Rede von
Ingrid
Matthäus-Maier
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Wir sind doch eine pluralistische Partei; da kann doch einer durchaus eine andere Meinung haben. Wenn ich hier anfinge, aufzuzählen, wer bei Ihnen wo wann gegen das gewesen ist, was der Bundeskanzler sagt, dann würde ich heute morgen gar nicht fertig, meine Damen und Herren.
Wir fordern sechstens ein Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit. Tony Blair hat das in Großbritannien mit 250 000 Arbeitsplätzen geschafft, Lionel Jospin in Frankreich mit 350 000 Arbeitsplätzen. Wer die jungen Leute nach der Ausbildung in die Arbeitslosigkeit entläßt, ihnen praktisch sagt: „Ihr seid in dieser Gesellschaft überflüssig", der versündigt sich an der Jugend. Deswegen brauchen auch wir in Deutschland ein solches Programm.
Wir brauchen siebtens eine Innovationsoffensive. Der Haushalt des sogenannten Zukunftsministers geht seit 1982 dramatisch zurück: von 4,7 Prozent auf 3,2 Prozent der Gesamtausgaben des Bundes.
Frau Bundestagspräsidentin, ich teile Ihre Meinung, die Sie in diesen Tagen in der Zeitung veröffentlicht haben: „... Bildung", so Frau Süssmuth, „ist für mich eine entscheidende Investition in die Zukunft." Aber dann frage ich Sie, gerade weil wir Sie schätzen: Warum legen Sie nicht ein Veto dagegen ein, daß dieser Haushalt in der mittelfristigen Finanzplanung weiter zurückgefahren wird?
Denn der Wirtschaftsstandort Deutschland lebt davon, daß hier ein starker Wissenschaftsstandort ist und weiterhin sein muß. Deswegen finde ich: Wichtiger als gute Worte ist, daß Sie hier handeln, meine Damen und Herren.
Achtens brauchen wir ein Hunderttausend-Dächer-Solarenergieprogramm. Sie, Herr Rüttgers, haben jetzt, zusammen mit Frau Merkel, ein Umweltforschungsprogramm vorgelegt; das begrüße ich ausdrücklich. Es erweckt aber den Eindruck, als würde
Ingrid Matthäus-Maier
1 Milliarde DM mehr in die Umwelt gesteckt. Das Gegenteil ist der Fall: Im Haushalt von Frau Merkel zum Beispiel gehen die Investitionen für die Vermeidung von Umweltbelastungen von 243 Millionen DM in 1992 auf 66 Millionen DM in 1998 zurück.
Sagen Sie nicht, Sie hätten kein Geld für das, was ich hier fordere! In dem Etat des Ministeriums von Herrn Rüttgers sind noch 1,5 Milliarden DM für die Erforschung der Kernenergie.
Wer nicht bereit ist, zu sagen, da nehmen wir etwas weg, um es in ein wirklich gutes Umweltforschungsprogramm zu stecken, der weiß nicht, was in diesem Bereich in Deutschland los ist, meine Damen und Herren.
Damit komme ich zu meiner letzten Forderung: Wir brauchen nicht nur eine Initiative zur Vermögensbildung an. Produktivkapital - das würde die aktuellen Lohnverhandlungen entlasten -, sondern wir werden als Sozialdemokraten auch dafür sorgen, daß die Menschen mit großem privaten Vermögen in Deutschland - ab 1 Million DM aufwärts - einen stärkeren Beitrag zur Finanzierung der von uns zu bewältigenden Aufgaben leisten.
Nach der letzten Einkommens- und Vermögensstatistik - Zahlen für das Jahr 1993 - verfügt das obere Drittel der Geldvermögensbesitzer über zirka 75 Prozent des gesamten Geldvermögens, während auf das untere Drittel nicht einmal 4 Prozent entfallen - und das vor der Abschaffung der privaten Vermögensteuer, die diese Verzerrung noch verstärkt hat. Ich sage Ihnen, Sie fördern eine Stimmung in diesem Lande, die sich so zusammenfassen läßt: Zur Elite wollen alle gehören, nur nicht zur zahlenden Elite. - Das müssen wir ändern.
Meine Damen und Herren, wo sind die Vorschläge des Bundeskanzlers zu Einsparungen bei Reichen und Vermögenden? Tony Blair hat in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes das Wort „fairness" gestellt. Sie können es übersetzen mit „Gerechtigkeit", „Anstand", „Solidarität" oder es einfach bei „fairness" belassen. Jedenfalls ist es das, was Ihnen in Ihrer Politik fehlt, meine Damen und Herren.
Der „General-Anzeiger" schrieb:
Dieser Bundesrepublik, die aus Klassenkämpfern Tarifpartner gemacht hatte, droht nach dem Wegfall der kommunistischen Gegenmacht der Abschied von ihrem erfolgreichen dritten Weg. Sie steht an der Wegscheide, ob sie auch weiterhin mühselig und mit erheblichen Kosten den Ausgleich suchen oder ob sie den wirtschaftlichen Standortvorteil des sozialen Friedens aufs Spiel setzen will.
Wenn Kohl sich weiter auf Adenauer berufen will, muß er in dessen und im Geist Ludwig Erhards energischer als bisher Gemeinsinn verlangen, zumal viele in Deutschland bereit sind, ... Opfer zu bringen. Die aber müssen gerecht und von allen gefordert werden.
Das war eine Kurzbeschreibung dessen, was wir Konsensgesellschaft nennen, Konsens statt Konflikt. Deswegen war es Unsinn, ein dummes Wort, daß der BDI-Chef gesagt hat, die Konsensgesellschaft in Deutschland habe zu 4 Millionen Arbeitslosen geführt. Nein, 40 Jahre Konsensgesellschaft, der Versuch, zusammenzuführen, Brücken zu schlagen, statt Konflikt hervorzurufen, gerade auch zwischen Arbeit und Kapital, hat dieses Land stark gemacht. Wir sind ein hervorragender Standort - nicht nur ein hervorragender Wirtschaftsstandort. Denn der soziale Friede ist nicht nur ein ökonomischer Standortvorteil, er ist auch gesellschaftlich wichtig. Sie verstoßen jeden Tag gegen dieses Prinzip. Sie spalten!
Meine Damen und Herren, wirtschaftspolitische Innovation, ökologische Verantwortung und soziale Gerechtigkeit setzen wir gegen Ihre einseitige Klientelpolitik. Dieses Land braucht eine neue Aufbruchsstimmung. Mut zur Vision und Kraft zum Handeln - das ist unsere Alternative zu dieser abgewirtschafteten Bundesregierung.