Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ich eine sehr begrenzte Redezeit habe, kann ich mich leider nur kurz zu Denver äußern. Wahr ist, daß ein positives Element des Gipfels von Denver darin bestand, daß Rußland erstmalig teilnehmen konnte. Damit sind mit Ausnahme von China, glaube ich, die wichtigsten wirtschaftlich und politisch starken Staaten bei dieser Konferenz vertreten. Man muß allerdings hinzufügen, daß die Teilnahme Rußlands natürlich das Geschenk für die Zustimmung zur NATO-Osterweiterung ist, also mehr ein Deal als ein inneres Bedürfnis ist.
Davon abgesehen muß man feststellen, daß gerade dieser Gipfel am wenigsten gebracht hat - zumindest am wenigsten an irgendwelchen nennenswerten Fortschritten. Es ist schon vom Kollegen Fischer, aber auch vom Kollegen Scharping darauf hingewiesen worden, daß hinsichtlich der nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, hinsichtlich des Umweltschutzes nichts erreicht worden ist, und zwar nicht, weil die mächtigsten Staaten dazu nicht in der Lage wären, sondern weil sie es nicht wollen. Das ist das Entscheidende.
Es gab dort keinen einzigen Vertreter, der hätte sagen können: Ich komme hier mit einem vorbildlichen Ergebnis und erwarte, daß sich die anderen Länder dem Schritt für Schritt anschließen - auch Sie nicht, Herr Bundeskanzler. Der Umweltschutz in der Bundesrepublik ist deutlich zurückgegangen, sowohl im Bewußtsein als auch tatsächlich. Die Emissionswerte werden schlechter. Viele andere Dinge, die hier schon genannt worden sind, wären hinzuzufügen. Deshalb konnte diesbezüglich gar kein Fortschritt erreicht werden.
Aber auch in der Finanzpolitik ist letztlich nichts herausgekommen; denn die Spekulation geht weiter. Sie haben keine Instrumente zur Eindämmung der Spekulation eingeführt. Auch Sie werden zugeben müssen, Herr Waigel, daß es zum Beispiel noch immer die Idee eines amerikanischen Nobelpreisträgers gibt, endlich eine internationale Transfersteuer einzuführen, um die Spekulation einzudämmen. Nichts dergleichen ist in Denver besprochen worden, geschweige denn herausgekommen.
Was Beschäftigung und die soziale Frage betrifft - die standen in Denver nicht einmal zur Debatte. Wenn sich die wichtigsten Staatschefs dieser Welt treffen und dabei nicht über die soziale Frage auf unserem Erdball sprechen und auch nicht darüber, wie man das Beschäftigungsproblem lösen kann, dann ist dieser Gipfel einfach verfehlt. Man kann sagen: Außer Spesen nichts gewesen. Das ist die traurige Tatsache von Denver.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf einen Bericht der UNO eingehen, einen Bericht, der mich erschüttert hat. Er ist in der „Frankfurter Rundschau" vom 13. Juni 1997 wiedergegeben worden. Da heißt es, daß die Zahl der Obdachlosen, der Ar-
Dr. Gregor Gysi
beitslosen und der Armen weltweit angestiegen ist, auch und gerade in den Industriestaaten. Dort heißt es auch:
Andererseits ist die Zahl der Dollarmilliardäre
- ich wiederhole: Dollarmilliardäre; ein Dollarmilliardär besitzt 1 000 Millionen Dollar -
zwischen 1989 und 1996 von 157 auf 447 gestiegen.
- Jetzt hören Sie genau zu! -
Die zehn reichsten Personen der Welt besitzen 133 Milliarden Dollar, anderthalbmal soviel wie die Nationaleinkommen der 48 am wenigsten entwickelten Länder zusammen.
Das heißt, daß zehn Menschen auf diesem Erdball anderthalbmal soviel besitzen wie 48 Staaten. Ich sage Ihnen: Solange das so ist und solange das zunimmt, bleiben demokratische Sozialistinnen und Sozialisten auf dieser Welt erforderlich.
Denn es kann einfach nicht gerecht sein und es kann nicht richtig sein, wenn eine Struktur einen solch riesigen Unterschied zwischen Arm und Reich hervorruft. Das kann auf dieser Erde durch nichts - auch durch kein Leistungsprinzip - erklärt werden.
Ein Gipfel, der daran nichts ändert und daran auch nichts ändern will, hat versagt.
Ich möchte jetzt wieder zu Deutschland zurückkommen. Deutschland ist, was die Lebensqualität betrifft, laut der zitierten UNO-Statistik von Platz 18 auf Platz 19 zurückgefallen und liegt jetzt zum Beispiel deutlich hinter Spanien. Es heißt dort:
Schuld daran sind die hohe Arbeitslosigkeit, die Zunahme der Einkommensarmut und die im Vergleich zu anderen Industrienationen schlechtere Ausbildung. Der Prozentsatz weiblicher Spitzenkräfte im Beruf ist in Deutschland um die Hälfte niedriger als beispielsweise in Kanada oder den USA.
Das heißt, auf all diesen Gebieten ist die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu anderen Industriestaaten stark zurückgefallen. Ich sage Ihnen: Wenn dieses Defizit dieser Bundesregierung zuzuschreiben ist, wird es höchste Zeit, daß die Politik grundsätzlich geändert wird.
Sie werden es nicht verhindern können, daß Menschen wie ich und andere immer wieder die soziale Frage sowohl weltweit als auch national auf die Tagesordnung setzen. Eine Welt, in der es solche Unterschiede gibt, wie ich sie Ihnen dargestellt habe, kann nicht gerecht sein. Mit Ihrer gesamten Steuerpolitik und mit Ihrer gesamten Sozialpolitik treiben Sie diese Entwicklung immer weiter voran, nämlich daß sich der Reichtum bei immer weniger Menschen häuft und die Armut bei immer mehr Menschen zunimmt.
Das muß gestoppt werden; hier brauchen wir endlich einen anderen Ansatz in der Politik.
Ich will jetzt etwas zu Amsterdam sagen. Es hat dort gewisse kleine Fortschritte gegeben, aber dabei handelt es sich meist um Fortschritte, die gegen den Willen der Bundesregierung durchgesetzt worden sind. Ich meine zum Beispiel die Verhinderung der Militarisierung der EU durch die WEU; allerdings ist das durch andere Staaten, nicht etwa durch Deutschland, verhindert worden.
Ich denke dabei weiter an die Tatsache, daß wir jetzt wenigstens ein Beschäftigungskapitel haben, wenn es auch leider unverbindlich ist und wenn es auch leider dank der Einwände der Bundesregierung ohne Geld und ohne Instrumente auskommen muß. Ich finde, es ist schon ein starkes Stück, wenn sich ein Bundeskanzler hinstellt und in bezug auf das wichtigste Thema, das wir sowohl in Deutschland als auch in Europa haben, sagt: Na schön, ein Kapitel darf aufgenommen werden, es darf aber nichts kosten; es darf dafür keine zusätzlichen Instrumente geben. Ich frage: Wie wollen Sie denn ohne Geld Beschäftigungslosigkeit, das heißt Massenarbeitslosigkeit, bekämpfen? Das geht weder in Europa, noch geht es in Deutschland.
Ich kann auch nicht zustimmen, wenn Herr Fischer und Herr Scharping hier erklären, es sei ganz wichtig, daß es keine Beschäftigungsprogramme auf europäischer Ebene geben dürfe. Es kann im Bereich der Infrastruktur und in anderen Bereichen durchaus sehr sinnvoll sein, Beschäftigungsprogramme zu starten. Das hier generell abzulehnen und dem Kanzler diesbezüglich eine Koalition anzubieten, halte ich für verfehlt. Das will ich ganz deutlich sagen.
Das Beschäftigungskapitel verdanken wir der französischen Regierung. Es gibt leider noch nicht viel her; ich bin auch nicht sehr optimistisch, was die Folgekonferenz betrifft.
Ich füge noch etwas hinzu: Wissen Sie, was ein Signal an die europäischen Völker gewesen wäre? Anstatt diesem Stabilitätsfetischismus mit diesen 3,00 Prozent, die Sie immer gepredigt haben und an die Sie sich jetzt nicht mehr halten - deshalb haben Sie auch einen Konflikt mit Ihrem Herrn Stoiber -, zu huldigen, hätten Sie eigentlich sagen sollen: Als Kriterium nehmen wir, daß ein Land nicht mehr als 3,00 Prozent Arbeitslose haben darf. Das wäre ein erstrebenswertes Ziel gewesen.
Tun Sie doch nicht so, als ob die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit nicht auch etwas mit Stabilität in der Wirtschaft und der Finanzwelt zu tun hat!
Nun stehen wir vor der Frage, wie es mit der Demokratieentwicklung in Europa weitergeht. Es war dieser Bundeskanzler, der immer dafür eingetreten
Dr. Gregor Gysi
ist, daß wir in der Europäischen Union Mehrheitsentscheidungen brauchen, daß man sich von kleineren Staaten nicht vorschreiben lassen dürfe, wie die Entwicklung weitergehen soll.
Wir waren immer für das Einstimmigkeitsprinzip zur Sicherung der Souveränität dieser kleineren Staaten. Interessant ist es schon, daß der Bundeskanzler an dem Tag, an dem ein anderer Wind aus Europa wehte, wo er befürchten mußte, einmal überstimmt werden zu können, plötzlich zum Vorreiter des Einstimmigkeitsprinzips wurde und es in wichtigen Fragen wie der Industriepolitik, der Strukturpolitik und der Asylpolitik konsequent ablehnt, daß es Mehrheitsentscheidungen gibt.
Sie wissen, was das heißt: Das heißt bei aller Erweiterung der Rechte des Europaparlaments, daß das Europaparlament in entscheidenden Fragen nichts zu sagen hat. Dort, wo das Einstimmigkeitsprinzip gilt, ist das Europaparlament nicht gefragt.
Hier kommen wir zu einem Problem, das bisher im Bundestag nur ganz wenig erörtert worden ist, nämlich zu der Tatsache, daß wir Montesquieus Prinzip der Gewaltenteilung aufgeben. Es gibt ein Doppelkonstrukt: Das Europaparlament ist keine wirkliche Legislative der Europäischen Union, den nationalen Parlamenten werden meist nur Verträge vorgelegt, und dann bekommt das Ganze einen völkerrechtlichen Charakter. Damit gibt es keine Gestaltungsmöglichkeit, sondern nur noch die Möglichkeit, ja oder nein zu sagen, wie das nun einmal bei völkerrechtlichen Verträgen der Fall ist.
Insofern wird die Legislative national, aber auch europäisch zurückgedrängt, und die Exekutive aus den Nationalstaaten übernimmt legislative Funktionen im EU-Ministerrat und in den Kommissionen. Das kann keine gute demokratische Entwicklung sein.
Herr Fischer, ich muß Ihnen sagen: Meines Erachtens ist es ein wenig naiv, zu sagen: Absolute Priorität hat jetzt der Euro, und um Demokratie, um soziale und demokratische Grundrechte für die Europäerinnen und Europäer kümmern wir uns später. Solchen Illusionen sind die Linken schon oft verfallen.
Wir wollen eine Verfassung, die die Grundrechte politisch und sozial für die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union festschreibt. Das ist die Voraussetzung, bevor man zu einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion kommt.
Deshalb sage ich Ihnen eines: Man kann den Euro nationalistisch kritisieren wie Herr Stoiber.
Das ist jedoch ein falscher Ansatz, und er wird unsere
Kritik finden. Man kann ihn zweifellos auch sozusagen stabilitätsfetischistisch kritisieren, auch das ist nicht unser Punkt.
Unser Punkt ist, daß wir mit dem Euro den Rest Europas, die anderen Staaten, die nicht daran teilnehmen, weiter abdrängen. Der Euro ist kein Integrationsmittel, er ist ein Desintegrationsmittel.
Unsere Kritik betrifft die politischen und demokratischen Defizite, aber vor allem die Tatsache, daß die steuerlichen, die ökologischen, die sozialen und die juristischen Standards in Europa ganz unterschiedlich sind. Mit einer Binnenwährung erzwingen Sie die Angleichung, aber Sie erzwingen sie nach unten. Das wird zu sozialen Eruptionen führen.
Herr Fischer, damit schaffen Sie die Voraussetzung für viele Gauweilers.
Das ist das Problem. Sie entziehen dem Gauweiler nicht die Basis, Sie schaffen die Basis für viele Gauweilers.