Rede von
Dr.
Helmut
Lippelt
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Hartenstein, ich habe mich sehr über Ihre lebendige Sprache gefreut. Aber die Amtssprache in der Begründung des Antrags, den Sie unterstützt haben, können Sie wohl nicht vertreten. Lesen Sie das einmal richtig durch!
Ich habe in alten Familienbriefen geblättert. Wenn meine Urgroßeltern durch „Thüren" und „Thore" gingen, gingen sie durch ein „Thal" von „Thränen"; denn hinter jedes „t" mußten sie ein „h", das berühmte Dehnungs- „h", setzen. Meine Großeltern durften darauf verzichten, mußten aber den Merkvers lernen:
Tränen weint man ohne „h",
der Thron steht unbeschädigt da.
Denn auf alle „h" s wollte Wilhelm II. gern verzichten, nur beim „Thron", da hörte der Spaß auf. Das kommt mir so ein bißchen vor wie diese Diskussion, in der man sich jetzt zum Souverän über die Sprache erklärt.
- Sie kriegen noch Ihr Fett weg.
Als sich der selige Konrad Duden 1872 daranmachte, eine einheitliche Rechtschreibung zu schaffen - der Einheit des Reiches sollte die Einheit der Rechtschreibung folgen -, ging er von einem löblichen Grundsatz aus: Man solle schreiben, wie man spricht. Auch das ging nicht ganz ohne Ausnahmen. In der Zeit des beweglichen Letternsatzes hatte man für das „st" nur eine schmale Letter. Deshalb mußten wir alle den Merkvers lernen:
Trenne niemals „s" vom „t", das tut weh.
Deshalb muß sich der bedauernswerte Kollege Heistermann bis heute Heistermann trennen, während sich der progressive Kollege Wiefelspütz immer trennen durfte, wie er sich spricht.
Die jetzige Rechtschreibreform hatte ein hehres Ziel: Der letzte große Anachronismus, den es nur noch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt, sollte im Zeitalter der Globalisierung aufgegeben werden: die Großschreibung zugunsten der gemäßigten Kleinschreibung. So ist es in England und überall in der Welt.
Aber da kamen den Kultusministern wilhelminische Bedenken. So blieb nur ein kleines Reförmchen übrig. Aber auch das ist es wert, mit den Kultusministern - von Zehetmair, CSU, bis Holzapfel, SPD - verteidigt zu werden; denn es erspart den Lehrern immer noch viel rote Tinte und den Schülern Monate unnötiger Regelpaukerei, in denen sie ihre Intelligenz in einer sich dramatisch verändernden Welt wichtigeren Gegenständen des Lebens zuwenden dürfen. Das ist das Problem, Frau Hartenstein.
Wir alle lernen Rechtschreibung im Alter von fünf bis zehn Jahren. Dann denken wir: Das ist das einzig Richtige. Aber die Sprache - Sie sagten es doch - verändert sich, deshalb muß gelegentlich eine Regelvereinfachung her. Das ist das Mühsame.
- Ja, das denken Sie, weil Sie sich nicht damit beschäftigt haben
Zwei Beispiele: Kollege Heistermann darf sich endlich auch trennen, wie er sich spricht, und zweitens und viel wichtiger - jetzt komme ich auf Ihr Thema -: Unsere Schüler dürfen endlich das tun, was englische und amerikanische Schüler - ebenso wie
Dr. Helmut Lippelt
Grass, Walser und andere Dichter, die jetzt ebenfalls wilhelminisch lärmen - schon immer taten: Sie dürfen die Kommata nach Sinnzusammenhängen setzen und die Regelpaukerei vom erweiterten und einfachen Infinitiv, vom Infinitiv mit „zu" und „um zu" vergessen.
Wie nötig und sinnvoll dies ist, zeigt der vorgelegte Antrag. Ich zitiere aus der Begründung. Da findet sich der ganze Absatz 3 als ein sich über zwölf Zeilen erstreckender Bandwurmsatz. Und wie das dann bei solcher Art von Sätzen ist, ohne entsprechende Kommasetzung ist er kaum verständlich. Also konzentrieren sich die Verfasser so sehr auf die Kommata, daß ihnen der Sinnzusammenhang verlorengeht.
So -Herr Hirche, selbst Sie haben es nicht bemerkt
- lesen wir dann - auf die tragende Konstruktion des Hauptsatzes verkürzt -: „Der geäußerten Ansicht ... wird dem Zusammenhang ... nicht gerecht". Deutsche Sprach, schwere Sprach, Herr Kollege Kleinert.
- Verzeihen Sie, Sie haben es immer noch nicht kapiert. Hier wird „Ansicht" mit einem maskulinen Artikel gebraucht.