Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Dank, den wir fast alle mit unserem Beifall zum Ausdruck gebracht haben, möchte ich für die CDU/ CSU-Fraktion auch in Worte fassen: Herr Bundeskanzler, wir danken für Ihre Regierungserklärung, stimmen ihr zu und machen sie uns zu eigen. Herr Kollege Duve, wir finden uns auch in dem wieder, was Sie gesagt haben. Das ist bei einem solchen Anlaß gut so.
Wir haben über General George Marshall und seine große Rede bei vielen Gelegenheiten, auch in diesen Wochen wieder, Wichtiges und Bleibendes gehört. Sein Name ist zum Synonym für amerikanische Wiederaufbauhilfe im Nachkriegseuropa geworden. Ihm selbst wäre es vermutlich gar nicht recht gewesen, wenn er all diese Reden über sich hätte ergehen lassen müssen; denn der wortkarge General Marshall redete nicht gern, schon gar nicht über eigene Verdienste. Mehr sein als scheinen - die Devise des alten Moltke, traf auf ihn zu. Taten waren ihm wichtiger als Worte.
Auch daran ist zu erinnern, wenn wir heute aus Anlaß der 50. Wiederkehr des Marshallplans zusammenkommen; denn über das Erinnern und die Lehren der Geschichte hinaus geht es um die Frage, was wir in Zukunft tun können, um das Vermächtnis Marshalls zu bewahren und seinem Geist entsprechend zu handeln.
Zunächst ist diese Stunde der Erinnerung für viele von uns ein Stück erlebter, ganz persönlicher Geschichte. Herr Kollege Duve, ich glaube, Sie sind sechs Jahre nach dem Bundeskanzler geboren, und,
Dr. Wolfgang Schäuble
wenn ich richtig gerechnet habe, ich bin wieder um sechs Jahre nach Ihnen geboren.
- Meine Kinder sehen das ganz anders. Im übrigen ist das ein Nachteil, der von Jahr zu Jahr abnimmt.
Es geht um die Erinnerung an die Zeiten direkt nach Ende des Krieges. Ich habe keine unmittelbaren Erinnerungen mehr an den Krieg selbst; mein Erinnerungsvermögen setzt in der Nachkriegszeit ein. Natürlich ist diese Stunde für viele von uns auch ein Stück persönlicher Geschichte.
Damals, vor 50 Jahren, als unser Vaterland in Trümmern lag und zu den materiellen Verwüstungen vor allem die geistigen hinzukamen, in dieser Stunde der tiefsten Erniedrigung waren es die Vereinigten Staaten von Amerika, die durch kluge und weitsichtige Politik von Männern wie Präsident Truman oder Außenminister Marshall dafür sorgten, daß Freiheit und Demokratie in unserer geschundenen Heimat wieder eine politische Perspektive erhielten.
Der Marshallplan und die politische Philosophie, für die er steht, sind eine entscheidende Markierung auf diesem Weg. Der Marshallplan, die CARE-Pakete, ein paar Jahre später die Rosinenbomber in der Zeit der Berlin-Blockade, die Quäker-Hoover-Kinderspeisung, an die sich die etwas Jüngeren erinnern - sie alle sind zum Symbol der amerikanischen Freundschaft und Verbundenheit mit unserem Schicksal geworden. Viele meiner Generation erinnern sich noch lebhaft daran, wie Ende der 40er Jahre die Schulspeisungen durch amerikanische Quäker zum täglichen Ereignis wurden. Sie garantierten eine warme Mahlzeit, die für ausgehungerte Mäuler die kärgliche Tagesration erträglich machte.
Die Initiative haben wir dem früheren amerikanischen Präsidenten Hoover zu verdanken, der 1946 zum ersten Mal nach Deutschland gekommen war und wegen der entsetzlichen Not durchsetzte, daß 40 000 Tonnen nahrhafte Armeekost, die für Hungerkrisen gelagert wurden, in ein Kinderspeisungsprogramm umgewidmet wurden. 3,5 Millionen deutsche Schulkinder haben davon profitiert, kamen so in den Genuß von zusätzlich 350 Kalorien pro Tag. Für viele stellte dies unter den damaligen Bedingungen das Überleben sicher.
Es waren amerikanische Soldaten, die in den vergangenen vier Jahrzehnten durch ihren Einsatz in Berlin und anderswo Freiheit und Demokratie verteidigten.
Und es war die amerikanische Regierung - der Bundeskanzler hat es gesagt -, die nach dem Fall der Mauer die Initiative ergriff, um den äußeren Rahmen für die deutsche Einheit zu schaffen. Das alles, meine Damen und Herren, werden wir nicht vergessen.
Wie eng die Bindungen an die Vereinigten Staaten und die bei uns lebenden Amerikaner sind, ist vielen vielleicht erst richtig bewußt geworden, als in manchen unserer Städte mehr verschwand als die aus ihren Kasernen abziehenden GIs.
Heute, 50 Jahre nach dem Marshallplan, ist ganz Europa frei. Die Geschichte hat General Marshall und den Vereinigten Staaten recht gegeben. Langfristig setzte sich eine freie Wirtschaftsordnung gegen Planwirtschaft und Staatsdirigismus durch. Zu den Lehren des Marshallplans zählt deshalb auch, daß die Staaten Europas ihre Probleme nur über wirtschaftliche Kooperation meistern können. Nicht Protektionismus und Abschottung sind geeignete Antworten auf die Probleme der Gegenwart - im Gegenteil: Wir werden unsere Leistungsfähigkeit nur dann bewahren und steigern, wenn wir die Herausforderung offener Märkte annehmen.
Die zweite Lehre aus dem Marshallplan ist in ihrer Konsequenz noch entscheidender. Am Ende sind die Anziehungskräfte von Freiheit und Demokratie allemal stärker als staatliche Gängelung und Unterdrükkung. Das ist die Erfahrung von 1989.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs erleben wir, daß auch der Osten Europas zum Westen gehören will. So eröffnet sich unserem alten Kontinent nach dem Ende der Nachkriegszeit die Chance, daß Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechte auch in seinem östlichen Teil verwirklicht werden können. Insofern war es von symbolischer Bedeutung, daß der polnische Außenminister gestern während der Regierungserklärung des Bundesaußenministers zur Europapolitik in unserem Bundestag anwesend war.
Das politische Europa braucht nicht mehr auf den westlichen Teil des Kontinents begrenzt zu bleiben. Kulturell hat diese Trennung ja nie bestanden. Diese Teilung war nur das Ergebnis des weltpolitischen Kräfteverhältnisses nach dem Zweiten Weltkrieg.
Wir Deutsche sind für Teilungen besonders sensibel. Wir wissen, daß alles, was bestehende Gräben vertieft oder neue aufreißt, am Ende unserer gemeinsamen Sicherheit schadet. Wir können es uns nicht leisten, daß sich an unserer Ostgrenze dauerhaft ein Wohlstandsgefälle auftut.
Weil wir dem Marshallplan verdanken, daß wir nach dem Krieg überlebt haben und eine stabile Ordnung der Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft errichten konnten, die zur Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit führte. Und weil dafür die Integration Europas und des Westens entscheidend war, stehen wir heute auf besondere Weise in der Pflicht, wenn es darum geht, den Reformstaaten Ostmitteleuropas den Weg in das politische Europa, in Europäische Union und NATO, zu bahnen.
Auf den Marshallplan trifft zu, was Bismarck einmal über historische Größe gesagt hat:
die Großzügigkeit im Wurf, die Überzeugungskraft und Weitsicht, das richtige politische Kalkül.
Dr. Wolfgang Schäuble
Der Gang der Geschichte hat das bestätigt. Für uns kann das nur Ermunterung und Ansporn sein.
Geschichte wiederholt sich nicht. Doch den zentralen Satz Marshalls können wir gar nicht oft genug wiederholen. „Die Initiative", hat er gesagt, „muß von Europa ausgehen."
Auf die Europäer, d. h. auf diejenigen Europäer die bereits heute Teil der euroatlantischen Strukturen sind, kommt es an, wenn es darum geht, den ostmitteleuropäischen Reformstaaten eine realistische Beitrittsperspektive zu den beiden institutionellen Garanten von Sicherheit und Stabilität - Europäische Union und NATO - zu eröffnen.
Und auf die Europäer kommt es an, wenn wir die Vereinigten Staaten auch in Zukunft in Europa halten wollen. Das Beste, was wir meines Erachtens dafür tun können, ist die Verbesserung unserer außenpolitischen Handlungsfähigkeit. Wir Europäer leben noch immer zu einem erheblichen Teil in geborgter Sicherheit. Zuletzt haben wir in Bosnien die schmerzliche Erfahrung gemacht, daß wir auf uns allein gestellt noch immer nicht in der Lage sind, verlorenen Frieden wiederherzustellen.
Ein handlungsfähiges Europa ist die beste Gewähr für eine stabile Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten; denn es schafft die Voraussetzungen dafür, daß sich die Vereinigten Staaten von einem Teil ihrer Lasten befreien können. „Die Wahrung gemeinsamer Interessen erfolgt nicht automatisch, sondern muß beständig neu definiert werden", hat einst Henry Kissinger bemerkt.
Eine Definition der gemeinsamen Interessen setzt eine Analyse der Herausforderungen voraus. Auch wenn die Welt nach dem kalten Krieg weniger berechenbar geworden ist, bleibt doch unbestritten, daß es in Zukunft häufiger Situationen geben kann, in denen wir Europäer unsere sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen müssen.
Vielleicht ist es deswegen ganz günstig, daß der heutige Jahrestag wenige Tage vor dem Gipfel der Europäischen Union in Amsterdam liegt, für den wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, viel Erfolg wünschen.
Wir haben in den transatlantischen Beziehungen in den letzten 50 Jahren viel erreicht: Wir schicken unsere Kinder in amerikanische Gastfamilien und auf amerikanische Universitäten; wir haben die Atlantikbrücke und den German Marshall Fund, das Deutsche Historische Institut und vieles andere mehr. Auf wissenschaftlicher Ebene existiert ein reger Austausch.
Seit 1990 holen wir schließlich auch in den östlichen Bundesländern in den deutsch-amerikanischen Beziehungen nach, was in den vier Jahrzehnten SED-Diktatur nicht möglich gewesen ist. Auch das zählt zum Verhältnis zwischen Deutschland und Amerika und seinen Herausforderungen.
Die menschlichen Bindungen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten enstanden sind, sind das Fundament, auf das wir bauen können. Entscheidend dabei ist vor allem die Verbindung aus der Überzeugung, daß die Vereinigten Staaten für die beste und vernünftigste Ordnung, nämlich die freiheitlich-demokratische, stehen, und den Siegeszug des American Way of Life, der dank der einstigen Verächter der amerikanischen Außenpolitik sogar in seiner Freizeitvariante mit Blue Jeans und Turnschuhen selbst in diesem Haus Einzug gehalten hat. So sehr haben sich die Zeiten geändert.
Europäer und Amerikaner bilden eine Wertegemeinschaft, die auf dem gemeinsamen Erbe von abendländischer Zivilisation und christlichem Menschenbild gründet. Wir haben eine gemeinsame Herkunft und gemeinsame Grundüberzeugungen. Wir teilen die Vorstellungen von Menschenwürde und Bürgerrechten. Deshalb werden die transatlantischen Bindungen auch in Zukunft tragen.
Wir haben viel erreicht, aber Anlaß, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen, haben wir nicht. Wir müssen die transatlantischen Bindungen von Generation zu Generation immer wieder neu erwerben. Jede Generation hat ihre eigenen Erfahrungen und deshalb auch ihr eigenes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten.
Für die Kriegsgeneration ist der definitorische Moment die unmittelbare Nachkriegszeit, als der Marshallplan geboren wurde und die Vereinigten Staaten durch ihren mutigen Einsatz für Frieden und Freiheit den sowjetischen Vormarsch in Ost- und Mitteleuropa eindämmten.
Die Generation der heute 40- bis 60jährigen - Kriegskinder und Babyboomer - sind im Zeichen des kalten Krieges und mit der amerikanischen Präsenz in Europa großgeworden. Ihre Sicht und ihre Erfahrungen dominieren heute in den deutschamerikanischen Beziehungen; aber entscheidend wird sein, welches Verhältnis zu Amerika die künftigen Generationen entwicklen.
Deshalb stehen Schule und Ausbildung ganz oben auf unserer Agenda. Vorrangig muß es dabei um die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit unserer Hochschulen gehen. Wie wollen wir denn für Absolventen amerikanischer Eliteuniversitäten einen Anreiz schaffen, zu einem Postgraduiertenstudium nach Deutschland zu kommen, wenn wir uns in immer mehr Bereichen aus der internationalen Spitze verabschieden und unsere Hochschullandschaft für viele Ausländer einfach nicht mehr attraktiv genug ist?
Hier können, ja hier müssen wir mehr tun.
Ich halte die Idee für überlegenswert, auf dem Gelände der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen vielleicht eine Art Wilson-Center einzurichten, wohin einschlägig ausgewiesene amerikanische Diplomaten, Wissenschaftler und Journalisten für einen begrenzten Zeitraum nach Deutschland eingeladen werden können, um sich von dort aus mit ihren jeweiligen Gesprächspartnern in Parlament, Regie-
Dr. Wolfgang Schäuble
rung und Strategic community auszutauschen. Auch das Vorhaben, das gegenwärtig auf den Weg gebracht wird, beim Deutschen Historischen Institut in Washington ein Visiting Scholar Center für jüngere Nachwuchswissenschaftler aus den Geisteswissenschaften - Deutsche wie Amerikaner - ins Leben zu rufen, weist in die richtige Richtung.
Wir müssen jedenfalls bei einem Anlaß wie heute überlegen, was wir tun können, damit der Austausch zwischen Deutschen und Amerikanern auch in der jüngeren Generation so intensiv und fruchtbar bleibt, wie dies in den letzten 50 Jahren seit dem Marshallplan gelungen ist.
Schulen, Universitäten, Kirchen und Verbände, nicht zuletzt der Deutsche Bundestag, auch die Parteien, jeder einzelne von uns kann hierzu beitragen. Auf diese Weise, verehrte Kolleginnen und Kollegen, erhalten wir die deutsch-amerikanische Freundschaft, leisten unseren Beitrag für Frieden und Freiheit in der Welt des 21. Jahrhunderts und bleiben dem Erbe von General Marshall verpflichtet.