Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in dieser Debatte nicht zu den juristischen und schon gar nicht zu den verfassungsrechtlichen Fragen Stellung nehmen. Das werden andere Kollegen tun, die dies besser können. Mein Vorredner hat ja schon einige Bemerkungen dazu gemacht. Ich denke jedoch, daß der interfraktionelle Antrag zur Rechtschreibreform und die heutige Debatte ihren Sinn verfehlen würden, wenn nicht auch zur Sache selbst einiges gesagt werden könnte.
Deshalb gleich meine erste Feststellung. Die Bedeutung und die Dimension dieser Reform sind in der Politik und auch in der Öffentlichkeit lange Zeit weit unterschätzt worden.
Nur so ist es zu erklären, daß sich erst nach dem Beschluß der Kultusministerkonferenz und der Ministerpräsidenten der Länder und zum Teil erst in jüngster Zeit der Protest eine Stimme verschafft hat - der Protest zahlreicher namhafter Schriftsteller, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser, der Widerspruch bekannter Verlage und Printmedien und vor allen Dingen der Protest, der darin seinen Niederschlag findet, daß wir auf unseren Schreibtischen Hunderte von Elternbriefen vorfinden, daß Bürgerinitiativen entstehen und sogar Volksbegehren gefordert werden.
Nur so, nämlich aus dieser Unterschätzung heraus, ist es auch zu erklären, daß sich die Kultusministerkonferenz auf den Standpunkt stellen konnte, bei der Neufassung der Rechtschreibung sei eine Regelung durch Verwaltungsvorschriften ausreichend, ähnlich wie bei Richtlinien oder Lehrplänen. Hierin, so meine ich, steckt eine erhebliche Verkennung dessen, was mit dieser Reform geschieht, und sogar
- ich will noch einen Schritt weitergehen - eine grundsätzliche Verkennung dessen, was Sprache, auch geschriebene Sprache, für unsere Gesellschaft bedeutet.
Die Erklärung der KMK vom 27. Februar dieses Jahres bleibt noch ganz auf dieser Linie. Es handle sich, so wird gesagt, nur um eine „maßvolle Anpassung einer Konvention mit dem Ziel einer Bereinigung und der Herstellung einer neuen Übersichtlichkeit". Die Neuregelung berühre nicht die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Der Befassung durch die Parlamente bedürfe es nicht. Ich widerspreche dem nachdrücklich.
Wenn die Debatte heute eines bewirken kann, dann dies, das Vorhaben der Rechtschreibreform aus dem Klima der Unerheblichkeit herauszuführen, in das es durch das bisherige Verfahren hineinmanövriert worden ist. Wir müssen uns wieder an eine Grundwahrheit erinnern, die lautet: Sprache ist nicht nur das zentrale Kommunikationsmittel zwischen den Menschen, sondern Sprache ist Ausdrucksmittel für Lebensgehalte. Sie ist das Ausdrucksmittel schlechthin, mit dem der Mensch die Welt einzufangen versucht und mit dessen Hilfe er sich mit ihr auseinandersetzt.
Von der Sprache als eigenem, lebendigem, historisch gewachsenem Organismus ist in der Erklärung der KMK aber viel zuwenig, fast gar nicht die Rede. Ich bedauere das. In der Sprache, auch im Schriftbild spiegelt sich die Fülle der geographischen, kulturellen und sozialen Verflechtungen, spiegeln sich vor allem auch die vielfältigen Einflußfaktoren unserer Geschichte wider. Es scheint fast, als ob solche Gesichtspunkte völlig außen vor geblieben seien. Ich komme darauf bei dem Stichwort Fremdwörter noch einmal zurück.
Mit dem Reformunterfangen, so meine ich, wird der Körper unserer Sprache verändert. Er erleidet Eingriffe. Er wird verformt. Dies soll nicht wichtig sein?
Meine zweite Feststellung lautet daher: Die Rechtschreibreform betrifft 100 Prozent unserer Bevölkerung, also über 80 Millionen Menschen. Nimmt man Österreich und den deutschsprachigen Teil der Schweiz hinzu, dann sind es 95 Millionen Menschen. Alle sollen sich nun einfach umstellen, ihren Sprach- und Schreibgebrauch verändern, nach dem Jahre 2005 sogar in die Ecke der Falschschreiber geraten? Und das alles deshalb, weil einige Dutzend Wissenschaftler und Politiker verfügen, daß eine Menge von
Dr. Liesel Hartenstein
dem, was bisher allgemeinverbindlich war, anders zu sein habe.
Die Argumente für die verordneten Änderungen sind zum großen Teil nicht überzeugend und treffen - glaubt man den Umfragen - bei einem großen Teil der Bevölkerung auf Unverständnis. Das ist nicht verwunderlich.
Natürlich muß eingeräumt werden, daß die deutsche Sprache - und auch ihr schriftliches Erscheinungsbild, also die Orthographie - eine Menge Ungereimtheiten enthält. Wer wollte das bestreiten? Ich wiederhole: Sprache ist nun einmal keine abstrakte Konstruktion, die mit mathematischen Formeln vergleichbar wäre.
Die KMK sagt, die Reform solle a) Inkonsequenzen beseitigen, b) das Regelwerk transparenter machen, c) das Erlernen des richtigen Schreibens erleichtern. Es verstärkt sich aber der Eindruck, daß diese Ziele auf weiten Strecken nicht erreicht werden können.
Erstes simples Beispiel. Warum in aller Welt, frage ich, soll aus dem Stengel einer Glockenblume jetzt plötzlich ein „Stängel" werden, als ob irgend jemand an eine Eisen- oder Holzstange dächte, wenn er dieses Wort verwendet? Ich meine, das ist wirklichkeitsfremd, pure Theorie und deshalb schlicht überflüssig.
In das sogenannte Stammprinzip sind die Reformer nachgerade verliebt. Deshalb soll aus dem beliebten Quentchen Glück, das wir alle so sehr brauchen, ein „Quäntchen" werden, und zwar in Anlehnung an das Quantum, obwohl die sprachhistorische Ableitung mir sagt, das stimme nicht; denn das Wort kommt nicht von Quantum, sondern von Quent, einer kleinen in Deutschland bis in das 19. Jahrhundert gebräuchlichen Maßeinheit.
Zweites Beispiel. Man muß sich wirklich fragen, wozu eine doch recht willkürlich anmutende Verstümmelung von Fremdwörtern eigentlich gut sein soll. Das Känguruh darf sein ,,h" nicht behalten, obwohl jedes Kind weiß, daß es sich um ein exotisches Tier handelt. Der Thunfisch hat mit dem deutschen Wort tun überhaupt nichts zu tun; aber das „h" muß weg. Wieso eigentlich?
Gerade heute - jetzt wird es wieder ernst -, im Zeitalter des Massentourismus, der Globalisierung und der offenen Grenzen, wo fast jedes Kind zumindest Englisch lernt, soll die Schreibweise von Fremdwörtern eingedeutscht werden. Gerade heute, wo die enge Vermischung der Kulturen im Zug der Zeit liegt und dies in vielen Bereichen von der Sprache aufgenommen wird, sollen die Spuren in der Rechtschreibung verwischt werden. Das ist für mich schlicht ein Anachronismus.
Warum soll man der deutschen Sprache nicht ansehen, daß sie zahllose Wörter beispielsweise in der Sportwelt aus England übernommen hat oder daß sie das Ketchup, den Cocktail und das Okay von den Amerikanern geliehen hat. Ganz zu schweigen von der französischen Sprachinvasion des 17. und 18. Jahrhunderts? Die Kommode, das Menü, das Dessert, den Friseur, das Portemonnaie, das Restaurant - das alles haben uns die Franzosen geliefert, mitsamt der Mode. Das ist doch ein Stück unserer Geschichte. Davon wollen wir uns überhaupt nicht verabschieden.
- Auch das. Das Wort ist aber nicht aus dem Französischen, soviel ich weiß.
Eines der Hauptargumente lautet, die Rechtschreibreform solle das Erlernen des richtigen Schreibens erleichtern. Kann mir jemand sagen, warum es leichter sein soll, das Wort Necessaire jetzt mit vier s und einem ä zu schreiben statt in der gewohnten französischen Schreibweise? Ich weiß es nicht.
Konsequent bleibt die Reform auch hier nicht. Denn die Schreibweise vieler schwieriger Fremdwörter bleibt erhalten: Chrysantheme, Rhythmus usw.
Etwas folgenreicher noch erscheint mir die Reform, wenn es um das totgewünschte „B" und um die Zeichensetzung geht. Daß lange oder kurze Silben große Bedeutungsunterschiede markieren können, wissen wir: „Er trinkt den Wein in Maßen" ist etwas ganz anderes, als wenn es heißt „Er trinkt den Wein in Massen" .
Das sind sicherlich zwei Paar Stiefel. Aber darum geht es jetzt nicht.
Vielmehr geht es darum, daß das „ß" nach der neuen Regelung zwar erhalten bleibt, aber seine Anwendung eher komplizierter wird, nicht einfacher. Eine der größten Fehlerquellen in der deutschen Rechtschreibung hat man beispielsweise darin entdeckt, daß es den Schülern und vielen Erwachsenen schwerfällt -, die Schreibweise des Artikels „das" und der Konjunktion „daß" ordentlich zu unterscheiden. Der erste Versuch war also: Weg damit!
Da dies doch nicht sonderlich ratsam erschien, heißt die salomonische Lösung jetzt: Die Konjunktion „daß" wird mit „ss" geschrieben. Das bedeutet aber, daß kein Weg daran vorbeiführt, den Unterschied zwischen einem Artikel und einer einen Nebensatz einleitenden Konjunktion erlernen zu müssen. Wo bleibt da die Erleichterung? Ich habe den Eindruck, unsere Schüler begreifen das. Wir sollten sie doch nicht unterschätzen.
Hochproblematisch ist meines Erachtens die Reduzierung der Anzahl der Kommaregeln von 52 auf neun. Das möchte ich doch noch kurz vortragen. Nicht daß hier keine vertretbaren Vereinfachungen möglich wären - die gibt es wohl. Aber wenn man das Kind mit dem Bade ausschüttet, dann entstehen einschneidende Konsequenzen für die gesamte Struktur unserer Sprache und für das Ausdrucksvermögen. Denn die Zeichensetzung markiert ja die geistige Gliederung des Satzes, Überordnungen und Unterordnungen, Einfügungen usw.
Dr. Liesel Hartenstein
Je komplexer ein Gedanke ist, desto komplexer werden halt auch die Sätze und desto unverzichtbarer die Satzzeichen zu ihrer Gliederung. Ich frage - danke, Herr Präsident, für die Toleranz; ich bin gleich fertig -: Wie sollte man einen Thomas Mann, einen Heinrich von Kleist oder einen Immanuel Kant verstehen, wenn die Sätze nicht durch Satzzeichen gegliedert wären? Es ist ja eine Verarmung, wenn wir das einfach abschaffen.