Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will der Versuchung widerstehen, mich in den Streit darüber einzumischen, ob die neue Rechtschreibung schöner, logischer, gebildeter, zeitgemäßer oder gescheiter ist als das, was bisher gilt. Ob sie allerdings einer von der Sache her gebotenen, unausweichlichen Notwendigkeit entspricht - dafür fehlen mir bis zur Stunde überzeugende Beweise. Sie kommt mir eher schlicht überflüssig vor. Und ich stehe mit diesem Urteil weiß Gott nicht allein.
Ob man Kuß in Zukunft mit „ss" oder, wie bisher, mit „ß" schreibt, ist vielleicht eher eine Temperamentsfrage, die mit vorrückendem Alter anders entschieden wird als in jungen Jahren.
Wenn man allerdings Kommuniqué zukünftig „Kommunikee" schreibt, ist damit nach meinem Geschmack ein Verlust an Eleganz verbunden. Die neue Schreibweise kommt mir eher platt und ungebildet vor.
Bei einigen Worttrennungen aber schüttelt es mich, zum Beispiel wenn es statt Extrakt Extrakt, statt Infiltration Infiltration, statt Konzentration Konzentration oder statt Sakrament Sak-rament heißen soll.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Geist Gottes weht, wo er will - jedenfalls nicht unbedingt und zu allen Zeiten bei den deutschen Kultusministern.
Die Reform wurde Anfang Dezember 1995 von den Kultusministern beschlossen und Mitte Dezember 1995 von den Ministerpräsidenten abgesegnet. Bis zur Einspruchsfrist am 5. März 1996 hat kein deutsches Parlament widersprochen, keines der 16 Länderparlamente und auch nicht der Deutsche Bundestag. Die Bundesregierung soll zustimmend genickt haben. Auch das muß um der Wahrheit willen am heutigen Tage deutlich festgestellt werden.
Nach einer Phase des Tiefschlafs von fast einem Jahr kam dann der Aufstand der deutschen Dichter. Noch länger hat der Bundestag gebraucht bis zu seinem Gruppenantrag vom Februar 1997. Die Länderparlamente ruhen noch immer in Frieden.
Kultusminister Zehetmair hat zu Recht festgestellt, daß der Konferenzbeschluß vom Dezember 1995 regele, „wie das deutsche Volk schreibt" . Wie das deutsche Volk schreibt, hat etwas damit zu tun, daß die Sprache, auch die geschriebene, „ein grundlegendes Identitätsmerkmal des gesamten deutschen Volkes" ist, wie Rupert Scholz es zutreffend formuliert. Menschliche Sprache markiert äußerlich den alles entscheidenden qualitativen Sprung von der übrigen Schöpfung zum Menschen. Sprache ist für die Persönlichkeit des Menschen, für sein Wesen, für sein Menschsein schlechthin konstitutiv.
Deshalb sind, ob nun zu spät gekommen oder nicht, Verfassungsfragen aufgerufen, die sich mit dem Hinweis auf die Uhr nicht beiseite schieben lassen. Grundrechte sind betroffen. Fragen nach dem Gesetzesvorbehalt für wesentliche Grundentscheidungen, welche die Bevölkerung betreffen, sind aufgeworfen. Dies gilt freilich auch dann, wenn man die Reform für überflüssig hält. Sie entfaltet schließlich wesentliche Wirkungen.
Die Verfassung kommt im übrigen nie zu spät. Entweder werden Fehlentscheidungen rechtzeitig durch
Franz Peter Basten
den Gesetzgeber korrigiert, oder Verfassungs- und Verwaltungsgerichte korrigieren selbst.
Wenn in dem Zusammenhang Kultusministerien davon sprechen, die verbindliche Regel gelte nur für die Schule, außerhalb der Schule könne jeder schreiben, wie er wolle, also alt oder neu,
dann ist das eine Lachnummer.
Denn vor dem Hintergrund der von zahllosen Lehrergenerationen mit Inbrunst gepredigten Schulweisheit, daß wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen, stellt sich die Frage nach dem Sinn - oder besser: nach dem Unsinn - dieser Reform nur noch um so schärfer.
Goethe, der nach Meinung eines renommierten deutschen Germanistikprofessors die Rechtschreibreform ebenfalls für überflüssig halten würde,
hatte es viel einfacher. Dem jungen Frankfurter Goethe hat dessen Schreiblehrer die für Frankfurt geltende südwestdeutsche Norm beigebracht. Später, in Weimar, hat Goethe geschrieben, wie in Leipzig und Dresden geschrieben wurde. Das Meißenische galt in jener Zeit als vorbildlich.
Die Kultusminister können allerdings nicht so tun, als würden sie in Goethes Zeiten leben. Heute ist das Bedürfnis nach einheitlichen Regeln und Verbindlichkeiten unbestritten. Das entspricht den gewandelten Anschauungen, aber auch den völlig veränderten Anforderungen an Funktionen von Sprache, insbesondere der geschriebenen Sprache. Aber das alles entfaltet Rechtswirkungen. Da muß an Grundrechten sowie Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien Maß genommen werden.
Diese Hürden können auch durch exekutive Omnipotenzgefühle von 16 Kultusministern nicht überwunden werden. Wenn das Bundesverfassungsgericht den Gesetzesvorbehalt bereits für die Einführung des Sexualkundeunterrichts reklamiert hat und wenn das Bundesverwaltungsgericht sogar für die Einführung einer Pflichtfremdsprache in der Orientierungsstufe eine gesetzliche Grundlage verlangt,, dann muß die Frage, wie das Volk schreibt, im Hinblick auf eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zumindest einer ernsthaften Prüfung unterzogen werden.
Diese Frage aufgeworfen zu haben ist die verdienstvolle Initiative des Kollegen Kleinert zum Gruppenantrag, dem sich namhafte Kolleginnen und Kollegen angeschlossen haben.
Damit ist die parlamentarische Debatte eröffnet.
Nicht abschließend beantwortet ist allerdings die Frage, ob die Gesetzgebungskompetenz der Länder oder sogar des Bundes gegeben ist. Professor Rupert Scholz vertritt mit beachtlichen Hinweisen die Auffassung, die Frage, wie das Volk schreibe, und die Angelegenheit der mit Sprache verbundenen Identität des Volkes könnten nur von dem für das ganze Volk zuständigen Gesetzgebungsorgan entschieden werden. Das ist der Deutsche Bundestag.
Ich habe in diesem Punkte keine abschließende Meinung. Ich bin im Hinblick auf das Vorliegen einer Bundeskompetenz für die gesamte Rechtschreibreform eher skeptisch. Aber ich stelle folgende Überlegung an: Wenn eine Länderkompetenz für die Rechtschreibreform gegeben ist, dann kann sie sich nur aus einer allgemeinen Länderkompetenz für die Sprache ableiten. Besteht aber eine solche, dann können 16 Länderparlamente souverän über Sprache entscheiden. Sie könnten dann -wie sie Sexualkundeunterricht einführen oder nicht - auch unterschiedliche Regelungen für das finden, was an der Sprache richtig oder falsch zu sein hat.
Es gibt aber nur eine deutsche Sprache und keine Ländersprachen. Daraus könnte man die Schlußfolgerung ziehen, daß kraft Natur der Sache nur der Bund für die Regeln der deutschen Sprache in Deutschland Gesetzgebungskompetenz besitzt. Die Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache ist zwar in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch als Verfassungsgrundsatz durch das Bundesverfassungsgericht längst anerkannt.
Ich nenne einen anderen Ansatzpunkt, der zumindest in einem speziellen Zusammenhang Bundeskompetenz im Hinblick auf deutsche Sprache offenkundig macht. Der Bund besitzt über Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz über die Gerichtsverfassung. Von dieser Kompetenz ist durch das Gerichtsverfassungsgesetz Gebrauch gemacht. § 184 GVG lautet: „Die Gerichtssprache ist deutsch."
Wenn also der Bundesgesetzgeber über die Kompetenz verfügt, die deutsche Sprache als Gerichtssprache anzuordnen, dann schließt das denknotwendig auch die Entscheidungskompetenz darüber mit ein, in welcher Schreibweise und äußerer Darstellungsform die Gerichtssprache Deutsch zuzulassen ist.
- Warten Sie ab. - Läge die Entscheidungskompetenz über die Gerichtssprache nicht beim Bund, sondern bei den Ländern, so könnte niemand den Sächsischen Landtag daran hindern, zu bestimmen, daß zum Beispiel alle Entscheidungen des sächsischen Verfassungsgerichtshofes in Sächsisch abzufassen seien. Ich könnte mir durchaus Leute vorstellen, die das mit einer konsequenten Fortentwicklung der föderalen Struktur Deutschlands begründen würden. In Rheinland-Pfalz, meinem Heimatland, müßte das
Franz Peter Basten
Ganze wohl dreisprachig erfolgen: in Moselfränkisch, in Rheinhessisch und in Pfälzisch.
Aber Spaß beiseite. Alles, was sich der karikierenden Versuchung so aufdrängt wie diese Rechtschreibereform, sollte eher dreimal gründlich hinterfragt werden. Ich wage keine abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung. Eines jedoch wird offenbar: Landesregierungen, Länderparlamente, Bundesregierung und Bundestag sind in ihrem Kompetenzbereich betroffen und müssen zusammenwirken. Denn so, wie sich die Kultusminister in exekutiver Ausschließlichkeit die Regelung vorgestellt haben, kann sie sich wohl nicht vollziehen.
Ich rate daher den Landesregierungen dazu, von der Durchsetzung der Beschlüsse einstweilen abzulassen und sich mit der Bundesregierung zusammenzusetzen. Der Bundesregierung gilt mein Rat, auf die Landesregierungen zuzugehen. Die Parlamente müssen sich unterdessen mit der Sache auseinandersetzen. Der Umgang mit der deutschen Sprache gelingt nur im Konsens. Ich bin sicher, daß sich die Ausschußberatungen im Deutschen Bundestag an dieser Leitlinie orientieren werden.
Vielen herzlichen Dank.