Rede von
Dr.
Graf
Otto
Lambsdorff
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Es war 1948/49. Ich arbeitete damals zur Teilfinanzierung meines Studiums in einem Reisebüro gegenüber dem Kölner Hauptbahnhof. Wir betreuten Besucher, Touristen aus aller Welt. Unser Partnerbüro in Chicago warb für Reisen nach Deutschland mit dem schönen Plakat: „If you want to see the ruins go to Germany now." Wenn ihr die Ruinen noch sehen wollt, müßt ihr jetzt nach Deutschland reisen.
Deutschland befand sich in rasantem Wiederaufbau. Wir wühlten uns aus den Trümmern der zerstörten Städte und hatten mit der D-Mark eine neue Währung. Fleiß der Arbeitnehmer, Risikobereitschaft der Unternehmer und die Befreiung von Zwangswirtschaft und Staatskontrolle, das waren die Grundlagen - und eine neue Wirtschaftspolitik: die Politik der sozialen Marktwirtschaft, übrigens, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir diese Seitenbemerkung, die Wirtschaftspolitik der Neoliberalen.
- Nun lassen Sie mich erst einmal zu Ende vortragen! Lesen Sie einmal Ludwig Erhards Rede zur Trauerfeier von Wilhelm Röpke, wo er sich mit Stolz als Neoliberaler bezeichnet. Eucken, Röpke, Müller-Armack, sie alle haben sich in diesem Sinne ausdrücklich als Neoliberale bezeichnet. Deswegen wundert es mich immer wieder, daß unsere. Kollegen Heiner Geißler, Joschka Fischer und Herr Lafontaine gleichermaßen die Bezeichnung „Neoliberale" ein bißchen wie ein Schimpfwort handhaben. Das ist eine Verkennung der historischen Wirklichkeit.
Meine Damen und Herren, diese Wirtschaftspolitik, dieser erstaunliche Wiederaufbau war eine unmittelbare Folge des Marshallplans. Meine Generation - Herr Duve hat darauf hingewiesen; Sie haben gesagt, Herr Schäuble sei Ihnen gegenüber ein junger Mann; Sie sind mir gegenüber ein junger Mann, Herr Duve - ist und bleibt geprägt von dieser amerikanischen Großtat gegenüber unserem Kontinent und vor allem gegenüber dem geschlagenen Kriegsgegner Deutschland.
In der vorigen Woche hat Außenministerin Madeleine Albright an die Adresse des Bundeskanzlers in Washington gesagt:
Bundeskanzler Kohl war ein Kind des Europas, das der Marshallplan wieder aufbaute und neu formierte.
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Zu diesen Kindern gehörte und gehört eine ganze Generation.
Europa, die Einigung Europas, die Europäische Union heute gehört zu den größten Erfolgen amerikanischer Außenpolitik der Nachkriegszeit. Herr Schäuble, Sie haben das zu Recht gesagt.
Wer hat diesen Weg so eindrucksvoll, so früh formuliert wie George Marshall? Sie haben auf seine geringe Gesprächsbereitschaft hingewiesen. Die Harvard-Rede hat ganze 15 Minuten gedauert und hat damit in so kurzer Zeit in der Welt etwas in Bewegung gesetzt. Vielleicht sollten wir - ich schließe mich da ein - bei unserer Geschwätzigkeit gelegentlich daran denken, was man kurz sagen kann.
- Das ist richtig. Aber er war nach amerikanischem Verständnis auch nicht Politiker, Herr Schäuble, wie Sie wissen.
Mit Recht verweist Helmut Schmidt in seiner Würdigung des Marshallplans in „Foreign Affairs" auf drei bedeutende Reden: 1946 Winston Churchill in Zürich, 1947 George Marshall in Harvard, 1950 Robert Schuman in Paris. Hinzu kommt 1946 die Stuttgarter Rede von Außenminister James Byrnes. Ich sehe mich noch am Volksempfänger sitzend während des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses diese Rede hören.
Herr Duve, Sie haben das „Nie wieder" für Bosnien eingefordert. Sie wissen, ich war vorige Woche dort; ich kann Ihnen nur zustimmen. Aber denken wir auch daran: Dieses „Nie wieder" kann man überzeugend nur dann einfordern, wenn sich Kriegsverbrechen nicht auszahlen und Kriegsverbrecher nicht länger frei umherlaufen.
Es kommt weiter hinzu das berühmte „long telegram", das lange Telegramm von George Kennan, dem man gelegentlich heute noch im Council on Foreign Relations in New York begegnet. Seine Analyse war die Grundlage für die Entscheidung von Präsident Truman und seinem Außenminister George Marshall, die weltweit drohende Ausweitung des Kommunismus einzudämmen. „Containment", das war George Kennans Vorschlag.
Ich danke Ihnen sehr, Herr Bundeskanzler, Sie haben völlig recht, daß Sie den Senator Vandenberg hier erwähnt haben. Ohne ihn wären diese Vorschläge im Kongreß nicht mehrheitsfähig geworden.
Bei aller Verehrung für George Kennan: Ob man ihn so in Anspruch nehmen kann, wie Sie es gerade für die gesamte Friedensbewegung getan haben, Herr Volmer? In einem werden wir uns nie einigen: Wir sind der Meinung, daß ohne den NATO-Doppelbeschluß die Wiedervereinigung Deutschlands, das
Ende des kommunistischen Imperiums nicht zustande gekommen wäre.
Sie dagegen glauben, daß das die Aktivitäten der Friedensbewegung zustande gebracht haben.
Meine Damen und Herren, der Kern des Marshallplans war nicht nur Großmut und Hilfsbereitschaft. Es war langfristig strategisch angelegte Außenpolitik.
Es gibt einen wichtigen Satz in der Rede; ich will ihn zitieren:
Unsere Politik richtet sich nicht gegen irgendein Land, sondern gegen Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos. Doch Regierungen, welche den Wiederaufbau anderer Länder verhindern, können nicht mit unserer Hilfe rechnen.
Dieser Satz steht aus meiner Sicht im Zusammenhang mit dem berühmten Satz von Ronald Reagan in Berlin: „Mr. Gorbachev, tear down that wall."
Amerikanische Außenpolitik bedarf für ihre Akzeptanz beim amerikanischen Wähler einer moralischen Rechtfertigung. Henry Kissinger hat diesen Zusammenhang manchmal als Schwäche kritisiert. Aber Marshalls Rede macht eindrucksvoll klar, wie die Außenpolitik der USA kurz nach dem Kriegsende von humanitären Erwägungen getragen war.
Das amerikanische Hilfsprogramm für den Wiederaufbau Europas, das European Recovery Program - bei uns kurz ERP genannt -, gehört zu den großen Erfolgsgeschichten dieses Jahrhunderts. Dabei stehen die bereitgestellten Finanzmittel nicht einmal im Vordergrund. Die Verkündung des Marshallplans am 5. Juni 1947 in der Harvard University hat weitaus mehr in Europa bewirkt. Der Bundeskanzler hat die Zahlen genannt. Denken Sie noch einmal daran, wie klein sie sind im Verhältnis zu dem, was wir heute in der Welt hin- und herschieben.
Die Rede Marshalls bedeutete für Deutschland, daß der Morgenthau-Plan zu den Akten gelegt wurde. Die USA setzten sich dafür ein, daß alle Empfänger in eine gemeinsame Organisation zur Vertiefung ihrer wirtschaftlichen Kooperation eintraten, einschließlich des geschlagenen Westdeutschland. Das ist die heutige OECD.
Die Verkündung des Marshallplans war nicht nur ein Meilenstein für Europa. Sie ist auch ein Meilenstein für die amerikanische Geschichte. Es wurde klar definiert, daß die Siegermacht Amerika nicht zurückfallen würde in Protektionismus und Isolationismus, sondern daß sie die Führerschaft in der westlichen Welt übernehmen wollte. „Wir wollten verhindern, daß sich Versailles noch einmal wiederholte", sagte mir ein amerikanischer Freund, der damals bei Vandenberg dafür arbeitete, den Marshallplan im Kongreß durchzusetzen. Dieser Freund, meine Damen und Herren, war ein aus Deutschland geflohener jüdischer Amerikaner und sagte das 1947, nur zwei Jahre nach dem Ende des Holocaust.
Die Marshallplan-Hilfe hat wichtige Anstöße für den wirtschaftlichen Aufbau in Europa gegeben.
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Aber ohne die damit implizit verbundene Garantie der Amerikaner zur Sicherstellung der Freiheit in Europa wäre sie sinnlos geworden. Das Vertrauen darauf, daß sich die Siegermacht als Garant der neugewonnenen Freiheit und des Friedens in Europa etablierte, ermöglichte erst gesellschaftliche und wirtschaftliche Stabilität, Investitionen und Arbeitsplätze.
Meine Damen und Herren, anläßlich der heutigen Debatte habe ich - Sie haben das ja offensichtlich auch getan, Herr Bundeskanzler - mir das Protokoll unserer Debatte vom 5. Juni 1987 zum 40. Jahrestag des Marshallplans noch einmal angesehen. Damals war uns nicht bewußt, daß wir am Vorabend ganz neuer europäischer Entwicklungen standen. Wir konnten 1987 auch nicht verdrängen, daß nach damaliger Interpretation der Marshallplan dazu beigetragen hat, die Entscheidung zur Spaltung Europas zwar nicht herbeizuführen, jedoch spürbarer zu machen, weil Moskau seinen Satelliten verbot, das amerikanische Angebot anzunehmen.
Daß ab 1989 mit dem Zerfall von Diktatur und Planwirtschaft in der damaligen DDR und der späteren Wiedervereinigung das von Marshall verkündete Wiederaufbauprogramm für Europa eine andere, eine brückenschlagende Funktion nach Osten haben würde, konnten wir damals so nicht absehen. Heute leistet das ERP-Sondervermögen als Nachfolger des Marshallfunds in den neuen Bundesländern einen bedeutenden Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufbau.
Aber auch hier gilt: Ohne das Bekenntnis zu Freiheit und Marktwirtschaft können diese Mittel nicht wirken. Sie sind Hilfe zur Selbsthilfe wie vor 50 Jahren in Westdeutschland. Ostdeutschland hat eine zusätzliche Chance durch diese Mittel, wie wir im Westen vor 50 Jahren.
Wir Heutigen haben allen Anlaß, den USA, den Menschen in Amerika, zu danken. Aber es wäre zu wenig, wenn diese und andere Gedenkstunden alsbald vergessen und wir wieder zur Tagesordnung übergehen würden. Die „Washington Post" mag vor einigen Tagen übertrieben haben, aber wo Rauch ist, ist immer auch etwas Feuer.
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen bedürfen intensiverer Pflege, auf beiden Seiten des Atlantik. Es ist gut, Herr Bundeskanzler, was Sie von Ihrer Reise nach Washington mitgebracht haben. Wir müssen uns, Herr Schäuble, den Kopf darüber zerbrechen, wie wir das alles verbessern und intensivieren können - übrigens auch wir als Parlamentarier. Die Beziehungen zwischen den Parlamenten sind außerordentlich wichtig. Ich habe nicht den Eindruck, daß sie so gepflegt werden, wir wir das eigentlich tun müßten.
Herr Volmer, ich will Ihnen gerne glauben, daß es grünen Antiamerikanismus nicht gibt. Ich stimme Ihnen zu: Ich habe die USA sehr ungerne an der Seite des Herrn Somoza gesehen. Aber an der Seite der
Sandinisten möchte ich sie auch nicht gerne sehen, wenn Sie sich anschauen, was Herr Ortega in Nicaragua angerichtet hat.
Man wird nicht dadurch besser, daß man eine Diktatur mit einer anderen bekämpft.
Sie setzen sich gegen den Vorwurf des Antiamerikanismus zur Wehr. Dann will es mir nicht in den Kopf - das sage ich mit aller Klarheit -, daß hier im Deutschen Bundestag vor wenigen Tagen dem Kollegen Westerwelle bei seiner positiven Würdigung der amerikanischen Wirtschafts- und Beschäftigungssituation zugerufen wurde: „Geh doch nach drüben", und zwar in Erinnerung an den ähnlichen Zuruf: Geh doch in die DDR!
- Nein, Herr Fischer, diese Bemerkung ist nicht witzig; sie ist nicht ironisch; sie ist einfach geschmacklos.
Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten sagen heute nicht nur Dank für die wirtschaftliche Hilfe des Marshallplans; wir wissen, wer unsere Freiheit und unsere Sicherheit über Jahrzehnte erhalten hat. Auch dafür sagen wir: Herzlichen Dank, Amerika!