Rede von
Rudolf
Dreßler
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es ist für das Hohe Haus von Interesse, wie die Eingangsbewertung des Bundesministers für Gesundheit über das Verhandlungsangebot an die SPD in der Praxis abgelaufen ist. Das Angebot der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen an die sozialdemokratische Fraktion zur Verhandlung bestand darin, die heute zur endgültigen Verabschiedung anstehenden Gesetze in ihrem unsozialen Charakter mitzutragen. Das ist legitim. Aber, Herr Seehofer, es ist genauso legitim, daß die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dies kategorisch ablehnt.
Was den Versuch betraf, Blockadehaltungen in dieser Gesetzgebung aufzuweichen, darf ich Sie an die letzte Sitzung des Vermittlungsausschusses erin-
Rudolf Dreßler
nern. Dort hat die SPD-Seite den Ländern, der Bundesregierung und den Koalitionsabgeordneten das Angebot gemacht, erneut den Versuch einer Verhandlung zu wagen. Herr Seehofer hat für die gesamte CDU/CSU- und F.D.P.-Seite erklärt, dies komme überhaupt nicht in Frage.
Wenn ein Minister heute also suggeriert, die sozialdemokratische Fraktion hätte sich Gesprächen und Verhandlungen entzogen, obwohl er diese selber im Vermittlungsausschuß kategorisch abgelehnt hat, dann ist das ein merkwürdiges Verfahren, mit der Wahrheit umzugehen.
Was die Frage von Solidarität und ihrer neuen Definition auf christdemokratische Art betrifft, will ich das Hohe Haus an eine Ausführung des Bundesministers für Gesundheit vor wenigen Tagen anläßlich des Deutschen Ärztetages in Eisenach erinnern. Dort hat er zum erstenmal öffentlich den Ärzten erklärt - auch dies hat er heute hier im Hause nicht gewagt zu sagen -, daß die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. die Umwandlung des geltenden Krankenversicherungsrechts am heutigen Tage verabschieden werde, nämlich die Belastung von Versicherten mit einem Drittel, der Unternehmen mit einem Drittel und der Kranken mit einem Drittel. Wir haben in der Vergangenheit die Belastung 50 zu 50 kennengelernt. Diese hatte sich über Jahrzehnte bewährt. Wenn also ein Bundesgesundheitsminister offen erklärt, daß er die solidarische Hälftelung der Belastungen in eine Drittelung verändert hat und dabei verschweigt, daß die Patienten in Wahrheit zwei Drittel zahlen müssen, dann ist auch das kein Umgang mit der Wahrheit, Herr Bundesgesundheitsminister.
Damit auch das klar ist und überhaupt kein Zweifel besteht: An dieser Politik wird sich die SPD-Bundestagsfraktion nicht beteiligen.
Die gesetzliche Budgetierung als unsere Grundposition. Damit auch da kein Zweifel besteht, Herr Seehofer: Dabei bleiben wir. Wenn Sie dies hier schon problematisieren, warum haben Sie dann nicht gewagt, dem Hohen Hause zu sagen, daß unter Ihrer Federführung 2 Milliarden DM an Einsparungen durch die Eliminierung der Positivliste und des Arzneimittelinstituts gestrichen worden sind?
Warum haben Sie es nicht gewagt, dem Hohen Hause zu erklären, daß Sie die Verantwortung dafür tragen, die zwischen uns verabredete Großgeräteplanung - Einsparungen eine Milliarde DM - eliminiert zu haben? Warum haben Sie es nicht gewagt, dem Hohen Hause zu erklären, daß die verabredete sukzessive Einführung der monistischen Finanzierung im Krankenhaus - Einsparungen in nicht quantifizierten Milliarden - von Ihnen niedergelegt worden ist, unbearbeitet blieb, ins Gegenteil verkehrt wurde. Und wenn dann die Art von Zahlenrelation,
die Sie hier vortragen, auftritt, weil sie Sie selbst besorgt haben, das gegen die SPD zu wenden, Herr Seehofer, ist intellektuell in höchstem Maße lächerlich.
Die Koalition und dabei vor allem Herr Seehofer reden immer wieder von der Notwendigkeit, im Gesundheitswesen zu sparen. Sie begründen das damit, daß die heute zu beratenden Gesetze das Ziel erfüllen.
Sparen im Gesundheitswesen wäre ja notwendig. Unser Gesetzentwurf enthält dazu eine Reihe von Vorschlägen. Die Gesetze allerdings, die heute mit Mehrheit verabschiedet werden sollen, haben mit Sparen nichts zu tun. Im Gegenteil, diese Gesetze werden die Ausgaben der Menschen für Gesundheit nicht vermindern, sondern sie werden sie erhöhen. Sie sind eine Mixtur aus Bestrafungsaktion für Kranke und gezielter Klientelbedienung zugunsten bestimmter Gruppen im Gesundheitswesen.
Vor allem die F.D.P. - Herr Seehofer hat sich ihr gebeugt - verbindet mit diesen sogenannten Neuordnungsgesetzen die Zielsetzung, unser bestehendes System der solidarischen Gesundheitssicherung zu zertrümmern oder, wie Sie es vornehmer sagen: zu überwinden. Herr Möllemann räumt dies auch öffentlich und unumwunden ein.
Die F.D.P., Herr Möllemann auch, und große Teile des Wirtschaftsrates der Unionsparteien träumen von einer weitgehend privatisierten Gesundheitsversorgung, in der letztendlich die gesundheitlichen Risiken der einzelnen Menschen Maßstab dafür werden sollen, wieviel sie für ihre Gesundheitssicherung aufwenden müssen, getreu dem Motto: Wer krank ist, soll auch zahlen.
Meine Damen und Herren, die sarkastisch gemeinte Alternative, „lieber reich und gesund als krank und arm", ist zwar schon alt, aber sie war in diesem Hause nie Handlungsrahmen in der Gesundheitspolitik, trotz bestehender Meinungsunterschiede in wichtigen Fragen. Mit dem Inkrafttreten dieser Gesetze wird sich das ändern. Die Koalition will, daß die Gesundheit im wahrsten Sinne des Wortes zukünftig ein „teures" Gut wird. Daß dabei die kranken Menschen verdammt schlechte Karten haben, nehmen CDU/CSU und F.D.P. bewußt in Kauf.
Ich wiederhole: Mit diesen Gesetzen wird keine müde Mark gespart. Nichts wird billiger. Keine überflüssige Behandlungsmaßnahme wird vermieden.
Was soll denn die von CDU/CSU und F.D.P. erzwungene Erhöhung der Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln um sage und schreibe 125 Prozent bei Kleinpackungen, also von 4 auf 9 DM, eigentlich bewirken, außer den Patienten das Geld aus der Tasche zu ziehen?
Eine solche Kleinpackung, die vor der Erhöhung der Selbstbeteiligung 8 DM kostete, kostet auch danach 8 DM. Vorher übernahm die Krankenkasse von diesen 8 DM 4 DM, nachher muß der Patient 8 DM selber zahlen. Wo bitte ist da gespart worden? Wo bitte ist da weniger ausgegeben worden? Nach wie
Rudolf Dreßler
vor werden 8 DM bezahlt. Das einzige, was sich verändert hat, ist der Kreis derjenigen, die die Kosten zu tragen haben.
Die Koalition hat also nichts gespart, nein, meine Damen und Herren, sie hat umverteilt, und zwar zu Lasten der kranken Menschen. Um nichts anderes geht es hier.
Es kann doch den Vertretern der Koalition nicht entgangen sein, daß durch die drastische Erhöhung der Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln - ich rufe in Erinnerung: von 4 auf 9 DM bei Kleinpackungen, 6 auf 11 DM auf mittleren und 8 auf 13 DM bei großen Packungen - vor allem eines erreicht wird: Ein großer Teil der Arzneimittel geht zukünftig in vollem Umfang ausschließlich zu Lasten der Patienten. So wird zukünftig zum Beispiel kaum mehr ein Schmerzmittel verordnet werden können, zu dem die Krankenkassen noch einen nennenswerten Kostenbeitrag leisten. Wollen mir die Vertreter der Koalition wirklich einreden, derartig fatale und mit dem sozialen Anspruch unseres Gesundheitswesens unvereinbare Auswirkungen hätten sie übersehen? Natürlich hat das die CDU/CSU - von der F.D.P. ganz zu schweigen - nicht übersehen.
Die Wahrheit ist: Sie wollen das so; das ist der entscheidende Punkt. CDU/CSU und F.D.P. wollen, daß die Kranken bezahlen. Nichts beweist das deutlicher als diese Gesetze; denn mit einer einmaligen drastischen Erhöhung der Selbstbeteiligung ist es ja nicht getan. Das soll ja weitergehen; das hat Herr Seehofer schamvoll verschwiegen.
Die Selbstbeteiligungen sollen dynamisiert werden. Hinter diesem schönen Wort „dynamisiert" versteckt sich eine weitere unsoziale Wirkung: Dynamisiert bedeutet nichts anderes, als daß zukünftig die Selbstbeteiligung jedes Jahr automatisch erhöht werden wird.
Selbst das soll noch nicht das Ende der Fahnenstange sein; die Grobheiten gehen weiter.
Wenn diese Gesetze, über die heute entschieden wird, in Kraft getreten sein werden, dann muß zukünftig jede Krankenkasse, wenn sie ihren Beitrag erhöhen muß, auch die Selbstbeteiligung erhöhen: Je 0,1 Prozent Beitragserhöhung entspricht das einer Erhöhung von 1 DM oder 1 Prozent bei der Selbstbeteiligung. Das ist sozialpolitisch eine wirklich verheerende Regelung.
2,5 Milliarden DM Defizit haben die Krankenkassen im ersten Vierteljahr 1997 erzielt. Wenn dieser Trend anhält - nichts spricht dagegen -, werden wir Ende des Jahres ein Gesamtdefizit von 6 bis 8 Milliarden DM in der Krankenversicherung zu verzeichnen haben. Das entspricht etwa 0,3 oder 0,4 Beitragspunkten. Um die müssen dann die Beiträge der Krankenkassen erhöht werden, damit das Defizit ausgeglichen werden kann.
Das heißt aber auch, aus der Arzneimittelselbstbeteiligung von 4, 6, 8 DM am 1. Januar 1997 werden nicht nur Mitte des Jahres 9, 11, 13 DM geworden sein, sondern am 31. Dezember 1997 mindestens 12, 14, oder 16 DM. Das ist bei der kleinsten Arzneimittelpackung eine Erhöhung der Selbstbeteiligung in einem Jahr um sage und schreibe 300 Prozent. Was hat das mit Sparen im Gesundheitswesen zu tun? Meine Damen und Herren, das ist schiere Abzockerei in ihrer bösartigsten sozialen Form.
Ein Weiteres. Soll das, was CDU/CSU und F.D.P. in Sachen Zahnersatz und zahnärztlicher Versorgung mit dem Beitragsentlastungsgesetz zu Jahresbeginn bereits eingeführt haben und was mit diesen Gesetzen fortgeführt werden soll, eigentlich auch Sparen sein? Ist es Sparen, wenn Zahnärzte zukünftig den Zahnersatz nicht mehr nach Kassensätzen, sondern nach den Sätzen und Regeln der Privatgebührenordnung abrechnen können? Preistreiberei ist das. Daß die Koalition das selbst vermutet, zeigt doch die Regelung, die den Zahnärzten für zwei Jahre ausdrücklich verbietet, den vollen preislichen Handlungsrahmen, den die Privatgebührenordnung ihnen bietet, auszuschöpfen.
CDU/CSU und F.D.P. räumen doch damit indirekt selbst ein, daß eine solche Regelung vor allem eines bewirkt: das Abkassieren des Patienten. Aber genau das soll erst nach den Wahlen 1998 seine volle Wirkung entfalten. Seien Sie doch so mutig und setzen Sie das heute in Kraft, damit jeder spüren kann, wie Sie die Patienten und Kranken abzocken wollen, meine Damen und Herren.
Gerade die Versorgung mit Zahnersatz zeigt eindeutig, wohin die Reise gehen soll: Auf Kosten der Patienten werden den Zahnärzten zusätzliche Einnahmemöglichkeiten eröffnet. Was CDU/CSU und F.D.P. Sparen nennen, ist Klientelpolitik und nichts anderes. Leistungen, die ausgegrenzt waren, weil sie ästhetisch und qualitativ auf andere Art und Weise wesentlich günstiger zu bekommen waren, werden auf Druck der F.D.P. wieder eingeführt, wenn damit eine bestimmte Gruppe bedient werden kann, die aus wahlarithmetischen Gründen für die F.D.P. benötigt wird. Meine Damen und Herren, ich nenne das sozialpolitsch widerlich, nichts anderes als widerlich.
Wieso erdreistet sich diese Koalition eigentlich, einerseits einer Normalpatientin ihre Mullverbände oder Pillen, die sie benötigt, einzeln vorzuzählen, wenn sie andererseits den starken Gruppen Millionen über die Rampe schiebt, etwa jenen pharmazeutischen Unternehmen, die Arzneimittel herstellen, über deren Sinn und Nutzen im Rahmen einer solidarischen Finanzierung nun wirklich gestritten werden kann?
Rudolf Dreßler
Ich wiederhole: 2 Milliarden DM hat diese Koalition dabei durch Streichung der ursprünglich gesetzlich vorgesehenen Arzneimittel-Positivliste verplempert.
Die haben nach wie vor die Beitragszahler zu bezahlen. Das nennen die Damen und Herrn innovations-freundliche Pharmapolitik. Ich lache.
Diese Art von Politik hat folgendes bewirkt, meine Damen und Herren: Die leistungsfähigen, forschungsintensiven pharmazeutischen Unternehmen mit ihren innovativen Produkten - dank fehlender Positivliste - haben sich die notwendigerweise begrenzten finanziellen Mittel der Krankenkassen mit den Herstellern jener Mittel teilen müssen, deren therapeutische Zweifelhaftigkeit besser nicht von den Krankenkassen bezahlt würde. Sie sind mir schöne Innovationsförderer, Herr Möllemann. In Wahrheit ist das, was Sie betreiben, innovationsfeindlich. Daß Sie hier im Bundestag darüber lachen, kann mich nicht dazu animieren, es Ihnen gleichzutun, Herr Möllemann.
CDU/CSU reden ständig davon, man müsse das Wettbewerbsprinzip für das Gesundheitswesen nutzbar machen und damit mehr Wirtschaftlichkeit herbeiführen.
Das ginge sogar. Das geht sogar, ohne gegen die sozialen Grundsätze eines humanen Gesundheitswesens zu verstoßen. Aber wo, bitte schön, findet man von diesem Gedanken auch nur eine Andeutung in dem heute zur Verabschiedung stehenden Gesetz?
Nichts davon. Da geschieht etwas ganz anderes. Da wird nicht für mehr Wettbewerb zwischen den starken Gruppen gesorgt, da werden die Risiken der kleinen Leute privatisiert.
Ich sage Ihnen, wenn funktionslose Einkommen das Sterben einer dynamischen ökonomischen Entwicklung bedeuten, dann gleicht unser starres ständisch oder verbandlich organisiertes Gesundheitswesen einem riesigen Friedhof. Wo, Herr Seehofer, finde ich in diesen Gesetzentwürfen die Maßnahmen, die Regelungen oder auch nur die Versuche, diese Verkrustungen aufzubrechen?
Nichts davon. Statt dessen betätigt sich Herr Seehofer auf diesem Friedhof der Wettbewerbsfeindlichkeit auch noch als Grabpfleger. Zum Ausgleich halten Sie sich mit der Koalition am Normalverbraucher schadlos. Soll das eine vernünftige, zukunftsorientierte Gesundheitspolitik sein? Es hat mit einem vernünftigen Wettbewerb nichts zu tun, wenn die eine Seite, die Leistungserbringer, auf Teufel komm raus
Leistungen und Produkte anbieten dürfen und die andere Seite, die Krankenkassen und ihre Beitragszahler, das alles weitgehend unbesehen bedienen und bezahlen müssen.
Deshalb stellen wir fest: Unwirtschaftliche Strukturen bleiben bei Verabschiedung der vorliegenden Gesetzentwürfe. Die Probleme werden nicht gelöst. Die Unterstützung der SPD für den Einspruch des Bundesrates, also für die Ablehnung der Gesetze der Koalition, ist für uns ein sozialpolitisches Gebot der Vernunft. Eine zukunftsorientierte, moderne Gesundheitspolitik erfordert jene Lösungen für eine Strukturreform, wie sie im SPD-Gesetzentwurf vorgesehen waren, den Sie in diesem Bundestag abgelehnt haben. Aber an diesen Philosophien und an diesen Absichten wird die SPD zusammen mit der Mehrheit der Patienten, der Krankenkassen und vieler Leistungsanbieter, Herr Möllemann, gegen Sie festhalten.