steigt nicht erst im Jahre 2016; jetzt steht das Thema an. Das ist so ähnlich, als wenn Sie bei steigender Flut sagen würden: Wir bauen die Dämme 2015. Wenn Sie das an der Oder gemacht hätten, wären alle weggeschwommen. Eine Antwort muß jetzt gegeben werden.
Diese demographische Formel wird mit dem Vorwurf der Rentenkürzung attackiert, weil das Rentenniveau sinkt. Ich gebe zu: Unser Rentenchinesisch ist schwer verständlich. Mit Rentenkürzung hat die Formel gar nichts zu tun, sondern: Die Renten steigen nicht mehr so steil wie in der Vergangenheit.
Ein Durchschnittsbeitragszahler erwirbt heute mit einem Jahresbeitrag einen Rentenanspruch von 47 DM. 2030 werden es für einen Jahresbeitrag 109 DM sein. Durch diese Rentenreform werden es aber nicht mehr 109 DM, sondern 103 DM sein; das ist ein Unterschied von 6 DM. Aus einer Rente von 2000 DM wird in 30 Jahren eine Rente von 4544 DM. Mit dieser Reform werden es nicht 4544 DM sein, sondern 4310 DM.
Eine Steigerung können Sie doch nicht als Kürzung bezeichnen. Ich habe noch keinen Gewerkschaftler gehört, der eine Lohnsteigerung um 1,50 DM statt um 2 DM, die er gefordert hat, zu einer Kürzung erklärt hat.
Anfang der 70er Jahre hat das Rentenniveau 64 Prozent nie überschritten - ein Niveau, das wir 2030 erreichen wollen. 1971 lag das Niveau sogar bei nur 61 Prozent.
Die Versicherten hatten damals weniger Beitragszeiten als heute. Bei den Rentenzugängen der letzten Jahre haben sich die Beitragszeiten erhöht.
Niemand hat zu Zeiten Brandts behauptet, ein Rentenniveau von 61 Prozent treibe die Rentner in die Armut. Was 1971 von der SPD nicht gesagt wurde, das darf auch 1997 von ihr nicht gesagt werden. Wir haben es 1971 nicht gesagt.
Zur Erwerbsunfähigkeit. Da besteht „Regelungsbedarf"; das ist auch so ein technisches Wort. Dazu, daß hier Veränderungen vorgenommen wurden, sagen Sie ausdrücklich: dem Grunde nach ja. Das ist die SPD-Politik: dem Grunde nach ja. Konsequenz: nein. Das ist Radio Eriwan: im Prinzip ja. Doch: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! "
Daß die Rentenversicherung heute Risiken übernimmt, die eigentlich in die Arbeitslosenversicherung gehören - wenn kein entsprechender Arbeitsplatz vorhanden ist -, ist doch eine klassische Fremdleistung. Sie reden von morgens bis abends über Fremdleistungen. Risiken der Arbeitslosenversicherung gehören nicht in die Rentenversicherung. Da bedarf es einer klaren Trennung der Zuständigkeiten.
Wir arbeiten nicht mehr nach dem Alles-oder-
nichts-Prinzip. Wir arbeiten mit einer Teilerwerbsunfähigkeitsrente, die durch Teilzeitarbeit ergänzt werden muß. Dafür haben wir im übrigen ein Teilarbeitslosengeld eingeführt.
Wir werden in dem Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, die Regelungen zur Erwerbsunfähigkeit und bei Schwerbehinderten - auch auf Grund der Diskussionen - variieren. Wir werden die Abschläge mildern. Die Zurechnungszeiten werden erhöht. Wir machen eine Politik mit Augenmaß. Wir wollen auch Diskussionsergebnisse berücksichtigen.
Zu den Kindererziehungszeiten. Meine Damen und Herren, das ist für mich keine Frage der Barmherzigkeit. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
Es gibt eine schöne Geschichte von Johann Peter Hebel aus dem „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes". Auf die Frage des Fürsten, wie er sein Einkommen verbraucht, sagt der Bauer: ein Drittel für mich, ein Drittel zur Entschuldung und ein Drittel zur Kapitalisierung. Das versteht der Fürst nicht. Der Bauer erklärt es ihm: ein Drittel für mich, ein Drittel für die Alten, ein Drittel für die Jungen. Bei den Älteren Entschuldung, bei den Jüngeren Investition in die Zukunft. So muß auch die Rentenversicherung funktionieren. Sie ist kein Zweigenerationenvertrag - drei Generationen tragen sie.
Wenn wir die Kindererziehungszeiten auf das Niveau des Durchschnittslohns aufwerten, ist das für mich nicht nur eine Aufwertung in Mark und Pfennig, sondern das ist die Anerkennung, daß Kindererziehung etwas bedeutet, daß sie nicht weniger bedeutet als der Durchschnittsverdienst. Dahinter steckt Anerkennung.
Natürlich kann die Kindererziehung nicht vollständig beim Staat abgerechnet werden. Kinder sind nicht nur Lasten - dann müßten wir sie der Unfallversicherung übergeben und abschreiben.
Es handelt sich um eine Anerkennung, eine Unterstützung, aber keineswegs darum, Kinder als eine
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Art Schaden zu betrachten, den man beim Staat abrechnen muß.
Zur Hinterbliebenenrente. Ich habe schon einmal gesagt: Das Splitting, das seinen Platz in der gescheiterten Ehe hat, nehmen Sie jetzt in bestehende Ehen hinein. Wenn es damit einmal ernst wird, müssen wir das richtig in Paragraphen ausformulieren.
Sie behandeln einen Beitragszahler abhängig davon, ob er einen Trauschein hat oder nicht. Was hat das mit der Rentenversicherung zu tun? Diejenigen, die in nichtehelichen Lebensgemeinschaften wohnen, können dann noch zwischen der neuen und der alten Form wählen. Das ist ja geradezu eine Privilegierung; die Verheirateten können nicht wählen. Wissen Sie, die nichteheliche Lebensgemeinschaft toleriere ich; aber man muß sie ja nicht fördern. Das steht jedenfalls nicht im Grundgesetz.
Zur Umfinanzierung sage ich ausdrücklich ja. Mit der Reform der Rentenversicherung wollen Sie nichts zu tun haben. Dann machen Sie doch bei der Umfinanzierung mit. Es geht darum, die Beitragszahler zu entlasten. Sagen Sie jetzt: Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Lassen wir die Taktik beiseite: Sollen die Beitragszahler entlastet werden - und zwar dauerhaft und nicht vorübergehend - oder nicht? Ihre Umfinanzierung ist vorübergehend. Ich wollte mich ja heute zurückhalten. Deshalb sage ich nur ganz sachlich: Ihr Vorschlag ist asymmetrisch: Die Steuererhöhung wirkt dauerhaft, während die Beitragsentlastung wieder zurückgeht.
Deshalb die klare Frage: Gibt es in diesem Feld keine Einigungsmöglichkeit? Ihr Vorschlag ist im übrigen nicht nur gegen die Beitragszahler, sondern sogar gegen die Rentner gerichtet. Denn eine Beitragssenkung erhöht die Rentenanpassung des folgenden Jahres. Das ist das Prinzip der Nettorente. Also: Die Verweigerung einer Beitragssenkung mit Hilfe einer Umfinanzierung wegen irgendwelcher technisch-dogmatischer Fragen führt dazu, daß Beitragszahler und Rentner höher belastet werden.
Ich bleibe dabei: Laßt uns die Diskussion nicht verschärfen, sondern den Versuch machen, eine Einigung herbeizuführen. Es versteht kein Mensch, wenn das nicht möglich ist. Deshalb wiederhole ich die Frage, die der Fraktionsvorsitzende gestern hier gestellt hat: Machen Sie bei einer handfesten, dauerhaften Beitragsentlastung mit, oder bleiben Sie mit allen möglichen Ausflüchten bei Ihrem Nein?
Ich sehe der Debatte trotz all der strittigen Fragen - Polemik und Demagogie müssen beiseite bleiben - relativ ruhig entgegen. Die Rentner wissen: Die Bäume wachsen nicht in den Himmel. Die meisten Rentner haben Enkel und bringen deshalb Verständnis dafür auf, daß ihre Enkel nicht Beiträge zahlen können, unter denen sie zusammenbrechen. Spielt also nicht eine Generation gegen die andere aus, macht keinen plumpen Wahlkampf, sondern bleibt bei dem alten Prinzip!
Die Rentner im Osten wissen, daß es ihnen bessergeht als Honecker -
- als zu Honeckers Zeiten. - Entschuldigung, Honekker ist es natürlich bessergegangen. Der hat in Wandlitz besser gelebt als die Rentner.
Richtig ist: Vor der deutschen Einheit beliefen sich die Rentenzahlungen im Osten auf 16,7 Milliarden Mark. In diesem Jahr sind es 76,1 Milliarden DM. Da können Sie soviel reden, wie Sie wollen: Den Rentnern geht es besser als zu Zeiten Honeckers. Das haben sie auch verdient; sie haben ein schweres Leben gehabt.
Zum Arbeitsmarkt nur soviel - das ganze Thema ist ja heute morgen behandelt worden -: Wir können nicht um die schlimme Nachricht herumreden, daß es mehr als vier Millionen Arbeitslose gibt. Aber ich habe mir einmal überlegt: Was wäre eigentlich passiert, wenn die Generation, die die Zeit nach 1945 erlebt hat - eine Zeit mit noch schlimmeren Nachrichten -, nur geklagt und nur Forderungen an den Staat gestellt hätte? Etwas von dieser Gesinnung - nicht alles vom Staat zu verlangen - täte heutzutage gut. Natürlich kann sich der Staat nicht aus dem Staub machen. Aber man muß wissen, daß wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen angeboten haben.
Von dem größten Manko wissen die wenigsten: Im BMA haben wir eine Telefonaktion gestartet, in deren Zuge es 12 000 Gespräche - die Hälfte davon mit Arbeitgebern - gab. Die meisten Arbeitgeber haben gar nicht gewußt, was wir alles anbieten: Trainingsmaßnahmen, Eingliederungsbeihilfen, Lohnkostenzuschüsse. Ich frage mich: Was machen eigentlich die Verbände, die uns in einem Übereifer mit Klagen und Forderungen überziehen?
Das scheint eine verbandserhaltende Kraft zu sein. Aber durch das Übermaß von Klagen und Forderungen haben sie keine Zeit, ihren Mitgliedern - dem Handwerksmeister, dem Arbeitgeber - zu sagen, welche neuen Möglichkeiten es gibt, Einstellungen zu erleichtern.
Deshalb: Wir brauchen nicht ständig neue Paragraphen auf altem Papier. Wir brauchen mehr Macher und weniger Jammerer in dieser Republik. Lassen Sie uns nicht immer alles vom anderen verlangen!
Den Höhepunkt hat allerdings die SPD geliefert. Sie fordert sogar Sachen, die sie selbst abgelehnt hat.
Vom Schröder habe ich heute morgen gelesen, die Kriterien der Zumutbarkeit müßten voll ausgeschöpft werden. Ja, meine Damen und Herren, die Zumutbarkeitskriterien haben Sie doch abgelehnt. Mister Veränderung läßt sich auf Unternehmertagungen feiern, und seine Haustruppe hier macht alles kaputt,
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
was er in Festreden behauptet. Das ist sozialdemokratischer Maskenball, aber keine normale Politik.
Der von mir verehrte Kollege Scharping sagte gestern, die Arbeitsmarktpolitik müßte lokalisiert werden. Ja, es steht im Arbeitsförderungsgesetz, daß ab dem nächsten Jahr mehr Entscheidungen vor Ort zu treffen sind. Wer hat die Lokalisierung und Regionalisierung abgelehnt? Dreimal dürfen Sie raten. Es war dieselbe SPD, die sie gestern gefordert hat. Sie stellen Forderungen, die schon erfüllt sind. Sie stellen Forderungen, die Sie selber abgelehnt haben.
Zum Schluß möchte ich noch eines ganz kurz ansprechen. Die größte Erfolgsgeschichte - ich will ja nicht nur klagen - ist die Pflegeversicherung. 80 Prozent der Menschen sind damit zufrieden, 64 Prozent haben sie als Ansporn verstanden. Es wächst eine Infrastruktur von Nachbarschaftshilfen und nahen Hilfen. Statt 300 Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen gibt es jetzt 6000. Statt 4000 Sozialstationen gibt es jetzt 11 000. Das ist der größte Erfolg.
Ich habe die Pflegeversicherung nie nur als Geldverteilungsmaschine gesehen. Sie ist der größte Erfolg. Die Anträge auf Heimunterbringung gehen zurück. Die Menschen können länger in den vier vertrauten Wänden bleiben, in denen sie ihr Leben lang gewohnt haben.
Das verstehe ich unter Subsidiarität: nicht den Menschen allein lassen, sondern ihm in seinem Schicksal zusammen mit den Angehörigen helfen. Deshalb bin ich stolz, daß wir die Pflegeversicherung gemeinsam eingerichtet haben. Auch das gehört zu den Nachrichten dieses Tages.
Langer Rede kurzer Sinn - Schlagabtausch hin, Schlagabtausch her -: Laßt uns die Chancen der Einigung nicht vertun, laßt sie uns im Interesse unserer Rentenversicherung nicht vertun. Die Leute werden das Schwarze-Peter-Spiel nicht verstehen. Laßt uns an der guten alten Tradition der Rentenversicherung festhalten, die Einigung erhalten; denn das Rentenzutrauen hängt nicht nur von der Höhe der Leistungen ab, es hängt auch davon ab, ob die Rentenversicherung eine breite Basis hat. Darum bitte ich auch in dieser Debatte.