Rede von
Gert
Weisskirchen
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die friedlichen Revolutionen im europäischen Osten haben für einen kurzen Moment eine unerhörte Chance eröffnet. Die Vereinten Nationen hätten Zentrum weltweit aufeinander abgestimmten politischen Handelns werden können - nicht, weil das ein alter Traum der Menschheit ist, dem Immanuel Kant eine so schöne plastische Gestalt gegeben hat, nämlich den Krieg mit vereinten Kräften aus der Welt zu schaffen. Nein, den Frieden weltweit zu sichern ist unverzichtbar, weil so erst unser Blick wirklich frei werden kann auf die Probleme, die die Menschheit belasten.
„Der historische Moment darf nicht verlorengehen", lautet der Appell von Paul Kennedy und Bruce Russett, den sie kürzlich in der Zeitschrift „Foreign Affairs" veröffentlicht haben.
In der Tat: Die internationale Staatengemeinschaft steht vor einem Kreuzweg. Der eine Weg führt in die Renationalisierung, zurück in den Schein des behütenden Nationalstaats. Das ist nichts anderes als Illusion. Mehr noch: Es ist der Versuch, sich selbst zu täuschen. Das Denken in kurzen Fristen, das dahintersteckt, ist verhängnisvoll. Leider ist auch die Politik davon nicht frei. Nach uns die Sintflut - was kümmert uns schon die Zukunft derer, die nach uns kommen.
Es gibt Turbulenzen. Schließlich gibt es noch die Organisation der Vereinten Nationen; auf sie kann man dann die eigenen Versäumnisse ablenken, man braucht ja ein Opferlamm. Die Schwerfälligkeit der Entscheidungsprozesse der UNO, ihre Bürokratie, die Hartnäckigkeit des Generalsekretärs, was auch immer: Die Nationalstaaten ziehen es heran, um sich der eigenen Verantwortung zu entziehen.
Aber es gibt neben diesem Weg der Renationalisierung noch einen anderen Weg. Er führt dahin, die Vereinten Nationen ernsthaft und grundsätzlich zu reformieren, damit sie vorbereitet werden auf die Zeiten, die kommen werden. Diese Zeiten werden schwieriger werden; machen wir uns nichts vor.
Lassen Sie mich das an einer fundamentalen Trendverschiebung deutlich machen. Als die Vereinten Nationen gegründet worden sind, lebte fast ein Drittel der Menschen auf der Erde in entwickelten Ländern. Das hat sich dramatisch verändert: Seit 1950 ist diese Zahl um fast die Hälfte gesunken. Hier reiche Regionen - in denen Armutszonen einzusikkern beginnen -, deren Wohlstand immer noch - langsamer zwar als zuvor, aber immer noch - wächst; dort, auf der anderen Seite der Erde, arme Regionen.
Aber man darf sich nicht täuschen lassen; auch in diesen armen Regionen gibt es Inseln, Bastionen derer, die sozusagen die Globalisierungsgewinner sind. Sie versuchen sich abzuschotten, zu behaupten innerhalb dieser Armutszonen. Die allerdings stehen in der großen Gefahr, abzustürzen in soziales Elend.
Das Bild der Erde also wird bunter, vielfältiger. Auf der einen Seite wachsen die Chancen für viele, auf der anderen Seite nehmen die sozialen Spannungen an Schärfe zu. Willy Brandt hat das - das ist fast 25 Jahre her - vor den Vereinten Nationen so ausgedrückt:
Not ist Konflikt. Wo Hunger herrscht, ist auf Dauer kein Friede. Wo bittere Armut herrscht, ist kein Recht. Wo die Existenz in ihren einfachsten Bedürfnissen täglich bedroht bleibt, ist es nicht erlaubt, von Sicherheit zu reden.
Nichts, nichts Wesentliches jedenfalls, hat sich seither verändert. Noch immer ist die Sorge der Mehrheit der Menschen in weiten Teilen der einen Welt die Sorge um das tägliche Brot.
Heute, an diesem Tag, haben die Vereinten Nationen den jüngsten Bericht über die menschliche Entwicklung veröffentlicht. Was zu befürchten war - dort kann man es nachlesen. Afrika südlich der Sahara, die Kernregionen des schwarzen Kontinents - dort konzentrieren sich Elend, Hunger und Not. Hier leiden die Menschen an der höchsten Armutsrate der Welt. Hier wüten auch die Herren des Krieges. Sie schlachten Kinder, Frauen und Greise dahin, kämpfen um die Vorherrschaft, um Gold und Bodenschätze und morden sich an die Spitze ihrer Staaten über Leichen in die Macht.
Afrika südlich der Sahara hält uns, der Welt, den Spiegel vor. Wir erkennen in diesem Spiegel verlorene Chancen, Folgen des Kolonialismus, der eine weiße Farbe trug. Afrika - das ist aber auch der Mut von Schwarzen, sich gegen Unrecht aufzulehnen. Diese Hoffnung trägt einen Namen: Nelson Mandela.
Gert Weisskirchen
Südafrika ist aufgebrochen in den Farben des Regenbogens - ein Land zum Zerreißen gespannt von inneren sozialen Konflikten und doch bereit, zu versöhnen, statt zu vergelten; bereit, die Kraft des ungebrochenen Herzens zu verbinden mit dem Mut, zu vergeben; bereit, den Opfern ihre Würde zurückzugeben und den Tätern eine zweite Chance. Im tiefen Süden Afrikas also, dort gibt es auch das Gegenbild zur Tragödie seiner Massengräber. Hier liegt Afrikas Zukunft.
Wäre es nicht auch unsere Aufgabe, gemeinsam mit den reichen Nationen der Erde, die OAU, die Organisation der afrikanischen Einheit, stärker zu unterstützen als bisher? Längst haben die afrikanischen Staaten begonnen, Lösungen zu erarbeiten, um die Sprengsätze regionaler Konflikte zu entschärfen. Konzepte, die Vertrauen stiften, schälen sich heraus. Konflikte, die die Machtversessenen mißbrauchen, um Haß zu säen und Gewalt zu schüren, können so eingehegt werden, bis sie stillgelegt sind.
Kürzlich, vor einer Woche, haben die Länder Afrikas in Harare diesen Weg beschritten. Kofi Annan hat sie darin bestärkt. Was ihnen noch fehlt, ist vor allem die technische Infrastruktur und der finanzielle Rahmen. Statt, wie geschehen, 350 Millionen DM für Ruanda/Burundi auszuschütten, um Flüchtlingen zu helfen - so notwendig und wichtig das auch war -, wäre es da nicht sinnvoller gewesen, in die Prävention zu investieren, damit so etwas gar nicht erst entsteht?
Verschließen wir nicht die Augen vor dieser Wirklichkeit der Welt und handeln jetzt und stärken jetzt die Vereinten Nationen und ihre Fähigkeiten zur vorbeugenden Bewältigung von Krisen!
Die Wirklichkeit wird uns doch ereilen. Wir werden uns davor nicht schützen können.
Um es ganz konkret und praktisch auf den Punkt zu bringen: Ich finde es ungehörig - ich will das so deutlich und drastisch sagen -, daß es in der Koalition oder doch zumindest unter denjenigen, die über den Haushalt entscheiden, noch immer Überlegungen gibt, die UNIDO als eines der zentralen Instrumente, um einen wirklich zivilen Aufbau und Umbau in den Ländern Schwarzafrikas voranzutreiben, abzuschaffen oder sie so abzubauen, daß sie nicht mehr arbeiten kann. Ungeheuerlich ist das!
Was auf uns zukommen wird, das kann man in den großen Städten der USA, in London und auch - zwar erst zaghaft - in Berlin erkennen, nämlich die Umbrüche der Kulturen. Es kommt auf diese Umbrüche in den Kulturen an. Wir können uns nicht gegenüber den entgangenen Chancen der übergroßen Mehrheit der Menschen dieser Erde abschotten. Ein Drittel aller Menschen, so sagt der jüngste Bericht der Vereinten Nationen, der heute veröffentlicht worden ist, lebt unter der absoluten Armutsgrenze. Könnte man es ihnen verdenken, wenn sie versuchen, die Chancen zu verwirklichen, hinsichtlich deren wir ihnen durch unsere Medien, über CNN und andere Sender, ständig deutlich machen: „Das sind die universalen Werte der europäischen Zivilisation", und wenn sie nun sagen: „Auch wir gehören zu dieser Universalität und werden versuchen, einen Weg zu finden, um an diese Werte heranzukommmen", selbst wenn sie in ihren eigenen Ländern nicht realisiert werden können? Können wir uns wirklich davor schützen, daß es Massenwanderungen über den Globus hinweg bis hin zu uns gibt? Nein, es kommt darauf an, alles daranzusetzen, soviel Kraft wie nur möglich aufzubringen und die UNO dafür zu nutzen, daß es einen Ausgleich der Chancen für alle Menschen auf dieser Erde gibt; denn die Universalität der Menschenrechte gilt für alle. Dafür brauchen wir dringender denn je die Vereinten Nationen.