Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor zwei Tagen haben wir hier im Bundestag eine Debatte erlebt, der auch in
Ulrike Mascher
der Öffentlichkeit die Bewertungen „würdig", „ernsthaft", „nachdenklich" und „behutsam" gegeben wurden. Ich frage mich: Warum gelingt uns das beim Thema Transplantation? Warum aber, Herr Arbeitsminister - Sie haben zur Freude des Kanzlers den Ton für diese Debatte vorgegeben -, ist das bei der Reform der gesetzlichen Rentenversicherung so schwierig? Auch das geht die Menschen ganz existentiell an. Auch das betrifft ihre persönliche Würde.
80 Prozent der Bürger und Bürgerinnen sind in der gesetzlichen Rentenversicherung, ein Drittel davon ist ausschließlich auf die Leistungen dieser Alterssicherung angewiesen. Auch für die meisten, die neben der Rente noch ein Alterseinkommen beziehen, ist die Rente die entscheidende, die tragende Säule.
Die Zukunft der Rentenversicherung geht uns alle an. Die Rentnerinnen und Rentner sind unsere Mütter und Väter. Ich denke, wir sollten so diskutieren, daß wir sie in ihrer Würde nicht verletzen;
Heute sind zum Glück nicht Begriffe wie „Alterslast" und „Rentnerschwemme" gefallen. Wir sind uns sicher hier im Hause darüber einig, daß sie auch nicht angebracht sind.
Die Kinder, die künftigen Beitragszahler, fragen uns: Wie soll es weitergehen? Ist die Rentenversicherung wirklich am Ende? Was bedeutet die demographische Entwicklung tatsächlich? - Wir sollten sie nicht durch demographische Horrorszenarien noch schwärzer in die Zukunft blicken lassen, als sie das schon jetzt manchmal tun. Das Vertrauen in den Sozialstaat baut nämlich ganz entscheidend auf dem Vertrauen in die Rentenversicherung auf. Nicht ohne Grund hat die Bundesregierung bei der Realisierung der deutschen Einheit so entschieden auf die gesetzliche Rentenversicherung gesetzt.
Bei aller Kritik am Verfahren der Rentenüberleitung: Die Überführung der DDR-Rentenansprüche ist unbestritten eine große Leistung der solidarisch, im Umlageverfahren finanzierten gesetzlichen Rentenversicherung. Ich frage mich und diejenigen, die das Kapitaldeckungsverfahren so favorisieren: Wie hätte das bei einem Kapitaldeckungsprinzip, zum Beispiel wie bei einer privaten Lebensversicherung, ausgesehen?
Der Prozeß der Vereinigung zeigt auch: Die beitragsfinanzierte, solidarische Rentenversicherung bekommt Probleme, wenn ihr über den internen solidarischen Ausgleich hinaus Leistungen in Milliardenhöhe aufgebürdet werden, die von der gesamten Gesellschaft getragen werden müssen. Es war ein Fehler, die Rentenversicherung mit bis zu 30 Milliarden DM zu belasten, die auf der Beitragsseite 2 Prozent-
punkte bedeuten - 2 Prozentpunkte, die die Arbeitskosten erhöhen, die Einkommen der Arbeitnehmer mindern und dazu beitragen, das Vertrauen in die Finanzierbarkeit der Rentenversicherung zu schmälern. Oder glauben Sie, bei einem Beitragssatz von 18,3 Prozent hätten wir eine so massive Debatte über die Grenzen der Finanzierbarkeit der Rentenversicherung?
Deshalb ist es notwendig, aber auch ordnungspolitisch richtig, die Rentenversicherung hier entscheidend zu entlasten. Die SPD hat dazu, anders als die Bundesregierung, konkrete Finanzierungsvorschläge vorgelegt. Sie hat nicht nur gesagt, Frau Dr. Babel: Mehr, mehr, mehr!
Wir alle wissen aber, daß es angesichts der langandauernden Arbeitslosigkeit, angesichts der tiefen Verunsicherung junger Menschen, die fürchten, keinen sicheren Arbeitsplatz zu finden, der ihren Fähigkeiten und ihrer Ausbildung entspricht, nicht ausreicht, nur - so wichtig das auch ist - die aktuellen finanziellen Belastungen der Rentenversicherung aufzufangen.
Wir alle werden gefragt: Ist ein Alterssicherungssystem tragfähig, das in hohem Maße auf Erwerbstätigkeit bezogen ist? Wie reagieren wir auf die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses? Was bewirkt denn die immer geforderte Ausweitung von Teilzeitarbeit dann bei der Rentenversicherung? Etwa Armut im Alter? Was ist unsere Antwort auf die steigende Zahl von Patchwork-Erwerbsbiographien, die zwar wir Frauen seit langem kennen, die jetzt aber auch eine mögliche Zukunft von Männern zu werden drohen? Auf Zeiten von Vollzeitbeschäftigung folgen Zeiten der Teilzeitarbeit, Zeiten der Nichterwerbstätigkeit, der Arbeitslosigkeit, der versicherungsrechtlich ungeschützten Tätigkeit, Zeiten der Erziehung und der Pflege von Angehörigen. Das meine ich, wenn ich von Patchworkbiographien spreche.
Das Ergebnis ist sicher nicht die Standardrente von 70 Prozent des letzten Einkommens, die nach 45 Beitragsjahren bei durchschnittlichem Einkommen erreicht wird. Diese Standardrente ist bereits heute eine Fiktion; denn die durchschnittlichen Beitragsjahre betragen bei Männern 39 Jahre und bei Frauen 25 Jahre. Absenkung des Rentenniveaus, versicherungsmathematische Abschläge bei vorzeitiger Verrentung - diese Antworten der Bundesregierung stärken nicht das Vertrauen in die Rentenversicherung.
Die SPD sagt deshalb in ihrem Konzept: Alle Erwerbstätigen müssen in die Rentenversicherung einbezogen werden. Wir sind uns darüber im klaren, daß das natürlich auch Leistungen in der Rentenversicherung bedeutet.
Wir brauchen außerdem ein Instrument zur Mindestsicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung, um Altersarmut und Sozialhilfeabhängigkeit von Rentnerinnen und Rentnern zuverlässig zu vermeiden. Die SPD schlägt deshalb - schon seit langem, aber hier noch einmal ganz konkret - eine steuerfinanzierte, bedarfsabhängige soziale Grundsiche-
Ulrike Mascher
rung vor, um die gesetzliche Rentenversicherung auch für Menschen mit prekären und löcherigen Erwerbsbiographien als Alterssicherung zu erhalten.
Aber auch diese notwendige Ergänzung der Rentenversicherung löst nicht alle Probleme des Arbeitsmarktes. Nur eine Kombination aus einer langfristig orientierten ökologischen Wachstumspolitik, einer koordinierten Geld- und Konjunkturpolitik in Europa, einer aktiven Arbeitsmarktpolitik und einer beschäftigungsorientierten Arbeitszeitpolitik schafft die Chance für mehr Beschäftigung, für existenzsichernde Erwerbsarbeit von Frauen und Männern und für einen Einstieg in Ausbildung und Beruf.
Wenn wir alle uns nicht mehr zutrauen, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu verringern, wenn wir als Politikerinnen und Politiker vor den Problemen der Strukturveränderungen der Wirtschaft resignieren, wenn wir vor der Notwendigkeit der politischen Rahmensetzung auch angesichts größerer offener internationaler Märkte kapitulieren und wenn wir auf die Veränderungen in der Altersstruktur nur mit Kürzungen - oder, freundlicher formuliert: mit Absenkung des Rentenniveaus - reagieren, dann wird es schwierig mit einer Altersicherung, die allen Bürgern und Bürgerinnen eine zuverlässige materielle Existenzbasis im Alter bieten soll.
Aber dann geraten auch alle anderen Formen von privater individueller Absicherung ins Schlingern.
Zuverlässigkeit und Verläßlichkeit sind Schlüsselbegriffe für die Alterssicherung. Daraus erwachsen ihre Akzeptanz und die Legitimation, über viele Jahre hinweg Beiträge einzufordern. Aber viele Bürgerinnen und Bürger fragen sich, ob die gesetzliche Rentenversicherung wirklich noch zuverlässig und verläßlich ist, wenn sie erleben oder erleiden müssen, wie im letzten Jahr mit einem Gesetz, dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz, ihre Lebensplanung umgestürzt wird. Frauen, die sich 1989 auf den behutsamen Anstieg der Altersgrenzen - entsprechend dem Rentenreformgesetz 1992 - eingerichtet hatten, stellen fest, daß diese als Vertrauensschutzregelung gedachte zehnjährige Übergangsfrist plötzlich halbiert wurde, daß Anrechnungszeiten für ihre Ausbildung erneut gekürzt wurden und die Höherbewertung der ersten vier Berufsjahre entfallen ist.
Vielen Frauen sind erst im Laufe der letzten Monate, nachdem sie eine entsprechende Rentenauskunft eingeholt haben, die Folgen dieser Regelungen des Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetzes bewußt geworden. Ich weiß von Frau Nickels, der Vorsitzenden des Petitionsausschusses, daß sich bereits eine große Zahl von Petitionen gegen diese Kürzungen von Rentenanwartschaften wenden, die teilweise bis zu 400 DM betragen. Wer die Durchschnittsrenten von Frauen kennt - 825 DM in den alten Bundesländern -, kann sich vielleicht vorstellen, wieviel Zorn, aber auch Vertrauensverlust für die Rentenversicherung daraus erwächst.
Nur noch eine Information: Der Arbeitsminister hat darauf hingewiesen, daß die Renten nicht das alleinige Alterseinkommen sind. Aber für 10 Prozent der Frauen beträgt das Renteneinkommen - als alleiniges Alterseinkommen -- weniger als 1 000 DM. Das jedenfalls besagt die Untersuchung „Alterseinkommen in Deutschland" von Infratest. Man muß sich einmal vorstellen, was es bedeutet, wenn dann bis zu 400 DM wegfallen.
Die SPD wird wegen der von mir kurz skizzierten Auswirkungen besonders auf Frauenrenten die Ausbildungsanrechnungszeit und die Höherbewertung der ersten Berufsjahre wiederherstellen, allerdings nur soweit die Standardrente mit 45 Entgeltpunkten nicht überschritten wird. Also auch hier geht es nicht einfach um „Mehr, mehr, mehr!", sondern ganz gezielt darum, Maßnahmen des sozialen Ausgleichs, die notwendig sind, wiederherzustellen.
Wir wollen diesen Ausgleich und berücksichtigen dabei auch, daß längere Ausbildungszeiten nicht mehr zuverlässig in eine kontinuierliche, existenzsichernde Erwerbstätigkeit einmünden. Wir sehen also durchaus die Notwendigkeit, sich auf veränderte Erwerbsbiographien einzustellen. Wir sind nicht so betonköpfig, wie der Arbeitsminister behauptet.
Was ist denn aus dem einstimmigen Beschluß des Bundestages von 1991 geworden - man mag es als Abgeordnete schon kaum mehr ansprechen -: endlich eine Rentenreform zugunsten von Frauen, eine bessere Anerkennung von Kindererziehungszeiten, die wirksame Bekämpfung von Altersarmut - ich füge für die SPD hinzu: eine Reform der Hinterbliebenenversorgung, orientiert an einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung in der Ehe, orientiert an den gesellschaftlichen Veränderungen im Zusammenleben von Menschen? - Leider Fehlanzeige beim Rentenreformgesetz 1999 der Bundesregierung!
Der Arbeitsminister muß feststellen: Eine Reform der Hinterbliebenenversorgung muß noch warten, weil erst 1998 die Ergebnisse einer Untersuchung vorliegen werden, die die notwendigen Datengrundlagen bringen soll. Es ist für mich als Abgeordnete nur schwer zu akzeptieren, daß sechs Jahre nach dem einstimmigen Beschluß offenbar wichtige Unterlagen für eine Gesamtreform der für Frauen besonders wichtigen Teile der Rentenversicherung nicht vorliegen. Aber möglicherweise können wir Frauen uns ja damit trösten, daß es nach den Erfahrungen mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vielleicht besser ist, wenn diese Reform nicht von der jetzigen Regierungsmehrheit gemacht wird,
weil es sonst vermutlich eher um die verschärfte Anrechnung von Hinterbliebenenrenten gehen würde und nicht um eine neue, eine gerechtere Verteilung von Rentenanwartschaften, die gemeinsam durch Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit erworben werden.
Die SPD macht Vorschläge für eine von allen Frauen und allen Frauenverbänden lange geforderte bessere Anrechnung von Kindererziehungszeiten. Es hat Frauen zu Recht empört, daß Kindererzie-
Ulrike Mascher
hungszeiten nur mit 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes bewertet wurden. Das wollen wir ändern. Auch Frauen, die trotz Kindererziehung erwerbstätig sind, sollen eine Anrechnung von Kindererziehungszeiten erhalten. Das verlangt die Gerechtigkeit, aber auch das Bundesverfassungsgericht.
Wir wollen darüber hinaus eine partnerschaftliche Teilung der in der Ehe erworbenen Rentenanwartschaften, ergänzt durch eine Teilhabe von mindestens 10 Prozent und maximal 30 Prozent an der Anwartschaft des Ehepartners, um eine ausreichende soziale Sicherheit zu gewährleisten. Wir wollen damit mehr Gerechtigkeit zwischen den Ehepartnern erreichen und eine Anerkennung der veränderten Lebensplanung von jungen Frauen, die Familie und Erwerbsarbeit wollen und die eine partnerschaftliche Arbeitsteilung leben.
Dieses Bild der partnerschaftlichen Teilung liegt unserem Konzept der gerechten Verteilung der Rentenanwartschaften zugrunde. Wir wollen hier einen langdauernden Übergang und Vertrauensschutz; denn gerade hier soll die bisherige Lebensplanung der über 40jährigen respektiert werden. Weil wir wissen, daß es immer mehr dauerhafte Partnerschaften ohne Eheschließung gibt, soll es die Möglichkeit geben, das Anwartschaftssplitting auch vertraglich zwischen Nichtverheirateten zu vereinbaren. Selbstverständlich soll es auch nach der Einführung des neuen Rechtes in ganz bestimmten, eng begrenzten Härtefällen weiterhin eine Hinterbliebenenrente geben, zum Beispiel wenn beim Tod des Ehepartners noch kleine Kinder betreut werden.
Unser Konzept wird eine dauerhafte Verbesserung für diejenigen Frauen und Männer bringen, die lange Jahre beitragspflichtig, aber mit geringem Einkommen gearbeitet haben, zum Beispiel wegen der Erziehung von Kindern Teilzeitbeschäftigte; denn wir wollen die Rente nach Mindesteinkommen zum Dauerrecht ausgestalten und für Versicherte mit Kindern gezielt verbessern.
Das Konzept der SPD zur Reform der Hinterbliebenenversorgung, verbunden mit der besseren Bewertung von Kindererziehungszeiten und der Ausgestaltung der Renten nach Mindesteinkommen gezielt auch für Mütter und Väter, wird sicher - und ich wünsche mir das - eine intensive Diskussion auslösen. Aber bitte nicht mit dem Argument, die SPD zerstöre die Ehe und schaffe die Standesämter ab. Ich möchte die CDU und ihren Arbeitsminister deshalb an eine Rede aus dem Jahr 1972 erinnern. Ich zitiere:
Ein zukünftiges System muß so gestaltet werden, daß die Frau wie der Mann eigene Ansprüche durch eine lebenslange Versicherung erwerben kann. Dabei gilt es, Lücken zu vermeiden, die bisher in der Regel nach der Aufgabe einer Erwerbsarbeit und der Übernahme von Familienpflichten entstanden sind. Durch ein Splitting der während der Ehe beiden Ehegatten zugewachsenen Anteile kann verhindert werden, daß ein Partner benachteiligt wird.
Die Änderung unseres Rentensystems nach diesem Modell kann aber nur bei den jungen Jahrgängen wirksam werden, die sich von vornherein darauf einstellen und deren Lebenserwartungen schon viel stärker von dem Gedanken der Partnerschaft und der Eigenständigkeit geprägt sind.
Besser, als es Maria Weber bereits vor 25 Jahren formuliert hat, kann Frau es nicht sagen. Maria Weber war Mitglied der CDU und im Bundesvorstand des DGB. Sie kam aus der katholischen Arbeiterbewegung und ist sicher nicht als eine Zerstörerin von Ehe und Familie zu diffamieren.
Ich möchte zum Schluß noch festhalten: Wir werden die Beratungen um eine Reform der gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Ziel führen, den Rentnerinnen und Rentnern die Sorge um ihre Altersrenten zu nehmen, und mit unserem Konzept der Strukturreform statt Leistungskürzung deutlich machen: Es gibt tragfähige Reformansätze.
Wir schlagen deshalb auch fünf Optionen vor, wie wir nach heutiger Kenntnis die künftige Entwicklung der Rentenversicherung stabilisieren können. Eine dieser Optionen ist ein Vorsorgefonds, ein neues Instrument in der Rentenversicherung. Ich finde es ganz beachtlich, wie durchlässig der sozialdemokratische Beton sich hier zeigt.
Ich bin sicher, daß wir mit unserem Konzept und mit unseren Optionen die Rentenversicherung und die Alterssicherung sicher ins nächste Jahrhundert bringen.
Danke.