Rede von
Dr.
Norbert
Blüm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte am Beginn meiner Rede eine Gemeinsamkeit feststellen: Wir sind uns einig, unser Rentensystem ist gut.
Wir sind uns einig, es ist anpassungsfähig, aber es ist auch anpassungsbedürftig. Unser Rentensystem muß auf Veränderungen Antworten geben. Unser Rentensystem ist gut; denn Rentenansprüche aus eigenen Beiträgen sind besser als Renten, die vom Staat zugeteilt werden. Grundrente ist staatliche Zuteilungsrente; Beitragsrente ist selbst erworbener Rentenanspruch. Darin liegt ihr Wert; er liegt im Selbstbewußtsein und der Selbständigkeit der Rentner. Grundrente folgt den Regeln des Versorgungsstaates, Beitragsrente der Idee der Vorsorge. Beitragsrente ist solidarische Vorsorge. Grundrente ist Gleichmacherrente; Beitragsrente ist Leistungsrente mit Solidarausgleich.
- Ich kann Ihnen noch ein paar Namen nennen: Simonis, Schröder.
Ich wollte an den Anfang die Feststellung der Übereinstimmung der großen Mehrheit dieses Hauses setzen. Es ist auch für die Rentner und die Beitragszahler wichtig, daß es hinsichtlich dieses Punktes Übereinstimmung gibt.
Die Reform, die wir vorschlagen, bleibt auf der Spur unseres bewährten Rentensystems. Wir sichern die Renten, indem wir die Beitragszahler entlasten und Generationengerechtigkeit schaffen. Dies geschieht durch eine demographische Formel, durch
das Zurückdrängen von beitragsfreien Zeiten, durch versicherungsgerechte Zuordnung der Risiken der Erwerbsunfähigkeit, durch die Weiterentwicklung der Kindererziehungszeiten und durch Umfinanzierung, die auf direktem Weg die Lohnzusatzkosten senkt. Wir stellen uns der Verantwortung für jung und alt - ich sage bewußt: jung und alt -, für Beitragszahler und Rentner. Wer die Antwort auf Veränderungen verweigert, der begibt sich der Chance, die Veränderungen zu gestalten; der wird gestaltet.
Im Zentrum unserer Vorschläge steht Generationengerechtigkeit, gerechte Lastenverteilung zwischen jung und alt. Wir leben länger. Das ist erfreulich. Also werden auch die Renten länger gezahlt. Im Jahre 1960 betrug die durchschnittliche Rentenbezugszeit, also die Zeit, in der jemand eine Rente erhielt, 10,1 Jahre. Im Jahre 1996 waren es 15,9 Jahre, also fast sechs Jahre mehr. Das sei jedem gegönnt. Wir streben das ja auch für uns an.
Ein Jahr längere Rentenbezugszeit kostet die Rentenversicherung 27 Milliarden DM, das sind 1,5 Beitragspunkte. Rechnen Sie selbst aus, was das für sechs Jahre mehr Rentenlaufzeit bedeutet. Hätten wir noch die Rentenlaufzeit von 1960, läge der Beitragssatz in der Rentenversicherung bei 12 Prozent, und niemand würde sich über die Rentenversicherung streiten. Darauf muß eine Antwort gegeben werden. Steigende Rentenbezugszeiten können nicht allein von den Jungen bezahlt werden; denn die Rentner partizipieren als erste von der längeren Rentenbezugszeit.
Die Rentner heute haben in ihren jungen Jahren als Beitragszahler weniger Rentenjahre für die damaligen Rentner bezahlen müssen als die jetzigen Beitragszahler für die heutigen Rentner. Die Rentner des Jahres 1995 beziehen zwei Jahre länger Rente, als sie auf der Berechnungsgrundlage von 1980 als Beitragszahler finanzieren mußten. Diese Balance ins Gleichgewicht zu bringen ist die Aufgabe des Generationenausgleichs.
Die demographische Formel ist eine Ausgleichsformel im Übergang. Wenn die Lebenserwartung nicht weiter steigt, ist auch die demographische Formel außer Kraft gesetzt. Sie ist eine Gerechtigkeitsformel im Übergang.
Die Anhebung der Altersgrenze, die Sie ohne genaue Angaben ins Auge fassen, ist eine unvollständige Antwort auf die gestiegenen Rentenbezugszeiten. Es ist eine Antwort, aber eine unvollständige.
Denn von der Anhebung der Altersgrenzen werden die jetzigen Rentner gar nicht berührt. Es sind aber die jetzigen Rentner, die längere Rentenlaufzeiten - Gott sei Dank - genießen. Ein 70jähriger wird von der Anhebung der Altersgrenze auf 65 Jahre aber bekanntlich nicht erreicht.
Was will die demographische Formel? Sie will das mit Beiträgen erworbene Rentenvolumen, den Anspruch des Rentners, auf mehr Jahre verteilen. Da wird nicht gekürzt. Das macht jede Versicherung,
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
also auch eine Sozialversicherung. Höhe mal Zeit: Das ist der Wert des Rentenanspruchs.
Sie haben sehr viel Unheil angerichtet. Das sage ich unter dem Eindruck einer Telefonaktion des Bundesarbeitsministeriums, die an zehn Tagen zwölf Stunden pro Tag mit 30 Telefonen durchgeführt wurde. Sie haben den Rentnern eingeredet, die Niveausenkung sei Rentenkürzung. Das ist eine böswillige Irreführung. Da verstehe ich überhaupt keinen Spaß.
Die Rentenformel heißt, daß sich die Anpassung langsamer vollzieht, im Durchschnitt um 0,4 Prozentpunkte im Jahr. Um 0,4 Prozentpunkte im Durchschnitt weniger geht es, nicht um Rentenkürzung.
- Ja, ich erkläre es Ihnen ganz langsam. Wenn Sie es dann noch nicht verstanden haben und einfach weitererzählen, dann sollten Sie Ihren Führerschein abgeben.
Bei einer durchschnittlichen Lohnsteigerung von 3 Prozent und prognostizierter Erhöhung der Lebenserwartung - es ist eine prognostizierte Erhöhung, es kann langsamer, aber auch schneller gehen - wird aus einer monatlichen Rente von 2000 DM im Jahre 2000 eine Rente von 4310 DM im Jahre 2030. Ohne unsere Reform wären es 4544 DM. Das ist ein Unterschied von 234 DM in 30 Jahren. Darum geht es.
Wegen dieses Unterschieds versetzen Sie die Rentner in Angst und Schrecken, stecken sie in Brand. Das ist unverantwortlich. Es gibt keine Rentenkürzungen.
Noch ein Beispiel zum Thema Armut: Ein Durchschnittsverdiener muß heute 27 Jahre lang Beiträge zahlen, um die Sozialhilfeschwelle von 1250 DM zu übersteigen. In Zukunft werden das 28,5 Jahre sein, also eineinhalb Jahre länger. Wird es jetzt wegen eineinhalb Jahren länger eine Massenbewegung in die Sozialhilfe geben?
Erich Standfest, angesehener DGB-Rentenexperte - und nicht nur das: zur Zeit Vorsitzender des Vorstandes des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger - hat darauf aufmerksam gemacht - ich zitiere -:
Bei der Einführung eines demographischen Faktors bleibt es dem Versicherten bei entsprechender Arbeitsmarktsituation unbenommen, über die Regelaltersgrenze hinaus zu arbeiten und durch entsprechende Zuschläge für sich das individuelle Nettorentenniveau von 70 Prozent zu erreichen.
Meine Damen und Herren, wir machen also keine Rentenrevolution. Die Rentenreform ist eine behutsame Weiterentwicklung unter der Maxime Generationengerechtigkeit. Für mich gehört zur Solidarität auch Gerechtigkeit.
Noch etwas: Selbst wenn die Rentenversicherung im Geld schwimmen würde - das tut sie leider nicht -, selbst dann wäre aus Gerechtigkeitsgründen eine demographische Komponente notwendig, um die Lasten zwischen Alt und Jung gerecht zu verteilen. Wir machen diese Reform nicht nur aus Geldsorgen, sondern um der Gerechtigkeit willen.
Das Gebot der Generationengerechtigkeit ist: Die Alten müssen auf die Jungen Rücksicht nehmen, und die Jungen auf die Alten. So ist das in jeder guten Familie. So ist das in unserer Rentenversicherung. So schwer kann die Rücksicht zwischen den Generationen nicht sein. Denn die Alten waren einmal jung, und die Jungen werden alt.
Deshalb muß verantwortliche Rentenpolitik in Lebenszyklen denken. Sie darf nicht eine Generation gegen die andere ausspielen. Die Zukunftsfähigkeit des Rentensystems hängt von der gerechten Lastenverteilung zwischen Jung und Alt ab.
Sie sagen, demographische Korrekturen solle man ein bißchen später, nach 2015, einführen. Dann liegt das Kind schon im Brunnen. Denn die Verlängerung der Lebenserwartung findet jetzt statt. Herr Dreßler, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Ich fasse die Vorschläge der SPD zusammen: Sie antworten nur auf eine Frage: Wie komme ich an das Geld anderer Leute?
Ich kann Ihnen dies vorrechnen - es ist peinlich -: Dreimal soll der Bundeszuschuß erhöht werden; dreimal werden die Kassen anderer Sozialversicherungen angezapft:
Zweimal die Bundesanstalt für Arbeit - einmal bei der Frühverrentung und einmal bei den arbeitsmarktpolitischen Folgen der Erwerbsunfähigkeit - und einmal die Unfallversicherung. Es wird also dreimal in die Kassen anderer Sozialversicherungen und dreimal in die Bundeskasse gegriffen. Das sind die Vorschläge der SPD.
Ich frage Sie: Was ist daran gerecht? Wer bezahlt das? Wer bezahlt die Beiträge? Das sind die Jungen. Die SPD macht eine Rentenreform auf dem Rücken der Jungen. Das ist keine Rentenreform.
Sie setzen einen gigantischen Verschiebebahnhof in Betrieb und nennen das Rentensanierung. Mit der rechten Hand wird genommen, was Sie mit der linken Hand ausgeben. Mit Geld, das Sie aus dem einen Loch nehmen, stopfen Sie ein anderes.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
- Sie wollen doch Entscheidungen zurücknehmen,
und zwar alle aus dem letzten Jahr. Sie wollen verschieben und zurücknehmen. Hurra, wir satteln drauf - das ist die Maxime der Rentenpolitik der SPD.
Was ist daran gerecht? Was ist mit einer Entlastung? Daß man der Erosion der Solidargemeinschaft entgegentreten muß - auch zu diesem Thema möchte ich etwas sagen -, da hat die SPD recht. Nur, ich mache darauf aufmerksam: Zur langfristigen Sanierung trägt das nicht bei. Dies ist auch ein Gerechtigkeitsthema. Wer Beiträge zahlt, hat auch irgendwann Ansprüche. So ist das in einem Beitragssystem.
Ich fasse zusammen: Im Mittelpunkt der Vorschläge der SPD stehen mehr Ausgaben und mehr Einnahmen. Die SPD hat keine Antwort auf die demographische Veränderung.
Frau Fischer, mein Kompliment: Die Grünen sind weiter als die SPD. Daß ich das noch erleben mußte!
Das hätte ich in meinen kühnsten IG-Metall-Träumen nie erwartet.
Ich zitiere die Grünen mit ihrer freundlichen Erlaubnis:
Aus der Sicht von Bündnis 90/Die Grünen werden damit die kritischen Anfragen der jungen Generation nicht ernstgenommen.
Ihr Bündnispartner!
Die SPD stellt in ihrem Reformkonzept vor allem Maßnahmen zur Verbesserung der Einnahmesituation der gesetzlichen Rentenversicherung in den Mittelpunkt.
Die Grünen, 14.5. 1997
Zu Recht erkennen die Grünen in den Sanierungsvorschlägen der SPD Einnahmeverbesserungen, aber nicht den Mut zu strukturellen Antworten unter den Stichworten Solidarität und Gerechtigkeit.
An einer Stelle, nämlich bei der Reform der Hinterbliebenenrente, ist der Ansatz einer Strukturveränderung, wenn auch zwischen wenig und nichts, zu erkennen.
- Doch, die in der Ehe erworbenen Rentenansprüche sollen gesplittet werden. Ein Beitragszahler mit Trauschein verliert möglicherweise Rentenansprüche. Wer mit seiner Freundin ohne Trauschein zusammenlebt, wird von dem Splitting überhaupt nicht betroffen. Zwei Beitragszahler, Zwillingsbrüder, gleiches Geburtsdatum, gleicher Beruf, alles gleich, nur, der eine lebt mit seiner Frau mit standesamtlicher Bescheinigung und der andere ohne: Der ohne Trauschein wird vom Splitting überhaupt nicht betroffen.
Sagen Sie mir einmal, was daran Beitragsgerechtigkeit ist! Beitrag ist Beitrag, ob der Beitragszahler verheiratet ist oder nicht.
Deshalb füge ich Ihrem Vorschlag, Herr Dreßler, noch einen weiteren zur Verwaltungsreform hinzu. Wenn Sie sich mit Ihrem Vorschlag durchsetzen, dann sollten Sie auch die Standesämter abschaffen. Wer dann noch zum Standesamt geht, kann nicht rechnen.
- Nicht unter allen Konstellationen, es gibt auch Gewinner. Aber es gibt auch Rentenverluste von bis über 1000 DM. Wenn Ihre Mitglieder aus der Höhe der Philosophie dieses Splittings einmal herunterkommen und den Rechenschieber anwenden, dann werden sie überrascht sein: bis zu 1000 DM und mehr an Renteneinbuße dank Ihres Splittings. Das Splitting gehört zur gescheiterten Ehe, aber nicht zur intakten Ehe. Der Rentenversicherung steht es nicht an, die Ehe zu diskriminieren. Beitragszahler ist Beitragszahler.
Ich gebe zu, es gibt Änderungsbedarf bei der Hinterbliebenenrente. Wenn die Ansprüche der Frauen aus eigenen Beitragszahlungen steigen, dann sinken natürlich auch die Ansprüche auf abgeleiteten Unterhaltsersatz. Auf der Schiene muß man weiterdenken. Aber wir werden die Vorschläge erst machen, wenn die Untersuchungen, die wir mit den Rentenversicherungsträgern erarbeiten, vorliegen. Wir machen Rentenpolitik nicht auf Verdacht, sondern auf Grund von Fakten.
Ich komme nun zu den Kindererziehungszeiten. Wir wollen in Zusammenhang mit der Neuordnung der Hinterbliebenenrente auch die familienpolitischen Leistungen neu ordnen und jetzt schon die Bewertung der Kindererziehungszeiten erhöhen. Sie sollen erstens nicht anstelle der Beiträge aus Erwerbsarbeit, sondern zusätzlich gezahlt werden. Zweitens wollen wir die Kindererziehungszeiten schrittweise so wie einen Beitrag aus dem Durchschnittsverdienst bewerten. Ich sehe da nicht nur eine materielle Aufbesserung, sondern auch eine Anerkennung der Kindererziehungsarbeit, die nicht weniger wert als der Durchschnittsverdienst ist. Auf diese Anerkennung haben die Menschen einen geradezu moralischen Anspruch.
Erwerbsminderungsrenten - das gestehe ich zu - sind der schwierigste Teil unserer Reformvorschläge. Ich will festhalten, daß die jetzigen Erwerbsminderungs- und -unfähigkeitsrenten nicht berührt sind, weil ich festgestellt habe, daß auch davon Betroffene in Schrecken versetzt wurden. Das gilt für die Zukunft, und zwar ab dem Jahre 2000.
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
Es geht zunächst einmal um die sachgerechte Zuordnung der Risiken. Erwerbsunfähigkeit und Invalidität haben etwas mit dem Gesundheitszustand zu tun. Die Rentenversicherung kann nicht bezahlen, wenn kein Arbeitsplatz vorhanden ist; denn die Rentenversicherung ist doch keine Arbeitslosenversicherung. In einem gegliederten System muß jede Versicherung für das Risiko zuständig sein, für das Beitrag gezahlt wird. Sonst hat jeder jede Hand in jeder Tasche, und niemand weiß, wer was bezahlt. Deshalb brauchen wir eine klare Trennung, wie es der Sinn der Invalidenrente auch immer war. Erst die Rechtsprechung hat diese Verwischungen ermöglicht.
Teilerwerbsminderungsrente: Wir nehmen vom Alles-oder-Nichts-Prinzip Abschied. Wer noch teilerwerbsfähig ist, erhält auch nur eine Teilerwerbsminderungsrente. Die kann er durch Teilzeitarbeit oder durch Teilzeitarbeitslosengeld, das wir ja eingeführt haben, ergänzen.
Wir führen die Erwerbsminderungsrente auf Zeit als Regelfall ein - übrigens nach holländischem Vorbild -, weil ja nicht jede Erwerbsminderungsrente ein Dauerzustand ist. Wenn die Erwerbsminderung eine dauerhafte ist, bekommt der Empfänger auch dauerhaft die entsprechende Rente. Aber Erwerbsminderung bedeutet nicht von vornherein Erwerbsminderung für immer.
Wir schaffen die Berufsunfähigkeitsrente - hier gibt es eine Übereinstimmung mit Ihren Vorschlägen - ab; denn davon waren die Arbeitnehmer mit hohen Berufsabschlüssen begünstigt. Wir versichern aber nicht Diplome, sondern wir versichern Einkommen. Daraus werden Beiträge gezahlt.
Wenn die Altersgrenze angehoben wird, dann muß man verhindern, daß die Erwerbsminderungsrente ein neuer Seiteneingang wird. Da gibt es das schwierige Problem der Abgrenzung. Man muß verhindern, daß diejenigen - die gibt es nämlich auch -, die ständig auf Vorteilssuche sind, die dauernd rechnen, sozusagen über den Seiteneingang Erwerbsminderungsrente die Anhebung der Altersgrenze umgehen. Wenn Sie, Herr Dreßler, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dazu bessere Vorschläge haben - es ist schwierig, das gebe ich zu -, dann herzlich willkommen!
Zur Kostenentlastung: Wir möchten durch Umfinanzierung Beitragszahler entlasten. Mehr Arbeitsplätze sind die beste Einnahmeverbesserung, und mehr Beschäftigung bringt mehr Geld in die Kassen. Im übrigen sind mehr Beschäftigte nicht in jedem Falle mehr Beschäftigung. Wenn Sie durch Arbeitszeitverkürzung mehr Beschäftigte schaffen, haben Sie nicht automatisch mehr Beschäftigung. Es geht um mehr Beschäftigung, und dazu muß auch die Sozialversicherung einen Beitrag leisten. Sie muß ihn deshalb leisten, weil es sinnlos wäre, wenn die Sozialversicherung mit immer höheren Beiträgen ihre eigene Einnahmequelle verstopft. So dumm ist doch kein Bauer, daß er die Kuh schlachtet, die er melken will.
Es geht also darum, einen Beitrag dazu zu leisten, daß die Beschäftigung wächst - und damit auch die Beitragseinnahmen.
Im übrigen greift der Bund der Rentenversicherung - das scheint unbekannt zu sein - mit 92,7 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt unter die Arme. Das ist fast jede fünfte Mark aus dem Bundeshaushalt. Seien Sie also vorsichtig mit Ihrer Fremdleistungsdiskussion. Seien Sie also vorsichtig, es so darzustellen, als würde der Bund die Rentner im Stich lassen! Niemals ist ein höherer Bundeszuschuß gezahlt worden als jetzt! Wir wollen - ich sage es ausdrücklich -15 Milliarden DM zur Senkung der Beiträge einsetzen.
Wir verfolgen also eine Doppelstrategie: strukturelle Veränderungen und Umfinanzierung. Wir befinden uns da in Übereinstimmung mit den Sozialpartnern, zum Beispiel mit DGB, DAG und BDA. In einer gemeinsamen Presseerklärung der Sozialpartner ist das Ziel festgelegt, die Entlastung des Rentenversicherungssystems sowohl durch strukturelle Veränderungen als auch durch Umfinanzierung zu erreichen. Wo sind Ihre großen strukturellen Ansätze? Wie antworten Sie auf demographische Veränderungen?
Jetzt will ich noch etwas zur Lebenssituation der Rentnerinnen und Rentner sagen. Wer nur wenige Jahre Beitrag gezahlt hat, kann nicht erwarten, daß ihm die Rentenversicherung seinen Lebensstandard sichert. Unter denjenigen, die wenig Beitrag gezahlt haben, sind auch solche, die anschließend Beamte oder auch selbständig wurden. Sie sind aber deshalb noch keine armen Menschen.
Es ist bekannt, daß viele ein zweites und drittes Einkommen haben, so daß nicht von der Rentenhöhe auf die Lebenssituation geschlossen werden kann. Männer mit einer eigenen Rente unter 500 DM leben von einem durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommen von 3 230 DM. Das sind die angeblichen kleinen Rentner. Bei den Frauen mit unter 500 DM Rente - da denkt man, das sind die Kleinen - beträgt das durchschnittliche Nettogesamteinkommen im Haushalt 2 510 DM in den alten Ländern und 1 780 DM in den neuen Ländern. Witwen mit einer Witwenrente unter 300 DM - jetzt denkt man, wir sind am Kern; ich sage das ohne Ironie, ohne jede Spur von Ironie, es gibt nämlich Arme - haben ein durchschnittliches Nettogesamteinkommen von 1 830 DM im Westen und 1 520 DM im Osten.
Also, eine kleine Rente ist kein Ausweis für Altersarmut. Es gibt Arme, und denen müssen wir helfen, auch und gerade im Alter. Aber das hier so darzustellen, als hätten wir ein Massenelend unter den Alten, widerspricht der Wahrheit und allen Tatsachen. Gott sei Dank haben wir eine Rentenversicherung!
Der Anteil der Sozialhilfeempfänger über 60 Jahre an der Zahl der Rentner hat sich seit 1970 halbiert. 280 000 Menschen über 60 Jahre erhalten Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt. Ich gehe nicht über das Schicksal dieser 280 000 hinweg; denn es sind immerhin 1,5 Prozent der über 60jährigen. Aber wenn Sie mich fragen, wo Armut eher zu finden ist, dann ant-
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
worte ich: bei den kinderreichen Familien und nicht so sehr bei den über 60jährigen.
Wenn Sie schon über Gerechtigkeit, über die durchschnittlichen Beitragsjahre reden: Auch das sagt nichts über die tatsächliche Lage aus. Es wird Sie überraschen: Die Zahl der durchschnittlichen Beitragsjahre hat zugenommen. Sechs Jahre bei den Männern, bei den Frauen weniger, was damit zusammenhängt - die Fachleute werden es verstehen -, daß wir die Wartezeit reduziert haben. Jetzt haben Frauen Altersrentenansprüche, die vorher keine hatten. Oder denken Sie an die Kindererziehungszeiten - eine wirkliche sozialpolitische Verbesserung. Sie bewirken eine Verringerung der durchschnittlichen Zahl der Beitragsjahre, weil ein Teil der Frauen zum ersten Mal einen Rentenanspruch hat.
Trotz der bisher schon erreichten Fortschritte brauchen wir eine Rentenreform. Wir leben zwar nicht im Überfluß, aber wir haben mit unserer Rentenpolitik doch eine anständige Altersversorgung geschaffen. Ganz besonders stolz sollten wir zusammen darauf sein, daß wir die Renten in den neuen Ländern aus dem Keller herausgeholt haben - eine Erhöhung, um 192 Prozent.
Den Westlern sage ich: Hört auf, euch ständig als Buchhalter zu benehmen. Die Rentnergeneration in den neuen Bundesländern ist eine Generation, die in der Regel mehr mitgemacht hat, als uns im Westen zugemutet wurde. Sie hat zwei Diktaturen erlebt. Sie ist nicht schuld daran, daß ihre Rente so niedrig war. Die Menschen in Leipzig waren genauso fleißig wie die in Frankfurt am Main. Sie hatten nur das Pech, vom Sozialismus um die Früchte ihres Fleißes gebracht zu werden. Sie haben nicht mehr so viel Zeit, das Unrecht wettzumachen, das das Leben ihnen angetan hat. Da haben die jungen Leute mehr Zeit. Deshalb gönnt ihnen die Erhöhung ihrer Renten.
Deshalb werden die Renten im Osten nicht abgehängt.
Nun noch zum Thema Rentenarmut: Ich glaube, daß wir dafür sorgen müssen, daß die über Steuern finanzierte Sozialhilfe mit der Sozialversicherung besser verzahnt wird - allerdings nicht finanziell; denn das eine wird aus Steuern bezahlt und das andere über Beiträge. Ich bin dagegen, daß die Beitragszahler die Armutsbekämpfung übernehmen. Das ist eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft. Deshalb ist Existenzsicherung nicht Sache der Rentenversicherung. Das ist Aufgabe der Sozialhilfe. Da kann Organisatorisches besser verzahnt werden. Im Zeitalter der Informatik und der Kommunikation muß man die Menschen nicht von Schalter zu Schalter schicken; da schickt man die Akten von Schalter zu Schalter.
Meine Damen und Herren, bei aller Polemik
will ich doch darauf hinweisen, daß ich die Hoffnung auf Konsens nicht aufgegeben habe. Man soll bis zur letzten Minute hoffen. Aber wenn einer glaubt, er könne den Zug aufhalten, dann hat er sich verrechnet. Wir haben jetzt genug diskutiert. Es ist auch genug Porzellan zerschlagen worden. Aber wir sind keine Akademie, wir sind der Deutsche Bundestag. Jede Diskussion muß in eine Entscheidung münden, und jetzt wird über die Rentenversicherung entschieden!
Ich bin hier deshalb nicht so skeptisch, weil es in der SPD Stimmen gibt, die sich gegen Blockade und gegen Beton wehren. Ich zitiere Gerhard Schröder, den neuen Hoffnungsträger:
Ich bin allerdings, um die Wahrheit zu sagen, skeptischer als andere, ob sich das Rentenniveau unter allen Umständen so halten läßt, wie es derzeit ist.
„Um die Wahrheit zu sagen" - sagen Sie einmal die Wahrheit!
Kurt Beck, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz:
Ganz ohne Abstriche beim heutigen Rentenniveau wird es aber auf Dauer nicht gehen.
Florian Gerster, auch Sozialdemokrat, auch kein schlechterer als Herr Dreßler:
Wir müssen einen demographischen Faktor in die Rentenformel einarbeiten, der das Rentenniveau an die Dauer des Rentenbezugs anpaßt.
Walter Hirrlinger, altgedienter Sozialdemokrat, wirklich einer von der alten, handfesten Mannschaft, verdienstvoller Sozialstaatsverteidiger, kein Schmusepeter, ein Mann, der demonstrieren und protestieren kann, VdK-Präsident - ich zitiere ihn:
Mittelfristig muß sich die längere Lebenserwartung der Menschen in der Rentenformel niederschlagen.
Jetzt ganz langsam zum Mitschreiben: Ich halte das Konzept der SPD nicht für tragfähig.
Franz Ruland, hohe Rentenautorität, Geschäftsführer der Rentenversicherungsträger:
Ich meine, daß die Absenkung des Rentenniveaus, die ganz sukzessive bis 2030 erfolgt, ein für einen Versicherten akzeptabler Weg ist. Man muß hier auch einmal die Relation deutlich machen.
Lieber Herr Kollege Dreßler, die Bundestagsfraktion der SPD. steht einsam und verlassen auf einer Betoninsel der Unbeweglichkeit.
Kollege Rudolf Dreßler, Obermeister an der Betonmischmaschine,
kehren Sie zu den alten, besten Traditionen der Sozialpolitik zurück! Wir haben genug Gelegenheit zu
Bundesminister Dr. Norbert Blüm
streiten. Aber laßt uns in den Grundlagen unserer Rentenversicherung doch übereinstimmen! Daß wir eine Antwort auf Veränderungen geben müssen, ist klar. „Augen zu! " ist doch kein Ratgeber. Die Verweigerung, die Wirklichkeit wahrzunehmen, ist doch keine Einsicht.
Es gilt, die Rentenversicherung zu verteidigen, und zwar gegen diejenigen, die alles verändern wollen, alles kurz und klein schlagen wollen, alles auf den Kopf stellen wollen, alles neu anfangen wollen. Es gilt auch, sie gegen diejenigen zu verteidigen, die alles unverändert lassen wollen. Das ist eine unheilvolle Koalition, weil das nur zum Zusammenbruch führen kann. Gestalten heißt die Veränderungen meistern.
Nur wenn Alt und Jung zusammenhalten, keine Generation auf Kosten der anderen lebt, bleibt die Rentenversicherung das Schutzdach von Generation zu Generation.